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Andrea lehnte sich nachdenklich auf ihrer Bank beim alten Wegkreuz zurück. Sie liebte diesen Rückzugsort, dieses stille Fleckchen Erde, das in der Nähe des Hofes stand, und ihr doch die Möglichkeit gab, allein zu sein. Die Mutter kam selten hierher. Aber mit ihrer Großmutter hatte sie oft hier gesessen. Andrea sinnierte gerade, wie alt sie gewesen war, als die Oma, noch keine 70 Jahre alt, plötzlich beim Kochen umgefallen war. Am Herd hatte sie gestanden. Ihr Herz war immer schwach gewesen. Sie war nie zu einem Arzt gegangen, geschweige denn zu einem Kardiologen.

Acht oder neun Jahre alt muss ich damals gewesen sein, überlegte Andrea. Sie erinnerte sich noch gut, als sie von der Schule heimkam und die ganze Familie in heller Aufregung vorfand. Die Großmutter war noch mit dem Rettungswagen geholt worden, doch im Krankenhaus hatten sie nur noch ihren Tod feststellen können.

Nachdem sie eine Weile über die Großmutter sinniert hatte, wandte sie sich wieder ihren beruflichen Problemen zu. Aber brachte es etwas, über all das nachzudenken, was sich in den letzten beiden Jahren ereignet hatte und ihr Leben in eine ganz andere Bahn lenkte? In eine Bahn, die sie nie wollte!

Sie versuchte, sich abzulenken, blickte auf ihrer Anhöhe über die nassen, gelben Wiesen hinweg zu den Chiemgauer Bergen, die sich südlich des Sees erhoben. Die Gipfel des Hochfelln und Hochgern zeigten sich noch tief verschneit. Die Konturen der Hochplatte, weiter im Westen, und der Kampenwand waren nur undeutlich zu erkennen und verschwammen im milchigen Himmel. Bei klarem Wetter, besonders bei Föhn, konnte sie im Osten die Loferer Steinberge erkennen. Aber heute ließen sie sich nicht blicken.

Es war angenehm mild. Andrea wandte sich von den Bergen und dem See ab, der zwischen einem kleinen Mischwald in einer Schneise zu erkennen war, und ruhig und spiegelglatt auf den Frühling wartete. Dieser warme Apriltag garantierte nicht, dass die Natur in den nächsten Wochen von eisigen Schauern verschont bleiben würde. Das konnte von einem auf den anderen Tag passieren.

Sie liebte ihre Heimat, aber sie hatte doch erst in die Welt hinausgewollt, um sich später wieder in Seebruck niederzulassen: als Trachtenmoden-Designerin. Das war schon lange ihr Berufswunsch. Bäuerin wollte sie eigentlich nie werden.

Und nun ist alles anders gekommen, dachte Andrea seufzend und blickte auf ihre Armbanduhr. Sie erhob sich langsam und ging zum Hof zurück. Die Arbeit hielt sich jetzt zwar noch in Grenzen, doch in einer halben Stunde würde der Kramer-Hans wegen des neuen Stadels vorbeikommen. Und dann ging es der Mutter auch nicht so gut. Sie hatte wieder ihren »Schwindel«. Ihr ständiges Leiden. Ihr Blutdruck war zu niedrig, während der ihres Vaters stets viel zu hoch war.

So wie es in ihrer Familie üblich war, ging niemand zum Doktor. Bis es zu spät war. Vielleicht hatte sich Christian ja deshalb entschlossen, selber Arzt zu werden.

Dem Vater hatte das Schicksal übel mitgespielt. Im besten Alter von 55 Jahren einen so schweren Schlaganfall zu erleiden, war grausam. Da konnte man schon mit Gott hadern, wie er es nun oft tat. In die Kirche ging er zumindest nicht mehr. Er konnte nicht mehr sprechen. Allenfalls ein paar Wortfetzen hervorstoßen, die schwer zu verstehen waren. Die Mutter konnte sie noch am besten deuten. Sein rechtes Bein zog er nach. Ohne Stock konnte er nicht mehr gehen.

Dieses Unglück hatte Andreas Lebenspläne total durcheinandergewirbelt.

»Du wirst sehen, der Markus kommt bald zurück von Neuseeland und wird den Hof übernehmen«, sagte die Mutter oft. »Er wollte doch immer Bauer werden. Jetzt gönnen wir ihm halt noch ein Jahr. Wenn er wieder in der Heimat ist, kannst du deine Ausbildung zu Ende bringen.«

Andrea war sich dessen nicht mehr so sicher. Der Gedanke daran, ihren Traum von einem eigenen Atelier mit Schneiderei nicht verwirklichen zu können, stimmte sie traurig.

Sie war inzwischen bei der Pferdekoppel angekommen. Goldi sprang gleich zu ihr herüber und Andrea streichelte über den Zaun hinweg sein rotbraunes Fell. Der Hengst Wotan und die Stute Belinda hielten sich vornehm zurück. Andrea war keine Pferdenärrin. Dies war das Metier der Männer gewesen. Der Vater, Christian und Markus liebten Pferde. Es war für sie sehr schlimm gewesen, als sie das Gestüt aufgeben mussten. Doch wer sollte sich um die Pferde kümmern, wenn die Brüder nicht mehr auf dem Hof lebten!

Die Familie Weber, ein Lehrerehepaar aus Seebruck, hatte drei der Pferde gekauft und die Bauersleute darum gebeten, dass sie auf dem Hof verbleiben durften. Sie kümmerten sich um die Tiere, putzten und fütterten sie, erledigten die Stallarbeit und ritten viel aus. Zweimal im Jahr musste Andrea allerdings einspringen, wenn die Familie in Urlaub war.

Diesen Winter, als die Webers im Skiurlaub waren, hatte Andrea ihren Vater im Stall überrascht, als er versuchte, Goldi, Wotan und Belinda zu füttern. Er hatte dabei seinen Stock zur Seite gestellt und die Gabel ergriffen. Diese glitt ihm beim ersten Versuch, das Heu aufzuspießen, aus der Hand. Er taumelte und wäre fast gefallen. Die Tochter konnte ihn gerade noch auffangen und somit verhindern, dass er auf das harte Pflaster fiel. Seitdem sah man ihn nicht mehr in der Box, nur ab und zu humpelte er zur Koppel und sah den Tieren zu, wie sie übermütig herumsprangen oder träge grasten.

Nun kümmerte sich der Alex nur noch um die Hühner. Diese Arbeit war leicht. Und so hatte er wenigstens eine kleine Aufgabe.

Andrea betrat das alte Bauernhaus, das sich seit 200 Jahren in Besitz der Familie Buchberger befand. Es war im Laufe dieser vielen Jahre immer wieder auf den neuesten Stand gebracht worden, ohne seinen bäuerlichen Charakter zu verlieren. Die Grundmauern vom Wohnhaus standen noch so, wie sie vor 200 Jahren errichtet worden waren. Nur der alte Stall und die Tenne waren vor 30 Jahren abgerissen worden. Der Stall wurde neu ans Wohnhaus angebaut. Statt der Tenne wurde in unmittelbarer Nähe des Hofes ein Stadel für das Heu, Stroh und die landwirtschaftlichen Maschinen errichtet.

Andrea fand ihre Mutter wie üblich in der Küche. Sie saß am Tisch, den Kopf schwer in die Hände gestützt. »Hast du es immer noch so mit dem Kreislauf?«, fragte Andrea bang.

»Langsam wird es besser«, antwortete Barbara. »Aber ich kann unmöglich mit dem Auto auf den Friedhof fahren.«

»Das will ich dir auch nicht raten!« Die Tochter betrachtete ihre Mutter prüfend. Eigentlich sah sie nicht krank aus. Sie war eine rundliche, hübsche Frau Mitte 50. Ihr Gesicht war vielleicht ein wenig zu blass und teigig, doch immer noch anziehend. Die blauen Augen strömten Gutmütigkeit aus und ihr silbergraues Haar war dicht und glänzend.

»Du solltest ein wenig an die frische Luft gehen«, riet ihr Andrea. »Hier in der dunklen Küche zu sitzen, ist für deinen Kreislauf nicht gerade förderlich.«

Barbara erhob sich langsam vom Tisch, hielt sich einen Augenblick am Stuhl fest. »Du hast recht, ich geh ein wenig raus. Das schadet mir sicher nicht. Wenn ich mich hinlege, ist es ganz schlimm, dann fahre ich nur noch Karussell.«

»Hast du deine Tropfen genommen?« Andreas Blick ruhte immer noch prüfend auf der Mutter.

Barbara winkte ab. »Ja, ich hab’ sie genommen. Aber helfen tun sie nicht.«

»Nimm sie trotzdem regelmäßig.«

Barbara schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.

»Komm! Gehen wir ein wenig hinaus.« Andrea ergriff ihren Arm und die beiden Frauen wandten sich der Tür zu.

Draußen angelangt, atmete Barbara tief die nach feuchter Erde riechende Luft ein. »Ich glaub’, es wird langsam besser.«

»Du hättest gleich ein wenig spazieren gehen sollen, statt in der muffigen Küche zu sitzen«, hielt ihr Andrea vor.

»In der Küche riecht es nicht muffig«, schmollte Barbara. »Immer ist bei dir alles muffig.«

»Na, wenn du schon wieder streiten kannst, dann scheint es dir ja wirklich besser zu gehen«, meinte die Tochter lachend. Sie gingen ein wenig auf dem Hof hin und her, dann setzte sich Barbara auf die Hausbank.

»Ach, da fällt mir ein, dass der Kramer-Hans angerufen hat«, sagte die Mutter nach einer Weile. »Hätte ich fast vergessen. Er will um sechs vorbeikommen und sich den alten Stadel ansehen.«

»Dann kann ich ja noch mit dem Radl auf den Friedhof fahren«, erwiderte Andrea.

»Ja, das wäre nett von dir. Ist ja heute Omas Todestag. 15 Jahre ist das jetzt schon wieder her«, fügte sie murmelnd hinzu. »Kaum zu glauben. Sie ist so eine gute Frau gewesen. Eine bessere Schwiegermutter hätte ich mir kaum wünschen können.«

»Was man von ihrer Tochter nicht gerade behaupten kann«, entgegnete Andrea, ihre braunen Augen verdunkelten sich dabei.

»Ich mag die Betty auch nicht. Aber ich muss mit ihr auskommen. Und dann ist sie ja auch deine Taufpatin.« Barbara fuhr sich durch das dichte Haar. »Ich glaub’, die Stallarbeit kann ich erledigen. Da musst du mir nicht helfen«, meinte sie schließlich.

»Du musst es wissen.« Andrea musterte ihre Mutter skeptisch.

»Es geht wirklich. Du kannst dir auf dem Friedhof Zeit lassen. Nur wenn der Kramer um sechs Uhr kommt, dann musst du bitte wieder da sein. Von solchen Sachen versteh’ ich nichts. Das hat immer der Vater gemacht.«

»Wo ist er denn? Sitzt er wieder bei seinen Hühnern?« So deprimierend der Zustand des Vaters auch war, so konnte sie sich nun doch ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

»Ja, sicherlich. Da hat er nun eine Aufgabe. Und er freut sich immer wie ein Schneekönig, wenn samstags die Leute aus der Stadt kommen und seine Eier kaufen. Das sind noch gute Eier von glücklichen Hühnern‹, sagen sie jedes Mal. Dafür zahlen wir jeden Preis.‹ Oder manche sagen: Das Ei lass ich mir schmecken. Wenn ich es esse, dann denke ich an das glückliche Huhn, das es gelegt hat, dann schmeckt es gleich noch einmal so gut.‹

Der Vater hört das gern. Es gibt ihm noch ein wenig Lebensfreude. Und wenn ich ihm dann sage, dass es den Huber-Bauern noch viel schlimmer getroffen hat. Dass der sich gar nicht mehr rühren kann, im Bett liegt und künstlich ernährt werden muss, dann schaut er mich an, nickt bedrückt und dankbar zugleich. Allerdings gibt es auch Tage, da hadert er nach wie vor mit seinem Schicksal.« Barbara hatte eine lange Rede gehalten. Es schien ihr wirklich wieder besser zu gehen.

»Ich fahr jetzt los.« Andrea lief ins Haus, um sich eine Jacke überzuziehen.

»Fährst du mit dem Radl?«, rief ihr die Mutter nach und fügte schnell hinzu: »Vergiss die Grabkerze nicht.«

Als Andrea wieder herauskam, saß die Mutter nicht mehr auf der Bank. Sie war zu ihrem Mann hinters Haus gegangen, wo sich der Hühnerstall und der Freilauf befanden. Ihr schlug ein Gicksen und Gackern entgegen. Alex streute die Körner aus. Er bemerkte seine Frau nicht gleich, erst, als sie dicht bei ihm stand. Sie aber hatte zuvor gesehen, wie ein leises Lächeln sein eingefallenes Gesicht erhellte.

»Birgit!«, rief Andrea der jungen, sehr schlanken und großen Frau zu, die gerade den Friedhof verlassen wollte.

Die Angesprochene stutzte. Als sie Andrea erkannte, verfärbten sich ihre Wangen etwas.

»Kennst du mich nicht mehr«, scherzte Andrea, nachdem sie ihr Rad beim Römermuseum abgestellt hatte und auf Birgit zukam.

»Hab’ dich gar nicht bemerkt«, log die frühere Freundin verlegen.

»Es schien mir eben so, als ob du mir aus dem Weg gehen wolltest«, entgegnete Andrea in ihrer direkten Art.

»Ich hab’ dich wirklich nicht gesehen«, log Birgit weiter.

»Wie geht es dir? Und wie geht es Leonhard?«

»Wir sind kein Paar mehr.« Birgits schmales Gesicht war nun ganz blass. Sie war keine Schönheit, dafür war sie zu mager, die Nase zu markant und ihr Haar zu dünn und glanzlos. Doch ihre hellgrünen Augen und die Art, wie sie sprach und sich bewegte, verliehen ihr trotzdem eine gewisse Anmut. Auch besaß sie eine sehr angenehme, wohlklingende Stimme.

Nun wurde Andrea rot. Sie wusste nicht warum, aber es war so.

»Aber ihr wolltet doch im Mai heiraten«, stieß sie verwirrt hervor.

Birgit zuckte mit den Schultern. »Es ist eben anders gekommen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, erwiderte sie ein wenig verbittert.

»Das verstehe ich nicht. Der Leonhard ist doch ein herzensguter Mensch.«

»Das sagst ausgerechnet du!«, erwiderte Birgit spöttisch. »Warum wolltest du dann nichts mehr von ihm wissen?«

»Das hatte andere Gründe, und das weißt du genau.«

Birgit ging nicht näher auf Andreas Antwort ein. Aber sie wusste, wie sie es meinte. »Er hat mich nicht geliebt, dann hat es keinen Sinn. Eine Vernunftehe wollte ich nicht eingehen. Es wird schon noch einer kommen, der zu mir passt.«

»Und warum merkst du das erst nach zwei Jahren?«, fragte Andrea verwundert.

»Manchmal braucht man halt etwas länger, um gewisse Dinge zu erkennen.« Birgit wollte sich von Andrea abwenden. »Mein Auto steht im Halteverbot. Ich muss los«, fügte sie kühl hinzu.

Als Andrea wieder aufsah, trafen sich ihre Augen. In Birgits Blick erkannte sie neben der offensichtlichen Zurückhaltung auch eine Spur von Feindseligkeit.

Andrea wollte dies nicht hinnehmen. Schließlich waren sie einmal gute Freundinnen gewesen. Warum war sie jetzt so abweisend. Was konnte sie dafür, dass es mit Leonhard nicht geklappt hat. Sie hatte doch keine Schuld daran. In diesem Moment erinnerte sie sich an eine Begebenheit dieses Jahr im Fasching, beim Feuerwehrball. Es war an der Bar gewesen, zu fortgeschrittener Stunde. Leonhard hatte hinter ihr gestanden. Sie hatte ihn erst gar nicht bemerkt. Er war nicht mehr nüchtern gewesen, obwohl er sich mit dem Trinken ansonsten zurückhielt. Er drückte seine Lippen in ihren Nacken und flüsterte ihr etwas zu, das so ähnlich klang wie: »Ich werde dich immer lieben. Nie eine andere.«

Andrea war die Szene sehr peinlich gewesen. Sie hatte sich umgedreht, in Leonhards glasige Augen geschaut, dann war ihr Blick zu Birgit gewandert, die mit den Mänteln bereits an der Tür stand und auf ihn wartete. Sie hatte alles ganz genau gesehen.

Andrea war nun alles klar. Sie hatte weder Birgit noch Leonhard seit diesem Faschingsfest im Februar wiedergesehen.

»Können wir uns nicht einmal aussprechen? Ich merke doch, dass du sauer auf mich bist«, sagte sie leise.

»Warum sollte ich sauer auf dich sein?«, wich Birgit aus.

»Mach mir doch nichts vor.«

»Ich muss jetzt wirklich gehen, sonst bekomme ich noch einen Strafzettel verpasst.«

»Dann stell dein Auto doch woanders hin und komm noch einmal her. Ich hätte noch eine Stunde Zeit. Ich muss nur kurz zum Grab, dann könnten wir noch eine Tasse Kaffee zusammen trinken. Warum sollte unsere Freundschaft darunter leiden, dass es zwischen dir und Leo aus ist. Zumindest möchte ich wissen, was ich damit zu tun habe.«

»Ich parke mein Auto um«, erwiderte Birgit schnell, die sich anscheinend besonnen hatte.

Andrea ging inzwischen zum Grab ihrer Großmutter. Sie zündete die Grabkerze an und stellte sie ins Gehäuse. Obwohl sie nicht besonders gläubig war, gleich gar keine Kirchgängerin, betete sie nun doch ein Vaterunser für die Verstorbene, sie hatte die Anna wirklich gern gemocht. Dann ging sie zurück zum Römermuseum. Sie war sich nicht sicher, ob Birgit zurückkommen würde oder doch einfach weggefahren war.

Birgit saß auf einer kleinen Bank beim Maibaum. Sie blickte Andrea mit gemischten Gefühlen entgegen.

»Ich hab’ keine Zeit mehr für einen Café-Besuch«, erklärte sie kurz und bündig. »Aber du solltest doch einiges wissen, wovon du anscheinend keine Ahnung hast.«

Andrea setzte sich schweigend neben ihre ehemalige Schulkameradin.

»Der Leo ist immer noch vernarrt in dich. Und ich bin mir sicher, dass du das auch weißt.«

»Wir haben uns doch in aller Freundschaft voneinander getrennt. Es war doch von Anfang an nichts Gescheites. Du weißt ja, dass ich zwei Jahre lang auf der Modeschule in Hallein war. Leo konnte damit nicht umgehen. Er hatte nie Verständnis dafür gezeigt, dass ich Designerin werden will. ›Du stammst aus einer Bauernfamilie‹, hat er immer gesagt, ›und du gehörst wieder auf einen Bauernhof.‹ Er konnte das nicht verstehen, schob immer alles auf Germana. ›Die hat dir diese Flausen ins Ohr gesetzt‹, hat er ständig über sie geschimpft.«

»Aber nun ist ja alles ganz anders gekommen«, erwiderte Birgit mit gepresster Stimme. »Das ist doch ganz klar: Seit du wieder hier in Seebruck auf eurem Hof bist, seit du deinen Beruf an den Nagel gehängt hast, macht er sich wieder Hoffnungen auf dich. Da war ich abgeschrieben.«

»Ich habe meine Ausbildung nicht …«, stellte Andrea richtig, »sie verzögert sich durch den Schlaganfall meines Vaters nur. Wenn Markus heimkommt, werde ich weitermachen.« Sie zerknüllte nervös ihr Taschentuch.

»Und was war dann beim Fasching, vor sechs Wochen? Ich habe genau gesehen, wie er hinter dir gestanden und dir etwas ins Ohr geflüstert hat. Ich habe es nicht verstanden, aber du. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, was für Liebesworte er dir in den Nacken hauchte.«

»Er war nicht mehr nüchtern. Das weißt du so gut wie ich. Wenn Männer betrunken sind, reden sie allerhand daher, von dem sie am nächsten Tag nichts mehr wissen wollen.«

»Kinder und Betrunkene sprechen bekanntlich die Wahrheit«, erwiderte Birgit mit harter Stimme.

Andrea, die bisher in gebückter Haltung auf der Bank saß und auf den Boden starrte, richtete sich nun auf. Ein Windstoß fuhr durch ihr lockiges, braunes, kurzgeschnittenes Haar. Viel kleiner als Birgit, mit schmalen Hüften und kleinem Busen, biegsam und sportlich, wirkte sie zehn Jahre jünger als die Freundin, obwohl sie gleich alt waren.

»Ich weiß es besser, glaub mir. Er ist immer noch hinter dir her. Und weil ich das weiß, hab’ ich die Reißleine gezogen.« Birgit erhob sich entschlossen.

Andrea schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich will mit ihm zumindest nicht wieder von vorne anfangen. Ich werde Seebruck wieder verlassen, sobald mir das möglich ist. Wenn Markus von Neuseeland zurückkommt, werde ich nach Wien gehen und dort meine Meisterprüfung als Damenschneiderin ablegen. Ich war ja schon angemeldet für den Lehrgang.«

»Das hilft mir alles nichts«, presste Birgit bitter hervor und ging grußlos davon.

Das war keine Aussprache, musste Andrea denken. Der Graben hat sich nur vertieft. Aber ich weiß nun Bescheid. Versonnen blickte sie noch eine Weile vor sich hin. Liebe ich Leonhard noch?, fragte sie sich verwirrt. Alles sah plötzlich ganz anders aus. Sie hatte ihn doch schon abgeschrieben, kaum mehr an ihn gedacht? Doch wenn Birgit recht hatte, wenn er immer noch an ihr hing?

Von der Kirchturmuhr her schlug es sechs Mal.

Der Kramer-Hans ist sicher schon auf dem Hof, fiel es Andrea ein. Sie sprang auf und lief zu ihrem Fahrrad. Sie trat in die Pedale. Auf ihrem Weg den Hügel hinauf, kam sie bei der Fremdenpension ihrer Tante vorbei. Sie sah Betty im Garten arbeiten. Sie drehte ihr den Rücken zu und Andrea schaute, dass sie schnell vorbeikam. Sie mochte die Schwester ihres Vaters nicht besonders, auch wenn sie ihre Taufpatin war.

Als sie auf dem Hof ankam, sah sie, dass zwei Autos in der Einfahrt parkten. Sie erkannte den Opel der Familie Weber, der bei der Koppel parkte, und den Lieferwagen vom Kramer-Hans.

»Er ist also schon da«, stellte Andrea eilig fest. Sicher ist er schon hinten beim Stadel und sieht ihn sich an. Sie ging um die Mauerreste der alten Tennenzufahrt herum, die dicht mit Efeu bewachsen war. Vor 30 Jahren war sie abgerissen worden, als man den neuen Stall baute.

»Ich hab’ mir den Schober schon angesehen«, rief ihr der Zimmerermeister zu, als er die junge, hübsche Frau kommen sah. »Da muss ein Neubau her.«

»Erst einmal: Grüß Gott«, sagte Andrea und gab ihm die Hand.

»Ja, grüß dich.« Er grinste schief, nahm dann aber gleich wieder seinen gewohnt missmutigen Gesichtsausdruck an.

Kein Wunder, dass ihm die Frau davongelaufen ist, musste Andrea unwillkürlich denken.

Sie kannte den Kramer nur flüchtig. Er war ein paar Mal wegen diverser Instandsetzungsarbeiten auf dem Hof gewesen.

»Du hast dir den Stadel also schon angeschaut.« Andrea kräuselte die Stirn. »In so schlechtem Zustand ist er doch auch wieder nicht.«

Hans, ein sehr großer, hagerer Mann mit langem, teils noch blondem, teils grauem Haar, welches er im Nacken zu einem Schwanz gebunden hatte, fuhr mit der Spitze seiner Cowboy-Schuhe an eine der Latten. »Da schau her, wie die gleich wackelt. Ihr habt damals ganz schlechtes Holz verwendet. Auch den Heuboden hab’ ich mir schon angeschaut. Da möchte ich für nichts garantieren, wenn ihr im Herbst die schweren Strohballen lagert.«

»Aber gleich den ganzen Stadel abreißen …«, wandte Andrea ein. »Ich hab’ eher daran gedacht, dass wir ihn ausbessern.«

»Ihr habt teure Maschinen drin stehen«, gab der Zimmerer zu bedenken. »Stell dir mal vor, der Boden bricht zusammen und alles stürzt auf den Mähdrescher, den Bulldog und den Frontlader drauf.«

Andrea sah ein, dass er recht hatte. »Ja, dann müssen wir halt einen neuen bauen«, meinte sie zögernd.

»Gut, dass du es einsiehst. Weißt du, wie schwer so ein Strohballen ist?«

Ich mag den Hans einfach nicht, dachte Andrea. Laut sagte sie: »Das musst du mir nicht sagen. 400 Kilo wiegt so ein Ballen.«

»Gut, du weißt es. Dann kannst du dir ja vorstellen, was alles passieren kann, wenn die Last zu schwer wird.«

»Wir könnten doch auch nur den Heuboden erneuern«, zog Andrea in Erwägung.

»So sparsam wie der Vater«, meinte der Hans grinsend.

Andrea zuckte mit den Schultern und sagte nichts dazu.

Der Kramer-Hans ging weiter um die Scheune herum, um sie zu begutachten. »Der Schober ist marode«, meinte er danach noch einmal. »Ich kann den Heuboden nicht erneuern, weil die Balken von den Außenwänden nicht getragen werden. Zumindest möchte ich dann für nichts garantieren.«

Andrea fühlte sich unsicher, der Zimmerer merkte das. Wieder grinste er schief.

Ich kann ihn nicht ausstehen, dachte sie wieder und biss sich auf ihre volle Unterlippe.

»Ja, mein Fräulein Modezeichnerin, das sind andere Dinge, mit denen du dich jetzt befassen musst«, bemerkte er zynisch.

Was nimmt sich dieser Kerl eigentlich heraus?, fuhr es Andrea durch den Kopf. So eine Anmaßung! Woher weiß er eigentlich, dass ich auf der Modeschule war? So gut kennen wir uns doch gar nicht. Aber dann fiel ihr ein, dass er viel mit ihrer Tante verkehrte, die seit Jahren seine angeheiratete Verwandtschaft aus Hamburg beherbergt.

»Ich komm’ schon zurecht mit dem Betrieb«, entgegnete sie schnippisch. »Aber ich muss mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Du kannst mir ja einen Kostenvoranschlag erstellen, was so ein Neubau kostet. Ich muss mich schließlich auch mit den Eltern absprechen.«

»Ist schon klar«, meinte Hans versöhnlich, der diesen Auftrag bereits in trockenen Tüchern sah.

»Da kommt der Vater.« Andrea blickte zu Alex hin, der auf seinen Stock gestützt, das rechte Bein nachziehend, dahergehumpelt kam.

Der Buchberger reichte dem Zimmerer die Hand. Sein Händedruck war noch fest und resolut wie eh und je.

Der Vater betrachtete nun auch eingehend den Stadel, den er vor 30 Jahren mit seinem Vater selbst gebaut hatte.

»Ich hab’ grad zu deiner Tochter gesagt, dass ich zu einem Neubau raten würde. Die Zeiten haben sich geändert. Früher habt ihr noch keine so schweren Strohballen gelagert, denke ich mir«, wandte er sich an den Bauern, die spöttische Überlegenheit verschwand dabei aus seinem hageren Gesicht. Er kannte den Alex aus der Zeit, als sie beide noch im Gemeinderat gewesen waren. Er hatte immer viel von ihm gehalten.

Der Vater nickte, suchte dann nach Worten. »W i e…t e u…u e…r«, brachte er schließlich stammelnd hervor.

Der Kramer-Hans zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht so auf Anhieb sagen. Kommt auch auf das Holz drauf an. Ich würde euch zu Mondholz raten. Das hält ewig.«

»Mondholz?« Andrea sah ihn skeptisch an.

»Ich arbeite viel mit Mondholz. Es hat eine viel längere Haltbarkeit und eine höhere Widerstandsfähigkeit. Es wird streng nach dem Mondkalender geschlagen. Es ist feuerbeständiger und härter.«

»M o o…« Der Alex brachte das Wort nicht heraus. Er ärgerte sich darüber und stieß einen leisen Fluch aus, der ihm wiederum gelang. Aber dann entfernte er sich sogleich grußlos. Es war ihm sehr peinlich, so hilflos vor dem Kramer dazustehen.

Armer Hund, dachte der Kramer mit echtem Mitleid. Aber dann witterte er gleich wieder sein Geschäft. »Ich könnte ja mal das Holz berechnen«, schlug der Zimmerer vor, »dann schreibe ich euch zwei Kostenvoranschläge raus, einmal mit Mondholz und einmal mit normalem Holz. Ihr könnt euch ja dann entscheiden.«

Andrea nickte. Sie hatte keine Lust, noch länger mit dem Mann, der ihr so unsympathisch war, zu debattieren. Sie gab ihm nicht die Hand, als sie davonging, sondern verabschiedete sich kühl. »Ja, mach mir ein Angebot und schick es her. Ich muss jetzt ins Haus.« Sie ging einfach und ließ ihn stehen.

Die ist ganz schön eingebildet, dachte der Zimmerer. Er sah ihr nach. Doch er musste zugeben, dass sie eine ausgesprochen hübsche Person war. Sie war jedoch nicht sein Typ, denn er hatte immer vollbusige, blonde Frauen bevorzugt. Sie war ihm zu burschikos und schmalhüftig.

Bevor Andrea ins Wohnhaus hinüberging, schaute sie noch bei der Pferdekoppel vorbei, um Frau Weber, die heute alleine da war, zu begrüßen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

»Ach, Andrea, gut, dass ich Sie treffe«, wandte sich die Lehrerin gleich an die Bauerntochter. Sie führte Wotan am Zügel, der unruhig hin und her tänzelte. »Wir fliegen für zwei Wochen in die Osterferien. Anna-Lena will noch einmal mitkommen. Sie ist ja jetzt 17, es wird das wohl letzte Mal sein. Es ist also keiner da, der sich um die Pferde kümmert. Könnten Sie das wieder übernehmen, so wie letztes Jahr? In Zukunft werden wir Sie nicht mehr belästigen. Ich weiß ja, wie viel Arbeit Sie haben.«

»Das mache ich gern. Ich hab’ es Ihnen ja auch angeboten.«

»Wenn das ginge? Sonst müssten wir uns um eine andere Hilfe bemühen.«

»Das geht schon in Ordnung. Hat doch letztes Jahr auch geklappt«, erwiderte Andrea. »Wo soll es denn hingehen? Wieder nach La Gomera zum Wandern?«

Frau Weber nickte lächelnd. »Ja, wir sind ganz vernarrt in diese Insel. Deshalb fliegt Anna-Lena auch noch einmal mit, weil es ihr dort so gut gefällt.«

»Da würde ich auch gern einmal Urlaub machen«, bemerkte Andrea sehnsüchtig.

»Das sollten Sie wirklich einmal tun.«

»Vielleicht im Winter, da hält sich die Arbeit auf dem Hof in Grenzen.«

»Wir waren einmal im November dort, in den Allerheiligen-Ferien. So heiß wie damals habe ich es noch nie erlebt. Da kann man noch wunderbar baden.«

»Ich muss jetzt leider weiter. Die Mutter wartet schon mit dem Essen auf mich«, entschuldigte sich Andrea.

»Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich danke Ihnen.« Die große, schmale Frau mit den strengen Gesichtszügen verabschiedete sich schnell und ging mit ihrem Pferd weiter. Sie war eine freundliche, wenn auch etwas reservierte Frau.

Die Mutter kam gerade aus dem Stall, als Andrea den Flur betrat. Sie sah jetzt etwas besser aus, hatte wieder Farbe im Gesicht.

»Geht es wieder?«, fragte Andrea besorgt.

»Muss«, meinte Barbara. »Lass uns essen. Der Vater sitzt schon in der Küche, er hat Hunger.«

Brot, Käse, Wurst, Essiggurken und Getränke standen schon auf dem Tisch. Auch Teller und Besteck. Der Vater hatte schon alles hergerichtet.

Die Bäuerin lächelte, als sie das sah. Das hatte er früher nie gemacht. Da hatte er sich hinten und vorne bedienen lassen, musste sie denken.

»E g g…e n…m o r…g e n«, presste der Vater nach einer Weile des Schweigens mühsam hervor. Er wandte sich dabei mit einem eindringlichen Blick an seine Tochter.

»Das hatte ich eh vor. Du kannst beruhigt sein. Morgen werde ich von früh bis spät auf dem Feld draußen sein.« Andrea bemerkte dies mit einem leichten Sarkasmus in der Stimme.

»Aber wie willst du das schwere Gerät transportieren?«, fragte die Mutter. »Letztes Jahr hat dir Christian geholfen. Aber der kommt erst in drei Wochen.«

»Ich werde den Leonhard fragen«, erwiderte Andrea, ohne lange zu überlegen.

»Den Leonhard?«, fragte Barbara erstaunt.

»Warum nicht?«, meinte Andrea leichthin, fügte etwas bitter hinzu: »Wenn keiner meiner Brüder zur Stelle ist.«

»Ich könnte ja noch den Theo fragen«, wandte die Mutter vorsichtig ein. »Aber wenn der Leo hilft …«

»Der Theo! Bitte verschone mich mit dem! Der mag was von Zahlen und Bilanzen verstehen, aber gewiss nichts von der Landwirtschaft. Der fährt mir nicht mit der schweren Maschine auf der Straße. Das traue ich mir ja nicht einmal zu.«

»Ja, du hast natürlich recht«, seufzte die Mutter. Ihr Schwager war wirklich nicht der richtige Mann für solche Arbeiten.

»Ich hab’ heute die Birgit auf dem Friedhof getroffen«, sagte Andrea unvermittelt, nachdem sie alle drei wieder schwiegen.

Der Vater sah gar nicht auf, war vielmehr mit akribischer Sorgfalt damit beschäftigt, die Haut von seinem Presssack zu lösen. Die Tätigkeit nahm ihn ganz in Anspruch. Alles ging nun sehr langsam bei ihm. Auf was er früher gar nicht geachtet hatte, wurde jetzt zur Prozedur. Hauptsache morgen würde das Feld bearbeitet.

Barbara hob die dunklen Brauen. »Die hab’ ich schon lange nicht mehr gesehen. Wann soll denn die Hochzeit sein? Da werden wir doch wohl auch eingeladen werden? Die werden wohl eine richtige Bauernhochzeit machen?«, fügte sie gleich eine zweite und dritte Frage hinzu.

»Es wird zu gar keiner Hochzeit kommen. Sie haben sich getrennt«, erwiderte Andrea. Sie nahm dann einen großen Schluck Wasser.

»Was?!« Die Mutter riss die Augen auf. »Aber warum denn das?«

Andrea zuckte mit den Schultern. Rein äußerlich wirkte sie ganz ruhig. Es war ihr in keiner Weise anzusehen, wie es in ihrem Innersten aussah, von welch widersprüchlichen Gefühlen sie beherrscht wurde. Sie hatte sich schon immer sehr gut verstellen können. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, der man jede Regung sofort auf dem Gesicht ablesen konnte.

Nachdem sie sich von dieser Neuigkeit erholt hatte, begannen Barbaras Gedanken zu kreisen.

»Jetzt denkst du daran, dass der Leo wieder frei ist, nicht wahr?«, fragte Andrea mit leisem Spott. »Aber ich hab’ mich nicht von ihm getrennt, um jetzt wieder mit wehenden Fahnen zu ihm überzulaufen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte Barbara verlegen. »Andererseits, wenn du Hilfe gebraucht hast, war er immer für dich da.«

»Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt«, stellte die Tochter richtig. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»Ja«, seufzte Barbara, »aber du könntest es leichter haben.«

»Wie meinst du denn das?« Andrea sah ihre Mutter scharf an.

»Ich meine gar nichts«, wich die Bäuerin aus.

»Gib dir keine Mühe, Mama, du kannst nicht lügen«, erwiderte Andrea mit einem sanften Lächeln. »Der Leo hat es nicht verkraftet, dass ich auf die Modeschule gegangen bin. Er hat nicht eingesehen, dass ich ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Ich kann nicht mehr mit ihm noch einmal ganz von vorn anfangen. Er hat sich sicher in dieser Beziehung nicht verändert.«

Der Vater blickte nun auf. Er verstand jedes Wort. Sein Verstand arbeitete noch wie früher, auch wenn er träge war. Aber er konnte seine Meinung nicht mehr kundtun. Er war hilflos. Dieser Zustand ließ ihn oft resignieren.

»Lass uns über dieses Thema nicht mehr reden.« Andrea blickte zu ihrem Vater hin, der etwas sagen wollte, aber nichts herausbrachte. Sie legte begütigend ihre Hand auf seinen Arm.

»Es ist alles in Ordnung, Papa. Nächstes Jahr wird der Markus von Neuseeland zurückkommen, so wie er es letzten Sommer versprochen hat. Er hat ja schon von einem Jahr auf zwei Jahre Auszeit verlängert. Ein drittes Jahr wird er nicht noch dranhängen. Ich kenne ihn doch. Er hängt an dem Hof und an der Heimat. Er wollte immer Bauer werden, auch wenn er jetzt als Tauchlehrer in Neuseeland jobbt. Ich hingegen werde in Wien meine Meisterprüfung als Damenschneiderin absolvieren, so wie ich es vorhatte. Es verzögert sich nur alles ein wenig. Du hattest doch nie etwas dagegen, du wolltest immer, dass der Markus den Hof übernimmt, denn beim Christian war es ja schon früh klar, dass er studieren würde.«

Der Bauer nickte beruhigt und nahm sich noch ein Stück Speck, das er sorgfältig in dünne Scheiben schnitt und mit Pfeffer bestreute.

Barbara sagte nichts dazu. Sie hatte vergangene Nacht geträumt, dass Markus nicht mehr von Neuseeland zurückkehren würde. Sie ließ sich immer sehr von ihren Träumen beeinflussen und hoffte nun, dass es anders kommen würde.

Es wurde nicht mehr viel gesprochen beim Essen, dafür umso mehr gedacht, überlegt, sich erhofft. Jeder von den dreien hatte dabei seine eigene Sehnsucht.

Dass der Steiner-Leonhard wieder frei war, ließ Barbara keine Ruhe. Sie hatte sehr darunter gelitten, als sich Andrea vor drei Jahren von ihm trennte, endgültig von ihm trennte, besser gesagt. Sie war bereits fast ein Jahr in Hallein, in Österreich, auf der Modeschule gewesen und selten nach Seebruck gekommen. Und doch wären sie ihrer Meinung nach das ideale Paar gewesen. Sie musste zugeben, dass ihr Mann viel mehr Verständnis für die beruflichen Ambitionen seiner Tochter aufbrachte als sie selbst. Ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn Andrea mit Leonhard den Hof übernommen hätte, denn auf Markus war eigentlich nie richtig Verlass gewesen. Das wusste sie. Und genau aus diesem Grund blieb ihre Skepsis, dass er jemals in die Heimat zurückkehren würde.

Als sich der Vater mit seiner Zeitung in die Bauernstube zurückgezogen hatte und die beiden Frauen den Tisch abräumten, konnte sich Barbara nicht länger zurückhalten zu fragen: »Wenn nun der Markus für immer in Neuseeland bleibt, aus welchen Gründen auch immer, was wird dann mit dem Hof?«

Andrea, die bis jetzt ihre Ruhe bewahrt hatte, brauste nun auf: »Ich habe zwei Brüder: Der eine will Arzt werden, gut. Christian ist begabt, ehrgeizig, war immer ein Einser-Schüler. Wir alle haben seine Entscheidung akzeptiert. Er hätte sich auch nicht davon abbringen lassen. Aber der Markus, wie der sich verhält, das kann ich nicht verstehen. Er war kein guter Schüler, aber ein guter Bauer. Jahrelang hat er den Vater auf dem Hof unterstützt, bis es ihm plötzlich einfiel, dass er unbedingt noch einmal in die Fremde müsse, bevor er endgültig sesshaft wird. Seine langen Reisen im Winter nach Südamerika, Südafrika und Kanada haben wir immer akzeptiert. Auch diese lange Neuseelandreise. Aber nun soll er zu seinem Wort stehen.«

»Wenn er es nur tut«, erwiderte die Mutter leise und bedrückt, ging dann zu ihrem Mann in die Stube, um noch ein wenig fernzusehen.