Wenn ich etwas in meinem kleinen Leben gelernt habe,

dann dass Familie dir ziemlich auf den Keks gehen kann …

Aber auch, dass sie dich auffängt, wenn du fällst. Immer.

Dieses Buch ist für meine Familie. Ich hab euch lieb. Danke, dass ihr mich niemals aufgegeben habt, obwohl ich es schon so oft wollte.

KAPITEL 1

Okay, hier sind drei Dinge, die man wissen sollte, bevor man weiterliest: 1. Ich hatte Mist gebaut, großen Mist. 2. Ich hatte keine Ahnung, warum ich genau hier war und wo ich hinsollte und 3. Ich vermutete das Schlimmste. Es gab hier garantiert keine Pancakes! Okay, okay, jetzt mal ehrlich: Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier landen würde und, bedauerlicherweise, nicht einmal nach meinem Tod meine Ruhe hätte, aber hey, hier war ich. Wach und am Leben. Oder wie auch immer man diesen Zustand bezeichnen könnte.

Aber wo war ich genau? Um die Gedanken aufzufrischen: Ich bin gestorben. Um genau zu sein wurde ich getötet. Im Kampf. Wenn man das so erzählte, klang das tatsächlich sehr dramatisch und heldenhaft, dabei war es das genaue Gegenteil gewesen. Zum Glück hatte keiner mitbekommen, dass ich mir fast in die Hose gemacht hatte, als ich sah, dass Celeste einen ihrer Zaubersprüche murmelte, um ein Metallrohr auf mich zu pfeffern. Denn genau so war ich gestorben. Durch ein altes, verrostetes Rohr. Mitten durchs Herz. Nun, da ich tatsächlich den Heldentot gestorben war, hätte man meinen können, dass alles gut war, oder nicht? Ich war im Jenseits, alle waren gerettet und es herrschte wieder Frieden auf Erden.

Aber leider war dem nicht so. Ich war weder im Jenseits, noch war irgendjemand gerettet. Wir hatten verloren. Und Gott weiß, was Kera als Nächstes tun würde. Wir hatten kaum eine Chance gegen ihn gehabt. Nachdem ich mit meinem Schulleiter Mr Harries und seinen Bodyguards verzweifelt versucht hatte Kera aufzuhalten, hatten wir eine harte Niederlage einstecken müssen, die nicht nur mein Leben gekostet hatte. Aber etwas Gutes hatte es doch an sich gehabt: Er hatte nicht meine Seelenteile bekommen. Nicht eines. Was mit meinen Freunden war, wusste ich leider nicht. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass Celeste, Keras Schwester, sich an unsere Abmachung gehalten und mir das Rohr durch die Brust gejagt hatte. Unsere Abmachung war nämlich gewesen, dass sie mich tötete, falls wir verlieren würden und das hatten wir.

Bevor mir das Licht ausgeknipst wurde, hatte ich noch am Rande mitbekommen, wie meine Freunde wieder anfingen zu kämpfen. Ich hoffte, dass sie überlebt haben. Und vor allem, dass es Zero gut ging. Hach, Zero. Dieser idiotische Idiot. Besser konnte ich es nicht ausdrücken. Obwohl wir uns anfangs so gehasst hatten, musste ich jetzt zugeben, dass ich mich unsterblich in ihn verliebt hatte. Und gerade, als wir es endlich auf die Reihe bekommen hatten, uns zu zeigen, was wir für einander empfanden, meinte Kera seinen Krieg weiterführen zu müssen. Danke Kera …

Aber meine Gedanken kreisten nicht nur um Zero, denn ich hatte auch meinen Dad verloren, als ich starb und ich wollte nicht wissen, was dieser jetzt Zero oder Mr Harries für Vorwürfe an den Kopf werfen würde. Denn obwohl er Mike Harries schon seit Jahren kannte, wusste ich, dass er ihm das nie verzeihen würde. Denn er hatte mich vor ein paar Monaten auf die Forest High geschickt, damit mir eben nichts passieren würde. Aber wer konnte schon wissen, dass ein machtgieriger Blutwolf direkt vor den Toren des Internats auf Todesfeen lauern und ganz speziell mich ins Visier nehmen würde. Ob Kera überhaupt noch einen Lebenssinn hatte, jetzt, wo ich tot war? Schließlich war es in den letzten Wochen sein einziges Ziel gewesen, sein krankes Katz-und-Maus-Spiel mit mir zu treiben und mich um die Ecke zu bringen. Manchmal fragte ich mich, ob das alles gar nicht passiert wäre, wenn meine Eltern mich nicht nach Cape Elizabeth geschickt hätten, wo sich die Forest High gut versteckt am Waldrand befand. Ob meine Mom dann noch am Leben wäre? Denn auch sie hatte Kera umgebracht. Sie war eine Todesfee gewesen. Genau wie ich. Und das hatte sie ihr Leben gekostet. Bei dem Gedanken, dass die Seelenteile meiner Mutter diesen Bastard noch stärker machten, hätte ich ihn am liebsten in der Luft zerrissen. Aber das war ja genau der Punkt, der mich in diese gottverdammte Hölle gebracht hatte. Dieser ganz bestimmte Hass, den nur eine Nigruma hegen konnte. Denn, wie ich durch Kera erfahren hatte, war ich eine dieser Nigrumas, dieser schwarzen Seelen. Und auch, wenn jeder als weiße Seele geboren wurde, gab es auch Dämonen, die eine Nigruma in sich trugen, die sich früher oder später zeigte.

Und nun saß ich hier fest. In der Hölle für Nigrumas. Die Zwischenwelt, die die Unterwelt und die Erde trennte. Doch wie meistens hatte ich Glück im Unglück, denn ich war nicht allein in dieser anderen Welt aufgewacht. Mr Harries Sohn Eamonn hatte im selben Kampf um die Freiheit der Schule mit Keras Tyrannen gekämpft und war bei dem Versuch, seine Freundin vor dem sicheren Tod zu bewahren, selbst zu seinem Opfer geworden. Er war das Erste, was ich gesehen hatte, als ich in dieser Welt aufgewacht war. Und ich war froh, hier nicht alleine zu sein. Abgesehen davon, dass ich nicht einmal wusste, was ich fühlen sollte. Konnte ich überhaupt noch fühlen?

»Was machen wir jetzt?«, das war das erste Wort, das Eamonn sagte, seitdem wir uns auf den Boden gegen einen hohlen Baumstumpf gelehnt und dreißig Minuten lang in die Leere gestarrt hatten. Er hatte die Arme um seine Knie gelegt und seine blau-grünen Augen flogen nur so über die Landschaft. Seine Kiefermuskeln mahlten, als würde er über etwas nachdenken, was ihn sehr beschäftigte.

»Ich weiß es nicht. Wie lange müssen wir wohl hierbleiben?«, erwiderte ich und beobachtete ihn, wie er sich eine dunkle Strähne nach hinten strich. Er hätte unbedingt mal wieder zu Friseur gemusst, aber diese Sache hatte sich ja jetzt auch erledigt.

»Für immer, schätze ich, Ez. Das ist eine Bestrafung, nicht der Himmel. So viel ist sicher.«

»Wann hast du gemerkt, dass du eine Nigruma bist? Ist irgendwas passiert, was es ausgelöst hat, wie bei mir der erste Kampf mit Kera? Eamonn?«, fragte ich interessiert. Er konnte mich immer noch nicht ansehen. Ich befürchtete sogar, dass er gleich anfangen würde zu weinen.

O bitte nicht! Mit weinenden Männern kann ich noch schlechter umgehen als mit Kindern.

Aber er riss sich zusammen und vergoss keine einzige Träne. Doch als er mir immer noch nicht antwortete, stupste ich ihn leicht in die Seite.

»Eamonn?« Endlich blickte er mir in die Augen. Seine feine Haut war mit Kratzern übersät und seine Unterlippe blutete. Man hätte fast behaupten können, dass er die perfekten Kusslippen hatte. Schön geschwungen und voll, aber nicht so voll, dass es nicht mehr männlich wirkte.

»Bei mir musste man nichts auslösen. Ich war schon immer ein Nigruma.«

»Aber das ist doch nicht möglich. Jeder wird als Albusuma geboren«, widersprach ich.

»Ich nicht. Ich wurde unter Hass geboren. Meine Familie wollte nicht noch ein Dämonenkind. Zumindest nicht die Eltern meiner Mutter. Sie hatten Angst vor meiner Mutter, als sie herausfanden, was sie war, und sie hatten auch Angst vor meinem Dad. Als sie herausfanden, dass Mom schwanger war, wollten sie, dass sie mich abtreibt. ›Ihr könnt nicht noch ein Monster in diese Welt setzen‹, haben sie gesagt. ›Wir Menschen haben schon mit genug anderen Sachen zu kämpfen.‹ Sie konnte nicht verstehen, dass wir auch friedlich sein können. Ich denke, der Hass, den meine Mutter in ihrer Schwangerschaftszeit erfahren hat, wurde einfach auf mich übertragen.«

»Wusste dein Dad, dass du eine dunkle Seele bist?«

Eamonn nickte. »Er hat es nie angesprochen, aber er hat es geahnt. Er liebt mich abgöttisch, weil ich ihn an meine Mutter erinnere. Er hätte mich nie verurteilen können.«

Ich seufzte. »Was machen wir denn jetzt hier? Können wir überhaupt essen? Oder schlafen? Bist du müde?«

Eamonn raffte sich auf und reichte mir eine Hand. »Ich bin ein wenig müde. Und hier würde ich ungern einschlafen. Deswegen würde ich vorschlagen, dass wir uns mal umsehen. Für immer hier sitzen zu bleiben könnte langweilig werden.«

Ich nickte und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Ein leichter Wind blies meine Haare über meine Schulter und ließ mich frösteln. Also konnte ich etwas fühlen. Und dass es hier unten Wind gab wunderte mich ebenfalls. Falls wir überhaupt »unten« waren.

»Also in den Horrorwald oder über die Aschefelder?«, fragte ich und zeigte abwechselnd nach rechts und links. Der Wald neben uns war dicht, obwohl die Bäume kahl waren. Aber die knochigen Äste bildeten ein verblüffendes Gewirr. Man konnte nicht weit hineinsehen.

»Da ich nicht noch einmal sterben will, würde ich vorschlagen, wir nehmen das Feld«, fuhr ich fort und machte einen Schritt auf die Asche, die sich einfach nur als sehr dunkle Erde herausstellte. In der Ferne auf der anderen Seite konnten wir ein kleines Haus erkennen. Dahinter ging es anscheinend in ein Tal hinab, denn weiter konnten wir nicht sehen.

»Vielleicht kommen wir ja auf eine andere Ebene, wenn wir noch einmal sterben. Sozusagen ›Next Level‹«, witzelte Eamonn und begann mir zu folgen.

»Ich bin dafür, dass du die Witze mir überlässt, junger Mann.«

Er lachte und zusammen überquerten wir das Feld. Der Boden unter uns gab kaum nach, aber in den einzelnen Pflugrillen schien eindeutig etwas angepflanzt worden zu sein, denn alle paar Meter gab es kleine Erdhaufen. Doch erst als ich über einen davon stolperte und mich der Länge nach auf die Nase legte, konnte ich erkennen, was das wirklich war. Ein Ei war halb freigelegt worden und reflektierte den dunkelroten Himmel. Es war riesig. Fast größer als ein Straußenei.

»Eamonn …«, begann ich langsam, richtete mich etwas auf und nahm das Ei aus der Erde. »Sag mal, habe ich in Biologie nicht richtig aufgepasst oder ist das hier nicht normal?« Ich klopfte mir mit einer Hand den Dreck von der Jeans und zeigte ihm das weiße Ding.

Eamonn nahm es zögernd entgegen und hielt es gegen das Licht. »Was ist das? Soll ich es aufbrechen?«

Ich nickte und nahm zur Sicherheit etwas Abstand. »Bitte kein Spinnenei, bitte kein Spinnenei, bitte kein Spinnenei«, flüsterte ich leise und faltete demonstrativ die Hände.

»Spinneneier sind rund und haben keine so feste Schale, du Schlaumeier«, erinnerte mich Eamonn, betrachtete aber immer noch fasziniert das Ei, bevor er sich suchend umsah. »Siehst du hier irgendwo einen Stein?«

Ich sah mich um, aber er kam mir zuvor. »Ah, hab einen. Okay, dann lass uns mal nachsehen, was die hier züchten.«

Er schlug mit dem Stein das Ei auf und glibberiger grüner Schleim ergoss sich über seine Hand.

Angeekelt verzog ich das Gesicht. »Ein Glück bist du auf die intelligente Idee gekommen, ein Ei auf der bloßen Hand aufzuschlagen und nicht ich«, sagte ich sarkastisch.

»Halt die Klappe, Ezra. Das sieht aus wie …«

Er entfernte ein paar Stücke der hellen Schale und zeigte mir ausdruckslos den Inhalt.

»Was ist das denn?«

Man konnte kaum erkennen, was sich nun wirklich in dem Ei befand, denn es war klein und noch immer mit dem ekelhaften Schleim bedeckt. Alles, was ich erkennen konnte, waren ein Schnabel, vier Beine und Flügel. »Sag mal ist das …«

»Ein Hippogryph«, beendete Eamonn meinen Satz und ich nickte. »Ich habe schon so viel von diesen Wesen gehört, aber dass sie wirklich irgendwo in diesem Universum existieren, hätte ich nie gedacht«, sagte er und bestaunte das Wesen von allen Seiten.

Ich hatte auch schon viel über dieses alte Fabelwesen, mit dem Kopf und den Vorderkrallen eines Adlers und dem Hinterteil eines Pferdes, in meinen Büchern gelesen, aber auch ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie wirklich existierten.

»Aber warum sind diese Eier hier vergraben? Glaubst du, sie werden so gezüchtet und ausgebrütet?«, fragte ich.

Als sich das kleine Ding plötzlich bewegte, erschreckten wir uns beide.

»O Gott, es lebt«, rief ich und sprang nach hinten.

»Natürlich lebt es, du Idiot! Aber es ist viel zu früh geschlüpft.«

»Du hast ihn zum Tode verurteilt!«, kreischte ich.

Eamonn funkelte mich böse an. »Du hast doch zugestimmt, als ich gefragt hab, ob ich es öffnen soll. Was dachtest du, was da drin ist? Bonbons?«

Ich warf ihm einen gehässigen Blick zu. Anschließend zuckte ich mit den Schultern. »Und? Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Was glaubst du? Wir nehmen ihn natürlich mit«, erwiderte Eamonn und ging weiter.

Ich folgte ihm zögernd. »Du weißt doch gar nicht, was diese Viecher fressen.«

»Ich denke mal, Fleisch. Oder vielleicht Milch am Anfang.«

»Na dann finde hier mal eine Kuh«, sagte ich.

Eamonn seufzte genervt. »Wir finden schon was für ihn, okay?! Und jetzt komm, vielleicht finden wir auch einen Unterschlupf für die Nacht.«

Ich blickte hinauf zum Himmel. Der dunkelrote Horizont war immer noch genauso hell wie zuvor. »Ich glaube nicht, dass es hier überhaupt eine Nacht gibt«, sagte ich und drehte mich um, um den Weg zu betrachten, den wir zurückgelegt hatten. Es war nicht weit. Vielleicht ein, zwei Kilometer, aber der Wald kam mir aus dieser Entfernung erheblich dunkler vor.

»Trotzdem müssen wir ein wenig schlafen oder bist du nicht müde?«, fragte Eamonn.

Jetzt, wo er es erwähnte, spürte ich, wie schwer sich meine Knochen tatsächlich mittlerweile anfühlten. Also nickte ich resigniert. »Du hast recht.«

Wir stapften weiter durch die Erde, bis wir das Ende des Feldes erreichten. Wir achteten nun genau darauf, nicht auf einen der kleinen Hügel zu treten. Als wir uns dann fast vor dem kleinen Haus befanden, sahen wir, dass dahinter tatsächlich ein Tal hinunterführte. Unten zog sich eine kleine Siedlung bis zu einem roten Meer. Ab da konnte man nur noch Ozean sehen. Das Gebäude vor uns wirkte nicht sehr alt. Die Wände waren aus dunklem Holz, das dieselbe Farbe hatte wie die Bäume des Waldes hinter dem Feld. Neben ihm befand sich eine kleinere Scheune ebenfalls aus diesem Holz.

»Hier haben sich tatsächlich welche angesiedelt. Als wäre das hier eine normale Welt«, stellte Eamonn verblüfft fest. Es gab keinen Garten, Zaun oder eine Veranda, wie man es vielleicht erwartet hätte. Nur das einsame Haus, zu dem vermutlich das Feld gehörte, da es das einzige abseits der Siedlung war, und die Scheune daneben.

»Wir sollten uns einmal in der Scheune umsehen. Vielleicht können wir uns dort ausruhen«, schlug ich vor und lief voran.

Vor der großen Tür blieb ich kurz stehen und lauschte. Dort drinnen bewegte sich etwas. Aber es klang nicht wie Menschenfüße, sondern eher wie Hufe, die auf dem Boden scharrten. Außerdem nahm ich einen strengen Geruch war. Zögernd öffnete ich die Tür einen Spalt und lugte durch den Schlitz. Der Innenraum war düster, aber durch die kleinen Fenster an der Seite konnte man trotzdem ein paar Schemen erkennen. Rechts und links befanden sich Stallboxen, die sich bis zum Ende der Scheune zogen. Tatsächlich war diese länger, als ich gedacht hatte. Die Türen der Stallboxen waren so hoch, dass ich dahinter nichts erkennen konnte, aber da sich nichts Gefährliches in seinem Inneren zu verbergen schien, traute ich mich einen Schritt hinein. Das Getrappel und Geschabe in den Boxen wurde unruhiger. Ich ging vorsichtig zu einer der ersten und sah hinein. Ein kleiner Hippogryph starrte mich mit großen gelben Augen an. Er war noch jung und vielleicht gerade mal so groß wie ein Schäferhund.

Nachdem er mich kurz gemustert hatte, sprang er so plötzlich gegen das Gitter, dass ich vor Schreck zurücksprang und gegen Eamonn stieß.

»He, pass doch auf. Du hättest fast den kleinen Mittens zerquetscht«, schimpfte er und schob mich grob von dem Ei weg, das er schützend an seine Brust hielt.

Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er mir gefolgt war. Das kleine Stück der Schale, das er vorhin aufgebrochen hatte, musste er weggeworfen haben, sodass der Babyhippogryph nun wie in einer Kinderwiege in dem Ei ruhte.

»Mittens, Eamonn? Wirklich? Du hast ihm schon einen Namen gegeben?« Ich zog eine Braue nach oben und verschränkte die Arme. Der Schock von gerade eben war schon fast wieder vergessen. »Ich würde sagen, wir lassen ihn hier. Bei seinen Artgenossen«, schlug ich vor und lief den Gang entlang.

»Wir lassen Mittens garantiert nicht hier. Dafür ist er zu klein«, protestierte Eamonn, aber ich hörte kaum zu.

In jeder Box befand sich eines der Fabelwesen. Manche hatten rötliche Federn und eines, das bereits ausgewachsen zu sein schien und die Größe eines großen Ponys hatte, war pechschwarz und hatte einen weißen Schnabel. Als ich vor seinem Stall stehen blieb, bewegte der Hippogryph sich auch nicht mehr, sondern starrte mich an. Zwar machte dieses große Wesen mir auch ein bisschen Angst, aber eigentlich wirkte es fast schon friedlich. Am liebsten hätte ich die Hand durch die Gitter gestreckt und den Hippogryph gestreichelt, aber ich fürchtete dann doch etwas um meine Finger. Seine Box war mit Stroh bedeckt und an der Seite befand sich ein kleiner Eimer mit Wasser.

Obwohl er mich weiter mit seinen Augen durchbohrte, wandte ich mich ab. Eine kleine Tür direkt neben seiner Box hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Vielleicht fand ich ja dort irgendetwas Hilfreiches, das uns weiterhelfen konnte. Und wenn es nur eine Waffe war. Mit schnellen Schritten überwand ich die letzten Meter und drückte die Klinke nach unten. Die Tür war nicht verschlossen. Plötzlich schlug mir ein widerlicher Gestank entgegen, sodass ich würgen musste.

»Ez? Was ist los?«, rief Eamonn und keine fünf Sekunden später stand er neben mir und hielt sich den Arm vor die Nase. »O mein Gott, was ist das denn?«, fragte er gedämpft durch den Stoff seines Shirts.

Ich überquerte die Türschwelle in die kleine Kammer. »Ich denke, hier wird das Futter gelagert«, dachte ich laut und sah mich um.

Die Wände waren mit etlichen Schränken zugestellt. Daneben standen bereits ein paar Eimer mit Fleisch gefüllt. Eine der Ursachen für den Gestank. Kühlschränke schien es hier wohl nicht zu geben. Ich konnte nicht erkennen, was da für Stücke in den Eimern verteilt worden waren, aber ich wollte auch nicht wirklich näher heran.

»Die können doch nicht auch die Jungtiere mit Fleisch füttern, und vor allem, wo haben die diese Mengen an Nahrung her?«, fragte Eamonn sich laut und sah sich weiter rum.

Ich folgte ihm zu einem weißen Vorhang, der neben einem Fenster vor eine Ecke gespannt war. Das Fenster befand sich dicht unter der Decke und war so verdreckt, dass man nicht einmal mehr hindurchsehen konnte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um herauszusehen, aber ohne Erfolg.

Eamonns plötzlicher Aufschrei brachte mich fast zum Stolpern. Hastig drehte ich mich um, damit ich ihn zum Schweigen bringen konnte, doch der Anblick hinter dem Vorhang verschlug auch mir die Sprache. Dort hing einer der Hippogryphen an einem Hinterbein von der Decke herunter. Sein Bauch war der Länge nach aufgeschlitzt und er blutete immer noch aus. Beim Aufziehen des Vorhangs schien Eamonn das arme Tier berührt zu haben, denn es drehte sich langsam um seine eigene Achse.

»Ich denke, so kommen die an das viele Fleisch für die Hippogryphen. Sie verfüttern manche der Kleinen«, sagte ich langsam und wich etwas zurück.

Zu meiner Erleichterung schloss Eamonn den Vorhang wieder. Entschlossen drehte er sich zu mir um, einen Arm schützend um das Ei gelegt. »Wir werden Mittens mitnehmen, ob du willst oder nicht. Kein Wunder, dass die diese Tiere auf Feldern anpflanzen. Die Hälfte von denen dient als Futter! Hier, halt ihn. Ich muss was anderes zu fressen als diese Fleischstücke finden.«

Eamonn drückte mir das kleine Ding an die Brust und fing an, jeden einzelnen Schrank zu öffnen. Darin befanden sich hauptsächlich Eimer, die zugedeckt waren. Eamonn öffnete einen, schloss ihn aber sofort wieder und verzog dabei das Gesicht. »Die wollen doch nicht wirklich den armen Tieren dieses verrottete Fleisch geben«, murmelte er und suchte weiter.

Ich hingegen fokussierte mich erst einmal auf das Ding in meiner Hand. Angewidert hielt ich das Ei mit dem kleinen Hippogryph von mir weg. »Kannst du es nicht wenigstens sauber machen. Irgendwann schüttest du dir noch den ganzen Glibber über die Kleidung und außerdem …«, ich kniff die Augen ein wenig zusammen und hielt das Ei näher vor mein Gesicht, um sicherzugehen, »… ist er, glaube ich, bald schon aus dem Ei herausgewachsen.«

»Wie jetzt?«, erwiderte Eamonn und unterbrach seine Suche. Er stellte sich neben mich und betrachtete Mittens ebenso akribisch wie ich. Aber ich hatte eindeutig recht. Als wir ihn gefunden hatten, war noch ein wenig Platz zwischen ihm und der Schale gewesen. Jetzt wirkte es, als wäre er nie ein Teil des Eis gewesen. Er passte kaum noch hinein.

»Wie kann er so schnell gewachsen sein?«, fragte ich verwundert. »Es ist vielleicht eine Stunde her!«

»Ich denke, diese Dinger wachsen schnell. Vielleicht sind sie deswegen gute Nahrung. Wer weiß …«, erwiderte Eamonn und suchte weiter nach Milch in den Schränken.

»Das macht Sinn. Aber sie müssen sie doch irgendwo hinbringen. Was nützen diesen Wesen hier fünfhundert Hippogryphen?«, dachte ich laut.

Doch Eamonn hörte mir schon gar nicht mehr zu. Er hatte einen großen Kanister mit weißer Flüssigkeit entdeckt, den er jetzt stolz in die Höhe hielt.

»Ich hoffe für dich, dass das auch wirklich Milch ist«, feixte ich und er zog die Augenbrauen nach oben.

»Was denkst du denn, was es sonst sein könnte?«

Ich zuckte grinsend mit den Schultern. »Weiß ich doch nicht. Riech mal dran.«

Tatsächlich folgte Eamonn meinem Vorschlag, schraubte den Deckel des Kanisters ab und roch an der Flüssigkeit. Erst verzog sich sein Gesicht ein wenig, dann sagte er:« »Es ist Milch, aber ich würde sie an deiner Stelle nicht mehr trinken.«

»Für den kleinen Millen wird es reichen«, erwiderte ich und nahm ein Handtuch von dem Waschbecken neben mir.

Eamonn funkelte mich böse an. »Er heißt Mittens.«

»Oh, wie Furcht einflößend. Zum Glück hast du ihn nicht Rüdiger genannt oder Bernhard, sonst würde sogar die Hölle vor euch niederknien«, witzelte ich.

Neben dem Waschbecken befand sich ein kleiner, schmutziger Waschschrank, auf den ich das Ei vorsichtig ablegte, um das Handtuch ein wenig anzufeuchten. »Warum erlaubst du mir eigentlich nicht mehr, Witze zu machen? Du bist mindestens genauso wenig lustig.«

Ich lächelte gekünstelt. »Alles klar, lustiger Eamonn. Dann such mal ein Fläschchen für dein Baby, während ich es sauber mache.« Seufzend wandte ich mich wieder dem Ei zu. Ich schloss einmal kurz die Augen, holte tief Luft und griff dann geradewegs in die Schale. Das ekelhafte Gefühl des Schleims an meinen Händen ignorierend umgriff ich das kleine Wesen und hob es aus seinem Bett. Dann legte ich es auf das Handtuch daneben. Mittens’ Schnabel öffnete sich kurz verzweifelt, aber kein Laut kam heraus. Seine Flügel waren noch nackt und er hatte hinten nur einen leichten Flaum, der in verklebtes rotes Pferdefell überging. Er war mittlerweile schon so groß wie ein ein paar Wochen alter Hundewelpe. Mit der angefeuchteten Stelle des Tuches begann ich, ihn sauber zu machen. Erst die kleinen Stummelflügel und dann das Pferdefell am Rücken. Den Kopf zuletzt.

Als ich ein Stückchen Glibber von seinem Schnabel wischen wollte, versuchte er doch tatsächlich nach mir zu schnappen. Empört zog ich meine Hand weg. »Man beißt nicht die Hand, die einen füttert, Mittens«, schimpfte ich, doch ich wurde von Eamonn zur Seite geschoben.

»Du fütterst ihn ja auch nicht.« Er hatte keine Flasche gefunden, dafür aber eine tiefere Schale aus Holz. »Ich hoffe, er kann das von alleine«, seufzte er und schob Mittens die Schale vor den Schnabel.

Der kleine Hippogryph war anfangs etwas verwirrt und brauchte eine Weile, um sich auf alle viere zu schaffen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich einmal länger als zehn Sekunden stand und selbst dann musste Eamonn ihn noch stützen. Ganz ehrlich, dieses Tier sah aus wie ein gerupftes Huhn mit Pferdehinterteil. Doch irgendwann schaffte er es, seinen Kopf in die Schale zu stecken und als ich sein lautes Schlabbergeräusch hörte, wusste ich, dass er trank.

»Siehst du, deine erste Mahlzeit«, lobte Eamonn in einem liebevollen Ton und ich musste lachen.

»Ist Mittens’ Daddy stolz?«, zog ich ihn auf und er warf mir einen bösen Blick zu.

»Selbst tot bist du unausstehlich, Ezra«, konterte er und ich verstummte.

Mittens brauchte keine zwei Minuten, um die Schale leer zu trinken. Danach rollte er sich entspannt auf dem Handtuch zusammen.

Vorsichtig nahm Eamonn ihn auf den Arm, immer noch in das Handtuch gewickelt und nickte in Richtung Tür. »Vielleicht sollten wir uns auch irgendwo zum Schlafen hinlegen. Hier drin will ich auf jeden Fall nicht bleiben. Nicht mit dem toten Ding in der Ecke.« Wir beide sahen zu dem Vorhang, hinter dem der tote Hippogryph von der Decke baumelte.

»Du hast recht«, stimmte ich zu und ging voran. Vorsichtig spähte ich auf den Gang, aber es war alles ruhig. Nur leises Hufgetrappel in den Boxen, genau wie in dem Moment, als wir die Scheune das erste Mal betreten hatten.

»Wir sollten wirklich in der Scheune bleiben, Ez«, sagte Eamonn leise, während wir den Gang hinunterliefen. Sofort wurden die Tiere unruhig. »Ein bisschen Ausruhen könnte uns nicht schaden und vielleicht finden wir ja eine Strohkammer oder so was.«

Amüsiert drehte ich mich zu ihm um. »Wir sind auf keinem Pferdehof, Eamonn. Aber vielleicht kann uns das weiterhelfen.« Ich stieß die Tür der ersten Box auf. Sie war leer, aber auf dem Boden lag Stroh und an der Seite stand ein Wassereimer. Vermutlich war das die Box des Hippogryphen gewesen, der jetzt in der Futterkammer abwärts hing.

»Das sollte reichen«, seufzte Eamonn und ging an mir vorbei. Sachte schloss ich die Tür und stierte noch einmal durch die Gitter darüber auf den Gang, dann durch das Fenster auf der anderen Seite. Es bot einen guten Ausblick auf einen Weg direkt zum Haus. Links von uns befand sich das Feld und rechts von uns ging es das Tal hinab in die Siedlung. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen, also legte ich meine Strickjacke auf das Stroh und breitete mich darauf aus. Gemütlich war das nicht. Aber wir waren ja schließlich auch in der Hölle und nicht in Disneyland. Eamonn hatte Mittens ein kleines Bettchen aus dem Stroh gebaut, in das er ihn sanft hineinlegte. Dann setzte er sich neben mich.

»Hier, du kannst ein Stück von meinem Ärmel haben«, bot ich grinsend an und strich den Ärmel meiner Strichjacke neben ihm glatt.

»Du bist so lieb, Ezra, wenn ich dich nicht hätte«, feixte er zurück.

Wir beide lachten, aber trotzdem benutzte er das kleine Fitzelchen Stoff als Kopfkissen. Es dauerte eine Weile, bis er sich nicht mehr hin und her wälzte, aber irgendwann atmete Eamonn so ruhig, dass ich davon ausgehen konnte, dass er schlief. Durch die drei Risse in seinem Shirt, die sich durch seine Atmung gleichmäßig hoben und senkten, konnte man drei dunkle Narben auf seiner Brust sehen. Es war unwahrscheinlich, dass sie so schnell geheilt waren, mal ganz davon abgesehen, dass er tot war. Ich sah an mir selbst hinab, setzte mich auf und zog mein T-Shirt hoch. An der Stelle, an der sich früher mein Herz befunden hatte, war nun eine große, dunkelrote Narbe, die etwas nach innen gedellt war. Es schien eine Art Markierung zu sein. Ich seufzte und legte mich wieder hin, aber meine Gedanken wollten einfach nicht ihre Klappe halten. Alles ging mir durch den Kopf, von dem Songtext von Highway to hell, über meine Eltern bis hin zu Zero. Vor allem Zero. Wie es ihm wohl ging? Und was er gerade tat? Ich hätte es zu gerne gewusst. Ob er mich vermisste? Ich vermisste ihn. Sehr sogar. Es war das erste Mal, dass ich richtig verliebt war. So richtig, richtig. Mit dieser ekelhaften Kitschi-Kitschi-Gänsehaut, jedes Mal wenn man den Typen sieht, und den peinlichen Schweißausbrüchen, die man dann auf dem Klo mit Taschentüchern schnell zu vertuschen versucht. Es war jetzt sowieso egal. Ich wusste nicht einmal, was ich jetzt den Rest meiner Zeit hier anstellen sollte. Mir wurde immer klarer, dass ich hier wohl für immer feststecken würde. Und für immer war eine furchtbar lange Zeit. Ich schluckte einmal laut und versuchte meine Tränen zurückzuhalten. Heulen würde mir jetzt garantiert nichts bringen. Aber wie sollte ich auf ewig in so einer dunklen Welt leben? Ohne all die Dinge, die für mich einst alltäglich waren wie Autos, Fernsehen, Schule, Handys, Fastfood? Aber es wirkte fast so, als ob die anderen Toten sich eine Art Leben aufgebaut hätten. Mit Haus und allem Drum und Dran. Es wirkte auf mich momentan so absurd, aber vielleicht half es ja. Einfach weiterzumachen, nur auf eine andere Weise. Dann wäre es, als würden wir ein normales Leben führen. Nur in einer anderen Galaxie. Sehr weit weg von der alten Welt. Und sehr weit weg von Zero.

KAPITEL 2

Es war mitten in der Nacht, als er geweckt wurde. Laut klopfte sein Zimmernachbar an die Tür seines Bunkers, bis er es nicht mehr ignorieren konnte.

»Zero, mach die Scheißtür auf. Kera will los. Wir haben sie gefunden.«

Mit einem Ächzen rappelte Zero sich auf. Von letzter Nacht tat ihm noch immer alles weh. Am Tag zuvor hatten sie bis zum Morgengrauen nach Poppy Miller gesucht. Ein junges Mädchen und eine Todesfee. Aber Poppy war entkommen und Kera würde nicht eher ruhen, bis er sie gefunden hatte. Zero zog sich ein dunkles T-Shirt über und eine dazu passende Jeans. Die Springerstiefel, die er sich über die Füße zog, waren noch immer voller feuchter Erde, aber das juckte ihn nicht sonderlich. Er warf einen letzten Blick in sein kleines Zimmer. Darin befand sich nicht viel. Nur sein Metallbett mit der weißen Bettwäsche, ein kleiner Spind, aus dem er gerade seine Kleidung geholt hatte, und ein Tisch. Das Fenster neben seinem Bett war groß, jedoch konnte man dahinter nur eine graue Hauswand sehen. Er wusste nicht einmal richtig, wie er in diese Situation hineingeraten war, aber er wehrte sich nicht. Außer Kera hatte Zero schließlich nichts mehr. Mike Harries, der Direktor der Forest High, bei der Zero einst zu Hause gewesen war, hatte sich gegen ihn gewandt und dafür gesorgt, dass Ezra starb. So erinnerte er sich jedenfalls an die Geschehnisse. Die Forest High war keine Option mehr. Und nur Kera konnte all die Wut und den Hass in ihm zügeln, die sich in den vergangenen Tagen in seiner Seele aufgestaut hatten.

Zero verließ seinen Bunker. Schnell und leise strömten die einzelnen Dämonen aus ihren Bunkern über die Wiese zu der großen Villa. Es war frisch draußen und der Boden unter seinen Füßen rutschig. Zero folgte ihnen in das Gemäuer bis hin zum Foltersaal. So nannte er ihn, »den Foltersaal«. Es war eigentlich nur der größte Raum der alten Villa. Mit rot-goldenen Barockmöbeln eingerichtet und edlen dunklen Teppichen. So dunkel, dass man das Blut darauf nicht sehen konnte. Das Blut von vielen. Dementsprechend roch der Teppich auch, wenn man sich länger darauf befand. Zero hasste diesen Treffpunkt. Er roch einfach nur nach Tod und Verderben. In der Mitte des Zimmers stand ein großes Sofa. Mit rotem Samt bedeckt und goldenen, geschwungenen Füßen. Sie alle verteilten sich darum und betrachteten das Mädchen, das sich gefesselt auf den Polstern wand. Ihre Beine und Hände waren zusammengebunden und der Mund zugeklebt. Ihre blauen Augen wechselten panisch zwischen den vielen Personen, die sich um sie herum versammelt hatten. Sie trug einen karierten Schlafanzug im englischen Stil und ihre Füße waren nackt. Sie musste wirklich überrascht worden sein. Poppy war nicht älter als vierzehn. Wahrscheinlich hatte sie gerade erst herausgefunden, welche Fähigkeiten sie besaß.

Die Menge der Dämonen teilte sich und ein großer, schlanker Mann mit dunklen, schulterlangen Haaren stolzierte zum Sofa. Kera Soon. Der Anführer. Seine Lippen waren zu einem siegessicheren Grinsen verzogen und offenbarten seine spitzen Fangzähne. Er war ein Blutwolf. Ein Dämon, der sich von dem Blut anderer ernährte. Aber er hatte eine andere Mission. Eine viel größere. Und dafür brauchte er die Todesfeen. Jede Einzelne.

»Poppy, Poppy«, raunte Kera und setzte sich mit verschränkten Armen auf die Sofalehne. »Du hast dich aber nicht gut versteckt. Hast du wirklich geglaubt, wir würden aufgeben, wenn du uns einmal entwischst?«

Ihr Blick huschte immer noch Hilfe suchend zu ihnen. Aber niemand würde ihr helfen. So viel war sicher.

»Freut mich, dass unser werter Alexi besonders fleißig gewesen und bei dir eingebrochen ist. Wir wussten, dass du nicht zu Hause sein würdest, aber dass du zu deinen Großeltern geflohen bist, war wirklich naiv. Nicht nur, weil du jetzt auch ihr Leben auf dem Gewissen hast.«

Poppy fing an zu wimmern. Tränen flossen ihre Wangen hinab und über das Klebeband.

Plötzlich fing Kera so laut an zu lachen, dass Zero zusammenzuckte. »Heulen bringt dir jetzt auch nichts, Kleines. Das hat meine Schwester auch getan, bevor ich sie getötet habe.« Dann schnipste er mit dem Finger. »Sandy, du weißt, was zu tun ist. Sprich lieber vorher den Nachahmungszauber aus, ich habe das Gefühl, dass sie sich weigern wird, mir die Seelenteile zu übertragen.«

Eine kleine, zierliche Frau trat aus der Menge heraus. Sie nickte und hatte den Kopf so weit gesenkt, dass ein paar ihrer roten Strähnen ihr ins Gesicht fielen. Schale und Messer hatte sie schon in der Hand.

»Zero!«, blaffte Kera schließlich. »Steh nicht so dämlich herum. Verwandle dich und halt die Kleine in Schach. Du müsstest dich doch damit auskennen.«

Zero ging auf seinen persönlichen Angriff nicht einmal ein. Er nickte nur und in Sekundenschnelle nahm er seine Todesengelgestalt an. Seine schwarzen Flügel, die weit über seinen Kopf ragten und deren Spitzen erst an seinen Knien endeten, schützten ihn vor den Blicken der anderen. Zero packte das Mädchen und riss ihm das Klebeband vom Mund. Sowie sie den Mund öffnete, um zu schreien, verpasste er ihr eine saftige Ohrfeige, sodass ihr Kopf zur Seite flog. Ein paar Haarsträhnen blieben auf ihrer tränenbenetzten Wange kleben.

»Je mehr du dich wehrst«, zischte Zero, »umso mehr Schmerzen wirst du bei deinem Tod erleiden. Wenn du auf mich hörst, wirst du schnell sterben und niemand wird dich weiter anrühren, hast du mich verstanden?«

Poppy nickte schluchzend. Etwas sanfter setzte Zero sie auf den Boden, wo Keras Hexe Sandy bereits alles für das Seelenspaltungsritual vorbereitet hatte. Zero kniete sich hinter das Mädchen, immer noch einen Arm um seinen Bauch geschlungen, damit es nicht entkommen konnte, und hielt Sandy seine Hand entgegen. Als Poppy das Messer sah, wollte sie sie zurückziehen, aber Zeros Griff war zu stark. Sandy nickte. »Legen wir los.«

***

Ich wachte abrupt auf, weil ich grob gepackt wurde und keine Luft mehr bekam. Als ich die Augen aufschlug, sah ich direkt in die eines großen, dunkelhaarigen Mannes. Ich wollte schreien, Eamonn warnen, aber der Mann hielt mir den Mund zu. Ich zappelte und wand mich, trat nach ihm, doch er wich geschickt aus. Er verstopfte meinen Mund mit einem Tuch und fesselte meine Hände. Ich konnte nichts mehr tun. Mein Herz schlug bis zum Hals und ich musste mich erst einmal orientieren, denn zuerst wusste ich nicht einmal mehr, wo ich mich genau befand. Genau, ich war in dem Stall voller Hippogryphen eingeschlafen. Wir hatten Mittens gefüttert und uns dann in einer der Boxen schlafen gelegt.

Der Mann warf mich mit Leichtigkeit über seine Schulter und ich knallte mit dem Kopf gegen seinen Rücken. Sein blaues T-Shirt roch nach Erde und Schweiß und ich verzog das Gesicht. Mit etwas Mühe schaffte ich es, den Kopf leicht zu heben und sah, dass es Eamonn genauso erwischt hatte. Der Mann war also nicht alleine gekommen, sondern mit einem Gehilfen, der Eamonn vor sich her schubste. Mittens hatte er in das Tuch eingewickelt und hielt ihn schützend in seinen Armen.

»Wo bringt ihr uns hin? Was soll das hier? Wir haben nichts getan«, fauchte Eamonn, doch der große Kerl, der ihn vorantrieb, ignorierte ihn. Hilflos sah Eamonn zu mir hinauf. Warum war ich eigentlich gefesselt und Eamonn durfte frei in der Gegend herumspringen? Wussten die etwa, dass ich ein Blutwolf war? Oder noch schlimmer, einer der letzten Todesfeen?

Die beiden Männer führten uns aus der Scheune heraus ins Freie. Draußen war es ein wenig heller. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, weil ich bis eben noch im Land der Träume gewesen war. Ich stützte mich mit großer Mühe auf dem Rücken des Mannes auf und schaute über seine Schulter, um zu sehen, wo er uns hinbrachte. Direkt am Feldrand warteten zwei große Hippogryphen. Die beiden waren keineswegs mit dem kleinen Mittens zu vergleichen. Wenn dieser wirklich so groß werden sollte, konnte Eamonn sich ja auf etwas gefasst machen. Anscheinend waren die Hippogryphen im Stall noch lange nicht ausgewachsen. Die beiden Fabelwesen vor uns waren pechschwarz und schwangen ungeduldig ihren Schweif hin und her. Sie wackelten nervös mit dem Kopf und schlugen leicht mit ihren großen Flügeln. Erschöpft ließ ich mich wieder auf den stinkenden Rücken des Mannes sinken. Einen Moment später warf er mich wie ein Stück totes Vieh über den Rücken des Tiers, sodass mir unter Schmerzen die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Mit zusammengebundenen Händen stützte ich mich ein wenig auf und schaffte es, das Tuch aus meinem Mund zu spucken.

»Geht’s auch ein bisschen sanfter?«, zischte ich, aber der Mann, der mich eben noch getragen hatte, ignorierte mich. Dazu kam, dass das Tier auch nicht sonderlich toll roch, ähnlich wie ein nasser Hund. Eamonn wurde ganz ladylike auf den Hippogryphen gehoben und hätte ich nicht gewusst, dass wir mit den Dingern wahrscheinlich gleich losfliegen würden, hätte ich gelacht.

Beide Männer stiegen auf, nahmen die Zügel auf und gaben den beiden schwarzen Schönheiten die Sporen. Ich war heilfroh, dass der Typ sich hinter mich gesetzt hatte, sodass ich vor ihm saß, denn sonst wäre ich direkt wieder runtergeflogen. Der Hippogryph erhob sich in die Luft und mein Herz sank immer weiter nach unten. Durch meine liegende Position konnte ich genau beobachten, wie die Scheune unter uns immer kleiner wurde. Mir wurde speiübel. Ich hatte tierische Höhenangst. Es gab einen Grund, warum ich als Todesfee noch nie meine Flügel benutzt hatte. Ich schloss die Augen, um nicht auf das arme Tier zu erbrechen. Der Flug kam mir ewig vor und ließ mir genug Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wo die Deppen mich und Eamonn hinfliegen wollten. Wie hatten sie uns außerdem gefunden und was wollten sie? Wir waren doch bereits in der Hölle, konnte es überhaupt noch schlimmer werden?

Ich öffnete kurz die Augen, um zu sehen, wo wir hinflogen, und bereute es sofort. Ich konnte nicht einschätzen, wie hoch wir waren, aber es überschritt eindeutig die Stuhlhöhe, die ich ertrug. Wir flogen gerade über die Siedlung hinweg, die Eamonn und ich von der Scheune aus gesehen hatten. Die Menschen hier hatten sich also tatsächlich eine Welt aufgebaut. Das tat man also, wenn einem langweilig war: eine neue Welt aufbauen. Die Landschaft, die sich in der Ferne erstreckte, war kahl oder mit Wald bedeckt. Unter uns wurden die Hütten mehr und dichter. Ich hatte kein weiteres großes Feld gesehen. Es schien das einzige gewesen zu sein.

Als ich in Flugrichtung sah, blieb mir noch einmal die Luft weg. Die ganzen Häuser waren an einem Strand entlang gebaut und über die Dächer hinweg flogen Hunderte von Hippogryphen wie Vögel umher. Sie kreisten in einem hohen Bogen um etwas herum, aber auf einmal wurde mir so übel, dass ich die Augen wieder schließen musste. Ich wusste nicht, was mir weniger passte: Dass ich fast das arme Tier vollgekotzt hätte oder nicht einmal sehen konnte, wo wir hinflogen. Das regelmäßige Schlagen der Flügel beruhigte mich ein wenig, aber auch nur, solange ich nicht wieder die Augen öffnete.

Ich nahm wahr, wie wir die anderen Hippogryphen passierten, denn ihr Kreischen wurde immer lauter und irgendwann waren wir ihnen so nah, dass ich ihr Flügelschlagen hören konnte. Hippogryphen klangen wie Adler, nur sehr viel lauter und schriller.

Als ich merkte, dass der Hippogryph, mit dem wir flogen, begann nach unten zu fliegen, krallte ich mich fester in sein Gefieder. Ich traute mich einfach nicht, die Augen zu öffnen. Ich spürte nur, wie mein Herz drohte, mir aus der Brust zu springen, und ich wartete, bis ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Es kam mir ewig vor, bis wir auf dem Boden aufkamen und mir durch das unsanfte Aufkommen kurz die Luft aus dem Brustkorb gepresst wurde. Als ich die Augen öffnete, kamen wir gerade zum Stehen, doch ich hatte nicht einmal mehr Zeit mich umzusehen. Ich ließ mich von dem Tier gleiten und übergab mich. Viel kam nicht raus, denn ich hatte seit fast einem Tag nichts mehr gegessen. Doch das bisschen landete auf meinem Entführer, der mich festhielt, weil er gedacht hatte, ich wolle fliehen. Erst zu spät merkte er, was wirklich los war. Er brüllte auf und machte einen Satz nach hinten. Mit angewidertem Gesicht zog er sich sein schmutziges T-Shirt über den Kopf und schmiss es beiseite. »Ist das dein Ernst, Mädchen?«, zischte er und sobald ich wieder gerade stehen konnte, musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Verdient war verdient.

Erst jetzt sah ich mich um. Masten, Fahnen und eine große Reling umgaben mich. Ich war auf einem Segelschiff. Als ich nach vorne sah, konnte ich den Bug erkennen. Hinter mir war eine große Tür, die in den Schiffsbauch führte. Rechts und links davon führten Stufen hinauf aufs Steuerdeck. Ich konnte das riesige Steuerrad von hier aus sehen, welches groß und bedrohlich mit goldenen Schlangen verziert über mir emporragte. Das ganze Schiff war aus dunklem Holz. Um uns herum hatten sich einige Männer und Frauen versammelt und starrten uns neugierig an. Auch vereinzelte Hippogryphen beobachteten mich, doch sie schüttelten sich nur einmal kurz und hoben dann wieder ab. Wie Möwen umkreisten sie nun das Schiff. Anscheinend waren diese Viecher die Pferde der Hölle.

Kurz vor dem Bug konnte ich eine weitere Tür sehen, die steil nach unten führte. Um ehrlich zu sein, war das Ding hier kein Schiff, es glich eher einem Schloss auf Wasser. Einem Kreuzfahrtschiff aus Holz. Ich sparte mir den Atem zu fragen, wo wir waren und warum wir hier waren, und ergab mich meinem Schicksal. Der Mann, der eben noch sein Shirt über Bord geworfen hatte, legte beide Hände auf meine Schultern und führte mich vorwärts. Ich strauchelte noch immer ein wenig und hielt mir vorsichtshalber die Hand vor den Mund, aber seitdem ich alles rausgelassen hatte, ging es mir eindeutig besser. Hauptsache ich musste heute nicht noch einmal fliegen. Die letzte Tür öffnete sich automatisch, sowie wir uns ihr näherten. Ich sah mich kurz um, doch Eamonn wurde zurückgehalten und ich wurde von ihm weggeführt. Er wehrte sich nicht einmal, sondern nickte mir nur zu. Dann schloss sich die Tür zum Deck. Komischerweise hatte ich nicht einmal mehr Angst. Meine Güte, ich war doch bereits tot! Also protestierte ich nicht.

Im Inneren des Schiffs roch es irgendwie nach Jasmin und anderen Kräutern, die ich nicht identifizieren konnte. Ich wurde einen schmalen Gang entlang geschoben. Rechts und links von mir befanden sich mehrere geschlossene Türen. Wir kamen am Ende des Ganges an und die Tür dort war nur angelehnt und durch den kleinen Schlitz an der Seite schien warmes Licht. Noch bevor der Mann hinter mir anklopfen konnte, ertönte ein weiches »Herein«. Mit der Schulter stieß ich gegen die Tür, sodass diese quietschend zur Seite schwang. Der Kräuterduft umhüllte mich nun völlig und vernebelte mir die Sinne. Als ich wieder klar denken konnte, erkannte ich, dass vor uns ein junger Mann auf einem Stuhl saß, der mit überschlagenen Beinen und zusammengefalteten Händen zu uns heraufsah.

Sein Mund formte sich zu einem Lächeln und er zeigte mit einer seiner schlanken Hände auf den Stuhl vor sich. Ich wurde von dem Mann, der mich hergeführt hatte, auf den Sitz gedrückt und sah mich um, während er seine Hand auf meiner Schulter ruhen ließ. Der Raum war vollgestopft mit Krimskrams. Das meiste davon konnte ich auf die Schnelle nicht identifizieren, aber bei ein paar handelte es sich um Kugeln aus Glas, die ein bisschen den Kristallkugeln aus Filmen ähnelten, kleine Reagenzgläser mit grünlichen und roten Flüssigkeiten und Karten. Jede Menge Karten. Ich wusste nicht einmal, dass die Hölle so vielseitig war, dass man auch hier zu einem Sammler werden konnte.

Alles in allem wirkte die Kajüte trotzdem edel. Auch der Schreibtisch des jungen Mannes, der das einzig Aufgeräumte hier war, war mit Marmorierungen durchzogen, die leicht zu schimmern schienen.

»Danke, Chris, und hallo, Ezra«, sagte er ruhig.

Ich sah ihn erschrocken an. Er kannte meinen Namen.

»Ich bin Malux.« Er reichte mir die Hand.

Ich nahm sie zögernd entgegen, soweit mir das mit meinen zusammengebundenen Handgelenken möglich war.

Sowie unsere Hände sich berührten, zuckte er zusammen, als hätte er einen Geistesblitz, doch er fing sich sofort wieder. Malux sah nicht älter aus als fünfundzwanzig. Er hatte platinblondes, kurzes Haar, das ordentlich und penibel zur Seite gekämmt war, und unheimliche eisblaue Augen. Sein Gesicht war so zart, dass er schon fast etwas Weibliches an sich hatte, doch die kantigen Kieferknochen und das Grübchen am Kinn zerstörten das Bild ein wenig. Außerdem stach einem sofort die große rote Narbe ins Auge, die sich quer über seinen Hals zog wie eine Kette. Er trug einen schwarzen Ledermantel, der unter dem Tisch verschwand. »Woher weißt du, wer ich bin?«, fragte ich zögernd.

Ein Lächeln breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus und irgendwie kam es mir bekannt vor.

»Ich habe dich kommen sehen. In dem Moment, als du diese kleine trostlose Welt hinabgestürzt bist, habe ich dich kommen sehen.«

»Hi… hinabgestürzt?« Dieser Typ war extrem merkwürdig und verwirrend. Besonders jetzt, da er plötzlich anfing zu lachen.

»Schätzchen, du bist härter auf dem Boden aufgeschlagen, als Dorothy mit ihrem Haus in Oz.«

Die Vorstellung, dass Eamonn und ich plötzlich vom Himmel gefallen waren, war einfach nur absurd. »Wie hast du uns kommen sehen?«, hakte ich nach und stützte mich mit den Ellbogen auf Malux’ Schreibtisch ab.

»Kriegt die kleine Fee ihr Selbstvertrauen zurück?«, feixte Malux und wurde mir immer unheimlicher. Er wusste, wie ich hierhergekommen war, er wusste, wer ich war und vor allem was ich war. Ich war keine zwei Tage hier und hatte bisher nichts anderes getan, als zu schlafen und diesen dämlichen Hippogryph zu füttern.

»Ich bin der König der Unterwelt, Ezra, und das bin ich nur, weil ich der mächtigste Hellseher des Landes bin.«

KAPITEL 3

Ein Hellseher? Daher wusste er also das alles. Er bekam Visionen.