Titel

Klaus-Dieter Sedlacek (Hrsg.)

 

Expeditionen zur Eroberung der Antarktis

 

Eine dramatische Entdeckungsgeschichte

Mit legendären Beweisfotos

Herausgegeben von
Klaus-Dieter Sedlacek

Toppbook Abenteuer Naturwissenschaft Bd. 3

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://​dnb.​ddb.​de abrufbar.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Herausgeber

Buchtext

I. Antarktis

II. Die ersten Menschen auf antarktischen Festland

III. Dramatische Schlittenreisen über Gletscherspalten

IV. Die letzten Eintragungen in Kapitän Scotts Tagebuch

V. Amundsens Gewaltmarsch auf der Fram-Expedition

VI. Auf Tod und Leben gegen die Natur

VII. Gefährliche Eisdrift wider Willen

VIII. Die Endurance-Katastrophe Shackletons

IX. Richard Byrds Riesenflug zum Südpol

X. Zeittafel der Südpolarforschung

Buchtipps

Impressum

Der Herausgeber

 

Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, studierte in Stuttgart neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufspraxis in der eigenen Firma widmet er sich nun seinen privaten Forschungsvorhaben und veröffentlicht die Ergebnisse in allgemein verständlicher Form. Darüber hinaus ist er der Herausgeber mehrerer Buchreihen unter anderem der Reihen 'Wissenschaftliche Bibliothek' und 'Wissen gemeinverständlich'.

Buchtext

I. Antarktis

Wo die Erdkarten des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch einzelne Inseln, viel „Unerforschtes Gebiet“ und einen „Antarktischen Ozean“ verzeichnen, steigt jetzt unter langsam fortschreitender, schwerer und gefährlicher Forscherarbeit der sechste Erdteil aus seinem von grimmigen Meeren umbrandeten Packeisgürtel. Dieses südliche Festland ist vermutlich größer als Europa, doch wissen wir das nicht bestimmt, denn heute ist noch nicht alles von seiner auf 20.000—25.000 Kilometer Länge geschätzten Küstenlinie vollständig erkundet. Aufgrund dieser seitherigen Forschungen, die immer wieder ebenso viele Fragen auslösten, als sie unanfechtbare Antworten zu bringen vermochten, ist es ein rundlicher Erdteil, vorwiegend innerhalb des 70. Breitegrades gelegen, mit zwei gewaltigen Einbuchtungen, dem Rossmeer und dem Weddell-Meer, und einer riesigen inneren Hochebene von etwa 500 Kilometer Halbmesser und gegen 3000 Meter Meereshöhe, die sich mit einem Steilabfall zum flacheren Ufersaum abdacht. Die größte seither erkundete Bergkette streicht an der Westküste des Rossmeers entlang und dann in östlich gerichtetem Bogen am Südpol vorbei. Sie zeigt Spitzenerhebungen bis 5000 Meter, ihre bis jetzt festgestellte Länge ist etwa 1800 Kilometer, also gut das Anderthalbfache des Alpenbogens von Nizza bis Wien.

An diesem antarktischen Erdteil hat alles den Zug ins übermenschlich Große, starr Abweisende: Seine Einsamkeit inmitten der unwirtlichen Meere, der breite Gürtel der Packeisfelder, die drohende Stirn seiner riesigen Gletschertore, durch die er die Niederschläge des Innern in der Form von Eisinseln in die See abschiebt, und nicht zuletzt der von der Kälte angesaugte ungeheure Luftberg, der in rasenden Südstürmen küstenwärts hinbraust.

Bei keinem anderen Erdteil liegt der Vergleich mit einer Festung der alten Zeit so nahe. Ihr Wallgraben sind die südlichen Ausläufer des Atlantischen, Indischen und Stillen Ozeans, ihr erstes Außenwerk das Packeis, ihre Ringmauer die Steilküsten und Eisbarren, ihr Hauptturm die innere Hochfläche. Verblüffend ist der Vergleich derselben Breiten der nördlichen und südlichen Halbkugel. Innerhalb des 60. nördlichen Breitengrades, in Skandinavien, Russland, Sibirien, Alaska, Kanada, Grönland und Island, leben mehr als eine Million Menschen und ungezählte Landsäugetiere, in diesem nördlichen Kreise stehen einige der größten und wertvollsten Wälder der Erde. In demselben Gebiet der südlichen Halbkugel wächst kein Baum, hier hausen nicht ein einziger Mensch als Dauerbewohner und kein Landtier. Die einzige Industrie ist der während weniger Sommermonate mit Fliegern, Jagdbooten, Harpunenkanonen und großen schwimmenden Schlachthäusern ausgeübte Walfischfang, der ohne die nun glücklicherweise einsetzende staatliche Regelung diese Gewässer ebenso ausrauben und damit sich selbst vernichten würde, wie eine schöne Art von PelzSeehunden zu Anfang des 19. Jahrhunderts durch wüste Schlächterei ausgerottet wurde.

In der Antarktis hat die Natur allein das Wort; sie führt es gewaltig mit dem Brausen ihrer Stürme und dem Donner der kalbenden Gletscher. Den Umfang der von ihnen meer-wärts abgeschobenen Eismassen veranschaulicht am besten eine einzige Größenangabe. Die auf 4oo Meter Dicke geschätzte, aus Gletscher- und Meereis bestehende, meist schwimmende Rosseisplatte zwischen dem Rossmeer und der schon erwähnten inneren Bergkette hat ungefähr die Größe Frankreichs. Sie schiebt sich jährlich um etwa 800 Meter meerwärts vor und kalbt Eisinseln bis zu 50 Kilometer Länge.

II. Die ersten Menschen auf antarktischen Festland

Cook und Bellingshausen umsegeln die Antarktis / Ross durchbricht das Packeis, er findet das offene Rossmeer und die große Eisbarriere / Erkundungen zum Zweck des Walfischfangs / die deutsche Orygalski-Expedition.

Kein Wunder, dass sich der menschliche Forscherdrang diesen unberechenbaren und darum unheimlichen Naturgewalten so lange fernhielt. Erst der Kompass rückte ja das Befahren der offenen Meere überhaupt in den Bereich der Möglichkeit. Der Schiffbau und die Seemannskunst mussten sich vorher in den milderen Gewässern der Erde ausbilden, ehe sich der erste Kapitän in die Breitengrade südlich des Kaps der Guten Hoffnung vorwagte, für welche die englische Seemannssprache später den treffenden Namen „Die brüllenden Vierziger“ (Roaring Forties) schuf. Nach den für unsere Kenntnis der südlichen Halbkugel grundlegenden Fahrten der großen portugiesischen, spanischen und italienischen Seehelden des 15. und 16. Jahrhunderts und der von ihnen nachgewiesenen Zuspitzung von Afrika und Südamerika bekamen die Geografen Angst für das Gleichgewicht der Erde und legten als Gegengewicht gegen die großen nördlichen Landmassen eine riesige „Terra Australis Incognita“ (Unbekanntes Südland) um den Südpol. Im Jahre 1578 stieß der englische Kapitän Francis Drake bis zum 57. Grad südlicher Breite vor und bewies, dass das Feuerland nur eine große Inselgruppe, nicht aber ein Teil des ungeheuren antarktischen Festlandes sei. Die Franzosen Bouvet, Merion-Dufresne und Kerguelen-Tremarec entdeckten dann die nach ihnen benannten Inseln und Inselgruppen, aber erst mit James Cook, einem der kühnsten und tüchtigsten Männer, den die Geschichte der Seefahrt kennt, beginnt die Reihe der antarktischen Forscher im eigentlichen Sinn. Die britische Admiralität gab ihm den ebenso seltsamen wie umfassenden Auftrag, „das große südliche Festland zu entdecken oder zu beweisen, dass keines da sei“. Als armer Kätnerjunge hatte Cook von der Pike auf gedient und in harter Schule sein Seemannshandwerk erlernt. Seine sauer verdienten Spargroschen verwendete er auf Lehrstunden in der höheren Schifffahrtskunde. Bei einer späteren Verwendung bildete er sich zum Meister in der Aufnahme von Küstenkarten aus. Erst mit 40 Jahren wurde er Leutnant, bekam dann aber selbstständige Aufträge, die sich für sein Vaterland durch die Kenntnis des Stillen Ozeans lohnten. So war Cook ein wohlerfahrener und wohlerprobter Seemann, als er am 13. Juli 1772 mit den Schiffen „Resolution“ und „Adventure“ dem unbekannten Süden zufuhr. Beide Fahrzeuge waren besonders stark gebaut und hatten die richtige Größe von 400 Tonnen, die für die eigentliche Eisschifffahrt bis zum heutigen Tag nicht gerne wesentlich überschritten wird. Sie fuhren über Kapstadt und sichteten am 10. Dezember schon unter 50° 40' eine richtige Eisinsel. Es war ein Vorgeschmack von dem, was diese Weltgegend zu bieten hatte. Der 17. Januar 1773 wurde zum großen Tag der antarktischen Forschung durch die erstmalige Überschreitung des südlichen Polarkreises (66° 23'). Bald sperrte zusammenhängendes Packeis weiteres Vordringen in südlicher Richtung. Mit Überwinterung in Neuseeland, wo ihn die „Adventure“ unter Kapitän Tobias Furneau verließ, hielt sich Cook über ein Jahr in diesen gefahrvollen Gewässern auf und führte eine richtige südliche Erdumseglung durch. Er stellte fest, dass zwischen Neuseeland und Feuerland keine Landverbindung bestehe, und zerstörte die Sage von einem bewohnbaren südlichen Erdteil. Am 30. Januar 1774 erreichte er mit 71° 10', die höchste südliche Breite, die in diesem pazifischen Abschnitt der Antarktis jemals erreicht wurde. Die Fahrt war so hart und gefährlich gewesen, dass Cook annahm, das große antarktische Festland werde, sofern es vorhanden sei, wohl für alle Zeiten unentdeckt bleiben. Ihm selbst verwehrte der Packeisgürtel den Blick auf die Festlandküste. Er entdeckte die Süd-Sandwichinseln und Südgeorgien, dessen Haupthafen Grytviken der spätere Ausgangspunkt vieler Vorstöße in die Antarktis wurde. Mit echt englischer Zurückhaltung gegenüber dem nicht bestimmt Nachzuweisenden fasste er seine Erkundungen in dem Satz zusammen: „Wenn jemand den Willen und die Ausdauer besitzen sollte, diese Frage dadurch aufzuklären, dass er weiter vordringt, als ich's getan habe, werde ich ihm die Ehre der Entdeckung nicht neiden, aber so viel wage ich zu sagen, dass die Welt davon keinen Nutzen haben wird.“ So sprach der Mann, der auf seiner großen Fahrt nach der Antarktis und um deren Eisfesten herum fast die Entfernung von drei Äquatorlängen zurücklegte. Cook war aber nicht nur ein großer Seemann, sondern auch ein großer Hygieniker. Ihm gelang es zuerst, den Skorbut (Mundfäule), die Geißel der langen Seefahrt, durch kluge Ernährung seiner Mannschaft fernzuhalten. Auf dieser großenteils sehr anstrengenden Reise von l000 Tagen verlor er von einer Besatzung von 118 Mann nur einen einzigen.

Durch seinen Bericht von dem unglaublichen Reichtum dieser südlichen Meere an wertvollen Seetieren und durch die Entdeckung günstiger Standorte für deren Jäger brachte er den Walfischfang und die Robbenschlägerei in den Südmeeren in Gang, die sich bald zu einer ungemein lohnenden Industrie entwickelten. Diese Walfisch- und Robbenfänger, deren Namen nur zum geringeren Teil verzeichnet sind, erweiterten und vertieften die antarktische Wissenschaft beträchtlich. Auf der Suche nach ihrem Wild, das sich den Nachstellungen immer weiter südwärts entzog, drangen sie bis ins Packeis vor und bildeten sich zu Fachleuten in der Bezwingung eines Hindernisses aus, das unter dem Schub der furchtbaren Stürme wie eine Mausefalle zuschnappen und die Schiffe in seinem Schollengewirr zermalmen und zerquetschen konnte. Diese unerschrockenen Freibeuter der Südmeere stellten den späteren Forschern Kapitäne und Mannschaften, mit deren Hilfe sie endlich bis zur Küste des südlichen Festlandes vorzudringen vermochten.

Trotzdem dauerte es fast 50 Jahre, bis der große Cook einen ihm einigermaßen ebenbürtigen Nachfolger fand. Alexander I. von Russland schickte im Jahre 1819 den baltischen Seekapitän Fabian von Bellingshausen mit den Schiffen „Wostok“ und „Mirni“ von je 500 Tonnen aus mit dem ausdrücklichen Auftrag, Cooks Entdeckungsfahrt fortzusetzen und insbesondere an den Stellen südwärts vorzustoßen, wo dieser hatte nordwärts abbiegen müssen. Dies war leichter gesagt als getan. Immerhin sichtete Bellingshausen als Erster unzweifelhaftes Land innerhalb des Polarkreises. Es war eine kleine Insel, die er Peter I. Insel nannte. Eine Woche später glaubte er in einer Entfernung von 70 km ein größeres Land zu sehen, das er mit dem Namen seines Kaisers belegte. Beide Entdeckungen liegen in der Nähe des Polarkreises gegen Südamerika zu.

Von der berühmten Londoner Tranfirma Enderby ermutigt, drang der Kapitän James Weddell im Jahre 1823 in der nach ihm benannten tief einschneidenden Bucht bis auf 74° 15' vor, während John Biscoe bald darauf das weit nach Norden vorspringende Enderby-Land entdeckte. Damit war erstmals das afrikanische Viertel des Südpolarkreises in Angriff genommen. Der Sturm auf den australischen Quadranten folgte wenige Jahre später durch den großen französischen Seemann Dumont d'Urville und dann durch den Amerikaner Charles Wilkes. Beide sahen in der Gegend des heutigen Adelie-, Kemp- und Wilkes-Landes an verschiedenen Stellen Felsküste. Da der weitaus größte Teil der antarktischen Flachküste eiffelturmhoch mit Eis bedeckt ist und die Sicht sehr häufig durch Wolken und Nebel behindert oder durch die unter der Bezeichnung „Mirage“ bekannte Fata Morgana der Polarländer irregeleitet wird, bietet die Festlegung der Küstenlinie vom Schiff aus unglaubliche Schwierigkeiten. Immer wieder wurden „Länder“ entdeckt, wo das Senkblei eines später Kommenden auf tausend Faden keinen Grund finden konnte.

Der Engländer James Clark Ross war es, der durch die Entdeckung des Rossmeers seinen Nachfolgern die Pforte zum Südpol aufstieß. Wie so mancher Seemann dieser harten Zeit war er schon mit 12 Jahren in die Marine eingetreten. Er hatte dann 8 Jahre lang unter Eduard Parry

Abb. 1: Sir James Clark Ross, von John R. Wildman,

1833-34, National Maritime Museum, London

im höchsten Norden den Kampf mit Eis, Sturm und Kälte kennengelernt und 1829 mit seinem Onkel John Ross den magnetischen Nordpol erreicht. Zehn Jahre später wurde dem nun zum Seekapitän aufgerückten Neffen der Oberbefehl über die beiden besonders starken Segelschiffe „Erebus“ und „Terror“ von 370 und 340 Tonnen zu antarktischer Forschung übertragen. Den „Terror“ befehligte der tüchtige Kapitän F. R. M. Crozier. Ein junger Wundarzt I. D. Hooker trat er die Dienste der Kriegsmarine, nur um an dieser Fahrt teilnehmen zu können. Er sollte noch die Vollendung des damals Begonnenen durch Scott und Shackleton bis zum Jahre 1910 miterleben.

Die Schiffe erreichten nach allerlei Fährlichkeiten im Mai 1840 die Kerguelen und nahmen dort 2 Monate lang magnetische Beobachtungen vor. Nach furchtbaren Stürmen kamen sie nach Hobart auf der Insel Tasmanien, deren damaliger Gouverneur Sir John Franklin nur wenige Jahre später den unheimlichen Namen Erebus und Terror im nordpolaren Forschungsgebiet zu trauriger Berühmtheit verhelfen sollte. Am Neujahrsfest 1841 segelten Ross und Crozier über den Polarkreis. Es war die günstige Zeit des antarktischen Hochsommers, und so wagten sie, auf ihre Seemannskunst vertrauend, den Kampf mit dem gelockerten Packeis, ein Versuch, den vor ihnen noch keiner unternommen hatte. Sie fanden offene Stellen und verbindende Kanäle und gelangten nach fünftägiger, nicht allzu harter Arbeit zu ihrem höchsten Staunen in offenes Wasser. Sollte dies das fürchterliche Packeis gewesen sein, vor dem alle ihre Vorgänger kehrtgemacht hatten? In der Richtung des magnetischen Pols weiter segelnd, sahen sie eine hohe Bergkette, die sich genau nach Süden hinzog. Ross nannte ein gewaltig ausladendes Vorgebirge Kap Adare. Da ihm die Steilküste und die ihr vorgelagerte Eisdecke eine Landung verwehrten, nahm er auf der kleinen Possession-Insel förmlichen Besitz von diesem neu entdeckten Festland und gab ihm nach seiner Königin den Namen Süd-Victoria-Land. Wie in einem Märchen fühlten sich die Seefahrer, als ihnen ihr südlicher Kurs eine Herrlichkeit nach der andern auftat. Am 28. Januar sichteten sie einen 4000 Meter hohen rauchenden Vulkan, dem Ross den hierfür trefflich passenden Namen seines Schiffes gab. Den Gipfel daneben nannte er nach dem Schwesterschiff. Das lodernde Feuer aus dem glühenden Erdinnern war ein wunderbarer Anblick in dieser starr-weißen Polarlandschaft. Ihre Hoffnungen schweiften schon bis zum Südpol, aber plötzlich sperrte ihnen eine gegen 100 Meter hohe lückenlos starrende Eismauer den Weg. Die Bergkette zur Rechten, der Eiswall vor ihnen — war dies das Ende ihrer Pläne? Ross schreibt: „Es war ebenso unmöglich, durch diese Eismauer vorzudringen wie durch die Klippen bei Dover.“ Der Vergleich dieses großartigen Naturwunders mit den stolzen heimatlichen Kreidefelsen ist ausgezeichnet. Aber sie wollten südwärts und folgten daher der großen Barre in einem achtungsvollen Abstand von 7 bis 9 Kilometern, um eine Lücke zu finden. Umsonst — die Mauer blieb 60 bis 90 Meter hoch. Fast 500 Kilometer fuhren sie in östlicher Richtung an ihr entlang und drangen dabei bis 78° 4' gegen Süden vor. Aber nun sahen sie auch den Weg gegen Osten durch eine Barre versperrt. Sie mussten zurück und kamen wohlbehalten nach Hobart, nachdem sie die aufschlussreichste Fahrt in die Antarktis vollendet hatten.

Der Gedanke an den Südpol hatte sich bei Ross festgesetzt. Im November desselben Jahres wagte er einen neuen Vorstoß. Er wollte noch weiter gegen Osten ausgreifen, vielleicht war dort das ersehnte offene Wasser. Dieses Mal zeigte ihnen die Antarktis die grollende Stirn schon im Packeisgürtel. Von undurchdringlichen Nebelmassen eingeschlossen, mussten sie jeden Augenblick auf einen zermalmenden Zusammenstoß mit schwimmenden Eisbergen gefasst sein. Um nicht getrennt zu werden, verankerten sie die beiden Schiffe an einer mächtigen Eisscholle. Ein heftiger Südwind schlug in einen nordwestlichen Sturm um, die Trossen rissen, und beide Schiffe wurden wehrlos in das dichte Treibeis hineingejagt. Die Wände krachten unter dem Anprall der Eismassen, die Masten zitterten und drohten, über Bord zu gehen. Auf beiden Schiffen wurden die Steuerruder zertrümmert; 28 Stunden lang währte der Kampf gegen den scheinbar sicheren Untergang, ohne dass die Disziplin und Geistesgegenwart dieser Helden Not gelitten hätte. Ein Stoß folgte dem andern, und jeder konnte der Todesstoß sein. Aber die Holzwände hielten stand, der Sturm ließ nach, die Zimmerleute flickten die Steuerruder wieder zusammen, und der Kurs wurde erneut südöstlich gesetzt. Durch das schon bekannte offene Rossmeer drangen sie wieder bis zur großen Eisbarre vor und erreichten sogar 78° 10', die höchste südliche Breite für die nächsten 60 Jahre. Die Eismauer war hier nur etwa 25 bis 30 Meter hoch, und von den Mastspitzen schweifte der Blick über die unendliche glatte Fläche der Ross-Platte südwärts, pol-wärts. An dieser Stelle entdeckte Scott 60 Jahre später das Eduard VII.-Land. In den Aufzeichnungen seines Vorgängers Ross steht nur: „Der Eisrand stieg gegen Süden sachte und gleichmäßig an, und wir glaubten, die Andeutung von sehr hohen, vollständig schneebedeckten Gebirgsmassen zu erkennen. Aber diese Andeutungen von Land sind auf große Entfernungen so unsicher, dass ich keine bindende Behauptung aufstellen möchte.“ Der verantwortungsbewusste Beobachter spricht dann von Felsenriffen und Schatten werfenden Erhöhungen, die er und seine Begleiter zu sehen glaubten. Da sie aber nirgends nackte Erde oder Felsgrund erblickten, wagte er keine Feststellung. Ein Beispiel von Zurückhaltung im Urteil, das in der Polarforschung nicht immer nachgeahmt wurde. Auf dem Rückweg zum Kap Horn stießen die beiden Schiffe beim Ausweichen vor einem Eisberg so heftig zusammen, dass alle zu Boden stürzten und Bugspriet und Fockmaststange des Erebus weggerissen wurden. Ihr Takelwerk verwickelte sich, und beide trieben schon in die Brandung des himmelhohen Eisbergs hinein, als sie endlich voneinander loskamen. Durch das verzweifelte Manöver des Rückwärtsfahrens kamen sie dann wie durch ein Wunder auch von dem Eisberg frei und konnten später auf den Falklandinseln einen Nothafen anlaufen. Ein dritter Vorstoß im antarktischen Sommer 1842/43 in der Gegend von Joinville-Land nach der Weddell-See zu beendigte die südpolare Tätigkeit des großen Entdeckers. Im September 1843 kamen beide Schiffe wieder nach England, dessen Königin den erprobten Anführer mit der Ritterwürde belohnte. Sir Clarke Ross hatte ein Südmeer entdeckt und 1300 km Küstenlinie eines neuen Erdteils in großen Zügen aufgenommen.

Zum Schluss des ersten Abschnitts der Südpolarforschung verdient die Leistung dieser Seeleute ins rechte Licht gerückt zu werden. Mit ihren Segelschiffen wagten sich diese Helden in damals völlig unbekannte, von rasenden Stürmen gepeitschte Gewässer, die heute noch trotz Dampfkraft, Dieselmotoren, Funkwesen, Wetterdienst und Seekarten die Tüchtigkeit der erprobtesten Fachleute auf eine harte Probe stellen. Die Namen Cook, Bellingshausen, Ross und die der andern Kapitäne stehen hier für jeden Mann, den sie an Bord hatten. Wenn wir heute das Gefühl haben, dass schon die Umseglung des Kap Horn allzu hohe Ansprüche an die Kraft und Ausdauer der Schiffsmannschaften stellt, finden wir kein Wort der Bewunderung, das der eisenharten Zähigkeit dieser Segelschiffsmatrosen gerecht würde, die im markerstarrenden Südsturm des Polarkreises ohne Murren ihren Dienst auf den Rahen taten. Diese Namenlosen haben sich ein Denkmal im Ehrenhof der Forschungsgeschichte redlich verdient.

Nach diesem Höhepunkt der frühen südpolaren Forschung, der sich an den Namen Ross knüpft, stoßen wir auf eine Lücke von 30 Jahren. Das große Unglück der Franklinexpedition und die harten Schicksale der zu ihrer Rettung Ausgesandten zogen den Blick der großen Völker dem Nordpol zu. Erst im Jahre 1874 drang das erste Dampfschiff über den Südpolarkreis vor. Es war die „Challenger“-Forschungsreise unter George Strong Nares, eine vorzüglich ausgerüstete wissenschaftliche Unternehmung, die besonders mit dem Lot und dem Schleppnetz gute Arbeit leistete, ohne sonderlich weit nach Süden vorzudringen. An den Beginn dieses neuen Abschnitts ist auch der Name des großen deutschen Physikers und Meeresforschers Georg von Neumayer zu setzen, der nach langen Reisen als Leiter der Deutschen Seewarte in Hamburg unermüdlich auf die Notwendigkeit einer besseren Erkenntnis der südpolaren Gebiete hingewiesen hat. Er und die gleichstrebenden Engländer Sir John Murray und Sir Clements Markham haben diesem lange vernachlässigten Teil der Forschung neues Leben eingehaucht. Ein großer Teil der Erkundungsarbeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist auf ihre Anregungen zurückzuführen.

Kapitän Kristensen und Carsten Borchgrevink waren die ersten Menschen, die ihren Fuß auf antarktisches Festland setzten. Es geschah dies im Jahre 1895 auf Kap Adare bei einer Fahrt auf Walfische. Vier Jahre später überwinterte eine von Borchgrevink geführte englische Expedition an derselben Stelle. Es war das erste Mal, dass der forschende Mensch die Kühnheit ausbrachte, der fürchterlichen Kälte und den mörderischen Blizzards des antarktischen Winters auf dem starren Felsboden des ungastlichen Landes zu trotzen. Borchgrevink gelang auch zuerst die Besteigung der großen Ross-Eisplatte, die seit ihrer Entdeckung für unzugänglich gehalten wurde. Er fand sie 50 km weiter südlich, als sie sein Vorgänger Ross vor 60 Jahren verzeichnet hatte.

Deutschland betrat den Schauplatz der antarktischen Forschung erstmals im Jahre 1901 mit der aus Staatsmitteln wohlvorbereiteten Drygalski-Expedition. Die Howald-Werke in Kiel hatten zu diesem Zweck einen besonders starken Dreimastschoner mit einer kleinen Hilfsmaschine gebaut, der nach dem großen deutschen Mathematiker und Physiker „Gauß“ getauft wurde. Der Geograf Erich von Drygalski war zum Anführer ernannt worden, 5 Schiffsoffiziere, 5 Gelehrte bildeten seinen Stab. Über Kapstadt und die Crozetinseln segelten sie zu den Kerguelen, wo sie um die Jahreswende, also im antarktischen Hochsommer eintrafen. Nach vierwöchigem Aufenthalt und Anbordnahme von Kohle, Holz und 40 Kamtschatkahunden ging es in südwestlicher Richtung auf das Festland der Antarktis zu. Mitte Februar 1902 kamen sie ins Packeis, dem sie bald mit Maschinenkraft zu Leibe gehen mussten. Nahe dem 90. Längengrad angesichts eines Neulandes, das sie nach Kaiser Wilhelm II. benannten, wurden sie vom Eis umklammert.

Unterstände zur wissenschaftlichen Beobachtung und Hundeställe erstanden auf der nächsten Scholle, aber die Heimat blieb das Schiff, das gegen Eisdruck und Kälte gleich gut gebaut war. Einer der gelehrten Fahrtteilnehmer, Dr. F. Bidlingmaier, gibt uns in seinem Buch „Zu den Wundern des Südpols“ ein hübsches Stimmungsbild des Winterlebens auf dem „Gauß“:

„Sonntag war Bierabend, Mittwoch Vortragsabend, aber der Samstagabend war der schönste. Da saßen wir bei einem Glas Grog und vereinigten uns zu Spiel oder Unterhaltung. Vereine schossen wie Pilze aus der Erde. Der Skatklub 'Eintracht' wetteiferte mit dem Skatklub 'Blanke Zehn' in feinem Spiel; der 'Knösel-Verein' hielt in der Kabine nebenan eine Generalversammlung ab, während die feinen Herren des 'Gentlemen-Rauchklubs' grundsätzlich nur Zigarren rauchten, so sie dieselben nicht in ihrem Skatverein verspielt hatten. Die Zigarren waren unser Geld an Bord — 80 Points im Skat gaben erst eine Zigarre. Von vorn aus der Mannschaftsstube an Backbord klingt ein Silcherquartett vom schönen Schwabenland herüber, etwas antarktisch rau, aber dennoch das Herz erfreuend. Auf Steuerbord in der Matrosenmesse tönt's um so fürchterlicher. Eine verstimmte Ziehharmonika, von einer Flöte, einer Triangel und zwei Blechdeckeln markerschütternd begleitet, geben zusammen ein dröhnendes Orchester. In dickem Tabaksqualm sitzen die Matrosen herum, erzählen ihre Abenteuer und spielen Karten oder Schach.“

Ist das nicht eine mollig-winterliche deutsche Kleinstadt in die Holzplanken eines guten Schiffes verpackt? Diese deutschen Forscher haben auf ihrem im ganzen glückhaften Zug die wichtige Entdeckung gemacht, dass in der endlosen Polarnacht nicht nur der menschliche Körper mit Gemüsen, Obst und Frischfleisch vor dem Skorbut, sondern auch die menschliche Seele durch herzstärkende Gemütlichkeit vor Niederbruch und Irrewerden behütet werden muss. Diese Kunst der polaren Heiterkeit, in der die Norweger, diese unentwegten Festefeierer in Schnee und Eis, von jeher Meister waren, wurde von allen folgenden Südpolforschern mit Liebe gepflegt. Außerhalb des Schiffs oder der Hütte lauert im Schneesturm in jeder Minute der Weiße Tod, darum muss es innerhalb behaglich sein, wenn das Übermenschliche monatelang geleistet werden soll. Hören wir denselben Verfasser noch einmal:

„Kommt mit heraus aus den molligen Räumen des Schiffs, wenn es in den Masten ächzt und draußen der Sturm rast! Ein brüllendes, wirbelndes, tosendes, undurchsichtiges weißes Chaos umpeitscht uns und droht uns wegzufegen, wenn wir uns nicht am Boden dagegen anstemmen, wenn wir nicht den Körper ganz in den Wind hineinlegen. Schon in einer Entfernung von 10 Metern kann bei helllichtem Tag das große Schiff mit seiner hochragenden Takelage spurlos verschwunden sein. Krampfhaft halten wir uns an der Leine fest, die den Pfad der Pflicht, den Weg zu irgendeinem der Observatorien markiert. Du hast buchstäblich dein Leben in der Hand — denn ohne Leine findest du dich schwerlich mehr an Bord zurück.“

Wer in einem solchen Blizzard den Pfad verliert, der ist verloren, denn das Suchen ist eine Unmöglichkeit, Lichtsignale sind erfolglos, und das rasende Sturmgeheul verschlingt jeden Laut. Diese Stürme, die auch in der sogenannten schönen Jahreszeit mit heimtückischer Geschwindigkeit losbrechen können, sind das eigentliche Kennzeichen der Antarktis, wo die europäische Wetterregel „Gestrenge Herren regieren nicht lang“ keine Geltung hat. Mancher ist ihnen nicht dadurch zum Opfer gefallen, dass er sich verirrte, sondern dass er so lange im schützenden Zelt zu untätigem Warten gebannt wurde, bis Mundvorrat und Lebenskraft zu Ende waren.

Der menschliche Körper braucht sehr viel in dieser zehrenden Kälte, die bis 60° gehen kann. Eine spätere englische Proviantberechnung fürs Winterquartier gibt einen Tagesverbrauch von 33/4 Pfund auf den Kopf an, wobei es sich durchweg um hochwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Speck, Trockengemüse, eingemachte Früchte, Eier, Butter, Fett, Kakao, Schokolade, Trockenmilch, Mehl und Rosinen handelt. Wenn dies einen Küchenzettel fürs Ruhequartier darstellt, lässt sich denken, was der Körper eines Menschen verlangt, der seinen Schlitten durch Kälte und Wind über raue Oberfläche mit starker Steigung zieht. Das konzentrierte Nahrungsmittel auf Schlittenreisen ist der Pemmi-kan, eine Mischung von getrocknetem, fein zerkleinertem Fleisch und bestem Fett, aus der sich eine herrliche Suppe bereiten lässt. Die größte Schwierigkeit ist immer das Auftauen des eiskalten Schnees, das eine riesige Menge von Heizstoff beansprucht. Dabei ist ein brennender Durst die bekannte Folge großer Kälte.

Durch 90 Kilometer Packeis, das heißt durch ein Hindernisfeld von 90 Kilometern mehr oder weniger aufeinander getürmter Meereisschollen von 1 bis 2 Meter Stärke war der „Gauß“ von der Küste getrennt. Ein Fesselballonaufstieg auf 500 Meter Höhe zeigte Drygalski und seinen Mannen ihr nächstes Ziel. In weiter Ferne hinter dem toten, weißen Meer der Eisdecke erhob sich als feste Marke ein schön geformter schwarzer Vulkankegel, der „Gaußberg“ . Schon im antarktischen Vorfrühling, also Mitte September, musste der Marsch dorthin gewagt werden, da bei späterem Aufbruch für die Landexpedition die Gefahr des Nichtwiederfindens ihres Schiffes drohte. Wohl saß dieses zu seinem großen Glück inmitten gestrandeter, bodenständiger Eisberge und war so vor der Pressung der Packeisfläche einigermaßen geschützt, aber unter der Wirkung der Sommersonne musste diese ganze Eislandschaft ins Treiben kommen, und den zurückkehrenden Landfahrern hätte sich dann mit einem Blick in die leere Weite die Aussicht auf einen qualvoll langsamen Tod aufgetan.

Mit 28 Hunden vor 4 schmalen, langen Schlitten geht es südwärts über sturmzerfurchte Schneewehen. Die Hunde sind eifrige Zugtiere, aber sie rennen blindlings geradeaus, mag aus dem Schlitten werden, was da will. Natürlich fällt dieser in den nächsten Eisgraben und muss von seinem hart geschundenen Lenker wieder aufgerichtet werden. Die Hunde bleiben solange stehen mit einem Ausdruck überlegener Wurstigkeit um die Schnauze. Sie überlassen es auch diesem komischen Menschen, den schweren Schlitten anzuschieben und ziehen erst wieder, wenn sie merken, dass es von hinten vorwärtsgegangen ist. Die Geschichte ist soweit ganz lustig, aber wenn das Leben von den zurückgelegten Kilometern abhängt, gewinnt sie ein anderes Gesicht. Das Fahren mit Hunden ist eine Kunst, die augenscheinlich nicht von jedem erlernt wird, und die Norweger verdanken ihre großen Erfolge in der Polarforschung nicht zuletzt ihrem Verständnis der Hundeseele und ihrer darauf gegründeten Meisterschaft in der Schlittenfahrt über lange Strecken.

Die deutschen Gelehrten und ihre Begleiter schlagen sich schlecht und recht durch die Eiswüste. Schon sind die abendlichen Stunden der Ruhe, wenn im geschlossenen Zelt der Primusbrenner1, dieser schon von Nansen gerühmte beste Freund aller Polarfahrer, den Schnee zum Schmelzen bringt und der hungrige Mansch mit Auge und Nase wahrnimmt, dass die Mut- und Kraftsuppe ans Reis und Pemmikan heiß — man denke wirklich „heiß“ — wird. Wie diese Köstlichkeit dann in den kalten Leib hinuntergleitet und ihn bis in die großen Zehen mit wohliger Wärme erfüllt, diese Seligkeit nach der langen Rackerarbeit des Tages kennt nur der polare Hundekutscher in ihrer ganzen Fülle. Der warme und satte Mansch kriecht dann so schnell wie möglich in seinen pelzgefütterten Schlafsack, den er sich über dem Kopf zuknöpft. Nur ein kleines Loch bleibt für das Einziehen der unentbehrlichsten Luftmenge übrig. Ein Mailüfterl von 20bis 30 Grad Kälte pustet auf die Zeltbahnen, und im Lauf der Nacht wird's auch im Schlafsack deutlich kühl. Man träumt oft schwer und bang, und der Aufbruch am frühen Morgen wird meist nicht als Unannehmlichkeit empfunden. Schrecklich ist die Warterei in Kälte und Unsicherheit, wenn der Schneesturm nicht enden will. In der Antarktis sind auch im Frühling und Sommer der Tage nicht wenige, an denen der Aufenthalt im Freien den Tod bedeutet. Das mutige Verstehen solcher Wartezeiten ist etwa dem Ausharren im Trommelfeuer gleichzuachten und für den Menschen viel schwerer als der Kampf mit der Gefahr in raschem Ansturm.