Titel
Impressum
WIDMUNG
Vorwort
Namen der vorkommenden Personen bzw. Handlungsträger:
Teil 1: In Afrika
Teil 2: In Deutschland
Teil 3: In Afrika und Deutschland
BILDER AUS DER MUSICAL-PRODUKTION „BLIND“ und Glossar
Kartenteil
Literatur, die für fachlich-sachliche Erklärungen und auch für Handlungskomponenten herangezogen wurden:
MEHR SPANNUNG VON WILHELM EUGEN MAYR
Wilhelm Eugen Mayr
BLIND
Kindersoldaten,
zum Töten gezwungen
Roman
DeBehr
Copyright by: Wilhelm Eugen Mayr
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2016
Umschlaggrafik: Verena Achenbach (Copyright by Verena Achenbach)
Portrait-Foto/Backcover: Udo Meissner (Copyright by Udo Meissner)
Fotos: Stefan Gerding (Copyright by Stefan Gerding)
Model für das Cover-Bild / Blindes Mädchen: Marlene Rüter
Fotos im Buch: Copyright by Stefan Gerding
ISBN: 9783957532770
WIDMUNG
Widmen möchte ich diesen Roman in ganz besonderer Weise
den damaligen Mitgliedern der Brinkumer KGS-Musical-AG, die mit mir zusammen 2011 dieses ernste Thema
als Musical auf die Bühne gebracht
und wenig später zusammen mit marokkanischen Jugendlichen an mehreren Orten Marokkos aufgeführt haben.
Danken möchte ich an dieser Stelle aber zugleich
meiner lieben Frau Hildegard,
die mir – wie sooft zuvor schon – auch dieses Mal wieder
während meiner Arbeit am Roman geduldig den Rücken freigehalten hat.
Vorwort
Wer von uns interessiert sich schon ernsthaft für Kinder, die zum Töten gezwungen werden? Wer weiß überhaupt etwas über die, denen man die ganze Kindheit geraubt hat und die – falls sie überhaupt überleben – traumatisiert dahinvegetieren? Wer macht sich ernsthaft Gedanken über die zahllosen Mädchen, die verschleppt wurden, um als Sexsklavinnen ein grausames Dasein zu fristen, missbraucht von Soldaten, denen sie zur Belohnung überlassen wurden für ihr ach so erfolgreiches Kriegshandwerk?
Kinder haben ohnehin keine große Lobby in unserer Gesellschaft, noch viel weniger aber die Kinder, die fern von hier für das brutale Kriegshandwerk ausgebildet und zum Töten gezwungen werden.
Jugendliche einer Schule in Norddeutschland, bekannt für Musical-Produktionen mit gesellschaftskritischem Hintergrund, haben entsetzt zunächst einen Zeitungsbericht der Frankfurter Rundschau, sodann sich darauf beziehende Internet-Einträge verfolgt, in denen kritisch hinterfragt wurde, wie es dazu kommen konnte, dass deutsche Bundeswehrsoldaten in Somalia Kindersoldaten ausgebildet haben sollen. Es gab, den Interneteinträgen zufolge, zunächst kein offizielles Dementi seitens des Auswärtigen Amtes, lediglich eine Relativierung: Einheimische (gemeint waren somalische) Jugendliche sähen nun mal älter aus als europäische Jugendliche, insofern könne man nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass nicht doch tatsächlich der eine oder andere durch Bundeswehrangehörige ausgebildete somalische Soldat vom Alter her eigentlich noch nicht richtig erwachsen gewesen sei. Allerdings falle das letztlich ohnehin in den Verantwortungsbereich der somalischen Regierung. Dann gab es doch noch ein Dementi und kurz darauf waren merkwürdigerweise etliche Einträge dazu im Internet gelöscht. Die misstrauisch gewordenen Jugendlichen wollten es indes nicht dabei belassen und studierten zu diesem Themenkomplex ein Musical ein unter dem Titel „blind“, das in der Öffentlichkeit viel Beachtung fand und inzwischen auch bei dem Schweizer Theaterverlag „Elgg“ und dem „Deutschen Theaterverlag“ in Weinheim verlegt worden ist. Mit diesem Musical tourte die Gruppe auch durch Marokko und band jeweils vor Ort junge marokkanische Musiker mit in die Produktion ein, wobei das zuständige marokkanische Ministerium bereits im Vorfeld jede Art von Unterstützung und Hilfestellung zugesagt hatte, da man es erstaunlich und erfreulich zugleich fand, dass deutsche Jugendliche sich mit diesem Thema beschäftigt hatten und es zusammen mit marokkanischen Jugendlichen (auch) auf die (marokkanischen) Bühne(n) bringen wollten. Der Inhalt der Szenen und der Songs wurde jeweils in französischer, in Agdz und in El Jadida auch in arabischer Sprache auf Leinwände neben der Bühne projiziert. So konnten die Zuschauer ohne Schwierigkeiten der Handlung folgen.
Drei Jahre später folgte die Idee, auf der inhaltlichen Basis des Musicals einen Roman entstehen zu lassen. Er sollte die ganze Vorgeschichte und auch das weitergeführte Ende mit der Musical-Handlung verbinden. Der Elgg-Verlag gab seine Zustimmung und der Autor konnte nun sein Ziel weiter verfolgen, die ganze Grausamkeit und Brutalität des Kindersoldatenkomplexes aufzugreifen, um die Öffentlichkeit mit diesem scheinbaren Tabu-Thema zu konfrontieren. Vielleicht – so war sein Gedanke – konnte er so erreichen, dass es eine Unterstützung für Projekte geben würde, die traumatisierten Kindersoldaten zu helfen versuchen. Darum soll auch ein Teil der Einnahmen aus dem Verkauf dieses Romans gleichfalls solchen Projekten zugute kommen.
Namen der vorkommenden Personen bzw. Handlungsträger:
Ich-Erzähler, zugleich Psychotherapeut von Laura
Laura, ein blindes Mädchen
Ihre Eltern: ‚Alt-Achtundsechziger’-Aussteiger
Ihre zwei jüngeren Brüder
Atunga, ein farbiger Kabye, ihr Freund in Togo
Arif Achabar, ihr Freund in Deutschland
Ahmed, dessen kleiner Bruder
Mathilde, ihre Tante in Deutschland, ihre neue ‚Pflegemutter’
ihre Freundinnen in Deutschland: Bella, Anna, Doris und Judith
Caro, eine befreundete Mitschülerin
Annabell, eine weitere befreundete Mitschülerin
Annabells Eltern, Gastgeber einer Party
Richard, ein Klassenkamerad
Paul Overbeck, gleichfalls ein Mitschüler
Achim, gleichfalls ein Mitschüler
Angie, eine Mitschülerin
Frau Dr. Arends, Geschichtslehrerin
Frau Auerbach, Schulleiterin
Frau Neumeier, Sportlehrerin
Fred, genannt ‚Togo Blanc’ – ‚Weißer aus Togo’, später Frederick Schmidt-König
Safira, seine Schwester, später Sarah Schmidt-König
Gerald, ihr Vater
Marianne, ihre Mutter
Ihre Großeltern, zu Gast auf der Farm
Raphaela, ihre Tante, mit Familie, zu Gast auf der Farm
Moritz und Laila, zwei Wachhunde auf der Farm
Christian und Jannis, zwei Freunde von Fred in Togo
Priester in Dikwa
Oliver Dashe Doeme, Bischof von Maiduguri
Pater Ansgar, Missionar in N’Djamena
Herr Kulitz, Deutscher Botschafter in N’Djamena
Pater Albert, Priester in Fes
Tante Doro und Onkel Heinz (angeblicher Stiefbruder ihres Vaters), die Pflegeeltern in Bremen
Dennis, Oberstufenschüler aus einem Parallelkurs von Fred und ‚Schiedsrichter’ beim ‚Vergeltungskampf’
Horst Bucher, Journalist
Babatunde, Anführer der Sklavenjäger
Sowande, Sklavenjäger und Untergebener von Babatunde
Mokabi, gleichfalls Sklavenjäger und Untergebener von Babatunde
Adetutu, Sklavenjäger und Untergebener von Babatunde
Abayomi, Babatundes Stellvertreter
Abubakar Shekau, Anführer der Boko-Haram-Kämpfer
Bakar Ibn ’am Shekau, sein Cousin
Ali Ben Sahar, weiterer Anführer der Boko-Haram-Kämpfer
Aischa und Fatima, zwei Dienerinnen im Lager der Boko Haram
Dr. Halbig, Vertreter der Deutschen Botschaft in Togo
Schwester Monika, genannt ‚Agentia 007’, Krankenschwester im Hospital
Ranger in Togo
Teil 1: In Afrika
1. Kapitel
Psychotherapie
Vom Fenster aus hatte ich eine gute Sicht auf den Parkplatz gegenüber dem Haus, in dem meine neue Praxis untergebracht war. Ich sah, wie Arif die Autotür weit aufhielt, um Laura, meiner jungen, blinden Patientin, das Aussteigen zu erleichtern. Mit erstaunlicher Sicherheit hatte sie zunächst die Füße auf den Asphalt gesetzt, ihr Blindenstöckchen aus dem Auto hervorgeholt und schien nun noch darauf zu warten, dass ihr Freund das Auto verschloss und sie sich dann bei ihm unterhaken konnte, um sicher über die Straße in meine Praxis zu gelangen.
Ich trat vom Fenster zurück und wartete in meinem Sessel hinter dem Schreibtisch, bis es klopfte und Arif seiner Freundin die Türe aufhielt, um ihr den Vortritt zu lassen. Rasch war ich aufgestanden und den beiden entgegengetreten, um sie zu begrüßen.
„Laura, bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagte ich und schaute sie von der Seite her an. Abgesehen davon, dass sie blind war und etwas dunkle Schatten um ihre Augen herum lagen, wirkte ihr Gesicht jugendlich offen und freundlich. Niemand würde dahinter vermuten, dass sie bereits so viel Leid hinter sich hatte.
„Arif, möchten Sie uns Gesellschaft leisten oder lieber draußen warten“, fragte ich ihren Freund. Ich hätte, da sie blind war, eine Ausnahme gemacht und die Therapie auch in seiner Gegenwart begonnen. Aber Laura nahm mir die Antwort ab.
„Es ist besser, wenn du draußen auf mich wartest, Arif. Ich kann dann offener sprechen, denke ich. Bitte hab Verständnis“, fügte sie noch an.
„Aber sicher doch, kein Problem“, sagte er verständnisvoll, nicht ohne einen etwas mitleidigen Blick auf seine Freundin zu werfen. „Ich lasse mir von der Sekretärin draußen einen Kaffee geben und warte auf dich. Mach dir keine unnötigen Gedanken.“ Er gab ihr einen kurzen, zärtlichen Kuss, wobei mir auffiel, dass sie für einen winzigen Moment erschrocken zusammenzuzucken schien, ehe sie den Kuss erwiderte, führte sie zum Sessel und verließ den Raum.
„So“, eröffnete ich unser Therapie-Gespräch, „jetzt sind wir ungestört. Ich habe Ihre Krankenakte aufmerksam gelesen, habe auch mit den Kollegen in Hannover telefoniert, die ja schon einiges aus der Vorgeschichte aus Afrika übermittelt bekommen hatten. Wir können also ganz offen über die schrecklichen Ereignisse sprechen, durch die Sie offenbar nach wie vor traumatisiert sind.“ Ich machte eine kleine Pause und schaute sie prüfend an.
Sie versuchte zu lächeln und nickte. „Es muss ja einen Grund haben, dass Herr Doktor Landshut Sie empfohlen hat. Sonst säße ich ja vermutlich jetzt auch nicht hier.“
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte: „Wir können direkt anfangen. Sie brauchen keinerlei Rücksicht zu nehmen. Was möchten Sie wissen?“
Erstaunlich, wie offen dieses junge Mädchen mir begegnete, obwohl es mich kaum kannte und natürlich auch nicht sehen konnte. Sie war wenige Tage zuvor nach einem kurzen Telefonat zusammen mit Arif in meiner Praxis erschienen, um sich vorzustellen und die ersten Termine mit mir abzuklären. Keine Spur von Angst, keinerlei Verschlossenheit; viel mehr schien sie eine schwere, seelische Last loswerden zu wollen, und dafür war sie bereit, alles an Hilfe anzunehmen, was man ihr anbot.
„Nun“, begann ich unser Gespräch, „ich weiß zwar vieles über Sie aus den Unterlagen. Dennoch wäre es aber sehr hilfreich für mich, wenn Sie mir noch einmal ausführlich berichteten, was sich bei dem Überfall auf das Farmhaus ihrer Familie im Einzelnen zugetragen hat. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Klar“, antwortete sie, nickte unmerklich mit dem Kopf zum Zeichen der Zustimmung, setzte sich aufrecht hin und begann, ihre Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die mir zwischenzeitlich, weil sie so schrecklich war, die Tränen in die Augen trieb.
Laura war aufgewachsen auf einer kleinen Farm im afrikanischen Togo, zwischen dem Dorf Ayengré und Fazao. Ihr Vater hatte ursprünglich zusammen mit ihrer Mutter am Goethe-Institut in Lomé gearbeitet, ehe sie als ‚Alt-Achtundsechziger’ beschlossen hatten, ‚auszusteigen’ und mit Freunden aus Deutschland eine Farm zu beziehen. So wuchs Laura zusammen mit zwei jüngeren Brüdern heran, wurde von ihren Eltern zusätzlich zum normalen Schulbetrieb unterrichtet, da die nächste Schule zum einen recht weit entfernt lag und für sie als kleines Mädchen zu Fuß oder mit dem Fahrrad nicht immer regelmäßig zu erreichen gewesen wäre. Zum anderen sollte sie nach dem 13. Lebensjahr auf eine weiterführende Schule nach Lomé geschickt werden. Dort hatten deutsche Ordensschwestern, die mit der Familie befreundet waren, ihr ein Zimmer in ihrer Gemeinschaft angeboten, von wo aus sie dann bequem die ehemals Deutsche Schule, jetzt ‚British School of Lomé’, erreichen konnte, an der sie weiter unterrichtet werden sollte. Doch es sollte anders kommen.
2. Kapitel
Kidnapping
Zusammen mit zwei Freunden und seinem Vater brach Fred frühmorgens in Kandé auf, um einige Tage in dem inzwischen etwas verwahrlost wirkenden ehemaligen Kéran-Nationalpark Tiere zu beobachten. Der Landcruiser wühlte sich durch das unwegsame Gelände, die meisten Pisten existierten nur noch auf der Landkarte. Aber sie empfanden das keineswegs als störend, da sie so am ehesten Gelegenheit haben würden, möglichen Wildtieren nahezukommen, um sie zu beobachten. So erreichten sie gegen Abend eine kleine Senke, die ihnen als Übernachtungsplatz geeignet erschien, auch wenn sie nur mit Mühe die Zelte aufbauen konnten, da der Untergrund zum Teil recht felsig war. Sie entzündeten ein Feuer und erwärmten ihr Abendessen, das sie in Konservendosen mitgebracht hatten. Es kam so etwas wie Lagerromantik auf, bis sie plötzlich durch ihnen unbekannte Geräusche aufgeschreckt wurden. Sie wussten, dass neben Büffeln in dieser Gegend auch bisweilen Raubkatzen auftauchten, wie etwa der Serval, eine mittelgroße Wildkatze, die ein wenig an den europäischen Luchs erinnert oder besser an eine Kreuzung aus Luchs, Gepard und Leopard. Inwieweit diese kleine Raubkatze auch Menschen gefährlich werden konnte, war nicht weiter bekannt, aber man konnte ja nie wissen …
Freds Vater schickte die Jungen in den Geländewagen, während er selbst sicherheitshalber zum Jagdgewehr griff, um für alle Fälle verteidigungsbereit zu sein. Er blieb dabei sehr ruhig. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in Savannengegenden aufhielt, da er in der Vergangenheit häufig auch Freunde und Besucher seiner kleinen Farm begleitet hatte, wenn sie einen mehrere Tage dauernden Ausflug wünschten, um Tiere zu beobachten. Er erklomm die schmale Leiter an seinem Auto und kauerte sich auf das Autodach, um besser sehen zu können. Tatsächlich konnte er die Umrisse eines Serval ausmachen, der sich vorsichtig und neugierig zugleich dem Lagerplatz näherte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein junges, noch unerfahrenes Tier, das die Gefahr, die von Menschen ausgehen konnte, noch nicht kannte.
Eben wollte er die Jungen auf das Tier aufmerksam machen, da sah er die Umrisse von sieben, acht, nein, neun dunklen Gestalten, die sich gleichfalls in einem weiten Halbkreis dem Lagerplatz im Rücken der Raubkatze näherten. Machten sie Jagd auf die Katze oder wollten sie etwas von ihm und den Jungen? Etwas unentschlossen lud er sicherheitshalber das Jagdgewehr durch. Der Katze war das Geräusch offenbar nicht ganz so unbekannt, wie er gedacht hatte, denn sie schreckte hoch und verschwand in weiten Sätzen nach links in der Dunkelheit. Im gleichen Moment löste sich ein Schuss aus der Richtung der schnell näher kommenden, dunklen Gestalten, und fast gleichzeitig spürte er einen so stechenden Schmerz im rechten Oberarm, dass er das Gewehr nicht mehr zu halten vermochte. Mit lautem Gepolter fiel es herab.
Er griff mit der linken Hand nach seinem rechten Oberarm und musste feststellen, dass er offenbar von einer Gewehrkugel getroffen worden war. Denn er spürte, wie ihm warmes Blut den Arm herab lief.
„Na, wenn das kein guter Schuss war, dann weiß ich nicht“, hörte er eine Stimme, die er nicht kannte, in englischer Sprache rufen. „Schauen wir uns den Fang doch einmal etwas genauer an.“
Fred hatte zusammen mit seinen Freunden durch die halb geöffneten Autoscheiben alles beobachtet, auch den Sprecher gehört und krallte sich nun ängstlich an Christian, seinen besten Freund aus Deutschland, der zurzeit mit seiner Familie auf der Farm seiner Eltern zu Besuch war. Der Sprecher konnte nur seinen Vater gemeint haben, so viel war ihm klar, und dass dieser durch den Schuss getroffen worden war, konnte er unschwer vermuten, da das Gewehr direkt nach dem Knall vor ihm vom Autodach heruntergefallen war und er seinen Vater auch durch das Dach hindurch hatte stöhnen hören.
Neun Männer kamen aus der Dunkelheit, vier von ihnen mit Schusswaffen im Anschlag.
„Na los, keiner zu Hause? Kommt schon raus, wir wollen euch doch ein wenig kennenlernen“, sagte die gleiche Stimme wie vorher, die offenbar dem Anführer gehörte. „Und du da oben kannst auch runterkommen – sonst müsste ich dich noch einmal extra von dort herunterschießen, und Munition ist heutzutage doch sehr kostbar.“ Er lachte laut über seinen vermeintlichen Witz, und seine acht Gefährten stimmten sofort mit ein in das Gelächter.
Freds Vater stieg vorsichtig vom Autodach herunter und stellte sich schützend vor die drei Jungen. „Was wollt ihr von uns? Warum schießt ihr auf uns?“, fragte er den Anführer. Er bediente sich gleichfalls der englischen Sprache.
An seiner Stelle antwortete ein anderer aus der Gruppe: „Können Sie sich das nicht denken, Mister?“ Er räusperte sich und spuckte dann in hohem Bogen eine zähe, gelbgrüne Flüssigkeit aus. „Wir sind Jäger und Händler, und zwar Jäger und Händler der besonderen Art. Verstehen sie jetzt?“
Freds Vater schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn sie Jäger sind – warum haben sie dann eben den wunderschönen Serval verjagt?“
„Wir sind eben ganz besonders tierliebe Jäger und jagen eine ganz andere Art von Individuen.“ Er machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: „junge Menschen!“
Fred löste sich von seinem Freund und fragte mit bebender Stimme: „Junge Menschen – was soll das heißen?“ Da er und seine beiden Freunde im Englischunterricht als gute Schüler galten, fiel es ihnen nicht weiter schwer, der englisch geführten Unterhaltung, wenn man sie denn mal so nennen wollte, zu folgen und sich auf Englisch daran zu beteiligen.
„Na, da lässt sich einer aber gar nicht einschüchtern, was? Und neugierig ist er auch noch! Gefällt mir. Gefällt mir sehr gut sogar“, übernahm der Anführer wieder die Gesprächsführung. „Genau so was suchen wir auf unserer Jagd, junge Menschen, die mutig sind und vielleicht mal später andere führen können. Aber willst du nicht erst einmal den Mann da verbinden? Nicht dass er uns jetzt schon verblutet …!“ Wieder ließ er ein dreckiges Gelächter hören, in das die anderen mit einstimmten.
Fred versuchte, seinen Vater mit seinem Halstuch zu verbinden. Dieser hatte offenbar einen Streifschuss abbekommen, der zwar stark blutete, aber keineswegs lebensbedrohlich war.
„Du bist ja richtig vielseitig verwendbar – das hebt bestimmt den Preis für dich“, sagte der Wortführer beinahe freundlich zu Fred.
„Was meinen Sie damit“, fragte Freds Vater.
„Darüber reden wir später. Sind Sie soweit versorgt, dass wir aufbrechen können?“
„Aufbrechen – wohin?“
„Na, zu Ihrer kleinen Farm natürlich. Oder glauben Sie tatsächlich, wir seien nur zufällig hier?“
Freds Vater sah ihn ratlos an. „Ich verstehe Sie wirklich nicht. Was wollen Sie denn auf meiner kleinen Farm?“
„Ein Vögelchen hat mir gesungen, dass dort im Moment Gäste aus Deutschland sind …“
„Ja – und? Meine Schwiegereltern und meine Schwester mit ihrer Familie und die beiden Jungen hier, Freunde von unserem Sohn …“
„Ich weiß, ich weiß. Sie müssen mir das alles nicht erzählen. – Können wir?“ Er hob drohend seine Waffe und richtete sie auf ihn.
Während zwei seiner Männer das Feuer austraten, mussten Fred, seine beiden Freunde und auch sein Vater im hinteren Teil des Wagens Platz nehmen. Der offensichtliche Anführer setzte sich hinter das Steuer und ließ drei weitere Männer einstiegen. Die Übrigen verschwanden zu Fuß in der Dunkelheit.
3. Kapitel
Gegenwehr
Safira half ihrer Mutter in der Küche beim Aufräumen, als die beiden Hunde anschlugen und die Einfahrt hinunterliefen, wo jetzt die Scheinwerferkegel von drei Fahrzeugen sichtbar wurden.
„Wir bekommen Besuch“, rief sie ihrer Mutter zu, „oder Papa kommt schon früher wieder zurück von der Wildbeobachtung.“
„Das würde mich wundern, denn der Ausflug war ja doch für mehrere Tage geplant. Und überhaupt: die fremden Autos … Das verheißt nichts Gutes.“
Safiras Tante war hinzugetreten und sagte: „Wenn mich nicht alles täuscht, ist der vorderste Wagen der deines Mannes.“ Sie wandte sich ihrer Schwägerin zu. „Vielleicht ist tatsächlich etwas passiert …?!“
Erwartungsvoll traten alle drei auf die Veranda des Farmhauses, pfiffen die Hunde zurück und warteten ängstlich und gespannt zugleich, bis die drei Geländewagen direkt vor ihnen anhielten.
„Hey, sie müssen die Missis dieses schönen Anwesens sein – habe ich recht?“ Ein baumlanger, dunkelhäutiger Kerl war aus dem ersten Wagen ausgestiegen und tippte, während er das sagte, an seine Hutkrempe. „Wir haben Ihren Mann und die drei Jungen mitgebracht. Sie haben mitten in der Wildnis Feuer gemacht. Stellen Sie sich vor, was da alles hätte passieren können!“ Er lachte schäbig und sah sich beifallheischend um. Hinter ihm waren auch die anderen Männer ausgestiegen. Sie stimmten in das Gelächter mit ein.
Da sah sie ihren Mann, Fred und die beiden anderen Jungen aus dem Auto steigen und wollte auf sie zugehen. Der Wortführer bog sich blitzschnell ins Auto hinein, hatte ein Gewehr herausgezogen, durchgeladen und schon eine Kugel unmittelbar vor ihre Füße geschossen, dass Teile des Erdbodens an ihr heraufspritzten.
„Habe ich Ihnen erlaubt, die Veranda zu verlassen, Missis?“, fragte er. „Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass Sie ab jetzt nur noch das tun, was ich Ihnen sage. Verstanden?“
Erschrocken blieb sie stehen, fragte dann aber doch trotzig zurück: „Was soll das?! Wer gibt Ihnen das Recht, hier so aufzutreten?“
„Wer mir das Recht gibt? Da fragen Sie noch? Ich gebe mir das Recht, und ab sofort tun sie, was ich Ihnen sage! Klar?!“
Etwas verunsichert rief sie zu ihrem Mann hinüber: „Was soll das? Wer sind diese Männer?“
„Sie kapieren es nicht, Lady, nicht wahr? Ihr Mann hat nichts zu sagen. In diesen Dingen bin ich jetzt Ihr Mann. Und wenn Sie nicht artig sind, auch vielleicht noch in einigen anderen Dingen.“ Wieder lachten er und die anderen Männer dreckig über seine zotige Bemerkung. „So, und nun bereiten Sie mal ganz schnell ein gutes Abendessen vor. Wir sind nämlich äußerst hungrig.“
Er wollte sich mit den anderen der Veranda nähern, als die mutige Frau ihren beiden Hunden zurief: „Moritz, Laila – fass.“
Wie der Blitz schossen die beiden Wachhunde auf die Männer zu. Während der erste den Wortführer ansprang und zu Boden riss, stürzte sich der zweite auf den Mann schräg hinter ihm und riss ihn gleichfalls um. Fred und sein Vater erkannten sofort ihre große Chance, freizukommen. Fred riss das geladene Gewehr, das dem Wortführer aus den Händen gefallen war, an sich und zielte auf die anderen, während sein Vater aus dem vorderen Auto ein zweites Gewehr herausgerissen, dieses durchgeladen hatte und es nun gleichfalls auf die Männer richtete. Die beiden Hunde standen knurrend über ihren beiden Opfern, bereit, ihnen die Kehle auf einen Zuruf hin durchzubeißen. Die sieben anderen Männer waren für den Moment völlig überrumpelt und hoben die Hände. Christian und Jannis brachten sich rasch auf der Veranda in Sicherheit.
„So, Freunde“, erklang die Stimme von Freds Vater. „Das war’s dann wohl mit eurem Auftritt hier. Marianne, Raphaela – durchsucht die Wagen dieser sauberen Herren nach Waffen und bringt diese dann ins Haus, damit sie keinen Unfug mehr machen können.“
Die beiden gehorchten sofort und brachten dann mehrere Gewehre und Pistolen ins Haus.
„Und macht euch vom Acker und lasst euch hier nie wieder blicken. Das nächste Mal schießen wir sofort, ohne viel zu fragen. – Moritz, Laila – aus! Hierher! Bei Fuß!“
Während die beiden abgerichteten Wachhunde sofort gehorchten, von den beiden Männern abließen und zu Freds Vater sprangen, erhoben sich die beiden von der Hundelast Befreiten, klopften den Staub von ihrer Kleidung ab, gaben den anderen mit dem Kopf ein Zeichen und bestiegen wortlos die Fahrzeuge. Sie starteten die Motoren, wendeten und verschwanden nach wenigen Minuten in der Dunkelheit.
4. Kapitel
Laura
Laura freute sich bereits riesig auf den bevorstehenden Wechsel von Ayengré nach Lomé, obwohl sie hier zwar Freundinnen zurückließ, dafür aber sicherlich neue in der neuen Umgebung finden würde. Auch wusste sie, dass noch vier andere Mädchen bei den Ordensschwestern untergebracht waren. Diese waren zwar ein paar Jahre älter als sie, aber sie hatten fest versprochen, sich ihrer anzunehmen und in der neuen Schule entsprechend einzuführen. Ihre Eltern hatten sie bestens auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet, sodass sie diese auf Anhieb mit Bravour bestanden hatte.
Noch einmal lud sie ihre Freundinnen zu einer großen Abschiedsparty ein. Zusammen mit ihren Eltern und deren Freunden bereitete sie diese akribisch vor. Ihr Vater hatte es übernommen, sich um das Fleisch für den Grill zu kümmern, ihre beiden jüngeren Brüder hatten Schilder und Plakate gemalt, Lampions gebastelt, und so einen bunten Rahmen für das Fest geschaffen. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie noch einige Zelte aufgebaut, damit ihre Freunde und Freundinnen bei ihr auf der Farm übernachten konnten, denn den Abschluss sollte am folgenden Morgen ein ausgedehntes Frühstück bilden.
Sie war natürlich ziemlich aufgeregt, denn ihr wurde mehr und mehr klar: Mit ihrem Wechsel nach Lomé würde ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen. Zwar war Lomé keine 150 km entfernt, doch musste man schon mit dem Auto dorthin fahren, da die Überlandbusse nur sehr unregelmäßig dorthin unterwegs waren.
Pünktlich um vier Uhr nachmittags brachten die Eltern aus der Umgebung ihre Kinder vorbei, tranken noch eine Tasse Tee oder Kaffee und verabschiedeten sich dann wieder.
Laura war glücklich. Sie genoss es, einmal im Mittelpunkt zu stehen und von ihren Freundinnen, aber auch von einigen der Jungen, umworben zu werden. Einer von ihnen war Atunga, ein farbiger Kabiyé, der aus einer nicht sehr vermögenden Familie stammte, von der sie bei ihren Besuchen immer stets herzlich aufgenommen und verwöhnt worden war. Atunga, dessen Großmutter aus Peru stammte, daher auch dieser peruanische Vorname, Atunga also, das war ihr nicht entgangen, zeigte recht offen ein großes Interesse an ihr, was ihr einerseits sehr schmeichelte, sie andererseits aber auch etwas beunruhigte. Bisher hatte sie immer nur mit ihren Freundinnen und auch schon mal mit deren Brüdern etwas unternommen. Nun aber gab es noch diesen Atunga, der sie immer wieder auch allein besucht hatte, um etwas mit ihr zu unternehmen. Er war zwei Jahre älter als sie, sehr aufgeweckt, besuchte eine katholische Schule in der Nähe seines Elternhauses und hatte dort neben Kabiye auch Französisch und sogar etwas Deutsch gelernt, was ihr sehr imponierte.
Heute nun wirkte er nicht mehr so fröhlich und aufgeschlossen wie sonst. Irgendetwas schien ihn sogar zu bedrücken. Als sie ihn darauf anzusprechen versuchte, wich er ihr zunächst aus, fragte sie aber dann, indem er sie aus seinen großen, dunklen Augen anschaute: „Kannst du dir das denn wirklich nicht denken?“
Sie überlegte eine kleine Weile und fragte dann zurück: „Hat es etwas mit meinem Weggang zu tun?“
Er nickte nur, wendete sich ab und ließ die etwas verdutzte Laura einfach stehen. Er mochte jetzt nicht mehr im Trubel der anderen Gäste sein und begab sich in den hinteren Teil des Gartens, wo sich im Moment niemand aufhielt. Dort ließ er sich auf dem gepflegten Rasen hinter einem dichten Gebüsch nieder.
Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie musste im Gesicht rot wie eine Tomate geworden sein. Tief durchatmend versuchte sie, sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie folgte ihm und setzte sich an seine Seite. Bemüht ruhig sagte sie: „Ich bin doch nicht aus der Welt, und ich werde regelmäßig nach Hause kommen, und dann werden wir uns doch auch regelmäßig wiedersehen …“ Sie schluckte und schaute in die Ferne. ‚Habe ich das gerade gesagt’, fragte sie sich. ‚So ein Unsinn! Ich komme doch nur in den Ferien nach Hause.’
Da fühlte sie, wie sich sein Arm um ihre Schultern legte. An sich war das nichts Neues für sie. Jetzt aber fühlte es sich irgendwie anders an. Sie drehte sich zu ihm um und sah, dass seine Augen feucht geworden waren. ‚Das kann doch unmöglich nur Freundschaft sein.’ Ihre Gedanken fuhren Karussell und ihre aufkommenden Gefühle ebenso. Sie richtete sich auf und kniete sich ganz dicht vor ihn hin, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. ‚Wenn er mich jetzt küsst, weiß ich, dass ich mehr bin für ihn als nur eine Freundin.’ Sie schloss die Augen, aufgeregt, was jetzt passieren würde. Tatsächlich zog er sie behutsam eng an sich und suchte mit seinem Mund ihre Lippen. Ganz zärtlich küsste er sie auf den Mund. Sie fürchtete, dass ihr Herzschlag ganz weit zu hören sein würde, und ein Gefühl, das ihr völlig neu war, überkam sie plötzlich. Sie presste ihren jungen Körper ganz fest an ihn, während seine Zunge fast wie von selbst ihren Weg zwischen ihren Lippen hindurch fand, wo sie durch ihre Liebkosungen ihr Gefühlschaos noch vergrößerte. Irgendwann – ihr kam es vor wie eine Ewigkeit – machte sie sich von ihm frei und legte sich ein wenig außer Atem auf den Rücken.
„Wir sind Freunde, oder?“, sagte sie etwas heiser.
„Ja“, erwiderte er, „aber unsere Freundschaft ist etwas ganz Besonderes. Wenn wir alt genug sind, werden wir heiraten.“ Er beugte sich halb über sie, als erwarte er von ihr eine entsprechende Bestätigung.
Sie rechnete fieberhaft nach: Jetzt war sie fast 14 Jahre alt; die meisten hier, das wusste sie, heirateten nicht, bevor sie nicht mindestens 18 Jahre alt waren. Das würde also noch über vier Jahre dauern! „Das wird aber noch mehr als vier Jahre dauern“, hörte sie sich beinahe unbeteiligt – sachlich sagen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich vorzustellen, wie sie als Braut in einem wunderschönen weißen Kleid an seiner Seite in die Kirche einziehen würde. Da spürte sie, wie sich Atungas Oberkörper auf ihren Oberkörper legte und er sie erneut küsste. Für einen Moment drohte sie ganz dahin zu schmelzen und ihre Umgebung zu vergessen, dann aber besann sie sich noch rechtzeitig auf den eigentlichen Anlass ihres Treffens und machte sich von ihm frei.
„Du, ich glaube, die anderen vermissen uns schon. Wir haben ja noch den ganzen Abend für uns.“
Sie sprang auf und lief kokett vor ihm her, bis sie die Freundinnen erreicht hatte.
5. Kapitel
In der Hand von Sklavenjägern
Babatunde, der Anführer der neun Männer, die Fred, seinen Vater und seine beiden Freunde vorübergehend gekidnappt hatten, waren wütend in ihren Autos von der Zufahrt zum Farmhaus davongebraust. Erst nach einigen Kilometern hatten sie angehalten, um zu beratschlagen, wie sie ihre Waffen und auch ihren vermeintlichen ‚Fang’ wieder zurückbekommen könnten.
„Das ist ein Zeitverlust, den ich nicht eingeplant habe“, zischte Babatunde wütend. „Für den kleinen Fred hätten wir viel Geld bekommen können. Er ist kräftig, mutig und kann offenbar bereits mit dem Gewehr umgehen …“
„Und was ist mit den anderen beiden?“, fragte Sowande, einer der anderen.
„Das hätten wir ausprobieren müssen. Ob sie als Sklaven auf eine Plantage oder als Kindersoldaten zu den Boko-Haram-Islamisten nach Nigeria gehen – in jedem Fall hätte uns das recht viel Geld gebracht.“
Sie kauerten sich ins Gras und sahen wütend und ratlos zugleich vor sich hin.
„Du weißt, dass wir eventuell raus sind aus dem Geschäft, wenn wir nicht pünktlich liefern“, nahm Mokabi das Gespräch wieder auf. „Das heißt: Wir müssten neue Kontakte knüpfen, neue Abnehmer und auch neue Wege zu ihnen finden …“
„Willst du mir jetzt einen Vorwurf machen?“, herrschte Babatunde ihn an. „Denk mal darüber nach, wie viel Geld du durch mich allein im letzten Jahr verdient hast!“ Er sah ihn wütend an.
„Ist ja schon gut, Chef.“ Mokabi richtete sich auf. „Ich wollte nur wissen, wie es jetzt weitergehen soll.“
Eine kleine Weile schwiegen sie sich böse an.
Dann ergriff Babatunde wieder das Wort: „Auf keinen Fall überlasse ich diesem hergelaufenen Farmer die Waffen. Ich denke, wir fahren ohne Scheinwerferlicht wieder zurück in die Nähe der Farm und schleichen uns dann an das Haus heran. Messer haben wir ja noch, und damit umzugehen haben wir ja schließlich gelernt.“
Alle nickten beifällig, erhoben sich und bestiegen wieder die beiden Autos. Sie wendeten und fuhren langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren, immer bemüht, unnötige Motorengeräusche zu vermeiden. Das langsame Tempo ergab sich auch aus der Tatsache, dass sie die Scheinwerfer der Autos nicht angemacht hatten, um sich dem Farmhaus möglichst unbemerkt nähern zu können.
Bald schon tauchten die Lichter des Hauses auf, und die beiden Wagen hielten an. Als Babatunde sah, dass Mokabi eine getrocknete Kudu-Wurst in seiner Hand hielt, lachte er leise. „Für die Hunde, nicht wahr? Du denkst ja richtig mit, schlaues Kerlchen.“ Er klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Einer muss ja mitdenken, damit wir wieder ungeschoren aus der Nummer herauskommen“, sagte Mokabi halblaut und strahlte seinen Chef dabei an.
„Vorsicht, mein Lieber, ich habe nicht gesagt, dass ich nicht auch noch daran gedacht hätte.“ Er grinste und setzte sich, das große, schwere Jagdmesser in der Hand, das mehr Ähnlichkeit mit einer Machete hatte als mit einem Messer, an die Spitze der Männer. Ab jetzt sprachen sie kein Wort mehr, sondern verständigten sich nur noch durch Zeichen und Gesten, um nicht zu früh auf sich aufmerksam zu machen.
Die Familie von Fred saß beim Abendbrot und besprach noch einmal die Ereignisse der letzten Stunden. Freds Vater war inzwischen verbunden worden und hatte dabei noch einmal kurz erzählt, wie sie in die Hände der Kidnapper gefallen waren.
„Was mögen die denn wohl von euch und auch von uns gewollt haben?“, rätselte Freds Großvater.
„Ich fürchte fast“, sagte Gerald, sein Vater, „es waren Sklavenjäger.“
„Sklavenjäger? Hier? Ich glaube, du hast zu viele Abenteuerromane gelesen, mein Junge.“ Geralds Schwiegervater schüttelte den Kopf. „Togo war mal deutsche Kolonie – man hat den Leuten hier Ordnung, Respekt und Achtung voreinander beigebracht. Die Leute haben gelernt …“
Seine Frau unterbrach ihn. „Das ist beinahe 100 Jahre her! Und du dürftest eigentlich wissen, was 100 Jahre an Entwicklung für ein Land bedeuten können.“
„Wir haben in der Schule durchgenommen, dass Togo im Jahr 2012 nur auf Platz 159 des ‚Human Development Index’ gelandet ist“, warf Freds Freund Christian ein.
„Und das von insgesamt 186 Ländern – das spricht doch wohl für sich“, ergänzte Jannis. Beide besuchten in Deutschland die gleiche Schule, und da es eine Partnerschaft mit einer Schule in Lomé gab, waren die Schüler natürlich auch über das Partnerland entsprechend informiert.
„Es ist tatsächlich so, dass es in Togo einen vermutlich von offizieller Seite geduldeten Sklavenmarkt gibt, auf dem jährlich etwa 300 Kinder verkauft werden, die dann entweder als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden, z. B. auf Kakao-Plantagen in der Elfenbeinküste, oder gleich weiter gereicht werden an Rebellenchefs im Ausland, die ständig Kindersoldaten suchen“, fügte Raphaela, die Schwester von Freds Vater, hinzu.
Es wurde still im Raum.
„Ich glaube, es war doch keine so gute Idee, zu euch nach Togo zu kommen, wenn es hier so gefährlich ist“, sagte Jannis. Eigentlich war er nicht unbedingt der ängstliche Typ, aber allein die Vorstellung, entweder auf einer Kakao-Plantage bis zum Umfallen zu schuften oder aber für irgendwelche Verrückte als Soldat in den Krieg zu ziehen, behagte ihm nun wirklich nicht.
„Da hat aber jemand die Hosen mächtig voll“, sagte Safira und lachte dabei laut. „Mann, wir leben schon lange hier, und uns ist doch auch noch nie etwas passiert.“
Marianne, ihre Mutter wurde ernst. „Das stimmt so nicht ganz, Safira. Oder wie würdest du den Überfall heute zuerst auf deinen Vater, Fred und seine beiden Freunde und wenig später auf unser Farmhaus deuten?“
Wieder blieb es eine Weile still im Raum. Die Geräusche, die mit dem Essen verbunden waren, wirkten so doppelt laut.
„Wann kommen eigentlich meine Eltern aus Lomé zurück?“, erkundigte sich Christian.
Im gleichen Moment knurrte einer der beiden Hunde, und der andere schlug unmittelbar danach lautstark an. Alle sahen sich erschrocken an. Man hörte in einiger Entfernung eine dunkle, beruhigend auf die Hunde einsprechende Stimme, dann war Ruhe. Dennoch stand Freds Vater auf, um nachzusehen, wer da gesprochen hatte und warum die Hunde verstummt waren. Sicherheitshalber nahm er sein geladenes Gewehr vom Haken, entsicherte es und trat vor die Tür auf die Veranda. Im gleichen Moment fühlte er, wie er von hinten ergriffen und festgehalten wurde, während einer der Männer, die er zuvor bei den Kidnappern gesehen hatte, vor ihm auftauchte und ihm sein gezücktes Messer quer durch die Kehle zog. Es gelang ihm noch mit letzter Kraft, den Abzug zu betätigen, sodass sich ein Schuss löste, der die anderen warnen konnte, dann brach er mit einem gurgelnden Laut zusammen.
Der Schuss hatte die anderen im Hause aufgeschreckt. Sie wollten zu den erbeuteten Schusswaffen eilen – es war jedoch schon zu spät. Babatunde war, ein blutiges Messer in der Hand, mit seinen Männern bereits in die Küche eingedrungen und hatte sich zwischen die Waffen und die übrigen Personen aus dem Haus gestellt.
„Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass man uns wie einen lästigen Hund vom Hof jagen kann?! Es musste euch doch klar sein, dass wir wiederkommen würden. Warum habt ihr keine Wachen aufgestellt?“ Er schaute sie der Reihe nach an. „Und dann noch die völlig überflüssige Gegenwehr eures Familienchefs … Tsa, tsa, tsa …“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nun ist er mausetot. Das heißt, er röchelt vielleicht noch ein kleines bisschen, aber wohl nicht mehr allzu lange.“ Er grinste auf eine widerwärtige Art und wurde dann aber schnell wieder ernst. „Ich hoffe, ihr seid klüger und wehrt euch nicht. Sonst seid ihr die Nächsten, die mit meinem Messer Bekanntschaft machen.“
Er riss ein Geschirrtuch vom Haken und wischte sein Messer darin ab.
„Chef, sollen wir die Waffen wieder an uns nehmen“, wollte Adetutu, einer seiner Männer, wissen. Er hatte auf der Veranda Freds Vater festgehalten, damit Babatunde ihn leichter hatte töten können.
„Natürlich, worauf wartet ihr?!“, war die Antwort.
Während die Männer sich wieder bewaffneten, versuchte Freds Onkel vorsichtig in den hinteren Teil der Küche zu gelangen, wo er zuletzt noch Geralds Revolver gesehen hatte. Babatunde war jedoch wachsam geblieben. Blitzschnell hob er seine Hand mit dem schweren langen Messer und warf es zielgerichtet auf Freds Onkel. Dieser hatte sich reaktionsschnell gebückt und konnte dem Messer geschickt ausweichen, das mit zitterndem Griff im Holzrahmen der Vorratskammer-Tür hinter ihm stecken blieb. Er drehte sich um und riss es aus dem Türrahmen heraus und stürzte sich laut schreiend auf Babatunde. Fred, Safira, die beiden Jungen und Raphaela warfen sich gleichfalls schreiend auf ihn, sodass der so Überrumpelte auf den Boden fiel. Im gleichen Moment fiel ein Schuss, dann ein zweiter und ein dritter – Freds Onkel und seine Frau rollten mit Einschusslöchern im Kopf auf die Seite.
„So, Freunde, Schluss! An die Wand! Das hier ist kein Spiel! Eure Hunde waren klüger. Sie haben unsere mitgebrachten Würste als Friedenspfand akzeptiert. Mann, Mann, war diese Sauerei nötig? Da vergeht einem ja der Appetit.“ Und zu seinen Männern sagte er: „Los schafft die Leichen raus – wir wollen hier doch noch in Ruhe essen können!“
Die Leichen wurden zu Freds Vater auf die Terrasse geschleift. Danach nahmen die Männer am Tisch Platz, als wäre nichts gewesen, und begannen, ‚ihr’ Abendessen zu sich zu nehmen, während abwechselnd jeweils einer von ihnen mit einem Gewehr im Anschlag die übrigen Personen in Schach hielt.
6. Kapitel
Laura und Atunga
Lauras Abschiedsparty war gelungen. Alle hatten zu europäischer, aber auch zu afrikanischer Disco-Musik getanzt. Einige waren sich, trotz ihres zum Teil noch beinahe kindlichen Alters auch etwas näher gekommen, hatten bei langsamer Musik auch eng umschlungen getanzt, bis Lauras Eltern gegen zwei Uhr morgens das Fest beendeten und alle freundlich, aber bestimmt, baten, nun doch die Betten im Hause bzw. die Zelte draußen aufzusuchen. Nach einer viertel Stunde waren alle Mädchen unter leichtem, aber nicht so ganz ernst zu nehmendem Protest im Haus verschwunden, um sich noch einer Katzenwäsche zu unterziehen, während die Jungen sich draußen an der Pumpe noch etwas wuschen und sich dann in die Zelte zurückzogen.
Laura schlief, wie immer, allein oben in ihrem kleinen Zimmer. Sie wartete noch ungefähr eine Stunde, bis sie überzeugt sein konnte, dass niemand mehr wach war. Dann erhob sie sich ganz leise und schlich barfuß, um ja keinen unnötigen ‚Radau’ zu verursachen und so eventuelle Schläfer aufzuwecken, die Treppe hinunter. Wie eine Katze schlängelte sie sich geschickt und beinahe lautlos zwischen den am Boden auf Matratzen und Decken liegenden Freundinnen hindurch und wollte eben über die Veranda in den Garten zu Atungas Zelt huschen, als dieser neben ihr förmlich aus dem Boden wuchs. Nur mit Mühe konnte sie einen leisen Schrei unterdrücken – er hatte ihren Mund geistesgegenwärtig mit seinen Lippen verschlossen. Sie machte sich von ihm frei und zischte ihn, immer noch etwas zitternd vor Schreck, an: „Mann, wie kannst du mich so erschrecken?!“ Dann aber küsste sie ihn wieder und schwebte sofort im siebten Himmel. Ganz eng schmiegte sie sich dabei an ihn, und als sie fast keine Luft mehr bekam, machte sie sich frei und eilte, ihn an der Hand fassend, leichtfüßig erneut in den hinteren Teil des Gartens, wo sie heute schon einmal mit ihm gewesen war. Sie ließen sich hinter dem gleichen Gebüsch im Gras nieder und genossen den unvergleichlichen Sternenhimmel über sich, während ihre Hände sich eng ineinander verschlungen hatten.
„Sag mal, Atunga, hattest du schon mal eine Freundin?“, wollte Laura plötzlich wissen.
„Viele, ganz viele. In meinem Volk ist es üblich, schon ganz früh für den späteren Harem zu trainieren.“ Atunga wartete auf eine mögliche Reaktion Lauras und lachte dann leise. „Quatsch. Natürlich nicht. Du bist meine erste richtige Freundin.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Auch wenn du noch reichlich jung bist.“
„Wieso sagst du das?“, wollte sie wissen.
„Du bist doch erst dreizehn Jahre alt …“
„Fast vierzehn, mein Lieber, fast vierzehn …“
„Also gut: fast vierzehn. Aber da bist du doch, da bist du doch noch, da hast du doch noch nicht einmal …“ Er brach verlegen ab.
„Und warum stotterst du jetzt so, du ach so großer, alter, junger Mann?“, fragte sie ihn. „Du weißt nicht, ob ich schon eine junge Frau bin, stimmt’s? Hallo – ich habe seit mehr als einem Jahr meine Tage, und Eileen hat mir vor einem halben Jahr bereits, als wir zusammen übernachtet haben, gezeigt, wie man zu einem Orgasmus kommt. Also bild’ dir bloß nicht ein, ich sei noch ein kleines, unerfahrenes Kind.“ Sie wartete ab, welche Wirkung ihre Worte erzielen würden und richtete sich dann auf, nahm seine Hände und drückte sie an ihre beiden kleinen Brüste. „Hier – spürst du das? Hätte ich die, wenn ich noch ein Kind wäre?“ Sie ließ sich wieder auf den Rücken fallen und atmete tief durch.
Atunga stützte sich auf seinen linken Ellenbogen, räusperte sich und sagte dann: „Ich wollte dich nicht kränken, Laura. Ich weiß, dass du schon dabei bist, eine junge Frau zu werden. Ich habe dich doch auch beim Schwimmen beobachten können und gesehen, dass dein Bikini-Oberteil inzwischen nicht mehr verrutscht, sondern ganz von selbst hält …“
„Von meinem Busen gehalten wird!“, unterbrach sie ihn stolz.
„Ja, das wollte ich damit sagen. Aber ich möchte unsere Freundschaft, die mir ganz wichtig ist, nicht zerstören, indem ich etwas Übereiltes tue, was wir beide hinterher bereuen.“ Er küsste sie kurz auf den Mund und legte sich dann wieder neben sie auf den Rücken.
Eine ganze Weile schwiegen sie. Jeder ließ das Gespräch in Gedanken noch einmal Revue passieren. Laura brach schließlich als erste das Schweigen und fragte etwas stockend: „Aber – ein bisschen zärtlich – können wir – doch trotzdem – sein – oder?“
Er drehte sich auf die Seite und zog sie an sich. „Natürlich. Ich möchte das sogar, jetzt, sehr. Aber wir sollten uns mit dem Letzten noch etwas Zeit lassen, oder?“
Einerseits war sie etwas enttäuscht, andererseits spürte sie aber auch, welch große Verantwortung er darin sah, dass er der ältere von beiden war. So konnte nur jemand zu ihr sprechen, der sie ganz, ganz lieb hatte. Sie schmiegte ihren jugendlichen Körper ganz dicht an ihn, während sie seine leidenschaftlichen Küsse nur allzu gern erwiderte. Ihr Herz pochte ganz heftig, als sie seine Hände unter ihrem Lieblings-T-Shirt, das sie eigens für ihn in dieser Nacht angezogen hatte, auf ihrem nackten Rücken spürte. In ihrer Erregung schob sie sein T-Shirt hoch, hob ihr eigenes T-Shirt vorn an, um ihn so noch besser spüren zu können. Da hielt er sie mit beiden Armen fest. „Nicht“, sagte er, „ich meinte das eben wirklich ernst. Und wenn wir jetzt so weitermachen, kann ich für nichts mehr garantieren. Und das willst du doch sicherlich auch nicht. Schau mal, wir haben noch so viel Zeit!“
Schwer atmend gab sie ihm recht und nickte, blieb aber so, wie sie war, auf ihm liegen.
7. Kapitel
Psychotherapie (Forts.)
Ich sah Laura an, dass ihr das Ganze, obwohl inzwischen mehr als drei Jahre seitdem vergangen waren, sehr nahe ging. Atunga war so etwas wie ihre erste große Liebe gewesen. Es war in dieser Nacht zwar noch zu weiteren Zärtlichkeiten gekommen, aber so richtig intim waren sie wohl nicht geworden, was sie im Nachhinein ein wenig zu bereuen schien. Denn so hatte sie nur die Erinnerung an diese Beinahe-Beziehung, bevor sie Atunga ganz verlor.
„Möchten Sie eine Pause machen?“, fragte ich sie.
Sie nickte und bat mich um ein Glas Wasser.
Ich stand auf und holte ihr ein Glas, füllte es mit Wasser, gab es ihr in die Hand und beobachtete, wie sie trank. Sie nahm mehrere Schlucke zu sich und ertastete dann die Tischplatte, wo sie das Glas wieder abstellte.
„Ist Arif für Sie eigentlich so eine Art ‚Atunga-Ersatz’, so eine Art ‚Atunga 2’?“, fragte ich sie und bereute im gleichen Moment, diese Frage gestellt zu haben. Denn sie war in Tränen ausgebrochen, und ich machte mir wegen meiner Unsensibilität bittere Vorwürfe. „Verzeihen Sie, Laura, das war ganz dumm von mir, so etwas zu fragen.“
Zu meinem großen Erstaunen hob sie den Kopf und schüttelte ihn, was so viel wie „durchaus nicht“ bedeuten sollte. Sie atmete tief durch und sagte dann, nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte: „Nein, nein, ist schon gut, Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Am Anfang, als ich Arif hier kennenlernte, kam er mir tatsächlich vor wie eine Zweitausgabe von Atunga: Freundlich, nett, hilfsbereit, nie zudringlich, immer bereit und für mich da, wenn ich ihn brauchte. Und das war am Anfang sehr oft der Fall wie Sie sich denken können.“
Sie tastete nach dem Wasserglas und ließ es dabei nicht zu, dass ich ihr helfen wollte. „Damit muss ich allein klarkommen, dass ich nichts mehr sehe. Ich kann mich nicht ständig von der Hilfe anderer abhängig machen.“ Sie hatte das Glas rasch gefunden und leerte es nun ganz. „Könnten Sie mir bitte noch einmal nachschenken?“, fragte sie. „Dazu brauche ich nun doch Ihre Hilfe.“ Ein kleines Lächeln huschte bei diesem Eingeständnis über ihr Gesicht.