REINHARD MOHR

 Bin ich jetzt
   reaktionär?

   Bekenntnisse
 eines Altlinken

 Gütersloher Verlagshaus

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Coverfoto: Creativ Studio Heinemann / Westend 61 / Corbis

ISBN 978-3-641-09833-9

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel
Mein progressiver Alltag

2. Kapitel
Süße Vergangenheit

3. Kapitel
Abgründe der Politik

4. Kapitel
Verrückte Welt

5. Kapitel
Lockruf der Natur

Nachwort

»Unser Kopf ist rund, damit das Denken
die Richtung wechseln kann.«

Francis Picabia

Vorwort

Ein sommerlicher Samstagnachmittag in der Berliner Friedrichstraße. Die Sonne glüht, während ein Bataillon orangefarbener Fahrzeuge der Stadtreinigung BSR – Slogan: »We kehr for you« – den müllübersäten Asphalt mit schwerem Gerät räumt. Dichte Staubwolken, umherwirbelnde Dreckhaufen, ein Meer aus zerborstenen Bierflaschen – ein übelriechendes, klirrendes Inferno. Eigentlich müssten Gesichtsschutz und Atemmasken ausgegeben werden. Die Passanten kämpfen sich irgendwie durch, und aus reiner Neugier stellt man sich die Frage: Was war hier eigentlich los? Ein Straßenfest der Hells Angels? Eine Restmüll-Performance von Foodwatch? Ein aus dem Ruder gelaufener Cuba-si! – Aufmarsch der Linken?

Die Antwort kommt von einem uniformierten Vertreter der Sicherheitskräfte. Vorwurfsvoll, beinahe verächtlich angesichts meiner peinlichen Unbildung stößt der Mann hervor: »Det war die Fuckparade! Det kennse nich??!!«

Ich schämte mich. Und dann kam sie doch wieder, die Erinnerung an die jährlichen Umzüge von Punkern, Anarchos und anderen Freizeit-Revolutionären unter dem bierseligen Motto »Fuck off Deutschland! Fuck you all!«.

Auf dem Weg nach Hause kroch dann der Gedanke in mir hoch: Wer zahlt eigentlich die Reinigungskosten für diese ausufernde Privatparty? Der Fuck-off-Staat? Die Steuerzahler? Der Euro-Rettungsschirm ESM?

Und da, ganz plötzlich, schoss mir ein zweiter böser Gedanke durch den Kopf:

Hilfe, ich werde reaktionär!

Wie kann ich auch nur eine Sekunde auf die Idee kommen, dass die fortschrittlichen jungen Menschen nach der erfolgreichen Ausübung ihres Grundrechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einen Beitrag zur Beseitigung ihres eigenen Drecks leisten sollten?! Geht’s noch?!

Ausgerechnet ich, der vor Jahren noch selbst auf unzähligen Demonstrationen war! Und ganz ehrlich: Auch wir hatten damals keine Besen dabei. Liegt der Unterschied also nur darin, dass wir die Bierflasche erst nach der Straßenschlacht aufmachten und nicht, wie heute üblich, schon davor?

Kurz: Bin ich einfach nur ein alter Sack, der der Jugend ihren Spaß nicht gönnt?

Aber es kommt noch dicker. »Wem gehören die Hunde hier?«, schrie ich jüngst am Lietzensee, und blitzschnell wurde mir gewahr: Ich klang wie mein Vater vor vierzig Jahren – Bewunderer von Franz Josef Strauß. Gewiss, die Kampfköter waren nicht angeleint, während in der Nähe Kinder herumliefen. Aber ich hätte trotzdem toleranter sein können im Sinne des Berliner Landrechts: Mir doch egal, sind ja nicht meine Kinder! Lass sie machen.

Das Erschreckendste dabei: Meine autoritären Tendenzen weiten sich ständig aus.

Ich empfinde Graffiti an Hauswänden und S-Bahn-Wagen nicht mehr durchgängig als Kunst, verteidige die Schulmedizin gegen Globuli und anderen Esoterik-Nippes, schätze freundliche Umgangsformen und bitte schon mal den Nachbarn, das Radio leiser zu stellen. Als überzeugter Europäer bin ich ein Euro-Skeptiker geworden, der Griechenland und Portugal, Spanien und Italien nicht nur für Opfer exzessiver Finanzmärkte hält, und finde die konsequente Verfolgung von Neonazis durch die Polizei wichtiger als Lichterketten und Mahnwachen.

Immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich über grammatikalische oder orthografische Fehler auch in seriösen Medien den weißgrauen Kopf schüttele. Von Anfang an hat mich die allgemeine Begeisterung über die Piraten-Partei und den »frischen Wind« verwundert, den die putzigen Kerlchen mit angewachsenem Laptop angeblich in die Politik gebracht haben sollen. Ich rieche eher den Muff spätpubertierender Jungmänner, die es noch schwer haben werden, ihre postinfantile Internet-Fixierung abzulegen.

Am unheimlichsten aber ist die Wahrheit: Ich bin gar nicht reaktionär. Es ist die irre Wirklichkeit, die mich auf all die merkwürdigen Gedanken bringt.

Was aber bedeutet das? Bin ich vielleicht doch nach rechts abgedriftet? Oder die Gesellschaft nach links? Liegt es am Alter? Andererseits: Keine der Errungenschaften unserer liberalen Gesellschaft möchte ich missen. Freiheit ist mir immer noch das Wichtigste. Gerade meine Generation der 78er, jener Post-Achtundsechziger, die in den wilden siebziger Jahren groß wurden, hat gegen verkrustete autoritäre Verhältnisse revoltiert. Bin ich also Opfer meiner eigenen Vergangenheit geworden?

Aber wie kommt es, dass es auch vielen anderen aus meiner Generation so geht? Gewiss, der Linksradikalismus der 70er Jahre ist schon lange erledigt. Doch jetzt geht es darum, auch die Wärmestube der grün-alternativen Heimat zu verlassen, an der so viele Jahre lang das Herz hing. Das zeigt sich nicht nur an der Wahlurne, sondern im alltäglichen Leben. Immer häufiger findet man sich in der Nähe von Positionen, die man einst erbittert bekämpft, ja, verachtet hat.

Und noch einmal: Ist hier feige Anpassung ans böse System am Werk oder gibt es tatsächlich neue Einsichten und Argumente? Denn natürlich hat sich die Gesellschaft – wie die Welt – weitergedreht, nicht zuletzt durch die Generation der Revolte, auch wenn die Generation Facebook das gar nicht weiß.

Kurzum, es geht um den immer wieder neuen Blick auf das, was wir »Wirklichkeit« nennen. Ein sehr persönliches Plädoyer für das – manchmal schmerzhafte – Selberdenken. Für ein Leben, das sich von der Realität immer wieder irritieren lässt.

Berlin, im März 2013

1. Kapitel

Mein progressiver Alltag

    oder
 Ordnung muss sein

Die ersten Symptome entwickelten sich schleichend. Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten. Immer öfter störten mich Leute am Nachbartisch, ob im Café, im Restaurant oder auf der Bank vor der Berghütte. Entweder redeten sie zu laut, hatten eine unangenehme Stimme oder sahen so grandios unsympathisch aus, dass ich wie gebannt immer wieder hinschauen musste. Ein Paradebeispiel war jener ergraute Zopfhansel beim Italiener, der in größerer Runde ausschweifend und gut hörbar dozierte. Es ging um Gott und die Welt, und er erklärte alles, wirklich alles. Er war schon über fünfzig und hatte seinen kleinen gesellschaftskritischen Haar-Rest aus den frühen achtziger Jahren mit einem dünnen Gummibändchen festgezurrt.

Zwischen zwei Gabeln Spaghetti Vongole fragte ich mich, ob er nachts den haarigen Mini-Strunk löst und morgens wenigstens das Gummibändchen wechselt. Das kleine Gesamtkunstwerk aus Zopfzausel und fortschrittlichem Weltethos brachte mich jedenfalls eigentümlich in Rage, und schon nach dem nächsten Schluck Weißwein schoss mir der böse Gedanke durch den Kopf, eine Schere zu besorgen, um dem kleinen Wichtigtuer das revolutionäre Schwänzchen abzuschneiden. Einfach so, ganz spontan, in einer Art spätanarchistischer Aufwallung. Meine Freundin, eine Anwältin, machte mich vorsorglich auf die juristischen Folgen dieser illegalen und nicht einmal religiös begründbaren Beschneidung aufmerksam, und so ließ ich ab. Aber was war los mit mir, was ging in mir vor? Diese völlig überzogene emotionale Reaktion, diese Aggressivität gegenüber einem Zeitgenossen, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer mir auf die Nerven zu gehen?

Sah ich in ihm etwa ein Spiegelbild meiner eigenen Vergangenheit? Musste ich meine eigene Pferdemähne aus den siebziger Jahren gleichsam retrospektiv bestrafen? Andererseits: Das war nun lange her, und wer mit fünfzig immer noch mit einem pseudorebellischen Alibizöpfchen herumläuft, hat sich zumindest die ästhetische Verachtung redlich verdient. Aber dennoch: Woher mein Furor? Sollte es da plötzlich eine neue Denkweise geben, die nur noch gelten lässt, was sie selbst hier und heute richtig und vernünftig findet? Einen Absolutheitsanspruch auf die Wahrheit, aufs »richtige« Leben, am besten noch: Anstand, Sitte und Moral? Damit wären wir ja wieder in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren, als die Väter ihren Töchtern Minirock und Jeans verboten und die Söhne anhielten, regelmäßig den Seitenscheitel nachzuziehen. Selbst Friedrich der Große, erwiesenermaßen kein 68er, hatte zuzeiten davon gesprochen, dass jeder »nach seiner Fasson selig« werden solle. Wo bleibt also meine Toleranz?

Genau da steckt das Problem. Ja, ich gebe es zu: Ich werde immer intoleranter. Nicht aus Prinzip, nicht aus Böswilligkeit oder Misanthropie, sondern unwillkürlich, im konkreten Fall, eher lebensweltlich und empirisch inspiriert als ideologisch oder philosophisch. So erschien mir der Zopfhansel intuitiv als unangenehmer Spießer von links, jemand, der die einmal gefasste Lebenseinstellung praktisch unverändert über die Jahrzehnte rettet. Obwohl er selbst immer wieder vom großen Wandel schwadroniert, verharrt er in einem erzkonservativen Zirkel des Ewiggleichen, in einem Rondell erstarrter Gewissheiten, die so unumstößlich sind wie Omas Kochrezept für Königsberger Klopse.

Ich habe ihm nichts getan, nicht einmal das Wort an ihn gerichtet. Man will ja nicht den schönen Abend verderben. Im Grunde war mein Wunsch des Zopfabschneidens eine organische Metapher, hilfloses Sinnbild für meine Wut über dieses penetrante, irgendwie verschwiemelt-klebrige Beharrungsvermögen, das sich gegen alle Einwände und Neuerungen abgeschottet hat. Kurz: Ich wollte den Mann zur Ordnung rufen, ihn von seinem Irrweg abbringen und auf den rechten, nein, richtigen Pfad der Tugend bringen. »Wach auf!«, hätte ich ihm zurufen wollen. »Und fass mit deinen verschwitzten Patschhändchen das Weinglas wenigstens am Stängel an.«

Und das ist es. Immer öfter will ich andere zur Räson bringen. Das autoritäre, zugleich belehrend-erzieherische Element wird stärker: Der Hausmeister in mir, ein offenbar lange verdrängtes Alter Ego, rührt sich deutlich häufiger. Anders als der Schalterbeamte, den Kurt Tucholsky zur Charakterisierung der deutschen Seele gern auftreten ließ, ist der Hausmeister immerhin ein gesellschaftlicher Aktivposten, im besten Fall ein Organisator sozialer Ordnung. Er wacht über die Einhaltung von Regeln und leert die Papierkörbe, meldet Schmierereien an den Direx und brüllt schon mal durch die Gegend, wenn im Pausenhof Fußball gespielt wird. Deshalb haben wir ihn gehasst. Matthias Beltz hat ihm, mit schmuddelig-grauem Arbeitskittel, schwarzer Augenklappe, Schlüsselbund und schwerem Eisenhandschuh – alte Kriegsverletzung –, ein satirisches Denkmal gesetzt. Klar, der Hausmeister war der Reaktionär von nebenan, der Klartext sprach und HB rauchte.

Bis vor einigen Jahren hat sich an dieser Sicht bei mir auch nicht viel geändert. Doch dann bemerkte ich, dass ich immer häufiger in Situationen eingriff, die mich streng genommen nichts angingen. Eine innere Stimme schien mir zu sagen: Wenn du es nicht machst, macht es niemand. Also tu es. Und so mischte ich mich ein. Ob bei endlos auf dem Mittelstreifen der Autobahn dahinzuckelnden Schnarchfahrern, haltlos herumschlingernden Rostradlern, die mit quietschender Kette und schepperndem Schutzblech noch Hunderte Meter weit zu hören sind, oder Fußgängern, mit und ohne iOhrstöpsel, die sich beim Überqueren selbst größerer Straßen auch bei Smoke on the Water allein auf ihr Gehör verlassen – mein Hang zur autoritären Spontanintervention nahm bedenkliche Ausmaße an.

Genügte im einen Fall der demonstrativ überscharfe Wechsel auf die rechte Spur, so musste es im anderen Fall schon ein Ausruf wie »Haben Sie es mal mit Öl probiert?« sein. Leider war die ebenso spontane Antwort »Zisch ab, alter Sack!« keine wirkliche Bestärkung meiner sozialpädagogischen Bemühungen. »Echt nicht hilfreich«, hätte Angela Merkel gebrummelt.

Am einfachsten war es noch bei den esoterisch angehauchten Feng-Shui-Fußgängern, die sich auch mitten auf der Straße, frei nach Margot Käßmann, in Gottes Hand fühlen. Dass sie dennoch sehr tief fallen können, kommt ihnen nicht in den Sinn. Um diesem modernen Aberglauben, immer und überall von einer höheren Instanz geschützt zu werden, einen Schuss Realitätssinn zu verpassen, hat der radelnde Ordnungshüter in mir mehrere Handlungsoptionen entwickelt:

  1. Scharfes, zentimeterdichtes Vorbeifahren ohne akustisches Warnsignal.
  2. Kurz vorher laut klingeln.
  3. Mündliche Zusatzinformationen, teils mehrsprachig, wie »Attention, Atención, Attenzione! Vorsicht an der Bordsteinkante! Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«

Die meist völlig überraschten Zeitgenossen, die sich im Geiste überall wähnen, nur nicht auf einer ordinären Straße, reagieren überwiegend so, als wären sie in einen Hinterhalt der Taliban geraten. Ob die Schreckmomente zumindest mittelfristig einen erzieherischen Wert haben, ist nicht zu überprüfen. Skepsis ist angebracht.

Doch auch im unmittelbaren Nahbereich setzt mein autoritäres Verhalten neue Maßstäbe. Wenn der liebe Nachbar wieder einmal überdimensionale Verpackungen so lange neben der blauen Papiertonne liegen lässt, bis der Regen sie komplett aufgeweicht und zu einer Art Beuys’schem Fettkubus vermanscht hat, greife ich zuweilen zur Selbsthilfe und reduziere den Rest auf die tonnenkompatible Größe, gern mit offensiven Arbeitsgeräuschen, die im Hinterhof unüberhörbar sind. Man gönnt sich ja sonst keine Freude.

Dass der Hausmeister in mir noch nicht vollends ausgereift ist, zeigt sich allerdings daran, dass ich die Strategie schriftlicher Ermahnungen an die Hausgemeinschaft nach einem allerersten Versuch vorerst nicht mehr weiter verfolge. Auf den Zettel mit dem in Blockschrift formulierten Hinweis, dass die Müllabfuhr keine Großverpackungen außerhalb der Tonne mitnimmt, reagierte ein Nachbar mit einem anonym gekritzelten Rückgriff auf die Abgründe deutscher Geschichte: »Blockwart und ABV hatten wir schon mal!«, wobei ABV für den »Abschnittsbevollmächtigten« in der DDR steht. Bevor ich den Satz »Es war nicht alles schlecht …« auch nur denken konnte, schämte ich mich ein wenig. War es nun schon so weit gekommen, dass ich, ein Ex-Anarchist und Alt-Revoluzzer, in die Ecke von Nazi-Schergen und Stasi-Spitzeln gerückt wurde?

Doch man sieht, wie schnell die Reflexe greifen. Wer auf die Einhaltung von Regeln und Mindeststandards des Zusammenlebens pocht, muss sich erst mal selbst moralisch rechtfertigen. Wer sie bricht, darf in weiten Teilen unseres Alltagslebens mit einer Mischung aus achselzuckendem Verständnis und einer an Gleichgültigkeit grenzenden Toleranz rechnen.

Klassischer Ort dieser moralphilosophischen Schub-Umkehr sind öffentliche Verkehrsmittel. Wer hier gegen jedwede Art von Belästigung – vom überlauten Handygespräch über ohrenbetäubende Klarinettensolos bis zur körperlichen Attacke – in alter Väter Sitte »einschreiten« will, muss zunächst die Schwelle vom sicheren Beobachterstatus zum aktiven Subjekt überwinden. Er macht sich als Individuum kenntlich und damit angreifbar, und sei es nur die Peinlichkeit, in einem sonst von Schweigsamkeit erfüllten U-Bahn-Wagen das Wort zu erheben.

Viel lieber verharrt man in der anonymen Masse, die im Zweifel nichts sieht und nichts hört. Wer etwa mit einer klaren Ansage im S-Bahn-Waggon zwei 14-jährige Mädchen gegen eine Handvoll deutschtürkischer Jungs in Schutz nimmt, muss mit der reflexhaften Replik »Nazi!« rechnen. Eine Petitesse allerdings gegen die Reaktion anderer Jugendlicher mit »Migrationshintergrund«, denen ein 76-jähriger Rentner das Rauchverbot in der Münchner U-Bahn kommunikativ nahebringen wollte: Sie schlugen ihn halbtot.

Selbst diese sinnlose Brutalität änderte für den Feuilletonchef der ZEIT, Jens Jessen, nichts daran, dass der Hauptfeind der Gesellschaft das deutsche Spießertum bleibt. Denn der »deutsche Spießer«, offenbar eine weltweit einzigartige Spezies, zeige »überall sein fürchterliches Gesicht«. So gebe es viel »zu viele besserwisserische Rentner«, die »den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen«. Selbst das Rauchen wird auf diese Weise zur revolutionären Widerstandshandlung gegen den senilen Ordnungsfaschismus.

Da ist er also wieder, der post-nazistische Blockwart unseligen Angedenkens, der systematisch die Waggons durchkämmt, um seinen analfixierten faschistoiden Trieb zu befriedigen: Er will nichts anderes, als Vertreter sozialer, ethnischer und politischer Minderheiten zu drangsalieren. Dieser gesamtideelle Hausmeister der repressiven Gesellschaft schreit geradezu danach, als reaktionärer Un-Held eines Lehrstücks in Brecht’scher Tradition für alle Zeiten bloßgestellt zu werden.

Und schon ist man mittendrin in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als das Schild »Rasen betreten verboten!« tatsächlich noch eine Hürde war, die bewusst genommen werden musste, und sei es für ein Protestcamp zur Befreiung »politischer Gefangener«. Inzwischen ist diese Schwelle längst auf die Höhe der jeweiligen Grasnarbe abgesenkt, also unsichtbar und aufgelöst. Selbst die Staatsmacht reagiert auf diese normative Kraft des Faktischen. Nachdem die von Blumenbeeten umrahmten Rasenstücke am Viktoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg trotz aller Verbotsschilder von der Bevölkerung schon vor Jahren ganz selbstverständlich zur Liegewiese erklärt worden waren, entfernte das Bezirksamt schließlich die blechernen Zeugen einer anderen, autoritären Epoche.

Die pragmatische Entscheidung mag schlicht vernünftig gewesen sein. Doch sie ist eben auch ein doppeltes Symbol: für die Liberalität unserer Gesellschaft und ihre wachsende Schwierigkeit, überhaupt noch eine anerkannte Autorität auszubilden, die ihre demokratisch legitimierten Entscheidungen durchsetzen kann – im Kleinen wie im Großen, vom Grillverbot im Park bis zu komplizierten Bauprojekten.

Das war vor vierzig Jahren noch ganz anders. Damals erinnerten ältere Deutsche die junge Generation nicht vorrangig an das amtliche Rauchverbot in der U-Bahn – gepafft wurde sowieso überall, selbst in Werner Höfers Internationalem Frühschoppen –, sondern an Auschwitz. »Vergasen müsste man euch alle!«, riefen sie uns langhaarigen Demonstranten am Goetheplatz in Frankfurt am Main zu, die Aktentasche in der rechten Hand, den Scheitel wie mit dem Rasiermesser gezogen. Ein abgeschlossenes Gesamtkunstwerk aus der Adenauerzeit, das sich bis tief in die siebziger Jahre gehalten hat. Fast wie zu Wehrmachtszeiten aufgereiht standen sie da – Hüte hatten die Stahlhelme ersetzt –, während wir im geübten Chor unsere revolutionären Parolen gegen Polizei und Häuserspekulanten riefen. Sie verkörperten das Alte, Autoritäre, Gestrige, wir das Junge, Frische, Aufstrebende: ein klarer Frontverlauf, Freund und Feind sauber getrennt. Rebellion war erste Anarchistenpflicht, denn überall galt es, überkommene Strukturen aufzubrechen. Und das Schönste: Die Autoritäten waren nicht darauf vorbereitet. Sie verhielten sich steif und unflexibel, überheblich und selbstgewiss. Das wurde ihnen rasch zum Verhängnis.

Es fing mit ganz kleinen, heute lächerlich wirkenden Provokationen an, Augenblicke der spontanen Demaskierung einer fraglos herrschenden Autorität, die sich zur gleichen Zeit auch im westlichen Nachbarland vollzog. Als der französische Minister für Jugend und Sport, François Missoffe, am 8. Januar 1968 in die Universität Paris-Nanterre kam, um ein Schwimmbad einzuweihen, entspann sich ein kurzer, aber historischer Wortwechsel mit dem damals noch ganz unbekannten 22-jährigen Soziologiestudenten Daniel Cohn-Bendit, der inzwischen als ein Auslöser der großen Revolte vom Mai 1968 gilt. »In Ihrem Weißbuch über die Jugend steht kein Wort über die sexuellen Probleme!«, rief Cohn-Bendit dem Minister im Getümmel zu. Missoffe antwortete schneidend: »Wenn Sie sexuelle Probleme haben — hinein ins Schwimmbecken!«

Nur auf den ersten Blick wirkt die Reaktion des gaullistischen Ministers schlagfertig. Tatsächlich fiel ihm keine sachliche Antwort auf Cohn-Bendits Frage ein. Auch auf dessen Forderung, die Trennung zwischen Wohnheimen für Studenten und Studentinnen aufzuheben, wollte er nicht wirklich antworten. Und das macht den Unterschied: Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, barg 1968 sozialen Sprengstoff, der zum Aufstand führte. Im Jahre 2013 wäre ein deutscher Minister, der zur Lösung sexueller Probleme einen Sprung ins kalte Wasser empfiehlt, ein Fall für die heute Show im ZDF; die Satirezeitschrift Titanic würde ihn gemeinsam mit Rudolf Scharping und Gräfin Pilati auf ihrem Titel abbilden, und bei Hart aber fair – Thema der Sendung: »Geht unsere Jugend baden?« – stünde er im gnadenlosen Kreuzverhör von Claus Kleber, Daniela Katzenberger und Dr. Jürgen Todenhöfer.

Apropos Baden. Der Bademeister ist gleichsam die amphibische Variante des Hausmeisters, ausgestattet mit Schnauzer, Dienstkäppi, großen weißen Schlappen, Trillerpfeife und einem Ehrfurcht einflößenden Bauch. Aus mir bis heute unerfindlichen Gründen nannte man mich bereits kurz nach meinem Dienstantritt bei einem Hamburger Nachrichtenmagazin den »Bademeister«, obwohl ich dem Ideal dieses Berufsbilds gar nicht entspreche: Ich trage keinen Schnauzer. Egal.

Zum Abschied schenkte man mir Badekappe, Bademantel und die obligatorische Trillerpfeife. Was sich vordergründig auf Äußerlichkeiten wie sommerliche T-Shirts bezog, mag aber auch einen tieferen Grund gehabt haben. Gewiss, mein Schreibtisch war meist aufgeräumt und meine Gesichtsfarbe trotz der Indoor-Tätigkeit deutlich weniger blass als die anderer Bürolurche. Doch irgendeine Vorahnung muss schon damals in der klimatisierten Luft gelegen haben, eine frühe Wahrnehmung meiner autoritären Tendenzen.

Hat mich womöglich, lange Zeit ganz unbewusst, ein frühes Erlebnis aus der Kindheit geprägt? Im kollektiven Gedächtnis unserer Familie jedenfalls nimmt ein Ereignis eine herausragende Stellung ein, das sich in den Sommerferien irgendwann Anfang der sechziger Jahre, also vor einem halben Jahrhundert, zugetragen haben muss. Wir lagen friedlich am herrlichen Thuner See im Berner Oberland, der Rasen so grün wie auf den nachkolorierten Ansichtskarten dieser Zeit, der See so blau wie der Himmel zwischen Eiger, Mönch und Jungfrau. Selbst unserem Vater, der keiner Konfrontation auswich, blieb da nichts anderes übrig, als friedlich im Gras zu liegen und den Baedeker über die Schweiz zu studieren.

Plötzlich kam eine Gruppe Jugendlicher mit dem damals unvermeidlichen »Kofferradio« daher, und aus war’s mit der Ruhe. Mein Vater, der als Fähnrich der Kriegsmarine schon phylogenetisch eine gewisse Nähe zum Wesenskern des deutschen Bademeisters aufwies, schritt Minuten später zur Tat. In der Erinnerung verschwimmen die genauen Abläufe, aber ich glaube, es gab drei mehr oder weniger freundlich formulierte Aufforderungen, das Radio leiser zu stellen. Naturgemäß wurde ihnen nicht Folge geleistet, und so entschloss sich mein Vater, das Problem an der Quelle zu lösen. In einem Blitzkrieg-artigen Überraschungscoup brachte er das plärrende Gerät in seine Gewalt und warf es mit geübter Hand in hohem Bogen in den schönen, blauen Thuner See.

Die nach dem Plumpsgeräusch urplötzlich eintretende Stille verband sich mit der völligen Sprachlosigkeit der jungen Badegäste. Wie »Halbstarke«, so die einst populäre Bezeichnung für verhaltensauffällige Jungmänner mit überschießenden Leibeskräften, benahmen sie sich jedenfalls nicht. Leider habe ich an den späteren Hergang keinerlei Erinnerungen mehr, doch weitere Kampfhandlungen oder Racheaktionen (idealtypisch vorgeführt von Stan Laurel & Oliver Hardy) gab es wohl nicht, und auch juristisch blieb die flagrante Straftat durch einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten auf dem Hoheitsgebiet der neutralen Schweiz gut fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ohne Konsequenzen.

Kann es also sein, dass diese frühe Erfahrung einer zwar rechtswidrigen, aber sehr erfolgreichen Ausübung unmittelbarer physischer Macht mich tief geprägt hat? Und das, obwohl ich jahrzehntelang gegen den autoritären Vater gekämpft habe – vom Streit am sonntäglichen Mittagstisch bis zur ausufernden Straßendemonstration. Könnte nicht eine besondere Ironie der Generationen-Geschichte auch darin liegen, dass die mehr oder weniger spontane Gewalttätigkeit, die in der linksradikalen Frankfurter Sponti-Szene als »revolutionäre Militanz« gefeiert wurde, in ihren psychologischen Motivationen gar nicht so weit entfernt war vom Furor unseres Vaters, der sich durch den Lärm eines Transistorradios in seiner persönlichen Freiheit – seinen Urlaub zu genießen – beeinträchtigt sah? So oder so: eine Revolte der geknechteten Seele?

Als wir in den siebziger Jahren Steine in Bankenfenster warfen, Barrikaden bauten und Straßenbahnen blockierten – um die harmloseren Beispiele zu nennen –, nahmen wir uns ja gleichfalls das Recht heraus, selbst zu bestimmen, was legal war und was nicht. »Legal, illegal, scheißegal« lautete folgerichtig unser Motto, ein revolutionärer Schlachtruf, der in bestimmten Augenblicken ebenso gut aus dem Munde meines – was sonst – reaktionären Vaters hätte kommen können. Offensichtlich gibt es eine verborgene Dialektik zwischen autoritären und anti-autoritären Einstellungen, Berührungspunkte zwischen Freund und Feind. Nicht zufällig rief der erzkonservative Staatsrechtler Carl Schmitt, der Hitlers Machtübernahme bejubelt hatte, mehr als nur theoretisches Interesse bei radikalen Linken hervor.

Auch die Vorliebe vieler 68er für amerikanische und französisch-italienische Western-Filme ist kein Geheimnis. Rudi Dutschke liebte ganz besonders Viva Maria mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau, eine komödiantisch-freche Travestie des Genres, in der ungeheuer viel herumgeballert und weggesprengt wird – natürlich alles im Namen der mexikanischen Revolution. Doch auch Django, Die glorreichen Sieben und Leichen pflastern seinen Weg begeisterten die SDS-Männer in Frankfurt und Berlin, nachdem die Marx-Gruppe am Dienstag endlich Feierabend hatte. Dass einer der führenden Revoluzzer von 1968 selbst als »Django« bezeichnet wurde, wirft Licht auf die einschlägigen Macho-Attitüden. »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!«, forderten denn auch die Genossinnen des Frankfurter Weiberrats. In die Tat umgesetzt wurde die auf einem Flugblatt drastisch dargestellte Operation (inklusive Hackebeilchen) dann aber doch nicht.

Nein, pazifistisch war damals kaum jemand gesinnt. »Frieden schaffen ohne Waffen« – so was war, Pardon, »bürgerliche Scheiße«, reaktionärer Mist, der vom Klassenkampf ablenkte und die »strukturelle Gewalt« des herrschenden Systems beschönigte. Kurz: heuchlerische Pfaffenmoral.

Zugleich war die Faszination unmittelbarer physischer Gewalt Teil einer politischen Gestik, die in vermeintlich radikaler Klarheit scharfe Grenzen zog zwischen »uns« und »denen«, zwischen rechts und links, oben und unten, zwischen richtig und falsch. Die Zauberformel lautete: Widerstand schafft Identität. Sag mir, wo du stehst, und ich zeige dir, wie du zur Front kommst.

Und heute? Immer öfter stehe ich auf der Seite von John Wayne. Zwar stand der alte Western-Haudegen nie im Verdacht, ein verkappter Prärie-Rebell aus Arizona zu sein, der für die Armen und Entrechteten eintritt, aber immer noch springt mein Herz, wenn ich sehe, dass Red River von Howard Hawks auf dem Fernsehprogramm steht. Wunderbar die Lakonie der Szene, in der sich John Wayne genötigt sieht, eine kleine Meinungsverschiedenheit über die Besitzverhältnisse im weiten Land am Red River mit einem Schuss aus seinem Colt zu lösen und den anderen beiden Halunken großzügig mitzuteilen, er werde ihren Anführer ordentlich beerdigen – wie es sich für einen Christenmenschen gehört. Das frisch gegossene Brandeisen glüht derweil im Gras vor sich hin.

Als leidenschaftlicher Anhänger des Rechtsstaats muss ich zugeben, dass John Wayne kein ungebrochenes Vorbild für die politische Erziehung junger Menschen sein kann. Dennoch träume ich zuweilen davon, Konflikte im Alltag auch einmal derart schnörkellos und ohne langwierige Abwägung von Rechtsgütern aus dem Weg zu räumen. Wie jüngst, als ein aggressiver Kampfradler unweit des Brandenburger Tors wie ein Artilleriegeschoss auf mich zuraste, um im letzten Moment knapp auszuweichen. Selbst mit meinem recht flinken Sportrad gab es keine Chance, ihn zu stellen. John Wayne freilich hätte den Irren mit einem gezielten Schuss in die rechte Wade noch aus mehreren hundert Metern Entfernung vom Stahlross geholt. Mir wäre auch eine anständige Prügelei recht gewesen, aber die Umstände waren nicht danach.

Der Rächer auf Rädern im Asphaltdschungel – in diesem Fall nur ein Phantombild. So bleiben mir nur hilflose Ersatzhandlungen. Mal ist es eine mit Wasser gefüllte Plastiktüte, die ich vom dritten Stock aus in Richtung der hochmobilen Trompeter- und Saxophonkolonnen werfe, mal ein alter Schuh oder eine leere Getränkedose. Gott sei Dank ist mein Über-Ich noch intakt, das mir strengstens untersagt, mit wirkungsvolleren Gegenständen auf die moderne Landplage der marodierenden Straßenmusikanten zu reagieren. Am Ende würde ich womöglich selbst noch vor dem Kadi landen – wegen Körperverletzung und Landfriedensbruch. Verkehrte Welt.

Denn es sind ja all die unseligen Bläser, Tröter, Schrammler und Klampfbrüder im Ungeist, die als akustische Kriegerbataillone durch unsere Städte ziehen, den Land- wie den Stadtfrieden stören und die letzten Reservate einigermaßen lärmfreier Zonen mit ihren alles durchdringenden Phongranaten bombardieren.

Schon lange will mir dieses Ungleichgewicht nicht aus dem Kopf: Lärmterroristen üben Gewalt aus und begehen Körperverletzung in Tateinheit mit psychischer Grausamkeit – uns aber, den Opfern dieser Aggression, sind die Hände gebunden. Bis 22 Uhr ist alles erlaubt. Und danach geht’s trotzdem weiter. Wer dann die Bullen, Pardon, die Polizei ruft, steht sowieso im moralischen Abseits. Es sei denn, Ursache des Getöses ist eine grölende Nazi-Truppe. Immer wieder frage ich mich, ob diese Ungleichheit der Waffen nicht äußerst unfair ist. Und ungesund dazu.