ULRIKE DRAESNER, geb. 1962, lebt als Schriftstellerin in Berlin.
Wir leben – daran hat sich wenig geändert – in einer »Welt voller Schmerz, Zauber und Gewalt, über der die Sterne ihre unverständlichen Bahnen ziehen«. Und dafür gilt es, eine Sprache zu finden, die Ausdruck ist und Deutung, Schönheit und Spiel.
Generationen vor uns haben das versucht, manche Epochen sind Spiegelzeiten, die fruchtbar gemacht werden können für unsere Gegenwart, in der vieles zu entgleiten droht. Mit welchen Mitteln kann die Literatur darauf reagieren? Novelle, Essay, Roman, Gedicht, Übersetzung bieten jeweils andere Formen, Möglichkeiten, Fragen an. In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen erkundet Ulrike Draesner, wie und warum überhaupt ein literarischer Text entsteht. Sie zeichnet nach, wo sich literarische Stimmen erheben und denkt dabei stets über die engen Grenzen des Ich hinaus – mit intellektueller Schärfe und einer entschiedenen Hinwendung zu allem Lebendigen in und um uns.
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Zitiert nach www.duden.de/grenze.
Auf beeindruckende Weise erzählt Doris Lessings Roman Das fünfte Kind von den Zufällen der Evolution. Der jüngste Sohn einer glücklichen Familie sprengt jede »Normalität«: er sieht anders aus, verhält sich schon im Uterus aggressiv, ist »primitiv«. Unvermittelt wird etwas fühlbar von der im Grunde unvorstellbaren Tiefe der Erd-Zeit.
Die meisten Geistererscheinungen gelten heutzutage als reale Effekte komplexer Sinnesverrechnungen. Es lässt sich in Experimenten nachvollziehen, wie kaum wahrnehmbare physikalische Effekte bei Menschen Reaktionen auslösen; so wird beispielsweise ein plötzlicher Temperaturabfall innerhalb eines Gebäudes von vielen wie ein Berührungsreiz verarbeitet. Auch geschickte Manipulationen des Magnetfeldes können zur Sichtung von Geistern oder Hörhalluzinationen führen (Brockengespenst). Neuere Forschungen weisen auch auf ein Zusammenspiel verschiedener physikalischer Phänomene (etwa die Luftschwingungen tiefer Frequenzen – Wind gegen stärkere Burgmauern) mit der Eigenresonanz des Augapfels (Sehen von weißen Flecken) hin.
Psycho-physische Versuche zeigen, wie unser Gehirn wahrgenommene Zeitfolgen nachträglich manipuliert, um Sinnesdaten in uns vertraute Sequenzen zu bringen. Lässt man in einem verdunkelten Raum auf einer Leinwand zwei nicht zu weit voneinander entfernte Leuchtpunkte in schneller Folge nacheinander abwechselnd aufblitzen, haben die Versuchspersonen den Eindruck, ein einziger Punkt bewege sich rasch hin und her. Um dies zu »sehen«, obwohl faktisch der erste Punkt schon erloschen ist, bevor der zweite aufleuchtet, muss das Gehirn das zweite Aufleuchten ein wenig in die Vergangenheit zurückverlegen. Was es eifrig tut, um das Bewusstsein des Wahrnehmenden nicht durch eine inkohärente Wirklichkeit zu irritieren.
Zu den Bedeutungen und Ableitungen von ›Gespenst‹ siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GG11608#XGG11608Br.
So Thomas Mann, der sich, in den USA als Stimme der »guten Deutschen« rezipiert, gegen die ihm zugefügte Authentizitätsüberwältigung wehrte, indem er sich als Autor »Thomas Mann« von dem Autorendarsteller Thomas Mann abgrenzte, als der er im Radio, bei Universitätsfeiern, in Interviews sprach. S. auch S. 176 f.
Vgl. Johann Wolfgang Goethes Liebschaft mit der Sessenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion und die mit dieser Zeit verbundenen Sesenheimer Lieder.
Ein frühes Beispiel findet sich erneut in der mittelalterlichen deutschen Literatur: Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und Hartmann von Aue spielen mit der Illusion der eigenen Erfahrungsauthentizität. Ihre Behauptung, als »Sänger« leibhaftig einzustehen für das Erzählte bzw. die besungene Liebe, ist auf groteske Weise subversiv in einem literarischen System, das vorgibt, Literatur allein aus Quellen, althergebrachten Autoritäten sowie auf Grund von (historischer) Wahrheit zu produzieren.
Johann Peter Hebel, Kästchengeschichten, Lengwil 2009, S. 41–45, S. 42.
Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984.
Ebd., S. 118.
Die beiden englischen Fassungen und die russische Version des Textes unterscheiden sich. Zudem wurden verschiedene Kapitel, vorab in Zeitschriften veröffentlicht, für die Buchveröffentlichungen (mehrfach) korrigiert sowie auf das englische oder russische Lesepublikum zugeschnitten. Über »die Realität« verfügt schließlich keiner, weder der »geschätzte Besucher« noch der Autor selbst, der schreibt, übersetzt, korrigiert, und dabei augenzwinkernd nicht davon ablässt, eben diese Wirklichkeit als räumliches und zeitliches Patchwork für sich in Anspruch zu nehmen: »Das vorliegende Werk ist eine systematisch abgestimmte […] Assemblage persönlicher Erinnerungen, die geographisch von St. Petersburg bis St. Nazaire und über siebenunddreißig Jahre hinweg vom August 1903 bis zum Mai 1940 reichen: in eine spätere Raumzeit gibt es nur wenige Ausfälle. Der Essay, der die Serie eröffnet, entspricht dem jetzigen Kapitel 5. Ich schrieb ihn vor dreißig Jahren auf Französisch unter dem Titel Mademoiselle O. in Paris …«
Nabokov, Erinnerung, sprich, S. 37.
Ein schönes Beispiel dafür, aus jüngerer Zeit, bietet die Wilhelm Gustloff in Günter Grass’ Novelle Krebsgang: Schiff ohne Namen zunächst, Kriegsschiff, Flüchtlingsschiff, untergegangenes Schiff, Flaschenschiff, Internetschiff, Schiff auf Fotos, als Nachbau im Modell und als Nachbau im Wort (in der Novelle selbst).
Autor von Waterlog: A Swimmer’s Journey Through Britain, London 2000, das nature und life writing miteinander verbindet.
Das Ich des Romans spaltet sich in eine Sie der Vergangenheit, ein Du in der Gegenwart des Schreibens und ein erst zu erschreibendes Ich der Jahre 1972–75, das den Roman Kindheitsmuster notiert. Gehalten wird dieses zwiebelartige Personenkonglomerat von einem kollektiven, fraglos gegebenen Wir.
James Hamilton-Paterson, Seestücke, Stuttgart 1996.
S. Georges-Arthur Goldschmidt, Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, Frankfurt a. M. 2005.
Goldschmidt, Als Freud das Meer sah, S. 21.
https://www.welt.de/wissenschaft/article843143/Russen-sehen-Blau-anders-als-Amerikaner.html
Schön auch die Vorstellung, die neuen Wahlkämpfe der westlichen Welt mit dem grammatischen Phänomen der Evidentialität zu koppeln: vom Sprecher wird die Angabe verlangt, ob er selbst Quelle des Wissens ist oder das Behauptete nur von anderen übernommen hat. Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Evidentialität.
Früh dachte Wilhelm von Humboldt in seinem grundlegenden Werk »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus« hierüber nach: »Die wahre Wichtigkeit des Sprachstudiums liegt in dem Antheil der Sprache an der Bildung der Vorstellungen«. Die Sprache »hat und kennt keine andere Quelle als sein (des Menschen) Wesen, wenn man sagt, dass sie auf ihn wirkt, so sagt man nur, dass er sich in ihr nach und nach in immer steigendem Umfang und immer wechselnder Mannigfaltigkeit bewusst wird.« Werke in 5 Bänden, hrsg. von Andreas Flitner, Klaus Giel, Darmstadt 1963, Band 3, Schriften zur Sprachphilosophie, S. 153 und 154. Vgl. auch Gottlob Freges Reflexionen über ›Abend-‹ und ›Morgenstern‹ als Namen der Venus, s. S. 179.
Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 40.
Karl Mannheim, in: Das Problem der Generationen, zitiert nach Michael Schneider, »Eine Generation im Dazwischen: Warum die Babyboomer eine Aufgabe haben und sich immer noch unterschätzen«, in: Nebelkinder, S. 144–156, S. 145.
Erika Mann, Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich, Hamburg 2011 (1938).
Katharina Elliger, Und tief in der Seele das Ferne, Hamburg 2004, S. 35.
Joachim Süss, »Wir Nebelkinder«, in: Nebelkinder, S. 26–41, S. 26, im Rückgriff auf Gedanken des amerikanischen Philosophen Ken Wilber.
Vladimir Nabokov, Lolita, 1984, S. 9.
Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Crespahl, I, Frankfurt a. M. 1970, S. 7.
www.youtube.com/watch?v=DD2PDwtTj6U
Wilhelm Heitmeyer, »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in einem entsicherten Jahrzehnt«, in: Deutsche Zustände. Folge 10, hrsg. von W. H., Berlin 2012, S. 15–41.
»… we who have passed into the Realm of Terror, who skulk in eternal dusk among the scenes of our former lives, invisible even to ourselves, and one another, yet hiding forlorn in lonely places; yearning for speech with our loved ones, yet dumb, and as fearful of them as they of us. Sometimes the disability is removed, the law suspended: by the deathless power of love or hate we break the spell – we are seen by those whom we would warn, console, or punish. What form we seem to them to bear we know not; we know only that we terrify even those whom we most wish to comfort, and from whom we most crave tenderness and sympathy.
Forgive, I pray you, this inconsequent digression by what was once a woman. You who consult us in this imperfect way – you do not understand. You ask foolish questions about things unknown and things forbidden. Much that we know and could impart in our speech is meaningless in yours. We must communicate with you through a stammering intelligence in that small fraction of our language that you yourselves can speak. You think that we are of another world. No, we have knowledge of no world but yours …« (Bierce, The Moonlit Road, S. 309 f.)
Hetman Senior: »I strangled her till she died! There ends the dream. I have related it in the past tense, but the present would be the fitter form, for again and again the sombre tragedy re-enacts itself in my consciousness – over and over I lay the plan, I suffer the confirmation, I redress the wrong. Then all is blank; and afterward the rains beat against the grimy windowpanes, or the snows fall upon my scant attire, the wheels rattle in the squalid streets where my life lies in poverty and mean employment. If there is ever sunshine I do not recall it; if there are birds they do not sing.« (Bierce, The Moonlit Road, S. 307)
Die Beispiele sind Legion, zu ihnen zählen Christa Wolfs Kindheitsmuster, Günter Grass’ Krebsgang, die »Großelternliteratur« der letzten Jahre, etwa Sabrina Janeschs Roman Katzenberge.
Ulrike Draesner, »Wer wir sind, sprechen wir deutsch«, in Was eint uns. Verständigung der Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen, Freiburg 2008., S. 64–77.
Noch einmal anders die jüngste Generation. Die Sprache von Esther und Jenny formt sich noch; sie probieren Freundessprachen, Schausprachen, Kurz- und Mediensprachen, aber auch Sprachen des Handelns; bewegen sich in einer Welt der Projekte, Wertungen und Entscheidungen vor einem inneren Raum, der noch wächst und nach Füllung verlangt. Ihre Suchgänge fallen vergleichsweise furchtlos, wenn auch unsicher aus. In kleinen Schritten kann etwas gefunden werden und lassen sie selbst sich finden. Ihre Sätze sind kollektiver bestimmt als die Älteren.
www.ted.com/talks/evelyn_glennie_shows_how_to_listen?language=de
Goldschmidt, S. 64: »Überhören indes bedeutet meist, so zu tun, als hörte man nicht. Das habe ich überhört bedeutet, dass man vollkommen verstanden hat (wenn man etwas wirklich nicht gehört sagt, sagt man: Das habe ich nicht gehört); das habe ich überhört heißt: Das will ich lieber nicht gehört haben. Hören hat aber auch mit gehorchen zu tun: Er hört nicht – er ist ungehorsam, sein Benehmen ist ungehörig, und mit besitzen: Das Buch gehört mir. All das gibt dem Wort überhören einen fast ironischen Charakter, es ist wie ein Augenzwinkern aus dem Intimsten der Sprache.«
http://www.thewhitereview.org/interviews/interview-with-aliceoswald. Übersetzung U. D.
Shapcott benutzt das ›b‹ zwei Mal an exponiertem Ort: believe, believe – Befehl, Anrufung, Frage. Hier entnahm ich es und ersetzte es durch einen anderen, singulären Buchstaben in seiner Nähe, das ö (entblößt). Semantisch hätten andere Worte sich ebenfalls angeboten: »strip off«: wenn du dich ausziehst, nackt bist, in deiner Nacktheit erscheinst. Wenn du, deiner Kleider entledigt, entfällst, kippst … Ich dachte daran, mit dem Deutschen ›entfallen‹ und ›ausfallen‹ zu arbeiten, aber der Vers wurde zu lang. Zudem schien mir das Alleinstehen des »entblößt« in seiner Resonanz auf Glauben – mitsamt der Spannkraft der Laute wichtiger. Das weiche, runde, auffangende »au« gegen das »ö« des Schreckens. Das Ö der Einsamkeit: Ödnis. Wie in Öffnung aber auch – offenbart. Darüber hinaus klingt in »offenbart« jenes »off« wieder, das sich bei Shapcott in einer zweiten, wichtigen Lautballung findet: strip off, fall … Drei »f« stoßen hier aneinander und bilden das Fallen als Dauer und Tiefe im Text ab.
Terence Cave, Thinking with Literature: Towards a Cognitive Criticism, Oxford 2016, S. 34.
Die an der University of Exeter durchgeführte neurologische Studie zur Rezeption verschiedener Textgattungen unterschied zwischen der Aufnahme von Prosa, Gedichten und bereits bekannten, vielleicht sogar auswendig gekonnten Gedichten. Ein weiteres Ergebnis: Gedichtlektüre aktiviert stärker als die Lektüre von Prosa stets auch Elemente der rechten Gehirnhemisphäre, die ihrerseits mit der Rezeption von Musik verbunden sind. S. http://ingentaconnect.com/content/imp/jcs/2013/00000020/F0020009/art00008, oder www.mhpbooks.com/study-reveals-the-neurological-differences-between-poetry-and-prose/
Auf ihn bezogen ließe sich die Überschrift verändern zu: Der Seite, schwarz. Oder: Der Seite Schwarz. So, großgeschrieben-gesagt, könnte es sich auch um eine Widmung an dieses Schwarz handeln. Die Überschrift würde als Zoom fungieren: Lasst uns die Augen auf all das richten, was schwarz ist, sei es gedruckt oder in übertragenem Sinn.
Die letzten vier Zeilen von The Black Page umklammern einander, was die Länge betrifft (4–5–5–4). Die Lautung reimt nicht nur, sondern schrumpft auf Echofunktionen: ist man erst einmal hineingefallen, »in«, bleibt nichts als dies: »swim in ink.« Die Übersetzung könnte nachahmend folgen: »entblößt, du kippst in / es und schwimmst, in Tinte.« Zu Anfang der Verse bezögen sich die e-s-Laute aufeinander, am Ende käme es auch im Deutschen zu einer dreifachen Staffelung von »im« und »in«, noch unterstützt durch die drei »t« des Endes; das Enjambement, die Trennung von »in« und »es« im Versübergang, betonte das Fallen. Der Preis: eine zu starke Betonung des »es« durch den Versanfang, Artifizialität, klangliche Schwäche.
Ich habe Gertrude Stein, Hilda Doolittle, Louise Glück und Shakespeare-Sonette aus dem Englischen übersetzt, zudem Gedichte von schottischen Autorinnen, Dorothy Parker und einigen Dichtern meiner eigenen Generation. Aus dem Französischen: 2000 Verse von Michèle Métails Reisepoem Chemin à cinq pieds, in dem jeder Vers exakt fünf Silben breit sein darf wie ein alter, quer durch China verlaufender Weg exakt fünf Fuß breit war, ohne Trennstrich, versteht sich, auch in der Übersetzung.
Ins Englische importiert über das Französische, das es seinerseits aus dem Lateinischen (›lassus‹ für matt, müde) entlehnte. ›Alas‹ sagen Shakespeares Figuren: Erstaunen, Bedauern, Sorge, Grenze, Ende, Schluss. Alas: eine körperliche Reaktion, ein Seufzer fast.
Vgl. Gilles Deleuze, »Stotterte er«, in: Kritik und Klinik, Frankfurt a. M. 2000, S. 145–154.
Ebd., S. 149.
S. zum Beispiel www.youtube.com/watch?v=Bn7HDBj9ZQQ
Zahlreiche Abbildungen unter https://en.wikipedia.org/wiki/Hypercube
Abgedruckt in Familien Geschlechter Macht. Beziehungen im Werk Ulrike Draesners, hrsg. von Stephanie Catani und Friedhelm Marx, Göttingen 2008, S. 13–22.
»Was diesen Leerstellen der einen gegenüber der anderen Sprache entspricht, denn was sich da in einer Sprache ›entzieht‹, ist vielleicht gerade das, was am sprechendsten ist, aber erst in der Spiegelung durch eine andere sichtbar wird, als wären die Sprachen wirklich dazu gemacht, miteinander zu sprechen.« Goldschmidt, S. 25.
Zitiert nach Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1987, S. 213 f.
Das Zusammenspiel von Auge und Ohr scheint von einer Reihe von Wahrnehmungsautomatismen flankiert zu werden: der Sinn doppeldeutiger Lautfolgen wie »Baku Baku Baku …« kippt plötzlich um (zu »Kuba«). Es scheint, als würde das Gehirn nach einer Spanne von drei Sekunden nach neuen Reizen verlangen, d. h. einen frischen Suchprozess in Gang setzen. Mithilfe mehrdeutiger Stimuli treten diese Eigenoperationen des Gehirns zutage.
Ein Teil dieses Gedankens findet sich in Niklas Luhmanns Reflexionen zu Kunst und Kunstsystem: »Die Funktion der Kunst ist es, der Welt eine Möglichkeit anzubieten, sich selbst von ausgeschlossenen Möglichkeiten her zu beobachten. Jede Unterscheidung innerhalb der Welt schafft bestimmte Möglichkeiten und schließt andere Möglichkeiten aus, die der Sicht entzogen werden und unzugänglich bleiben. Das Kunstwerk stellt eine eigene Realität fest, die sich von der gängigen Realität unterscheidet; es realisiert also eine Verdoppelung des Realen in eine reale und eine imaginäre Realität.« Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito, GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. M. 1997, Einträge zu »Kunst«, »Kunstsystem«, »Welt«, hier S. 107.
Das Gedicht fährt fort:
Is the reply. Then coloratura, among it these phrases:
‘We repeat, don’t complete.
Mysteries, mysteries.
Improvise, weather-wise.
Now I dip, now I rise.
Vary it. Don’t care a bit
If it’s indefinite.
Now I sit, twitter. Now I flit.’
Das in ›Walghvogel‹ benutzte Adjektiv »walghe« bedeutet ›geschmacklos‹, ›ungesund‹, ›schal‹. Gedruckt findet sich der Name ›Dodo‹ zum ersten Mal 1634 in dem Reisebericht des englischen Schriftstellers Sir Thomas Herbert von 1634. Herbert gibt an, den Namen von den Portugiesen, die Mauritius währen des 16. Jahrhunderts als militärischen Stützpunkt genutzt hatten, übernommen zu haben. Ein weiterer Engländer, Emmanuel Altham, hatte den Namen bereits 1628 in einem Brief gebraucht, ebenfalls mit einem Verweis auf seinen Ursprung aus dem Portugiesischen. The Dodo and its Kindred, S. 19–22, sowie Errol Fuller, Dodo: A Brief History, New York 2002, S. 60.
Im Umlauf befinden sich, abgesehen von den bereits genannten Namen, zudem ›dodoor‹ für Faulpelz, ›griff-eendt‹ oder ›kermisgans‹. Vgl. Fuller, S. 51–58.
So Sir Thomas Herbert in seiner Relation of some Yeares Travaile into Afrique and the Greater Asia, London 1634, zitiert nach Fuller, S. 62: »… the Dodo, which for shape and rareness may antagonize the Phoenix of Arabia: her body is round and fat, few weigh less than fifty pound. It is reputed more for wonder than for food.«
Zahlreiche Beispiele für die Fernsehentwicklung über die Simpsons, die Sopranos, Reality-Formate wie Toddlers & Tiaras bis zur Fantasy-Serie Game of Thrones finden sich bei Douglas Rushkoff, Present Shock. When Everything Happens Now, New York 2013, S. 26 ff.
Vgl. Rushkoff, S. 22 ff.
So unterschiedliche Naturbücher wie Melissa Harrisons Rain. Four Walks in English Weather, London 2017, Tim Birkheads The Most Perfect Thing. Inside (and Outside) a Bird’s Egg (London 2016), das das Vogelei zum Helden von 288 Seiten macht, oder Common Ground von Rob Coens (London 2015) folgen diesem Schema: angepasst an zeitgenössische, medial trainierte, exkursorische Rezeptionsmuster, befriedigen sie zugleich die ebenfalls noch immer eintrainierte, traditionelle Plotentwicklung, die sich an einer Figur und deren wie auch immer geartetem Fortschritt orientiert.
Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt, S. 122.
Tania Blixen, Jenseits von Afrika, Zürich 2010, 2012, S. 422.
Ebd. S. 423.
Zitiert nach Blixen, Jenseits von Afrika, S. 668. Wer in Blixens Briefen aus der afrikanischen Zeit blättert, erkennt, wie viel aus Blixens Erleben für den Buchbericht weggelassen oder geschönt wurde. Bis auf wenige Ausnahmen verschweigt der Text die Leere und Härte des afrikanischen Alltags der Weißen, das Alleinsein auf dem Besitz. Nicht einmal Blixens Verhältnis zu Denys Finch Hatton verrät das fiktive Werk von Anfang an; erst spät beginnt man zu begreifen, dass es sich hier um mehr als den üblichen Austausch der Europäer untereinander gehandelt haben muss.
www.theguardian.com/environment/2016/jan/23/going-underground-meet-man-lived-as-animal-charles-foster
Zur exakten Datierung angesichts Sontags widersprüchlicher Angaben vgl. Kai Sina, Susan Sontag und Thomas Mann, Göttingen 2017, S. 40 ff.
Susan Sontag, At Thomas Mann’s, zitiert nach Sina, S. 43, übersetzt von U. D.
Gertrude Stein, Erzählen, Frankfurt a. M. 1971, S. 40.
Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in Funktion, Begriff, Bedeutung, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen 1980, S. 40–65, hier S. 46 ff.
Fast möchte ich es *ghoidosz nennen. *Ghoidosz oder *ghoido, Geist, wurde, so das Oxford English Dictionary unter dem Lemma »ghost«, aus einer Wurzel abgeleitet, die ›Ärger, Wut‹ bedeutet. Das germanische Wort, nur als Maskulinum überliefert, geht wahrscheinlich auf eine Neutrum-Form zurück. Sie bezeichnete ein ›the mind‹ animierendes, anregendes Prinzip, das in besonderem Maß zu Erregung der Nerven und zu ›fury‹, Furor des Tuns, führen konnte (óðr).
Please touch, der Raum schwirrt von Menschengeräusch. Es ist warm, es hallt, mächtige Stahlbalken tragen das Glasdach, zwei von Gerüsten gestützte Saurierskelette schwanken im Luftzug, den Unterkiefer eines Wals hat man gegen eine Säule gelehnt.
Das Museum ist hell, überirdisch, ein durch die Luft fliegendes Schiff der göttlichen Schöpfung, geformt aus Glas und Metall, dem Traum von Unendlichkeit im Reifrock viktorianischer Ingenieurskunst. In 30 Metern lichter Höhe ragen beinerne Köpfe aus sesselgroßen Halswirbeln, überdimensionierte, spitz zulaufende Unterkieferschlitten fahren auf scharfen Knochenkufen durch die Luft, während die Füße der 65 Millionen Jahre alten Dinosaurier dort, wo auch er steht, kräftig, zehig, breit die Erde berühren.
»Cavity« sagt die andere Sprache, ›Höhle‹. Seine Faust passt in die cavity des Zahns, der im Unterkiefer des Wals fehlt. Don’t touch, fragile. Er steht in einer geträumten Arche. Er träumt nicht. Was er sieht, ist keine Höhle. Es ist eine Zeit, in der von Menschen nicht die Rede war. Nicht einmal denkbar waren sie.
Das beruhigt ihn.
Er streift durch die Gänge der seltenen und ausgestorbenen Tiere, an Charles Darwin und Doppelhelix-Watson vorbei. Wesen klettern hin und her zwischen Wasser und Stein. Kriechen an Land. Blicken ihn aus übergroßen Augen an. Flugsaurier, zart wie Eidechsen, schade, dass sie nicht mehr auf dem Planeten umherstaken. Es wäre seltsam, ihnen beim nächsten Spaziergang in den Cotswolds, wenn ein Kaninchen aus der Hecke springt oder Rehe zur Waldinsel gegenüber wechseln, in der Dämmerung zu begegnen. Saurier gehören zu den Vögeln, sagt das Schild, eine vermutlich eher kleine Konstruktion, und für Sekunden scheint ihm die Wirklichkeit ein hübscher, flinker Springsaurier, hergestellt aus Gewohnheiten und Halbwissen, immer schon vorbei, wenn du ihn zu greifen glaubst.
Der Baumeister hat die Seitenschiffe des Museums in die Mitte geklappt und das gesamte Gebäude auf spitze, glasige Weise zusammengedrängt, so dass das Licht bester technischer Laune farblos und kristallen auf die versammelten Tiere fällt, unter denen einzig die Hominiden sich noch bewegen. Kinder in dunkelblauen Schulpullovern mit lila Bordüre am Ausschnitt, die Mädchen in blauen kurzen Röcken und Kniestrümpfen werden durch die Gänge geführt, auf und ab, als fädelte man sie in einen Stoff. »Was finden wir auf der Welt?« »Wo kommst du her?« »Was ist normal?«
Ihm war nicht bewusst gewesen, dass die Umgebung der Stadt in diesem Ausmaß voller Fossilien steckte: erstarrte Sauriertritte, gigantische Hüften, die zugehörigen Schädel wie aus Hühnerknochen gefügt, vergleichsweise zerbrechlich und fein. In beeindruckender Front hatten die farnfressenden und panzerknackenden Schönheiten, die Erfindungen aus Urschleim, die Kleinhirne und Erst-Lungenträger, die Wahnsinnigen des Wassers, die Revolutionäre der Luft, die schwer schaukelnden Stotterer des Gehens, die ersten und tiefsten Urtümer des Planeten sich aus der Heimat geschoben, dem Schlamm.
Für dich finden wir auch noch ein Zuhause, hatte Maude gesagt, als sie von Deutschland nach England zurückgekehrt waren nach drei Jahrzehnten, zurück in das nicht wiedererkennbare Land, in dem er aufgewachsen war, in das sie gehörte. Ganz, sagte sie. Und er ebenfalls!
Halb, sagte er.
Nach dem anstrengenden, prinzipiellen Landgang vergaß das Nilkrokodil, dass es sich bewegen konnte. Wie es in seinem Schneewittchenkasten lag, meterlang, mit rundem Bauch, noch 10.000 Jahre später von der Veränderung erschöpft. Es gab kein System, keine Ordnung, er begriff es mit einem Schlag. Als er im Museumsladen stand, der offen an die königliche, in Analogie zu einem Gewächshaus gedachte Knochenhalle anschloss, und aus Gewohnheit etwas für Maude kaufen wollte, sah der weiße Hase aus Alice im Wunderland ihn an.
Mitbringsel verschenkte man, um Zeit zu teilen, die man nicht miteinander geteilt hatte. Was machte man mit Mitbringseln, wenn man die Zeit ohnehin nicht mehr teilte?
Er starrte auf den Hasen und suchte nach dem englischen Wort für ausgestopft.
Etwas in ihm ist verloren, er hört keine Musik mehr, vielleicht weil seine Frau Klavier unterrichtet. Leider glaubt er sich das selbst keine Sekunde. Er vermisst sie. Licht fällt durch die Halle, das Glas eines vergangenen Jahrhunderts, erdacht am Ende des vorletzten, ein Traum von Zugehörigkeit, als die Welt, gesponnen in den Glauben an ihr neues, sicheres Wissen über die Natur, auffunkeln wollte. Ein Wissen, das man einfing, indem man Tiere tötete und geschmolzenen, mit Farben vermischten Quarzsand in Augenform auf ihre Schädelknochen klebte. Er zählt chemische Elemente und den Ablauf von Zeit in Zellprozessen, die mit der Verarbeitung visueller Reize vor Bildschirmen zu tun haben. Wie schnell wird ein ja, ein nein, ein »next« geklickt?
Ein zweites Mal geht er los, an dem kleinsten der Saurier vorbei, fragil und schutzbedürftig wie eine vorweltliche Pflanze, die reduziert auf ihr Skelett zu ihrem eigenen Muster geworden ist.
Bis etwas sein Auge fängt. Yes, it catches his eye. Ihre Schönheit nimmt ihn gefangen, und eine Idee nimmt Gestalt an in seinem Körper, als er vor dem Plakat steht, auf dem sie an Land kriechen. Tropfend, fest, mit erstauntem Blick.
Er steht unter dem kleinsten der von der Decke hängenden Wale, sieht, tief von hinten, in jeden ihrer Brustkästen hinein. Gehalten von unsichtbaren Drähten schweben die fünf Skelette durch das Museumsschiff, als wollten sie, der Größe nach geordnet, einander durch die Lüfte verfolgen. Kopf an Schwanz jagen sie dahin, die knöcherne Spur eines unsichtbaren Plans. Ein wenig scheint in der vom Boden aufsteigenden Körperwärme der Besucher der gelbbeige, wie eine Stimmgabel gebogene Unterkiefer des mittleren zu vibrieren. Charles möchte meinen, selbst halb Gespenst, verborgen, vom Grund eines eisigen Ozeans den geheimen Flug einiger Meergeister zu beobachten; für selige Sekunden glaubt er, in der Kristallklarheit des Mittagslichtes ihre Stimmen zu hören: hinter ihren langen scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen das alte Lied davon, was es heißt, nicht der zu sein, der zu sein man scheint.
(Aus: Draesner, Kanalschwimmer, Januar 2017)
Geister wohnen an Grenzen. Das weiß jedes Kind.
Geister selbst sind Grenzen. Grenzen zwischen Bewohntem und Unbewohnbarem, zwischen Körperlichkeit und Immaterialität, Fleisch und Geist (Äther), zwischen früher und jetzt, Enden und Beginnen, zwischen einer Welt, die ein Ende hat, und jener, von der wir nicht aufhören wollen, sie uns ohne Ende vorzustellen.
Geister sind, was wir selbst nicht sein wollen. Was wir brauchen und fürchten. Wo Grammatik sich dehnen, ziehen, verformen lässt.
In einer Welt, die wir uns ohne Ende vorstellen wollen.
In einer Welt, die wir ohne Ende nicht aufhören wollen, uns vorzustellen.
Geister sind der Ort in uns, an dem wir singen und uns schütteln vor Furcht. Wo Wahrheiten nicht zumutbar sind, weil sie mit jedem Griff zerspringen, durch die Luft fahren auf Schlitten aus Knochen und Zeit. Zer-sprochen zerfallen sie, teilen sich, gespeist in einen Fluss der Sprache(n), der über uns hinauszusprechen scheint, wobei wir nicht einmal wissen, was dieses »scheinen« bedeutet. Dies alles, jede dieser Bewegungen aber gibt es und gibt es nicht, und es gibt sie hier, für uns, weil ich sie in Sprache für sie – die Bewegungen selbst – und uns erzeuge.
Das Wort ›Grenze‹ zählt zu den wenigen Wörtern des Deutschen, die sich aus dem Polnischen herleiten. Als Grenze versteht man zum einen den »Geländestreifen, der politische Gebilde (Länder, Staaten) voneinander trennt« bzw. eine Scheidelinie zwischen auf rechtliche, natürliche oder gedankliche Weise separierten Gebieten. Zum anderen bedeutet das Wort ›Begrenzung‹, ›Abschluss[linie]‹ oder auch ›Schranke‹. Abgeleitet wird es aus dem mittelhochdeutschen ›greniz(e)‹, das seinerseits aus dem Westslawischen stammte. Man vergleiche, so der Duden, polnisch ›granica‹ sowie russisch ›granica‹ (zu russisch ›gran‹) für Ecke und Grenze.1
Was sagten wir vor dieser Wort-Einfuhr (bevor das Wort herbeifuhr in unsere Leben), was stand an dieser »Stelle«: ein Nichts?
Schweigen und Starren?
Nur die Umkehr des Atems? Ein, tonlos aus?
Die Furche und die Wendung des Pflugs in ihr?
Wir hatten Füße und zogen eine Linie im Boden. Eine Zeile. Einen Vers – versus. Halt, Atem, Umkehr, von vorn. Jede Grenze hat ein und.
Wer von Gespenstern spricht, wirft ein Lasso – nach nichts. Auch die Bezeichnung ›Lasso‹ ist weit gereist: aus dem Lateinischen ›laqueus‹ für Schlinge über Vulgärlatein und die spanische Sprache nach England, von dort durch den Wilden Westen Amerikas zurück über die Schlingen des Atlantik zu uns. Lasso: die gewundene Linie. Niemals der Fang, immer der Weg, eine Kunst der Hand und der Drehung, Schriftbewegung durch Luft, Gemälde auf Zeit.
Es erscheinen: eine Wand, ein Zaun, ein Drachen, eine Burg. Vulgärlatein fängt uns ein. Dieses »erscheinen« ist keine Assoziation. Was wie eine Assoziation aussieht, ist eine Erbaulichkeit. Eine Verbindung. Verbindungen enthalten Gedanken.
Eine Figur, männlich, steht in einer Halle voller Dinosaurierskelette. Ich weiß, dass dies der Anfang eines Prosatexts ist. Er hat, lange schon, einen Titel: Kanalschwimmer. Die Eingangsszene bei den Dinosauriern ist nicht die erste Szene des Textes, die ich schrieb. Die Figur zählt 65 Jahre. Sie fasst, bei den Dinosauriern, einen Plan: er wird es wagen, durch den Ärmelkanal zu schwimmen.
Ich denke über Grammatik nach. Sie, die Person; sie, meine Figur; er, der ältere Mann.
Warum will er sich durch diese Enge des Meeres treiben?
In welcher Form könnte dies erzählbar werden?
Da steht er bei den alten Knochen. Fühlt sich selbst wie einer. Fühlt, wie kurz ein Menschenleben ist. In diesem Gefühl bin ich ihm begegnet. Ihm und der Aufgabe, noch einmal – von Anfang an, in einem dunklen, spiegelnden Raum, über Sprache nachzudenken. Ihre Ursprünge diesmal. Es herrschen Spekulation und Dunkelheit.
Zum einen der Äon der Dinosaurier. Weit und breit kein Homo unterwegs. Doch man vermutet, dass unsere Primatenvorfahren, genannt LCA (Last Common Ancestor), lange bevor die Stammlinien von Schimpansen, Gorillas und Sapiens sich voneinander trennten, in diese Zeit zurückreichen.
Zum anderen: Sprache. Sanskrit, Ägyptisch, Chinesisch, Aramäisch, Griechisch, Hebräisch, Latein.
Spät und sehr allmählich das Deutsche. Greifbar nur dort, wo schriftliche Zeugnisse gefunden sind.
Als Silhouette wird er fühlbar, ein »Zwischen«-Raum von Millionen von Jahren. Uneinholbare, unbegreifliche Lücke. Dieser Raum scheint leer, doch wir wissen, dass er es nicht war. Er ist ein Raum der Geräusche – Mischraum, Grunzraum, Gestenraum, Berührungsraum. Der Raum, in dem unsere Sprache fußt. Hier begann sie. Keiner weiß wie. Oder was das bedeutet.
Was wir zu fassen bekommen, reicht »nur« tausend Jahre zurück und spricht als Lösebann:
Eiris sâzun idisi, sâzun hêra duoder
suma haft heftidun, suma heri lêzidun
suma clûbodun umbi cuniowidi:
insprinc haftbandun, infar wîgandun
Einst saßen Idise, setzten sich hierher und dorthin.
Einige hefteten Fesseln, einige reizten die Heere auf.
Einige klaubten herum an den Volksfesseln.
Entspringe den Haftbanden, entkomme den Feinden.
(1. Merseburger Zauberspruch)
Auf Tierhäuten fahren wir dahin, vom Wasser an Land gekrochen, durch Wälder getappt, in Höhlen gefallen, im Laufe von Millionen Jahren sehniger, größer, hellhäutiger geworden, uns selbst begegnet und dem anderen, mehrfach entstanden, gewandert, gekreuzt: Australopithecus, Paranthropus boisei, Sahelanthropus tchadensis, Homo heidelbergensis.
Drei Millionen Jahre zurück? Zehntausend Jahre? Tausend? Unverständlich jede dieser Spannen. Und doch tragen wir diese Räume mit uns; doppelt sind sie durch uns hindurchgeschrieben, genetisch und kulturell.2
Ihre Tiefe ist eine spezifische Form von »Jenseits«. Wir verstehen sie nicht, vernehmen mitunter ihr Rauschen. Sie vergessen uns nicht. Sprechen mit uns, durch uns hindurch. Jeder von uns trägt ein bis viereinhalb Prozent Neandertaler in seinem Genom: die geringe Pigmentierung unserer Haut. Das Skifahrerknie.
Auch unsere Sprache stammt aus diesem uns verborgenen Raum.
Sie ist größer als jeder Einzelne, größer als das lebende Kollektiv ihrer Benutzer, größer in der Unendlichkeit ihrer Kombinierbarkeiten als wir begreifen. Sie ist ihrerseits ein »Jenseits«, das uns umgibt.
Im Vergleich stellt das Wort ›Mittelalter‹ uns nahezu vertraute, tröstliche Bilder in den Kopf. Burgen und Drachen, Ritter nobel und streng bestimmen die Welt seiner Lieder. Erzählt wird von Liebe, Herrschaft, Blut, aus vielen Mündern, ungesicherten Quellen, in einer Lebens-werelde