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Inhaltsverzeichnis
 

III
Bei Botmäßigkeit hatten die Repetenten – auf der ersten Karrierestufe der Besten des Stifts – gehobene Ämter zu erwarten. Aber mit jener war es, von Ausnahmen abgesehn, fürs erste vorbei. Über die Stimmung im Stift, Renitenz, Ansätze zur Rebellion, die zu Besuchen des Herzogs führten, geben die Repetenten-Annalen Aufschluß.
 
Waren für die ersten in den ersten beiden Jahren noch philosophische Themen und antike Autoren Gegenstand der wöchentlichen Übungen, so begann jetzt für Hölderlins Promotion die Tretmühle, in welcher drei Jahre lang, die 24 Loci der württembergischen Dogmatik des Sartorius dreimal durchgepaukt und eingetrichtert wurden. Hölderlins Reaktion ist eindeutig. Mit staunenswertem Scharfsinn exzerpiert er eine verbotene Schrift: Jacobis Briefe über die Lehre Spinozas. Noch im Turm wird er dem sogleich „Sadduzeer” durchschauten David Friedrich Strauß fünf lateinische Sätze nach der geometrischen Methode des Spinoza ins Stammbuch schreiben.
 
Von Herbst bis Frühjahr 1791 entsteht die erste Lieferung der Tübinger Hymnen für Gotthold Stäudlin, der seine schwäbischen Almanache wieder aufleben läßt und Hölderlins Hymne an die Muse an den Anfang stellt. Im nächsten Jahr die zweite Lieferung, erweitert um das hexametrische, den Stätten der Freiheit, und Walthers und Tells Gesellen geltende Gedicht Kanton Schweiz. Die große Hymne an die Menschheit wird diesesmal den Almanach eröffnen.
 
Indessen hat er, nach längerem Hin und Her, die kaprizöse Elise, Tochter des Kanzlers Le Bret, erobert. Während der Ostervakanz in Stuttgart entflammt ihn die holde Gestalt. Auguste Breyer, Verlobte Georg Kerners, der als bon Patriot hinüber nach Frankreich gegangen ist.
 
Aber das Unerreichbare beflügelt. Ihn zum hinreißenden Hymnus An den Früling. Beflügelt ihn zum ersten Blatt der noch an Kallias gerichteten Hyperion-Briefe. Die geträumte Geliebte trägt den Namen Glycera. Sie wird danach Melite heißen und zuletzt Diotima; in Wirklichkeit Suzette.
 
Drüben sieht er die Tageshelden und schlägt, um teilzunehmen, seinen Homer auf. Trifft bei diesem Handorakel auf das Blutbad, daß Diomedes und Ulysses im Lager der schlafenden Thrazier anrichten. Das aber trifft wenig später, mit den Septembermorden in der Bastille, furchtbar wahr ein.
 
Das Theologiestudium ist beendet. In Mannheim spricht er mit Schiller, der ihn als Hauslehrer für Charlotte von Kalbs schwierigen Sohn engagiert. Läßt sich, vorerst, vom Vikardienst dispensiren und geht dorthin, wo Weimar und Jena näher, eine ruhmvollere Laufbahn erreichbarer scheint.

1790. Fortsetzung.

Vmtl. im September, nach Abschluß des zweiten Magister-Specimens, entstehen Entwurf und Reinschrift der 14strophigen Hymne an die Unsterblichkeit. Das erhaltene Blatt der überarbeiteten Vorstufe enthält die letzten fünf Strophen.
Wann die Starken vor Despoten tretten
Sie zu mahnen an der Menschheit Recht
Hinzuschmettern die Tirannenketten
Fluch zu donnern jedem Fürstenknecht,
Wenn in todesvollen Schlachtgewittern
Wo die Vaterlandesfahne weht,
Muthig bis die Heldenarme splittern
Tausenden die kleine Reihe steht.
 
Allgewaltig ist im Gräbertale
Schon die Fülle großer Ahndungen
Aus der Zukunft zauberischer Schaale
Trinken Heldenkraft die Endlichen,
Aber ha! wie schwindet Erdeleben
Geistermutter! wenn an deiner Hand
Siegestrunken wir hinüberschweben
In der Geister hohes Vaterland:
 
Wo der Tugend königliche Blume
Unbetastet von dem Wurme, blüht
Wo der Denker nun im Heiligtume
Hell und offen all die Tiefen sieht,
Wo auf Trümmern kein Tyranne tronet,
Wo die Seele keine Fessel bannt,
Wo den Heldentod die Palme lohnet
Gottes Lob den Tod fürs Vaterland.
 
Harret eine Weile Orione!
Schweige, Donner der Plejadenbahn
Hülle, Sonne diese Stralenkrone
Atmet leise! Sturm und Ozean!
Eilt zu feierlichen Huldigungen
All’ ihr großen Schöpfungen der Zeit
Denn verloren in Begeisterungen
Denkt der Seher der Unsterblichkeit!
 
Siehe! da verstummen Menschenlieder
Wo der Seele Lust unnennbar ist,
Schüchtern sinkt des Hochgesangs Gefieder
Wo der Endlichkeit der Geist vergißt,
Wenn vor Gott sich einst die Geister sammeln
Aufzujauchzen ob der Seele Sieg
Mag Entzükungen der Seraph stammeln
Wo die trunkne Menschenlippe schwieg.
 
Die vollstämdige Hymne wurde von Neuffer 1832, in der Zeitung für die elegante Welt, in redigierter Form publiziert. Vergleichbar ist neben den fünf letzten auch die erste, nach Aufgabe des Gedichts in den Hymnus an die Göttin der Harmonie integrierten Strophe. Die hier durch Kursive kenntlich gemachten Abweichungen des Wortlauts sind exemplarisch für Tendenz und Geschmack der Neufferschen Bearbeitungen, die als Hölderlins Text in die bisherigen Ausgaben eingingen. Nur wenige von ihnen wären allenfalls Hölderlin zuzutrauen.
Hymne an die Unsterblichkeit.
 
Froh, als könnt’ ich Schöpfungen beglücken,
Stolz, als huldigten die Sterne mir,
Fleugt, ins Strahlenauge Dir zu blicken,
Mit der Liebe Kraft mein Geist zu Dir.
Schon erglüht dem wonnetrunknen Seher
Deiner Halle gold’nes Morgenroth,
Ha, und Deinem Götterschooße näher
Höhnt die Siegesfahne Grab und Tod.
 
Mich umschimmern Orionenheere,
Stolz ertönet der Plejaden Gang.
Ha, sie wähnen, Ewigkeiten währe
Ihrer Pole wilder Donnerklang.
Majestätisch auf dem Flammenwagen
Durchs Gefild’ der Unermeßlichkeit,
Seit das Chaos kreiste, fortgetragen,
Heischt sich Helios Unsterblichkeit.
 
Auch die Riesen dort im Gräberlande,
Felsgebirg’ und Sturm und Ozean,
Wähnen endlos ihrer Schöpfung Bande,
Wurzelnd in dem ew’gen Weltenplan;
Doch es nahen die Vernichtungsstunden,
Wie des Siegers Klinge, schrecklich schön. –
Erd’ und Himmel ist dahin geschwunden.
Schnell, wie Blize kommen und vergeh’n.
 
Aber kehre, strahlendes Gefieder,
Zu der Halle, wo das Leben wohnt!
Triumphire, triumphire wieder,
Siegesfahne, wo die Göttin thront!
Wenn die Pole schmettern, Sonnen sinken
In den Abgrund der Vergangenheit,
Wird die Seele Siegeswonne trinken,
Hocherhaben über Grab und Zeit.
 
Ach, wie oft in grausen Mitternächten,
Wenn die heiße Jammerthräne rann,
Wenn mit Gott und Schicksal schon zu rechten
Der verzweiflungsvolle Mensch begann,
Blicktest Du aus trüber Wolkenhülle
Tröstend nieder auf den Schmerzenssohn!
Drüben, riefst Du liebevoll und stille,
Drüben harrt des Dulders schöner Lohn.
 
Müßte nicht der Mensch des Lebens fluchen,
Nicht die Tugend auf der Dornenbahn
Trost im Arme der Verzweiflung suchen,
Täuschte sie ein lügenhafter Wahn?
Trümmern möchte der Natur Geseze
Menschenfreiheit, möcht’ in blinder Wuth,
Wie die Reue die gestohlnen Schätze,
Niederschmettern ihr ererbtes Gut.
 
Aber nein, so wahr die Seele lebet,
Und ein Gott im Himmel oben ist,
Und ein Richter, dem die Hölle bebet,
Nein, Unsterblichkeit, Du bist, Du bist!
Mögen Spötter ihrer Schlangenzungen,
Zweifler ihres Flattersinns sich freu’n,
Der Unsterblichkeit Begeisterungen
Kann die freche Lüge nicht entweih’n.
 
Heil uns, heil uns, wenn die freie Seele,
Traulich an die Führerin geschmiegt,
Treu dem hohen göttlichen Befehle,
Jede nied’re Leidenschaft besiegt!
Wenn mit tiefem Ernst der Denker spähet
Und durch Dich sein Wesen erst begreift,
Weil ihm Lebenslust vom Lande wehet,
Wo das Samenkorn zur Ernte reift!
 
Wenn im Heiligthume alter Eichen
Männer um der Königin Altar
Sich die Bruderhand zum Bunde reichen,
Zu dem Bunde freudiger Gefahr;
Wenn entzückt von ihren Götterküssen
Jeglicher, des schönsten Lorbeers werth,
Lieb’ und Lorbeer ohne Gram zu missen
Zu dem Heil des Vaterlandes schwört!
 
Wenn die Starken den Despoten wecken,
Ihn zu mahnen an das Menschenrecht,
Aus der Lüste Taumel ihn zu schrecken,
Muth zu predigen dem feilen Knecht!
Wenn in todesvollen Schlachtgewittern,
Wo der Freiheit Heldenfahne weht,
Muthig, bis die müden Arme splittern,
Ruhmumstrahlter Sparter Phalanx steht!
Allgewaltig ist im Gräberthale,
Herrscherin, dein segensvoller Lohn!
Aus der Zukunft zauberischer Schale
Trinkt sich stolzen Muth der Erdensohn.
Hoffend endet er sein Erdenleben,
Um an Deiner mütterlichen Hand
Siegestrunken einst empor zu schweben
In der Geister hohes Vaterland.
Wo der Tugend königliche Blume
Unbetastet von dem Wurme blüht,
Wo der Denker in dem Heiligthume
Hell und offen alle Tiefen sieht,
Wo auf Trümmern kein Tyrann mehr thronet,
Keine Fessel mehr die Seele bannt
Wo dem Heldentod die Palme lohne,
Engelkuß den Tod fürs Vaterland.
Harret eine Weile, Orione!
Schweige, Donner der Plejadenbahn!
Hülle, Sonne, deine Strahlenkrone,
Athme leiser, Sturm und Ocean!
Eilt zu feierlichen Huldigungen,
All ihr großen Schöpfungen der Zeit,
Denn, verloren in Begeisterungen,
Denkt der Seher der Unsterblichkeit!
Siehe, da verstummen Menschenlieder,
Wo der Seele Lust unnennbar ist!
Schüchtern sinkt des Lobgesangs Gefieder,
Wo der Endlichkeit der Geist vergißt.
Wann vor Gott sich einst die Geister sammeln,
Aufzujauchzen ob der Seele Sieg,
Mag Entzückungen der Seraph stammeln,
Wo die trunkne Menschenlippe schwieg.
 
29. September. Universität Tübingen. Vorlesungen im Wintersemester 1790/ 1791.
FACULTAS THEOLOGICA.
D. JOANNES FRIDERICUS LE BRET, instanti semestri publice Ven. D. Mori Epitomen Theologiae Christianae explicabit & ad illius ductum primarias controversias exponet; privatim ad ductum Compendii Schroekiani historiae ecclesasticae eam partem tractabit, quae a tempore migrationem gentium inchoat.
D. LUDOV. JOSEPHUS UHLAND publice hor. IX-X. Vaticinia Michae, Habakuki et Zephaniae exponet; privatim hor. IV-V. tradet antiquitates Christianas ad ductum Compendii Baumgarteniani.
D. GOTTLOB CHRISTIANUS STORR publice hor. VIII-IX. b. Sartorii Compendium Theologiae dogmaticae explicabit, privatim hor. V-VI. evangelium Joannis interpretabitur, extremis capitibus etiam reliquorum evangelistarum narrationes adhibiturus.
D. JOHANNES FRIDERICUS MAERKLIN hor. II-III praecepta Theologiae moralis de officiis tradet.
 
FACULTAS PHILOSOPHICA.
AUGUSTUS FRIDERICUS BOEK in praelectionibus publicis Philosophiam practicam universalem, in privatis Jus naturale tradet. CHRISTIANUS FRIDERICUS SCHNURRER in publicis praelectionibus Evangelium Johannis interpretabitur, in privatis prophetas minores. CHRISTIANUS FRIEDERICUS ROESLER publice historiam universalem, privatim Statisticam Europae generalem tractabit.
CHRISTOPH. FRIDER. PFLEIDERER publice Physicam theoreticam; privatim Mathesin elementarem, & sublimiorem docebit.
JOHANNES FRIDERICUS FLATT una hora metaphysicam ad ductum compendii Ulchichiani, altera Logicam tradet, & si quid temporis superfuerit, id uni e Ciceronis Academicarum quaestionum libris, vel ejusdem Paradoxis interpretandis impendet, paratus etiam vel ad exponendem, & cum Lockiana, Leibnitiana & Malebrancheiana comparandam Kantianam de repraesentationum primitivarum origine theoriam, vel ad enarrandam antiquiorem philosophiae de Deo historiam.
1. Oktober. Ausgabenliste. d 1 Octobr dem L. Fritz mit auf Stuttg. gegeben – 8 fl. vor Kleider – 50 fl.
 
 
Vmtl. während des Aufenthalts bei Neuffer, der damals schon an einer Übertragung von Vergils Äneis arbeitet, übersetzt Hölderlin Lucans Pharsalia, Liber I 1-590. Auf einer Zeichnung Magenaus im poetischen Brief an Neuffer vom 15. November 1790 ist Hölderlin im Morgenrock am Schreibpult zu sehen. Von den Büchern im Hintergrund tragen einige den Titel von Arbeiten und Plänen Neuffers, Hölderlins und Magenaus. Neuffers Virgil ist zweimal vertreten. Hölderlin mit den Titeln Hymni v. Holz und Janus, der das auch Bellum civile genannte Werk Lusans meinen dürfte. Die könnte Carl Philipp Conz angeregt haben, der mit der Pisonischen Verschwörung aus den Annalen des Tacitus ein ähnliches Sujet der römischen Geschichte übersetzt und 1795 in seinem Museum für griechische und römische Litteratur veröffentlicht hatte.