Auf einem krächzenden Motorboot fährt Gaviero Maqroll flussaufwärts durch den Dschungel des Xurandó, um sich im Holzhandel zu versuchen. Immer tiefer dringt er ein in das Labyrinth der Wasserläufe. In der drückenden Schwüle des Dschungels schwebt er zwischen Tagtraum und Delirium und scheint sein Ziel dabei immer mehr aus den Augen zu verlieren.
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Álvaro Mutis (1923–2013) verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Brüssel, kehrte jedoch jedes Jahr nach Kolumbien zurück. Das Land ist die Inspirationsquelle seines Schreibens. Seit 1956 lebte der Autor in Mexiko. 2001 wurde er mit dem Premio Cervantes geehrt, 2002 mit dem Neustadt-Literaturpreis.
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Katharina Posada wuchs in Bogotá, Kolumbien, auf. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie und lebt in Heidelberg.
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Der Schnee des Admirals
Roman
Aus dem Spanischen von Katharina Posada
Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1986 bei Alianza Editorial, Spanien.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 im Elster-Verlag, Bühl.
Ein Band im Zyklus der Maqroll-Romane: Der Schnee des Admirals, Ilona kommt mit dem Regen, Ein schönes Sterben, Die letzte Fahrt des Tramp Steamer, Das Gold von Amirbar, Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume, Triptychon von Wasser und Land.
Originaltitel: La nieve del almirante
© by Álvaro Mutis 1986 und seinen Erben
© by Unionsverlag, Zürich 2019
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Umschlag: Jo Wroten (Unsplash)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31064-3
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Für Ernesto Volkening
(Antwerpen 1908 – Bogotá 1983)
Ihm zu Ehren und zur Erinnerung an seine makellose Freundschaft und sein unvergessliches Vorbild.
N’accomplissant que ce qu’il doit;
Chaque pêcheur pêche pour soi:
Et le premier recueille, en les mailles qu’il serre,
Tout le fretin de sa misère;
Et celui-ci ramène à l’étourdie
le fond vaseux des maladies;
Et tel ouvre les nasses
Aux désespoirs qui le menacent;
Et celui-là recueille au long des bords,
Les épaves de son remords.
Emile Verhaeren, »Les Pêcheurs«
Ich dachte, dass die gesamten Schriften, Briefe, Dokumente, Erzählungen und Memoiren Maqrolls des Gaviero schon durch meine Hände gegangen seien und dass diejenigen, die um meine Neugierde an seinem Lebensweg wussten, ihre Suche nach schriftlichen Spuren seines unheilvollen Umherirrens aufgegeben hatten, und doch hielt der Zufall noch eine merkwürdige Überraschung bereit, zu einem Zeitpunkt, da ich sie am wenigsten erwartete.
Zu den heimlichen Freuden, die mir das Schlendern durch das Barrio Gótico in Barcelona bereitet, gehört der Gang zu den dortigen Antiquariaten, die meiner Meinung nach am besten sortiert sind und deren Besitzer noch die subtilen Fähigkeiten, das wohltuende Einfühlungsvermögen und menschenscheue Wissen bewahren, welche die Tugenden des wahren Buchhändlers sind. Allerdings handelt es sich hier um eine Spezies, die auszusterben droht. Vor einigen Tagen ging ich in die Calle Botillers, wo mir das Schaufenster einer alten Buchhandlung auffiel, die meistens geschlossen ist und die für die Gier des Sammlers wirklich außergewöhnliche Schätze bereithält. An diesem Tag war sie geöffnet. Ich trat mit der Ehrfurcht dessen ein, der das Heiligtum eines längst vergessenen Kultes betritt. Ein junger Mann mit dem dichten Bart eines spanischen Juden, elfenbeinfarbener Haut und schwarzen, wässrigen Augen, in denen leichtes Erstaunen lag, saß dort hinter einem Haufen durcheinander liegender Bücher und Karten, die er mit einer peinlich genauen und etwas altertümlichen Schrift katalogisierte. Er lächelte mir kurz zu und ließ mich dann nach guter alter Buchhändlerart zwischen den Regalen schnüffeln, während er sich so unauffällig wie möglich verhielt. Als ich einige Bücher beiseite legte, die ich zu kaufen beabsichtigte, stieß ich plötzlich auf eine wunderschöne, in Purpurleder gebundene Ausgabe des Buches von P. Raymond, das ich schon seit Jahren suchte und dessen Titel mir zur Verheißung geworden war: Enquête du Prévot de Paris sur l’assassinat de Louis Duc d’Orléans; von der Bibliothèque de l’École de Chartres 1865 herausgegeben. So wurde mein jahrelanges Warten durch einen Glücksfall belohnt, den ich mir seit Langem kaum erträumt hätte. Ich nahm das Exemplar, ohne es aufzuschlagen, und fragte den bärtigen jungen Mann nach dem Preis. Er nannte ihn mir, indem er den Betrag mit jenem entschiedenen, endgültigen und kategorischen Tonfall aussprach, der seiner stolzen Zunft eigen ist. Ohne zu zögern, bezahlte ich den Band sowie die übrigen ausgewählten Bücher und ging hinaus, um meine Errungenschaft langsam und wollüstig auf einer Bank des kleinen Platzes zu genießen, wo sich die Statue Ramón Berenguers des Großen befindet. Als ich das Buch durchblätterte, bemerkte ich eine im hinteren Buchdeckel angebrachte Tasche, in die ursprünglich geografische Karten und genealogische Hefte eingeschoben waren, welche den vorzüglichen Text Professor Raymonds ergänzten. An deren Stelle aber fand ich eine Menge Blätter, die meisten davon rosafarben, gelb oder himmelblau, die wie Warenrechnungen oder Buchhalterpapier aussahen. Als ich sie näher untersuchte, bemerkte ich eine winzige Schrift in violetter Tinte, die, so möchte ich behaupten, ein wenig zittrig und fieberhaft wirkte und ab und zu auch Spuren vom Speichel des Schreibers dieser engen Zeilen aufwies. Sie waren beidseitig beschrieben, wobei die ursprünglichen Zeilen auf der Rückseite ausgespart wurden, sodass ich erkennen konnte, dass es sich in der Tat um Rechnungsformulare handelte. Plötzlich fiel mir ein Satz ins Auge, der mich die akribische Nachforschung des französischen Historikers über den hinterhältigen Mord am Bruder Karls VI. von Frankreich im Auftrag von Jean sans Peur, Herzog von Burgund, vergessen ließ. Am Ende der letzten Seite konnte man die mit grüner Tinte und einer etwas kräftigeren Schrift verfassten Worte lesen: »Geschrieben von Maqroll dem Gaviero während seiner Fahrt den Fluss Xurandó hinauf. Zur Übergabe an Flor Estévez, wo auch immer sie sich befinden mag. Hôtel de Flandre, Antwerpen.«
Da das Buch Unterstreichungen und Randnotizen in der gleichen Tintenfarbe aufwies, konnte ich leicht daraus folgern, dass der Gaviero, um sich nicht von diesen Seiten trennen zu müssen, sie in jener Buchtasche aufbewahrt hatte, die eigentlich für bedeutsamere akademische Zwecke gedacht war.
Während die Tauben weiter die edle Gestalt des Eroberers von Mallorca und Schwiegersohns des Cid entehrten, begann ich die bunten Seiten zu lesen, auf denen der Gaviero von seinen Missgeschicken und Erinnerungen, Gedanken, Träumen und Fantasien erzählte, während er einen der vielen Flüsse hinauffuhr, die aus dem Gebirge kommen, um sich in dem dunklen Pflanzengewirr des unermesslichen Urwalds zu verlieren. Viele Abschnitte waren mit einer festeren Handschrift geschrieben, woraus man leicht folgern konnte, dass die Erschütterungen durch den Motor des Schiffes, mit dem der Gaviero unterwegs war, für die zittrige Handschrift verantwortlich waren, die ich zu Anfang den Fieberanfällen zugeschrieben hatte, die in jenem Klima so häufig vorkommen und sich jeglichem Medikament oder Heilungsversuch erfolgreich widersetzen.
Dieses Tagebuch des Gaviero ist wie so viele andere Dinge, die er als Zeugnis seines selbst gewählten Schicksals schriftlich hinterlassen hat, eine undefinierbare Mischung verschiedener Gattungen: Sie reicht von der unbedeutenden Schilderung alltäglicher Begebenheiten bis zur Aufzählung rätselhafter Grundsätze, die er für seine Lebensphilosophie hielt. Ihn hier verbessern zu wollen, wäre einer blanken Überheblichkeit gleichgekommen, und man hätte seine ursprüngliche Absicht verraten, die doch darin bestand, Tag für Tag die Erlebnisse seiner Reise festzuhalten, einer Reise, von deren Eintönigkeit und Nutzlosigkeit ihn seine Tätigkeit als Chronist womöglich ablenkte.
Andererseits erschien es mir nur gerecht, diesem Tagebuch als Titel den Namen jenes Hauses zu geben, wo Maqroll die längste Zeit über eine gewisse Ruhe und die Zuneigung von Flor Estévez genoss, der Eigentümerin des Hauses, jener Frau, die ihn am besten verstand und die sich in das Reich seiner Träume und in die mühselige Wirrnis seines Daseins einfühlen konnte.
Ebenso fiel mir ein, es könnte den Leser von Maqrolls Tagebuch interessieren, auch andere Nachrichten über ihn in die Hand zu bekommen, die in der einen oder anderen Form mit den Begebenheiten und Menschen zusammenhängen, die er in seinem Tagebuch erwähnt. Aus diesem Grunde habe ich am Ende dieses Bandes einige Berichte über unseren Protagonisten zusammengestellt, die schon in früheren Veröffentlichungen erschienen sind und die erst hier den ihnen gebührenden Platz einnehmen.
15. März
Die Berichte, die ich besaß, gaben an, dass ein Großteil des Flusses bis zum Fuße der Kordilleren gut schiffbar sei. Natürlich ist dem nicht so. Wir fahren auf einem Schiff mit flachem Kiel, dessen Dieselmotor mit krächzender Sturheit gegen den Strom ankämpft. Über den Bug ist ein Sonnensegel gespannt, das durch Eisenstangen gehalten wird, an denen Hängematten angebracht sind, zwei an Backbord und zwei an Steuerbord. Passagiere, wenn welche an Bord sind, lagern in der Mitte des Schiffes auf dem mit Palmenblättern bedeckten Boden, welche die Reisenden vor der Hitze beschützen, die die Metallplatten ausstrahlen. Das Echo ihrer Schritte hallt in der Leere des Kielraumes gespenstisch und grotesk wider. Wir müssen fortwährend anhalten, um das Schiff wieder flottzumachen, wenn es auf einer der Sandbänke, die je nach den Launen der Strömung plötzlich entstehen und sich wieder auflösen, festsitzt. Zwei der vier Hängematten werden von uns Passagieren belegt, die wir in Puerto España an Bord gegangen sind, und die übrigen zwei vom Maschinisten und vom Lotsen. Der Kapitän schläft im Bug unter einem bunten Sonnenschirm, den er je nach dem Stand der Sonne dreht. Er befindet sich immer in halbtrunkenem Zustand, den er mit weiser Dosierung aufrechterhält, sodass er sich stets in jener Stimmung befindet, in der Euphorie von Schläfrigkeit abgelöst wird, die ihn aber nie vollkommen übermannt. Seine Befehle haben nichts mit dem Verlauf der Reise zu tun, und sie versetzen uns immer wieder in ärgerliche Verblüffung: »Auf gehts! Achtung mit dem Wind! Hart im Kampfe, hinweg mit den Schatten! Das Wasser gehört uns! Verbrennt das Lot!«, und so geht es den ganzen Tag und einen guten Teil der Nacht. Weder der Maschinist noch der Lotse achten auf diese Litanei, die sie dennoch in irgendeiner Form wachsam und in Einsatzbereitschaft hält und ihnen die nötige Geistesgegenwart vermittelt, um die nicht endenden Fallen des Xurandó aufzuspüren. Der Maschinist ist ein Indio, den man aufgrund seines Schweigens fast als stumm bezeichnen könnte und der sich nur ab und zu mit dem Kapitän verständigt, und zwar in einer schwer übersetzbaren Mischung aus verschiedenen Sprachen. Er läuft barfuß und mit nacktem Oberkörper umher und trägt Hosen aus einem melierten Stoff, die vollkommen ölig sind und die er unter seinem ansehnlichen, glatten Bauch zusammenschnürt, aus dem ein Nabelbruch hervorsteht, der sich in dem Maße dehnt und zusammenzieht, wie sein Eigentümer sich bemüht, den Motor in Gang zu halten. Seine Beziehung zu diesem ist ein klarer Fall von Transsubstantiation; die zwei werden eins und leben in ein und derselben Anstrengung: dass das Schiff vorankomme. Der Lotse ist eines jener Wesen mit einer unerschöpflichen Fähigkeit zur Verschmelzung mit der Umwelt. Seine Stimme, seine Gesichtszüge, Gesten und sonstigen persönlichen Eigenschaften haben einen solchen Grad der Nichtexistenz erreicht, dass man sie sich unmöglich einprägen kann. Seine Augen liegen sehr nahe an der Nasenkrümmung, und ich kann ihn mir nur ins Gedächtnis rufen, indem ich mir den finsteren Monsieur Rigaud aus Die kleine Dorrit vor Augen führe. Doch nicht einmal dieser unauslöschliche Bezug hilft auf die Dauer. Die Figur von Dickens verfliegt, wenn ich den Lotsen betrachte. Komischer Vogel. Mein Reisegefährte in dem Schiffsbereich, der von dem Sonnensegel geschützt wird, ist ein hünenhafter Blonder, der einige Worte mit einem slawischen Akzent kaut, durch den sie fast völlig unverständlich werden. Er ist ruhig und raucht fortwährend die stinkenden Zigaretten, die ihm der Lotse zu einem Wucherpreis verkauft. Er ist, soweit ich informiert bin, zu demselben Ort unterwegs wie ich, zu dem Sägewerk, dessen Holz auf diesem selben Weg hinuntergebracht wird und um dessen Transport ich mich angeblich kümmern soll. Das Wort »Sägewerk« löst in der Schiffsmannschaft Heiterkeit aus, was mich keineswegs amüsiert, sondern mich hilflos einem unbestimmten Zweifel aussetzt. Eine Colemanlampe leuchtet uns nachts; gegen sie prallen Insekten von so verschiedenen Farben und Formen, dass ich ab und zu den Eindruck habe, dass jemand dieses Treiben mit einer unausdeutbaren lehrhaften Absicht lenkt. Ich lese beim Licht der Glühstrümpfe, bis der Schlaf mich wie eine sofort wirkende Medizin überwältigt. Die gedankenlose Leichtigkeit des Mannes aus Orléans beschäftigt mich noch für einen Augenblick, bevor ich in einen abgrundtiefen Schlaf falle. Der Motor verändert fortwährend seinen Rhythmus, was uns in einen andauernden Zustand der Ungewissheit versetzt. Es ist zu befürchten, dass er jeden Augenblick für immer aussetzt. Die Strömung erscheint immer unbezwingbarer und launischer. All dies ist absurd, und ich werde nie erfahren, warum ich mich auf dieses Unternehmen eingelassen habe. Es ist immer dasselbe am Beginn meiner Reisen. Später dann stellt sich die wohltuende Gleichgültigkeit ein, die alles wieder gutmacht. Ich erwarte sie mit Sehnsucht.
18. März
Es geschah das, was ich schon seit einiger Zeit befürchtete: Die Schiffsschraube stieß auf einen mit Wurzeln bewachsenen Grund, sodass sich die Achse verbog, die sie antreibt. Die Erschütterungen wurden immer furchtbarer. Wir mussten an einem Schiefersandstrand anlegen, der einen süßlichen, pflanzlichen, sehr penetranten Geruch ausströmte. Mit den unglaublichsten und idiotischsten Manövern kämpfte die Mannschaft mehrere Stunden lang in einer lähmenden Hitze, bis ich es schaffte, den Kapitän zu überzeugen, dass man die Achse nur gerade biegen könne, wenn man sie erhitze. Ein Schwarm Moskitos fiel über uns her. Glücklicherweise sind wir alle immun gegen diese Plage, mit Ausnahme des riesigen Blonden, der den Angriff mit zornigem und starrem Blick aushielt, als ob er nicht wüsste, woher die Qual kam, die ihn peinigte.
Bei Anbruch der Dämmerung erschien eine Indiofamilie, ein Mann, eine Frau, ein Junge von sechs Jahren und ein vierjähriges Mädchen. Alle waren völlig nackt. Sie starrten in das Feuer mit der Gleichgültigkeit von Reptilien. Sowohl die Frau als auch der Mann sind von makelloser Schönheit. Er hat breite Schultern, und seine Arme und Beine bewegen sich mit einer Langsamkeit, die die Harmonie seiner Glieder noch stärker betont. Die Frau, von gleicher Statur wie der Mann, hat üppige, aber feste Brüste, und die Schenkel münden in breite Hüften, die anmutig gerundet sind. Eine leicht ölige Schicht bedeckt ihre Körper und verwischt die eckigen Konturen der Gelenke und Gebärden. Beide tragen die Haare in Form von Kappen. Sie werden mit einer pflanzlichen Substanz eingerieben, welche sie ebenholzfarben macht und steif erhält und sie nun mit den letzten Strahlen der Sonne aufleuchten lässt. Sie stellen ein paar Fragen in ihrer Sprache, die keiner versteht. Sie haben scharf gefeilte Zähne, und ihre Stimmen hören sich an wie das klanglose Gurren eines schläfrigen Vogels. Als die Nacht anbricht, haben wir es geschafft, das Achsenstück gerade zu biegen, aber erst morgen werden wir es wieder einsetzen können. Die Indios haben ein paar Fische gefangen und sind an das andere Ufer gegangen, um sie zu verzehren. Das Gemurmel ihrer kindlichen Stimmen dauert bis in die Morgendämmerung an. Ich lese, bis ich den Schlaf finde. In der Nacht lässt die Hitze nicht nach, und in meiner Hängematte liegend denke ich lange über die boshaften Indiskretionen des Grafen von Orléans nach und über gewisse Züge seines Charakters, die sich bei vielen Familienmitgliedern der Nebenlinie wiederholen werden, zwar immer in einem anderen Familienzweig, aber mit der gleichen Neigung zu Verrat, zu galanten Abenteuern, dem Unheil bringenden Vergnügen, sich zu verschwören, der Gier nach Geld und einer permanenten Unaufrichtigkeit. Man müsste ein wenig darüber nachdenken, warum sich solche Verhaltenskonstanten bis in unsere Tage hinein an Prinzen so verschiedener Abstammung so rein erhalten haben.
Das Wasser schlägt an den flachen und metallenen Rumpf mit eintönigem, aber dennoch aus einem unerfindlichen Grunde tröstlichen Rauschen.
21. März
Am nächsten Tag kam die Indiofamilie frühmorgens an Bord. Während wir uns bemühten, die Schiffsschraube unter Wasser zu montieren, blieb sie auf dem mit Palmen belegten Deck stehen. Den ganzen Tag verharrte sie dort, ohne sich zu bewegen oder gar ein Wort von sich zu geben. Weder der Mann noch die Frau sind an irgendeiner Stelle des Körpers behaart. Sie zeigt ihr Geschlecht, das wie eine frisch geöffnete Frucht erscheint, und er das seine mit der langen Vorhaut, die sich zu einer Spitze formt. Man könnte meinen, ein Stachel oder ein Sporn, jedenfalls etwas, dem die Idee des Sexuellen völlig fremd ist und das nicht die geringste erotische Bedeutung hat. Manchmal lächeln sie und zeigen ihre spitzen Zähne, sodass ihr Lächeln jede Spur von Freundlichkeit oder einfacher Anteilnahme verliert.
Der Lotse erklärt mir, es sei in dieser Gegend üblich, dass die Indios den Fluss auf den Schiffen der Weißen befahren. Sie pflegen keine Erklärungen abzugeben und sagen auch nie, wo sie an Land gehen wollen. Eines Tages verschwinden sie, wie sie gekommen sind. Sie sind friedlich, nehmen nie etwas, das ihnen nicht gehört, und teilen auch nicht das Essen mit den übrigen Passagieren. Sie leben von Kräutern, rohem Fleisch und ungekochten Reptilien. Einige kommen mit Pfeilen bewaffnet an Bord, deren Spitzen in Kurare getunkt sind, das tödliche Pfeilgift, dessen Zubereitung ein Geheimnis ist, das sie niemals verraten.
Während ich in dieser Nacht in tiefem Schlaf lag, überfiel mich plötzlich der Geruch von fauliger Limetta, von brünstiger Schlange, ein zunehmender, süßlicher und unerträglicher Gestank. Ich öffnete die Augen. Die Indiofrau starrte mich an und lächelte mir mit einer Boshaftigkeit zu, die etwas Raubtierhaftes besaß, aber gleichzeitig von einer Ekel erregenden Unschuld war. Sie legte ihre Hand an mein Geschlecht und begann mich zu streicheln. Sie legte sich neben mich. Als ich in sie eindrang, meinte ich, in einer faden Masse Wachs zu versinken, die widerstandslos alles mit einer unbeweglichen, pflanzlichen Trägheit geschehen ließ. Der Geruch, der mich aufgeweckt hatte, wurde mit der Nähe dieses weichen Körpers, der beim Berühren überhaupt nicht an weibliche Formen erinnerte, immer durchdringender. Übelkeit stieg in mir auf. Ich wurde so schnell es ging fertig, um mich nicht zum Übergeben vorzeitig zurückziehen zu müssen. Sie entfernte sich schweigend. Währenddessen lag der Indio in der Hängematte des Slawen – die Körper ineinander verschlungen – und drang in diesen ein, indem er den leichten Schrei eines Vogels in Gefahr von sich gab. Der riesige Blonde drang seinerseits in ihn ein, und der Indio setzte sein Stöhnen fort, das keinem menschlichen Laut glich. Ich ging zum Bug und versuchte mich, so gut ich konnte, zu waschen in einem verzweifelten Versuch, die stinkende Schicht fauligen Sumpfes abzuwischen, die mir am Körper klebte. Ich übergab mich mit Erleichterung. Jetzt noch steigt mir auf einmal wieder der übel riechende Atem in die Nase, der mich, fürchte ich, noch lange verfolgen wird.
Die Indiofamilie verharrte stehend in der Mitte des Schiffes, und ihr Blick verlor sich in den Baumkronen, während sie unaufhörlich eine Masse aus Blättern, die wie Lorbeerblätter aussehen, und Fischfleisch oder Fleisch von Eidechsen kauten, die sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit fangen. Der Slawe hatte gestern Nacht die Indiofrau in seine Hängematte genommen, und heute Morgen erwachte er mit dem Indio in den Armen, der über ihm schlief. Der Kapitän trennte sie, nicht aus Prüderie, wie er erklärte, sondern, meinte er mit stotternder Stimme, weil der Rest der Mannschaft dem Beispiel des Slawen folgen könnte, was zu gefährlichen Komplikationen führen würde. Die Reise, fügte er hinzu, wäre lang, und der Urwald besäße eine unkontrollierbare Macht über das Verhalten derer, die nicht in ihm aufgewachsen sind. Er mache sie reizbar und erzeuge oft einen Rauschzustand, der nicht ungefährlich sei. Der Slawe murmelte ich weiß nicht was für Erklärungen, die ich nicht verstehen konnte, und kehrte ruhig zu seiner Hängematte zurück, wo er eine Tasse Kaffee trank, die ihm der Lotse reichte, den er vermutlich schon länger kannte. Ich misstraue der folgsamen Sanftmut dieses Riesen, in dessen Augen manchmal ein Hauch von Ermüdung und traurigem Wahnsinn sichtbar wird.
24. März