Als der kleine Junge die Augen aufschlug, hatten seine anderen Sinne die Umgebung längst wahrgenommen. Die Geräusche um ihn waren ihm so vertraut, dass er es, schläfrig, wie er war, nicht für nötig befand, sich zu rühren. Trotzdem beschleunigte sein Herz die Kontraktion, als Unruhe in ihm aufstieg. Er erschrak, tauchte vollends aus der Welt der Träume auf und schloss im nächsten Moment wieder matt die Lider.
Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht.
Und er wusste, nach kurzer Besinnungsphase, auch genau was. Es würde Ärger geben, das konnte er jetzt nicht mehr verhindern. Großen Ärger.
Vielleicht gar tödlichen Ärger.
Es fiel ihm schwer, das Ausmaß abzuschätzen. Und auf die Erkenntnis hin legte sich Beklemmung kalt und unvermeidlich wie eine eiserne Schlinge um seinen Kehlkopf. Zog sich zu und schnürte ihm fast die Luft ab.
Sein Magen fühlte sich wie ein tiefes Loch an. Ein rumorendes Loch, das nach Füllung gierte. Hunger. Er hatte Hunger!
Um sich abzulenken, schenkte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung. Eine seiner Handflächen lag auf etwas Klebrigem, das sich bei genauerem Tasten matschig anfühlte. Mit viel Glück war es eine alte Bananenschale. Seufzend drückte er darauf herum, während er meinte, sich verschwommen daran zu erinnern, wie er hier gelandet war. Erschöpft hatten seine Beine gestern Abend auf der Suche nach etwas Essbarem plötzlich nachgegeben.
Wieder einmal hatte er sich, bereits wegdämmernd, gewünscht, stärker zu sein. Ein richtiger Superheld mit Superkräften. Einer, der beschützen konnte; mit bloßen Händen oder echten Waffen. Solchen, die große Löcher in böse Menschen rissen. Genauso wie die in den Geschichten, die Tante Hylu hin und wieder erzählte, wenn Tante Selda und Tante Yama nicht da waren.
Dann hatte ihn die Müdigkeit überrollt, bis gerade eben, bis er aufgewacht war.
Pfeifend entwich ihm der Atem. Hervorstehende Wangenknochen betonten die hohe Stirn auf besorgniserregende Weise. Unter seinem viel zu weiten, beschmutzten schwarzen T-Shirt hätte ein genauer Betrachter jede Rippe einzeln zählen können. Dazu trug der Junge ausgeleierte graue Sportshorts, die er sich mit der eingenähten Kordel um die dürren Hüften festgeknotet hatte. Durch dichte, dunkle Wimpern blinzelte er wie in Trance den gleißenden Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen.
Diese verlieh der Szene eine unverdiente Milde und kündete gleichzeitig von einem weiteren anstrengenden Tag.
Das laute Krächzen von Geiern durchbrach die Stille. Ein wenig appetitliches Hackgeräusch folgte. Wahrscheinlich zerrupften sie den Kadaver eines toten Hundes oder die Leiche eines Kindes, das die Augen nicht wieder geöffnet hatte, und stritten sich um die besten Brocken Fleisch.
Über allem hing der Gestank von Fäkalien und Kunststoffdämpfen aus den Schwelbränden, die in den hohen Müllbergen vor sich hin glommen.
Gedankenverloren hob der Junge die rechte, schlammverkrustete Hand und strich sich eine Strähne seines fettigen Haars aus dem kindlichen Gesicht. Die Geste kostete ihn unendlich viel Kraft.
Er stand erst am Anfang seines Lebens, doch sein Körper war bereits am Ende jeglicher Möglichkeiten.
»David! David!«, riss ihn eine hohe Stimme aus der Versunkenheit. Mühsam hob er den Kopf und stützte sich schwer auf seine Unterarme.
Mit einem ebenso schmutzigen, ehemals rosafarbenen T-Shirt, das sie gerade so bedeckte, rannte ein kleines Mädchen den Abfallberg zu ihm hinauf. Die unwegsamen Hindernisse, die ihren Weg zum Slalomlauf machten, hielten sie nicht auf. Geübt wich sie scharfkantigem Unrat aus und sprang über einen modrigen Graben, den ein alter Sessel und ein zerschlagener Tisch bildeten.
Sie wirkte nicht beleidigt oder vorwurfsvoll, wie David es erwartet hätte. Ihr schwarzes Haar hing wie üblich rechts und links neben ihren Ohren, zu zwei Zöpfen gebunden, hinunter. Sie hätte dringend ein Bad nötig gehabt, darin stand sie ihm in nichts nach.
Für David allerdings war Mia in der lieblichen Morgenröte das schönste Geschöpf auf Erden.
Ihr rundes Gesicht leuchtete, als sie atemlos neben ihm zum Stehen kam. Die tief gebräunten Füße versanken zwischen einer roten und einer weißen Mülltüte. Zwei große grüne Augen funkelten über einem kleinen rosaroten Mund um die Wette.
Mias Hautfarbe war dunkel, Davids war hell. Hier interessierte das keinen. Jeder hasste jeden, solange er nicht Profit aus ihm schlagen konnte.
»Ich wusste, dass ich dich finde«, erklärte sie selbstzufrieden, indes sie sich auf den weichen Abfall neben ihm plumpsen ließ; auf eine unbeschwerte Art, wie es nur Kinder tun. Ihre zerkratzten Beine streckte sie dabei geübt nach vorne.
»Klar«, krächzte David aus trockener Kehle, sog so viel Luft wie möglich in seine Lunge und versuchte sich an einem dürftigen Lächeln.
Damit war die Unterhaltung vorerst beendet, denn er besah sich endlich das Ding unter seiner Hand. Leider überzog pelziger, fast dunkelgrüner Schimmel die Bananenschale. Diese fühlte sich dadurch lebendig an. Schnell zog er die Hand wieder weg.
Sein Magen rumorte. Ob vor Ekel oder weil er plötzlich den Drang verspürte, sich den braungrünen Matsch doch in den Mund zu schieben, wusste er selbst nicht genau. Er wollte seinen Bauch beruhigen. Nur wie?
Der Hunger war innerhalb der letzten Minuten ins Unermessliche gestiegen. Die schimmlige Schale lag in greifbarer Nähe. Er wusste allerdings genau, dass der pelzige Überzug ihn eher krank, denn satt machen würde. So viele Male hatte er es bei anderen beobachtet. Die Krämpfe, das Erbrechen.
Ihn schauderte. Der Druck auf seinen Brustkorb nahm zu, die Schmerzen in seinem Magen ließen ihn keuchen.
Trotzdem lieber kein Frühstück.
Das war nichts wirklich Ungewöhnliches. Und vielleicht war heute ja der Tag, an dem das Unvermeidliche eintreten würde. Die Dinge wurden stets schlimmer, nicht besser. Und David war sich nicht sicher, ob er dem Ärger, der ihn erwartete, und dem Hunger, der ihn schwächte, standhalten konnte.
Möglicherweise sollte es so sein.
Möglicherweise ging es heute zu Ende. Das Leid, das ihn wachhielt, bis die Bewusstlosigkeit ihn hinab in die Dunkelheit zog. Das Hoffen, das doch nie etwas brachte. Die Übelkeit, die seine Magenwände langsam zu zerfressen schien. Und all die Sorgen, die ihn wegen Mia plagten.
Nichtsdestotrotz stocherte er mit der Hand weiter im Müll, während Mia ihr Gesicht scheinbar sorglos in die Sonne hielt. Das dauerhafte Suchen mit Fingern und Augen war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Jedoch war das meiste von dem Berg, auf dem sie saßen, kaputt und wertlos. Alte Joghurtbecher, Obstschalen, Kissen, löchrige Decken, Glasscherben, Verpackungen, Plastikteile, Möbel, Reifen, Altmetall, zersplitterte Bretter, verrottetes Papier und unzähliges mehr wollte niemand. Deshalb war es hier: auf dem Müll. Nur in wenigen, glücklichen Fällen gab es etwas Essbares. Und ganz selten war etwas unbeschädigt und brachte auf irgendeine Art Geld ein. Das wusste David so gut wie alle anderen, die herkamen, trotzdem trieb die Hoffnung sie in den Müll.
Er schluckte bekümmert.
Seine Kehle tat weh. Die Glieder fühlten sich schwer, fast eingeschlafen, an. Selbst die Gedanken schienen ihre Kreise in seinem Kopf immer langsamer zu ziehen.
»Sind sie sehr böse auf mich?«, würgte er mit schwerer Zunge hervor und sah seine Freundin an.
Es war zum Verzweifeln. Aber Verzweifeln war keine Option; nicht, wenn es ums Überleben ging. Und überleben, da war er sich sicher, wollte er unbedingt. Sein Geist kämpfte gegen seinen Körper. Es war stets derselbe Ringelreigen, doch musste er vorsichtiger sein. Musste in Zukunft auf die Zeichen der Müdigkeit seiner Glieder hören. Aber was sollte er dann tun? Die tägliche Arbeit konnte er nicht unterbrechen, um sich auszuruhen.
Mia hatte indes aufgehört, mit ihren Zöpfen zu schlenkern. Sie legte den Kopf schief. Nachdenklich zwirbelte sie an einer losen Haarsträhne. Dann schenkte sie ihm ein breites Grinsen und schüttelte schnell den Kopf.
Ein warmes Gefühl, Erleichterung, breitete sich in Davids Bauch aus und verdrängte für einige Herzschläge den nagenden Hunger.
Mia rutsche hin und her. Sie plapperte dabei unbekümmert: »Ich hab das Geld abgegeben. Und dein Kasten stand ja auch da.«
Auf einmal verharrte sie reglos in der Bewegung. Ihre Augen weiteten sich. »Aber du wirst wohl diese Woche nichts mehr zu essen bekommen.« Zaudernd sah sie ihn an. Traurigkeit und Mitgefühl sprachen aus ihrem Blick ebenso wie Hilflosigkeit.
Inzwischen zu erschöpft, um zu sprechen, nickte David resigniert.
Am Abend nicht zur Hütte zu kommen und den Tanten kein Geld abzugeben, führte zu drastischen Strafen. Es stand an erster Stelle auf der Liste der Dinge, die man besser nicht tat. Und kam damit gleich nach: nach Hause zu kommen und kein Geld abzugeben sowie einen Teil des verdienten Geldes heimlich zu behalten – die Tanten fanden es immer heraus – oder eben nicht nach Hause zu kommen.
Ob eine Absicht bestanden hatte, war unwichtig. Wichtig war, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war. Ob die Tanten am Abend zuvor genug Geld eingetrieben hatten, um die zwei grünen Flaschen, aus denen sie gelegentlich tranken, von dem schmierigen Mann, der am Rande der Mülldeponie einen kleinen Laden führte, füllen zu lassen.
»Mr Gibbon«, wie die Tanten ihn gurrend nannten, hatte etwas Unheimliches an sich. Mit seiner Hakennase und den blutunterlaufenen Augen sah er besonders Mia immer eine Spur zu eindringlich, zu begehrlich an. Den scheelen Blick konnte auch seine gepflegte Kleidung nicht wettmachen. Und so begleitete David Mia, wann immer sie dem Ladenbesitzer auf Geheiß der Tanten Flaschen und Geld bringen sollte, um auf sie zu achten.
War das der Fall, gab es abends genug Brot für alle und die Stimmung war fröhlich. Am nächsten Tag scheuten die Tanten das Sonnenlicht, vertrugen keinen Lärm und verhielten sich unausstehlich.
Das, was die Flaschen füllte, konnte nicht wirklich gut sein. Trotzdem ließen sich die Tanten, so oft es ging, zum Geschäft mit dem Mann hinreißen. Und es hatte neben dem Essen abends noch eine positive Seite, das musste dem »Alkohol« zugutegehalten werden. Endlich hörten die Tanten auf zu streiten und manchmal nahmen sie sogar eine oder einen von ihnen auf den Schoß – der Vorteil klein zu sein.
Groß zu sein brachte Nachteile. Während David momentan in der Gunst von Tante Yama stand und tagsüber einen Schuhputzkasten durch die Straßen tragen durfte, um Kundschaft zu finden, mussten die größeren Jungen auf dem Bau arbeiten. Es war schweißtreibende, harte, schlecht bezahlte Arbeit. Jedoch besser als gar keine Arbeit.
David erinnerte sich genau.
Als ein paar Mädchen schließlich zu alt geworden waren, waren sie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Zwei von ihnen hatte er einige Wochen danach zufällig mittags auf der Veranda eines der größeren Häuser der Ansiedelung gesehen. Was darin vorging, war ihm ein Rätsel. Sie waren so hübsch herausgeputzt gewesen, dass er sie zuerst gar nicht erkannt hatte. Ihre bunten Sachen, die glänzenden Haare, die rosige Haut, die sie zeigten – all das war ihm fast unwirklich vorgekommen, denn die Sonne hatte an diesem Tag vom Himmel gebrannt.
Beide waren von heller Hautfarbe, genau wie er. Und David wusste aus eigener Erfahrung, wie weh ein Sonnenbrand tun konnte. Wenn sich nicht nur das Gesicht, sondern auch die Brust rot färbte, war die folgende Nacht unangenehm bis sehr schmerzhaft.
Verwirrt hatte er sich abgewandt. Jedes Rätsel klärte sich irgendwann. So würde auch die Zeit für diese Lösung kommen.
Mia war in Bezug auf die Haut klar im Vorteil, sie konnte dank ihrer von Natur aus dunklen Hautfarbe fast so lange in der Sonne herumtollen, wie sie wollte.
»Wir müssen gleich los«, riss ihre Stimme David aus seinen Gedanken. Noch immer betete sie mit ihrer Körperhaltung die Sonne an.
Mia sah in allem etwas Positives, sie machte aus allem etwas Gutes. Durch sie gewannen die Dinge für ihn an Farbe, Emotion und Wert.
Ihr Geld für die Tanten verdiente sie mit kleinen Tanzvorführungen an allen möglichen Ecken vor den wenigen Cafés und Läden oder zwischen den Häusern. Dabei sang sie. Keiner konnte der Anziehungskraft ihrer außergewöhnlichen Augen und der klaren Stimme widerstehen. Die Münzen rasselten stets mit einem fröhlichen Geräusch in die kleine gelbe Schale aus Plastik, die sie jeden Morgen liebevoll mit frischen Blumen vom Wegrand schmückte, bevor sie zusammen mit ihm loszog.
David nickte zustimmend, obwohl sie es nicht sehen konnte. Es war gut, sich gegenseitig im Blick zu behalten, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen. Wer wusste schon, was kommen mochte.
Schlagartig fiel ihm sein Hunger wieder ein. Beschämt hörte er, wie sein Bauch seltsame Geräusche von sich gab. Eigentlich sollte diese Phase längst vorüber sein.