INHALT

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Zitat
  7. DAS 19. JAHRHUNDERT
  8. Sommer 1894
    1. KAPITEL 1
    2. KAPITEL 2
    3. KAPITEL 3
    4. KAPITEL 4
    5. KAPITEL 5
    6. KAPITEL 6
  9. Herbst 1894
    1. KAPITEL 7
    2. KAPITEL 8
    3. KAPITEL 9
    4. KAPITEL 10
    5. KAPITEL 11
    6. KAPITEL 12
  10. Winter 1894/95
    1. KAPITEL 13
    2. KAPITEL 14
    3. KAPITEL 15
    4. KAPITEL 16
    5. KAPITEL 17
    6. KAPITEL 18
    7. KAPITEL 19
    8. KAPITEL 20
    9. KAPITEL 21
    10. KAPITEL 22
    11. KAPITEL 23
    12. KAPITEL 24
    13. KAPITEL 25
    14. KAPITEL 26
  11. Sommer 1895
    1. EPILOG
    2. NACHWORT

ÜBER DIESES BUCH

Berlin, 1894: Als die junge Ella von Burow mit einem Aufklärungsbuch erwischt wird und in der Gegenwart des jungen und sehr sympathischen Arztes Max ständig nervös niest, diagnostiziert der Familienarzt frei nach Freud »sexuelle Triebhaftigkeit«. Dabei ist die aufgeweckte Ella einfach nur sehr wissbegierig für eine junge Dame ihrer Zeit. Es beginnt ein turbulenter Reigen um Ellas »Heilung«, denn Max glaubt nicht an diese merkwürdige Theorie und Ella natürlich auch nicht. Um das Gegenteil zu beweisen, verbringen die beiden bald viel Zeit miteinander … Ein wunderbares Lesevergnügen für alle Fans von Jane Austen und Der Trotzkopf Eine hinreißende Liebesgeschichte mit nostalgischem Flair.

ÜBER DIE AUTORIN

Anna Moretti lebt in Süddeutschland, wo sie als Journalistin arbeitet. Schon in ihrer Diplomarbeit beschäftigte sie sich intensiv mit dem Leben von Frauen um die Jahrhundertwende. Wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie gern eine Weile in dieser Zeit leben. Aber nicht als Frau, dafür ist ihr die damalige Kleidung viel zu unbequem. Lieber als Katze, die alles beobachten kann.

ANNA
MORETTI

FRÄULEIN

ELLA

UND DIE

LIEBE

ROMAN

»Die große Frage, die ich trotz meines dreißigjährigen Studiums der weiblichen Seele nicht zu beantworten vermag, lautet: Was will eine Frau eigentlich?«

SIGMUND FREUD

»Man könnte einfach mal eine fragen …«

ELENA SOPHIE VON BUROW

DAS 19. JAHRHUNDERT

Es gibt in der deutschen Geschichte keine prüdere Phase als die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sexuelle Aufklärung im heutigen Sinne gab es damals nicht. Alles Geschlechtliche wurde mehr denn je zuvor als finstere, drohende Macht empfunden, vor der man vor allem Frauen angeblich schützen müsse. Und das, obwohl die Medizin gerade in jener Zeit erstaunliche Fortschritte machte. Dieser vermeintliche Schutz wurde vielen Frauen zum Verhängnis, und von den medizinischen Fortschritten profitierten sie nicht. Im Gegenteil.

1806:Das Endoskop wird erfunden. Damit ist es möglich, ins Körperinnere zu blicken.

1816:Das Stethoskop wird erfunden. Nun können Ärzte sogar die Herztöne Ungeborener hören.

1838:Biologen entdecken, dass der menschliche Körper aus Zellen besteht.

1839:In einem feinen Mädchenpensionat werden die geschwungenen Beine eines Klaviers mit Höschen verhüllt. Die jungen Mädchen sollen durch nichts an ihren oder an fremde Körper erinnert werden. Von Zellen oder Ungeborenen im Mutterleib haben sie zweifelsohne noch nie gehört.

1856:Gustave Flaubert veröffentlicht den Roman Madame Bovary. Er handelt von einer Frau, die Ehebruch begeht, was tödlich endet.

1857:Der Sexualforscher William Acton kommt zu dem Schluss: »Die Mehrzahl der Frauen werden zum Glück nicht von sexuellen Gefühlen irgendeiner Art geplagt. Was bei Männern die Regel ist, bildet bei Frauen die Ausnahme.«

1877:Leo Tolstoi veröffentlicht den Roman Anna Karenina. Er handelt von einer Frau, die Ehebruch begeht, was tödlich endet.

1882:In Europas Großstädten greift eine seltsame Krankheit um sich, die vor allem Frauen befällt: die Hysterie. Sie äußert sich durch Nervosität, Reizbarkeit, sexuelle Triebhaftigkeit und Anfälle von Wahn. Außerdem zeigen die betroffenen Patientinnen oft Lähmungserscheinungen in den Beinen.

1883:Ärzten gelingt es, diese Symptome durch spezielle Massagen im Vaginalbereich zu lindern. Durch lang andauernde Reibung können sie bei betroffenen Frauen einen »Hysterischen Paroxismus« hervorrufen, eine Art Anfall, bei dem die Frauen stöhnen, zucken und sogar jauchzen. Danach sind sie ruhig und entspannt. Die Behandlung erfreut sich großer Beliebtheit bei den Patientinnen, muss allerdings regelmäßig wiederholt werden. Deswegen suchen Ärzte nach dauerhafteren Behandlungsmöglichkeiten.

1884:Zur Vorbeugung der Hysterie werden Mädchen weiterhin angehalten, jeden unkeuschen Gedanken zu vermeiden. Ein Mädchenkalender rät seinen Leserinnen sogar: »Wenn du ein Bad nimmst, so streue etwas Sägemehl auf das Wasser, damit dir der peinliche Anblick deiner Scham erspart bleibe.«

1894:Theodor Fontane veröffentlicht den Roman Effi Briest. Er handelt von einer Frau, die Ehebruch begeht, was tödlich endet.

1895:Die Ärzte Sigmund Freud und Wilhelm Fließ erwägen, weibliche Hysterie durch eine Nasenoperation zu heilen.

In dieser Zeit spielt die Geschichte von Ella und Max. Sie ist erfunden. Die Rahmenhandlung allerdings beruht auf wahren Begebenheiten.

KAPITEL 1

»Die Anstalt besteht seit 1869 und gewährt den Zöglingen ein Familienleben, in welchem sie eine ihren Lebensverhältnissen entsprechende Erziehung empfangen. Gelegenheit zur Ausbildung in Wissenschaften und fremden Sprachen, Musik, Malen, Handarbeiten und Turnen. Sorgfältigste körperliche Pflege, besondere Berücksichtigung guter Umgangsformen.«

Werbeanzeige eines Pensionats für Töchter höherer Stände

Das Buch lag am Flussufer unter einem Stein. Nur eine braune Ecke seines Ledereinbands ragte hervor. Unauffällig legte ich den Kopf schräg und blinzelte gegen die Sonne. War das wirklich ein Buch? Oder doch nur ein kantiges Stück Holz, das unter den kniehohen Felsbrocken gerutscht war?

Wir standen in einer kleinen, sandigen Bucht an der Elbe, umgeben von Schilf, und lauschten dem endlosen Vortrag unserer Lehrerin, die uns auf diesem Schulausflug die Besonderheiten der Flusslandschaft nahebringen wollte. Ich hatte den klobigen Stein am Rande des Schilfs sehnsüchtig angestarrt, weil ich mich nur allzu gern daraufgesetzt hätte, aber so was tat eine Dame ja leider nicht. Dabei war mir die Spalte zwischen Sandboden und Stein aufgefallen, und dann die braune Kante, die daraus hervorragte.

Aus den Augenwinkeln musterte ich meine Mitschülerinnen. Hatten sie auch etwas gesehen? Doch alle waren voll und ganz damit beschäftigt, sich in der heißen Julisonne mit ihren Fächern Luft zuzuwedeln und ein aufmerksames Gesicht zu machen, während sie vermutlich heimlich an etwas anderes dachten.

Langsam näherte ich mich dem Stein, tastete mit dem Fuß nach dem braunen Gegenstand und schob ihn ein winziges Stück zur Seite. Tatsächlich. Ein Buch. In Leder gebunden, mit Goldbuchstaben auf dem Einband. Irgendjemand hatte es hier versteckt. Aber wer? Warum? Und was stand darin? Das musste ich wissen. Ohne viel nachzudenken, stellte ich mich mit einem schnellen Schritt vor meinen Fund und verdeckte ihn mit meinem langen weißen Rock.

Gerade noch rechtzeitig.

»Was ist los, Ella?«, wisperte Betty mir zu.

Ella, so wurde ich in der Schule genannt, obwohl mein Name Elena Sophie lautete. Die Abkürzungen Elli und Leni waren nämlich schon von Elvira und Helene besetzt.

Leider wurde durch Bettys Flüstern unsere Lehrerin, Fräulein Grimaud, auf mich aufmerksam, deren Geieraugen selten etwas entging. »Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein von Burow?«, fragte sie streng.

»Oh. Also. Doch«, stotterte ich.

»Fräulein von Burow!« Fräulein Grimauds Stimme klang scharf wie gesplittertes Glas. »Sprechen Sie bitte in ganzen Sätzen! Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt!«

»Verzeihung, Fräulein Grimaud!« Ich rückte noch etwas näher an den Stein, um das Buch zu verbergen. »Ich war einen Moment achtlos und bin gestolpert.«

Ausgerechnet jetzt wichen meine Klassenkameradinnen unter dem strengen Blick unserer ältlichen Lehrerin zurück und bildeten eine Gasse, sodass Fräulein Grimaud mich mit ihren eisgrauen Augen von oben bis unten mustern konnte. Zum Glück bemerkte sie nichts von dem Buch. Mahnend hob sie ihren langen, knochigen Zeigefinger.

»Das ist peinlich! Überaus peinlich!« Sie richtete ihren Blick gen Himmel, als erhoffte sie von dort Hilfe für ihre schwere Aufgabe als Erzieherin. »Eine junge Dame von Stand stolpert nicht, sie schwebt.«

Ein Seufzen ging durch die Gruppe der Mädchen.

»Nicht wieder ein Vortrag!«, flüsterte Betty hinter ihrem Fächer. »Es ist so heiß!«

Sie trug ebenso wie ich ein weißes Kleid, das zwar sommerlich aussah, aber aus so viel Stoff bestand, dass er auch für drei Kleider gereicht hätte. Und die Hüte auf unseren aufgebauschten Flechtfrisuren wärmten bei der schräg stehenden Nachmittagssonne mehr, als dass sie uns Schutz boten.

»Zu spät!« Johanna verdrehte fast unmerklich die Augen. »Wenn ihr Finger erst oben ist, lässt sie sich nicht mehr bremsen.«

Und wirklich, Fräulein Grimaud holte tief Luft. Ihr hochgeschlossenes schwarzes Kleid spannte sich über dem mageren Brustkorb. »Niemand, wirklich niemand auf dieser Welt findet einen solchen Fauxpas anrührend oder liebenswert«, verkündete sie und pikte mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft.

Ich wollte gerade den Mund öffnen, um zu sagen, dass niemand, wirklich niemand auf dieser Welt mit Absicht stolperte, da erhielt ich von hinten einen sanften Stoß.

»Sei still, Ella«, flüsterte Betty. »Sonst dauert das ewig.«

Also ließ ich den Vortrag meiner Lehrerin ebenso an mir abperlen wie die Schweißtropfen von meiner Stirn und nickte nur hin und wieder gehorsam.

In Gedanken war ich längst wieder bei dem mysteriösen Buch. Ich musste es haben. Ich wollte es lesen. Aber Fräulein Grimaud durfte es auf keinen Fall finden. Sie würde es sofort konfiszieren und niemandem auch nur einen Blick hinein gestatten, selbst wenn es sich bei dem Werk um die Bibel handeln sollte. Neugier war ihrer Meinung nach das letzte Gefühl, dem eine feine Dame nachgeben durfte.

Aber das Buch unter dem Stein war bestimmt keine Bibel, und ich brannte gerade höchst unfein vor Neugier, ich loderte geradezu.

Doch wie sollte ich unbemerkt danach greifen? Das war unmöglich. Fräulein Grimauds Vortrag zog sich in die Länge wie klebrige Spinnfäden, und immer noch sah sie mich unverwandt an. Und selbst wenn ich es irgendwie schaffen würde, das Buch unauffällig unter dem Stein hervorzuziehen, konnte ich es nicht in meine Rocktasche schieben. Es war zu groß. Wohin also damit?

Plötzlich stieß die zarte Hedwig einen Schreckenslaut aus. Sie wedelte mit der Hand und verzog das Gesicht. »Eine Biene!«, jammerte sie. »Sie hat mich gestochen. So ein Biest!«

Instinktiv hob Fräulein Grimaud den Zeigefinger, um erneut eine Strafpredigt zu halten, vermutlich über die Peinlichkeit von Bienenstichen bei einer Dame von Stand. Doch Hedwig wurde auf einmal ganz weiß im Gesicht. Sie schwankte sogar ein bisschen.

»Reißen Sie sich zusammen, meine Liebe«, befahl Fräulein Grimaud und ließ den Finger sinken. Sie musterte Hedwig und wirkte nun doch ein wenig nervös. »Atmen Sie tief ein! Das ist kein Grund für eine Ohnmacht.« Sie wandte sich an die ganze Klasse und machte hektische Handbewegungen, als wollte sie uns scheuchen wie eine Schar Hühner. »Rasch! Wir gehen jetzt alle in den Schatten und suchen dort nach Spitzwegerichblättern. Wenn man ihren Saft auf einen Bienenstich träufelt, lindert das Schwellung und Schmerz.« Mit hochgereckter Geiernase und zackigem Schritt steuerte Fräulein Grimaud auf den Pfad zu, der durch das hohe Schilf auf eine Baumgruppe zuführte. »Merken Sie sich das, meine Damen«, verkündete sie beim Gehen. »Die Natur verfügt über alles, was wir benötigen. Man muss sich nur auskennen. Gewisse Kenntnisse der Naturkunde zieren jede Dame.«

Meine Klassenkameradinnen sortierten sich automatisch in Zweierreihen und folgten ihr. Florence ergriff Hedwigs Arm und stützte sie.

Ich blieb stehen, bückte mich und nestelte an meiner Schnürstiefelette. »Mein Schuh ist offen«, rief ich den anderen zu. »Ich komme gleich nach.«

Doch die Mädchen waren viel zu sehr damit beschäftigt, auf dem sumpfigen Untergrund nicht auszurutschen, um mich zu beachten. Eine nach der anderen verschwand zwischen den schwankenden Schilfhalmen.

Ihre Stimmen verebbten, ich hörte nur noch das leise Schwappen der Wellen und das Schnattern einer Ente im Schilf. Langsam richtete ich mich auf und sah mich noch einmal um. Niemand war mehr da, ich war allein. Rasch bückte ich mich wieder, zog das Buch unter dem Stein hervor und wischte mit dem Ärmel den Sand vom Einband. In goldenen Buchstaben, die sorgfältig in das dunkle Leder geprägt waren, stand dort: Paolo Mantegazza. Und darunter: Physiologie des Genusses.

Nachdenklich hielt ich inne. Paolo Mantegazza? Der Name kam mir bekannt vor. War das nicht dieser italienische Märchenerzähler, von dem uns Fräulein Grimaud erst kürzlich ein Blumenmärchen vorgelesen hatte? Es hatte von der Entstehung der Schneerose gehandelt und war ziemlich kitschig gewesen. Warum versteckte jemand ausgerechnet ein Buch dieses Mannes unter einem Stein am Fluss? Und was war das für ein merkwürdiger Titel? Physiologie, dieses Wort klang überhaupt nicht nach einem Märchen, eher nach einer Wissenschaft. Aber wie passten Genuss und Wissenschaft zusammen? Hoffentlich war das kein Kochbuch.

Ich hob den Kopf und sah mich erneut um. Von den anderen war noch immer nichts zu hören oder zu sehen. Nur das Schilf raschelte leise im Wind.

Rasch schlug ich das Buch in der Mitte auf und las ein paar Wörter. Die bloße gegenseitige Annäherung und Berührung zweier Personen, stand da, und mein Herz klopfte schneller. Offenbar hatte ich Glück, ein Kochbuch war das garantiert nicht. Und ein Märchen auch nicht. Das klang eher analytisch. Wie interessant!

Ich las noch einmal den ganzen Satz. Die bloße gegenseitige Annäherung und Berührung zweier Personen, welche sich lieben, führt alle Nerven des Tastsinns in einen Zustand der Aufregung und Reizbarkeit.

Wie bitte? Plötzlich war ich hellwach. Stand da wirklich welche sich lieben?

Ja, tatsächlich. Hastig ließ ich meinen Blick über die nächsten Zeilen wandern. Die Haut wird heiß, die Lippen beben und lassen nur abgebrochene Worte herauskommen. Der fliegenden Brust entsteigen von Zeit zu Zeit lange Seufzer.

Ich schluckte. Das war … ungewöhnlich. Mein Gesicht wurde nun ebenfalls heiß. Vielleicht sollte ich das Buch doch lieber zurücklegen.

Oder nein, ich würde noch ein Stück weiterlesen. Das war ja wirklich zu merkwürdig. Rasch überflog ich die nächste Zeile. Fast unwillkürlich suchen und finden sich alsdann die empfindlichsten Teile des Körpers.

Um Himmels willen! Ich atmete scharf ein. Jetzt ahnte ich, worum es hier ging.

Wieder schnatterte eine Ente, diesmal ganz nah. Ich fühlte mich plötzlich ertappt und spürte, wie sich mein Gesicht dunkelrot färbte. Schnell klappte ich das Buch zu. Was da stand, war sicher nicht für meine Augen bestimmt.

Andererseits … Unschlüssig strich ich mit dem Finger über die eingeprägten Goldbuchstaben auf dem Einband. Physiologie war offenbar tatsächlich eine Wissenschaft. Und Wissenschaften waren seriös und wichtig. Konnte denn unmoralisch sein, was in einem wissenschaftlichen Werk stand? Und konnte es wirklich davon handeln? Also vom … Liebesakt? Oder hatte ich mich geirrt?

»Eeellaaa!«, rief jemand aus der Ferne.

Ich fuhr vor Schreck zusammen. Das war Betty, sie suchte mich bestimmt schon. Ich klappte das Buch zu und verbarg es hastig wieder unter dem Stein.

Als ich atemlos bei meinen Mitschülerinnen ankam, war ich sicher, dass jede mir ansehen konnte, was ich eben gelesen hatte. Doch alle, selbst Fräulein Grimaud, waren mit der Betrachtung eines Igels beschäftigt. Er saß unter einem Baum und versuchte mit zuckender Nase zu erschnuppern, was es mit den hell gekleideten, aufgeregt durcheinanderredenden Mädchen vor seinem Versteck auf sich hatte. Selbst Hedwigs Bienenstich schien vergessen, obwohl diese noch immer blass um die Nase war.

»Entzückend!«

»Wie possierlich!«

»Dürfen wir ihn mitnehmen?«

Die Stimmen hallten durcheinander, als stünde dort eine Gruppe Kinder, und nicht die Absolventinnen der Selekta, der Abschlussklasse des vornehmen Mädchenpensionats Luisenstift.

»Zurückbleiben!«, befahl Fräulein Grimaud. »Igel beherbergen auf ihrer Haut Ungeziefer. Studieren Sie seine Erscheinung, aber berühren Sie ihn nicht!«

Beim Wort Berühren zuckte ich zusammen. Sofort fiel mir die Sache mit den empfindlichen Körperteilen wieder ein. Berührte man sie wirklich, wenn man … diese Dinge tat? Ich spürte, wie mein Gesicht erneut rot wurde. Zum Glück schenkte mir niemand Beachtung. Danke, Igel, dachte ich und betrachtete nun ebenfalls das ängstliche Tier, das sich zu einer Kugel zusammenrollte und tot stellte. Doch meine Gedanken irrten immer wieder zu dem Buch am Flussufer zurück, zu den verwirrenden Zeilen und zu all den Fragen, die sie aufgeworfen hatten. Ging es in dem gesamten Werk um diese, nun ja, Angelegenheiten? Und was genau war Physiologie?

Ich wollte mehr darüber wissen, nein, ich musste es sogar. Mein Blick wanderte über meine Klassenkameradinnen, die in ihren hellen Sommerkleidern um mich herum standen. Wenn es nach dem Willen unserer Eltern und Lehrerinnen ging, sollten wir alle bald heiraten. Und Fräulein Grimauds Aufgabe war es, uns darauf vorzubereiten. Aber das tat sie nicht. Andauernd redete sie nur von Anstand und Anmut und Allgemeinbildung. Von den Dingen, die nach Handkuss, Herzklopfen und Um-die-Hand-Anhalten kamen, war niemals die Rede, unsere Lehrerin mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Und doch standen uns diese Dinge bevor, einigen vermutlich schon bald. Wir mussten uns doch irgendwie dafür wappnen. Daher kam mir das Buch wie ein Geschenk des Himmels vor.

Als wir unter Fräulein Grimauds Führung wenig später den Heimweg antraten, überlegte ich hin und her, was ich tun sollte. Denn egal, ob das Buch nun unmoralisch war oder nicht, eines stand fest: Es würde mir für die Zukunft überaus nützlich sein.

Physiologie war die Lehre vom Leben. Das fand ich in der Schulbibliothek heraus, als ich das Wort in einem Lexikon nachschlug. Über Mantegazza stand dort nichts, und ich fand auch sein Buch in keinem der Regale. Doch das hatte ich auch nicht erwartet. An den Wänden des düsteren Raums waren Hunderte ledergebundener Schwarten aufgereiht, die alle äußerst ehrwürdig und wichtig aussahen. Doch sie enthielten nur Frömmeleien und Banalitäten. Ich hatte hier anfangs viel Zeit verbracht, auf der Suche nach Wissen, aber dabei kein einziges Buch entdeckt, dessen Lektüre sich gelohnt hätte. Über neuere Erkenntnisse der Wissenschaften konnte man rein gar nichts finden. Die Entdeckung Amerikas war die letzte Errungenschaft, die in dieser Bibliothek Beachtung gefunden hatte, und die war schon vierhundert Jahre her.

Nachdenklich ging ich in mein Zimmer, einen großen Raum, der mit altmodischen Möbeln aus Rosenholz und hellen, geblümten Stoffen eingerichtet war. Irgendwie fühlte ich mich hier immer fehl am Platz. Alles wirkte so zart, mädchenhaft und lieblich, wie ich es einfach nicht war. Und auch nicht sein wollte.

Und jetzt? Was sollte ich tun? Seufzend nahm ich den Hut ab und warf ihn aufs Bett. Na, was wohl? Das, was jeden Tag von mir erwartet wurde: mich frisch machen und zum Tee in den Speisesaal gehen.

Ich trat an den Frisiertisch und sah in den Spiegel.

Die dunklen, fast schwarzen Augen, die mir entgegenblickten, erinnerten mich an das Bild meiner Mutter, das zu Hause im Salon überm Kamin hing. Ich sah ihr ähnlich, das hörte ich oft. Auch meine dunklen Haare, meine schmale Nase und meine geschwungenen Lippen hatte ich von ihr. Von Vater hatte ich nur die hohe Stirn geerbt.

Was hätte meine Mutter in dieser Situation getan? Ich erinnerte mich kaum an sie, doch Vater sprach immer noch viel von ihr. Sie wollte die Welt verstehen, die Menschen und die Dinge hinter den Dingen. Lebenslustig war sie gewesen, wissbegierig, offen für alles. Sie hatte stets viele Fragen gestellt und in Gesprächen lieber zugehört, als selbst das Wort zu ergreifen. Aber sie mochte nur Menschen, die etwas zu sagen hatten, Dummköpfe und Schwätzer waren ihr zuwider. Und sie ließ sich niemals von einer Idee abbringen, das hatte mein Vater mir oft schmunzelnd erzählt.

So war ich auch. Ein Sturkopf. Meine Mutter und ich hatten mehr gemein als nur Äußerlichkeiten.

Ich richtete mich auf und holte tief Luft. Ich brauchte dieses Buch, also würde ich es mir holen. Und zwar sofort. Mit drei Schritten war ich an der Zimmertür und lauschte auf den Gang hinaus.

Kaum waren die anderen Mädchen im Speisesaal verschwunden, schlich ich mich aus dem Pensionat. Weil die Haustür beim Öffnen jedes Mal knarrte, schlüpfte ich ins Musikzimmer und wählte den Weg über die Veranda. Von dort aus huschte ich im Schatten des Gebäudes Richtung Fluss.

Als ich endlich außer Sichtweite war, missachtete ich alle Benimmregeln und rannte höchst undamenhaft mit fliegenden Röcken zum Ufer. Kurz hatte ich überlegt, ob ich Betty einweihen sollte. Sie war mir ähnlich, sie wäre bestimmt mitgekommen. Doch dann hatte ich den Gedanken verworfen. Ich durfte sie nicht in die Sache mit hineinziehen. Sie hatte erst letzte Woche einen strengen Tadel von Fräulein Grimaud erhalten, weil sie angeblich neugierig und vorlaut gewesen war. In nächster Zeit sollte sie lieber nicht unangenehm auffallen. Falls das Buch interessant war, konnte ich es ihr ja immer noch leihen.

Am Ufer scheuchte ich aus Versehen einen Schwarm schwarzer Vögel auf und erschrak bis ins Mark, als sie flügelschlagend davonflatterten. Fast wäre ich weggelaufen, doch ich zwang mich zur Ruhe und griff unter den Stein.

Zum Glück war das Buch noch da. Ich schlug es unverzüglich an einer beliebigen Stelle auf, doch als mein Blick auf das Wort Geschlechtsvereinigung fiel, klappte ich es schnell wieder zu. Dies war kein geeigneter Ort, um so etwas zu lesen. Viel zu gefährlich! Vielleicht kam der Besitzer des Buches zurück, um es zu holen. Oder ein Spaziergänger.

Aber wohin sollte ich sonst damit? Ein solches Buch konnte ich auf gar keinen Fall mit ins Pensionat nehmen, dort war das Risiko viel zu groß, ertappt zu werden. Und wenn das geschah, würde Fräulein Grimaud erst in Ohnmacht fallen und dann Zeter und Mordio schreien. Undenkbar! Besser war es, irgendwo hier draußen unter freiem Himmel einen sicheren Ort für meine Lektüre zu suchen.

Nach kurzem Nachdenken fiel mir die Eiche ein, unter der am Vormittag der Igel gesessen hatte. Sie besaß einen gewaltigen Stamm, hinter dem ich, halb von Gebüsch verborgen, sitzen konnte, um noch ein bisschen in dem Buch zu blättern. Und unter den Wurzeln fand ich danach bestimmt ein trockenes Versteck, in dem ich es so lange deponieren konnte, bis ich es ganz gelesen hatte. Jetzt blieb mir nicht genug Zeit, man würde mich beim Tee bald vermissen. Aber vielleicht fand sich in den nächsten Tagen eine günstige Gelegenheit. Und sobald ich mit dem Werk durch war, würde ich es zum ursprünglichen Fundort zurückbringen. Ich war ja keine Diebin.

Zum zweiten Mal an diesem Tag eilte ich also durchs Schilf auf die Baumgruppe zu. Doch als die wogenden Halme den Blick auf die Bäume freigaben, fuhr ich jäh zurück, schrie auf, und das Buch rutschte mir aus der Hand. Unter der Eiche saß diesmal kein Igel. Dort stand Fräulein Grimaud. Ihr Blick ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

Dr. med. Maximilian von Waldau, Dresden,

an stud. med. Benjamin von Waldau, Jena

Lieber Bruder,

hoffentlich bist du gesund! Und fleißig! Und höflich, brav und fromm. Außerdem hoffe ich, dass du die Vorlesungen regelmäßig besuchst, ausreichend schläfst, niemals rauchst, keine Schulden machst und eine gute Verdauung hast.

So. Damit habe ich meine Pflichten als Familienoberhaupt hinreichend erfüllt. Kommen wir also zum brüderlichen Teil meines Briefes.

Holla, alter Knabe, wie schmeckt dir dein Leben als Studiosus? Fühlst du dich schon heimisch in der neuen Stadt? Ist deine Zimmerwirtin erträglich? Schmeckt das Bier? Und was mich natürlich vor allem interessiert: Gibt es ein Mädchen, das dir gefällt?

Ach, wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach dem Studentenleben zurücksehne! Aber du kannst dir’s sicher denken. Allzu lang ist das bei mir ja auch noch nicht her. Und im Moment ist mein Leben wirklich trister als trist.

Ich führe täglich Mietinteressenten durch Großmutters Haus und versuche dabei, nicht an die Zeit zurückzudenken, in der sie noch lebte und diese Räume mit ihrer warmen Fröhlichkeit und ihrem Gesang füllte. Und wenn die Besucher sich dann tatsächlich für das Haus interessieren, werde ich nervös. Denn ich habe immer noch kein Quartier in Berlin gefunden. Und ich schrecke davor zurück, die alte Bleibe zu vermieten, ohne zu wissen, wo ich künftig meine Zelte aufschlagen werde. Aber vermutlich muss ich genau diesen Schritt wagen und mich für die erste Zeit in einem Hotel einmieten.

Jetzt fragst du dich sicher, warum ich keine Wirtin finde, die bereit ist, dauerhaft einen aufstrebenden jungen Arzt zu beherbergen. Nun, offenbar habe ich die Bereitwilligkeit von Zimmerwirtinnen überschätzt, aufstrebende junge Ärzte samt Katze zu beherbergen. Aber ich habe Großmutter versprochen, mich um Salomé zu kümmern. Und dieses Versprechen werde ich auch halten, egal, was passiert.

Genug davon. Die Dinge sind, wie sie sind. Nun berichte ich dir lieber von einem weiteren Experiment, das ich getreu meines Mottos unternahm, einmal pro Woche einen medizinischen Versuch am eigenen Leibe zu wagen.

Erinnerst du dich an John Taylor? Er hat mit mir studiert und ist dann wieder zurück nach Amerika gegangen. Am Sonntag war er zu Besuch und brachte mir ein neuartiges Elixier mit, das in seiner Heimat gerade für Furore sorgt. Es heißt Coca-Cola und wirkt angeblich gegen Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen und Kater, Melancholie, Neurasthenie und Hysterie. Da ich, als ich es einnahm, an nichts davon litt, kann ich nicht sagen, ob es wirklich hilft. Aber eines steht fest: Es ist wohlschmeckend, es schadet nicht und wirkt ausgesprochen belebend. Es vertrieb alle Schläfrigkeit aus meinem müden Kopf, ich fühlte mich danach großartig und konnte zwei Stunden länger arbeiten als sonst. Vermutlich liegt das an den Wirkstoffen. Das braune Elixier besteht aus Substraten der Kokapflanze und der Kolanuss. Es enthält daher Koffein und Kokain. Von Kokain ist derzeit in medizinischen Kreisen viel die Rede, es zeigt erstaunliche Wirkung bei vielen Leiden. Also merke dir den Namen, du kannst mit diesem Wissen bestimmt im Studium glänzen. Sollte dieses Coca-Cola auch hierzulande auf den Markt kommen, ist das eine gute Sache, und ich werde es meinen Patienten oft und gern verschreiben.

So, genug geplaudert. Der Brief muss zur Post. Antworte bald!

Voll Experimentierfreude grüßen

das gestrenge Familienoberhaupt sowie

dein Bruder Max in ein und derselben Person

PS: Auch Salomé lässt herzlich grüßen.

KAPITEL 2

»Bei den Frauen ist jede Anspielung auf das geschlechtliche Leben offiziell verpönt. Es wird den Mädchen so lange als möglich verheimlicht.«

HAVELOCK ELLIS, Arzt und Sexualforscher

Vielleicht wäre Fräulein Grimaud tatsächlich wie erwartet in Ohnmacht gefallen. Vielleicht hätte sie danach auch wirklich gezetert wie eine aufgeregte Elster. Aber dazu kam es nicht.

Denn wenn das Pech zuschlägt, dann gerne gründlich. So auch in diesem Fall.

Doch ich beginne besser von vorn: Ich stand starr vor Schreck zwischen den Schilfhalmen. Fräulein Grimaud kam in zackigen Schritten auf mich zu, den faltigen, putenähnlichen Hals weit vorgereckt.

»Heben Sie das Buch auf!«, befahl sie mit bebender Stimme. Ich gehorchte, und mit einer herrischen Handbewegung forderte sie mich auf, es ihr auszuhändigen. Was ich auch tat, weil ich keinen anderen Ausweg sah.

Fräulein Grimaud schlug es auf, studierte das Inhaltsverzeichnis und erbleichte. Dann griff sie sich an den Hals, wankte, und ich dachte, jetzt wäre es so weit. Ich machte mich schon bereit, um sie aufzufangen, doch genau in diesem Moment knackte es unweit von uns im Gebüsch. Wir fuhren beide zusammen.

Wieder knackte es, diesmal ganz nah. Vorsichtig wichen wir einen Schritt zurück.

»Ein Wildschwein?«, flüsterte Fräulein Grimaud. Vor Angst rückten wir näher aneinander.

Was nun aus dem Gebüsch hervorbrach, war allerdings kein grimmiger Eber, sondern ein hoch aufgeschossener junger Mann mit flammend rotem Haar in Gymnasiastenuniform. Er sah uns und blieb stehen. Sein Blick fiel auf das Buch in Fräulein Grimauds Hand. Er riss die Augen auf, drehte sich hastig um und floh in den Schutz des Gebüschs.

Als sich seine Schritte laut knackend entfernt hatten, atmete ich erleichtert auf. Das war bestimmt kein Unhold gewesen, sondern der wahre Besitzer des Buches.

Leider wirkte Fräulein Grimaud kein bisschen erleichtert. Im Gegenteil, sie wurde noch bleicher als zuvor. Ihr Gesicht schimmerte geradezu grün, und sie wich vor mir zurück, als würde ich üblen Aasgeruch verströmen.

»Wie abscheulich«, flüsterte sie. »Erbärmlich.« Sie rang nach Atem. »Abstoßend. Widerlich. Beschämend.« Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. »Eine Schülerin unseres Instituts trifft sich heimlich mit einem Jüngling und liest mit ihm unzüchtige Schriften. Das ist … unfassbar!«

»Aber … Nein, das …«, widersprach ich.

Doch sie ließ mich nicht ausreden. »Und wer weiß, was Sie sonst noch mit ihm getan haben.«

»Nichts!« Ich starrte sie entsetzt an. »Wirklich, Fräulein Grimaud! Ich kenne diesen Menschen gar nicht. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Was für eine infame Lüge!« Fräulein Grimaud spuckte die Wörter förmlich aus.

»Aber …«, begann ich wieder.

Doch Fräulein Grimaud wandte sich wortlos ab und hastete wie vom Teufel gejagt zurück zum Pensionat. Das Buch hielt sie dabei mit spitzen Fingern weit von sich, als wäre es schmutzig.

Ich war fassungslos. Starr vor Schreck. Unfähig, etwas zu tun. Und dennoch, oder vielleicht sogar genau deswegen, schoss mir in diesem Moment ein äußerst unpassender Gedanke durch den Kopf: Als damenhaftes Schweben konnte man ihren Gang in diesem Moment wahrlich nicht bezeichnen. Eher als hasenähnliches Hoppeln.

Die elegante cremefarbene Villa, in der sich unser Pensionat befand, leuchtete hell in der Nachmittagssonne. Eine Amsel saß auf dem rosenumrankten Brunnen vor dem Eingang und sang aus voller Kehle. Doch ich konnte die Schönheit dieses Ortes gerade nicht angemessen würdigen. Ich hatte nur Augen für Fräulein Grimaud, der ich in großem Abstand folgte. Warum hielt sie mir keine Moralpredigt? Weshalb forderte sie keine Erklärung? Wieso ließ sie mich einfach stehen?

Jetzt stürmte sie die Eingangstreppe hinauf, eilte an den majestätischen Säulen vorbei und hastete durch das weit geöffnete Portal, das sie krachend hinter sich zuwarf. Auch nicht gerade damenhaft, dachte ich kurz. Aber dann hielt ich inne und versuchte, endlich einen sinnvollen Gedanken zu fassen. Irgendetwas musste doch jetzt passieren. Aber mir fiel nichts ein. Unschlüssig stand ich eine Weile vor dem Gebäude, bevor ich mich hineinwagte, ebenso ratlos wie zuvor.

In der hellen, kühlen Eingangshalle war niemand zu sehen. Irgendwo weit oben hallten Fräulein Grimauds Schritte auf der Marmortreppe. Ansonsten war es still wie in einer Gruft. Vermutlich waren die anderen noch immer im Speisesaal.

So leise wie möglich schlich ich die Treppe hinauf, huschte in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Geistesabwesend betrachtete ich das Spiel der zarten weißen Vorhänge, die sich im Wind bauschten, und die Gedanken schwirrten durch meinen Kopf wie ein Schwarm aufgeregter Spatzen. Hätte ich das Buch doch nur gelassen, wo es war. Warum musste ich immer so unbedacht sein?

Andererseits, nicht einmal in meinen bizarrsten Fantasien hätte ich eine solche Situation vorhersehen können. Fräulein Grimaud. Zur Teezeit. Am Fluss. Und dann auch noch dieser Gymnasiast. Das war so dermaßen ungewöhnlich, damit hätte niemand rechnen können. Und, meine Güte, warum tat Fräulein Grimaud, als wäre ich eine Schwerverbrecherin? Es war doch nur ein Buch.

Ich zog mir das Kopfkissen übers Gesicht, biss vor lauter Wut sogar hinein, klagte mich in Gedanken selbst an und verteidigte mich im nächsten Atemzug wieder glühend, um dann erneut in Verzweiflung zu verfallen.

Nach einer halben Ewigkeit – zumindest kam es mir so vor –, hörte ich Schritte auf dem Korridor. Rasch setzte ich mich auf, strich meinen Rock glatt und fuhr mir über die Haare. Kam jetzt Fräulein Grimaud, um mich zur Rede zu stellen?

Jemand riss ohne zu klopfen die Tür auf, doch es war nicht Fräulein Grimaud, sondern Betty, die atemlos hereinstürmte.

»Ella, da bist du ja«, rief sie und rang nach Luft. »Wo warst du denn eben? Es gab Cremetörtchen.«

»Ich hatte keinen Appetit.«

»Bist du krank?« Sie legte den Kopf schräg und sah mich mit ihren großen blauen Augen besorgt an.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur so heiß.«

Betty stemmte die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn. »Jetzt musst du dich aber aufraffen. Wir sollen sofort in den großen Saal kommen.«

In den Festsaal? Wollte Fräulein Grimaud vor allen anderen über mich Gericht halten? Nun gut, ich würde es irgendwie überstehen. Ich hatte ja keine Wahl. Ich erhob mich und seufzte abgrundtief.

Betty hingegen schien ganz unbefangen. Sie trat vor meinen Spiegel, strich sich eine lange blonde Haarsträhne hinters Ohr, die aus ihrer Frisur gerutscht war, rückte den Kragen ihres Kleides zurecht und lächelte mir im Spiegel zu.

»Du fragst ja gar nicht, was los ist.« Ihre Augen sprühten vor Lebensfreude.

Weil ich es vermutlich genauer weiß als du, dachte ich. Aber ich wollte sie nicht in meine missliche Lage einweihen. Sie sollte gleich ehrlich überrascht sein, wenn die Rede auf das Buch kam. Deswegen sagte ich nur, wie von ihr gewünscht: »Was ist denn los?«

»Die Schneiderin ist da.« Betty drehte sich schwungvoll um die eigene Achse. »Mit unseren Unterröcken für den Sommerball. Sie kommen direkt aus Paris.«

Ich kannte Betty gut genug, um zu wissen, dass sie sich weniger über die Röcke freute als vielmehr über die Abwechslung und den Hauch von weiter Welt, der mit ihnen in unsere Schule wehte. Betty litt immer unter Fernweh, und sie verfügte über mehr Fantasie als wir anderen zusammen. Vermutlich wandelte sie in Gedanken gerade Arm in Arm mit mir über die Champs-Élysées.

Ich trat hinter sie und musterte mein blasses Gesicht im Spiegel. Schneeweißchen und Rosenrot, so nannten uns die anderen manchmal, denn Betty war mit ihren blonden Haaren und ihren blauen Augen so zart und hell, wie ich rosig und dunkel war. Dennoch hätten wir Schwestern sein können wie die beiden Mädchen im Märchen, denn wir waren beide groß und schlank, hatten unsere Haare auf dieselbe Weise aufgesteckt und trugen sogar die gleiche Halskette, ein schlichtes Silberkettchen mit einem tropfenförmigen Granat, unsere Freundschaftskette.

»Die Unterröcke?«, fragte ich ungläubig. »In der Halle?«

»Oui!« Betty strahlte vor Begeisterung. »Pariser Chic! Sie werden groß sein wie Wagenräder.«

Konnte das wirklich der Grund für das anberaumte Treffen sein? Immer noch misstrauisch, aber voll Hoffnung, folgte ich Betty auf den Korridor.

Im großen Saal herrschte dank der dunkelroten Samtvorhänge gedämpftes Licht. Fräulein von Liebowitz, die jüngste unserer Lehrerinnen, stand neben einem Stapel cremefarbener Pappschachteln und parlierte auf Französisch mit der Schneiderin. Alles sprach dafür, dass wir tatsächlich nur unsere Unterröcke bekommen sollten.

Jetzt verabschiedete Fräulein von Liebowitz sich mit einem Lächeln von der Schneiderin, stemmte die Hände in die Hüften und ließ ihren Blick über uns schweifen. Sie war nicht viel älter als wir. Hätte sie kein hochgeschlossenes schwarzes Lehrerinnenkleid getragen, hätte man sie mit ihren hellblonden Haaren und den rosigen Wangen für eine von uns halten können. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie etwas sagte. Offenbar zählte sie ihre Schäfchen. Dabei glitt ihr Blick einfach über mich hinweg, ohne hängen zu bleiben. Sie schien nichts von meinen Verfehlungen zu wissen. Ich atmete auf.

Mit einem freundlichen Lächeln begrüßte sie uns. »Sie haben es sicher schon vernommen, Ihre Jupons sind da!«

Nicken. Füßescharren. Aufgeregtes Getuschel.

Fräulein von Liebowitz öffnete eine der Schachteln und entnahm ihr ein duftiges Gebilde in zartem Rosé. »Die Röcke sind farblich genau auf Ihre Roben abgestimmt«, teilte sie uns mit. »Also achten Sie, wenn Sie Ihre Schachtel heraussuchen, nicht nur auf die Beschriftung. Kontrollieren Sie bitte zusätzlich den Farbton, damit keine Fehler passieren. Und noch etwas.« Sie schwenkte den Rock hin und her. »Fällt Ihnen etwas auf?«

»Er raschelt«, murmelte Betty neben mir.

Fräulein von Liebowitz hatte sie gehört und nickte. »Genau. Er ist aus Seidentaft und raschelt bei jeder Bewegung. Und das ist kein Zufall. Man bezeichnet dieses Geräusch mit dem französischen Wort Froufrou. Meine Damen, ab sofort werden Sie zu hören sein, wenn Sie einen Raum betreten.«

Kurz blieb es still. Sie hatte das so bedeutungsvoll gesagt, als sei es wichtig. Aber weshalb?

Betty sprach wieder einmal aus, was alle dachten. »Warum um Himmels willen sollen wir denn rascheln?«

Fräulein Grimaud hasste Bettys ständige Einwürfe, aber Fräulein von Liebowitz tadelte sie deswegen nie. Sie nickte ihr sogar wohlwollend zu. »Nun«, sagte sie. »Das Geräusch schafft schon bei Ihrer Ankunft eine verheißungsvolle Atmosphäre. Es lenkt die Aufmerksamkeit unauffällig auf die Trägerin dieses Kleidungsstücks.«

Jetzt konnte die schüchterne Johanna nicht mehr an sich halten. »Aber …«, begann sie und stockte. Sie holte tief Luft und begann noch einmal. »Aber es lenkt die Aufmerksamkeit doch auf unsere … Wäsche.«

Jemand kicherte, und Johannas Gesicht färbte sich dunkelrot.

Fräulein von Liebowitz runzelte die Stirn. Sie war eigentlich ein heller, sonniger Mensch, aber Spott und Hohn duldete sie unter ihren Schülerinnen nicht. Die kichernde Missetäterin hatte ihre Fassung jedoch schon zurückgewonnen, und Fräulein von Liebowitz konnte sie nicht mehr identifizieren.

»Der Einwand von Baroness Günzel ist durchaus berechtigt«, sagte sie und sah uns alle streng an. »Zu jedem anderen Zeitpunkt Ihres Lebens wäre ein solches Geraschel äußerst unangebracht. Doch Sie werden sehen, dass in der nächsten Zeit einiges anders ist als sonst.«

»Anders?«, fragte Johanna. Über ihrer Nasenwurzel erschien eine steile Falte.

»Sie müssen das nicht verstehen«, sagte Fräulein von Liebowitz und lächelte milde. »Nehmen Sie es einfach hin.«

Johanna senkte den Kopf. Ihr war deutlich anzusehen, wie unglücklich sie über diese Anordnung war, aber sie widersprach nicht.

Fräulein von Liebowitz betrachtete Johanna nachdenklich, dann räusperte sie sich. »Meine Damen«, sagte sie. »Ich erkläre es Ihnen kurz mit einem bildhaften Vergleich. Stellen Sie sich einfach eine wunderschöne Pralinenpackung vor. Schon beim Knistern des Papiers entsteht Appetit. Und so ist es auch mit dem Froufrou.« Sie sah uns erneut bedeutungsvoll an, sprach aber nicht weiter, als wäre damit alles gesagt.

Langsam sickerte die Bedeutung ihrer Worte in mein Bewusstsein. Hatte sie uns eben tatsächlich mit Pralinen verglichen? Aber Pralinen wurden doch aus dem raschelnden Papier gewickelt und anschließend vernascht. Was sie da andeutete, war ja geradezu anzüglich.

Und dann begriff ich: Genau so hatte sie es auch gemeint. Deswegen war ihr Blick so bedeutungsschwer. Sie wollte uns damit indirekt sagen, dass jeder Mann bei unserem Erscheinen Appetit auf … Dinge bekommen sollte, über die man nicht sprach.

Das Scharren und Hüsteln um mich herum bewies, dass auch meine Mitschülerinnen verstanden hatten, worauf Fräulein von Liebowitz anspielte. Doch bevor irgendjemand nachhaken konnte, klatschte unsere Lehrerin in die Hände.

»So, meine Damen! Keine weiteren Fragen. Jede nimmt ihre Schachtel, bringt sie auf ihr Zimmer und hängt den Jupon sorgfältig in den Schrank. Morgen werden Sie ihn tragen und zur Übung schon einmal rascheln.«

Sie wandte sich ab, und die anderen Mädchen strömten aufgeregt flüsternd und kichernd nach vorn, zu den Kartons.

Ich blieb noch kurz stehen und atmete tief durch. Keine Strafpredigt. Das war ja noch einmal gut gegangen. Und über das Pralinenrascheln wollte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sicher, ich war keine Praline, ich war ein ernst zu nehmender Mensch, und ich würde beim Ball garantiert nicht rascheln. Aber ich wollte jetzt nicht noch einen Konflikt heraufbeschwören, also schwieg ich. Ich würde den Unterrock einfach mit Natron waschen, das machte Stoffe ganz weich, und schon hatte es sich ausgeraschelt.

Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Jemand klopfte an die Tür. Martha, eins der Dienstmädchen, betrat den Raum und reichte Fräulein von Liebowitz einen Zettel. Die warf einen Blick darauf, dann wanderte ihr Blick fragend zu mir. Von den anderen unbemerkt, kam sie auf mich zu.

»Fräulein von Burow«, sagte sie leise. »Sie werden im Büro der Vorsteherin erwartet. Es liegt offenbar etwas gegen Sie vor.«

Ich zuckte zusammen. Die Vorsteherin erwartete mich? Damit hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise behelligte Fräulein Grimaud die Gräfin nicht mit unseren Vergehen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Fräulein von Liebowitz sah mich ernst an.

»Ich habe nichts von dem getan, was man mir vorwirft«, sagte ich heftig.

Sie legte ihre schmale Hand auf meinen Arm. »Dann wird Ihnen auch nichts geschehen«, entgegnete sie mit sanfter Stimme. Davon war ich jedoch nicht überzeugt.

Jetzt kam Betty auf mich zu, sie hatte ihren Karton schon gefunden. »Ist etwas passiert?«, fragte sie, als sie mein Gesicht sah. Ihr Blick wanderte zu Fräulein von Liebowitz, die mich bekümmert betrachtete.

Nur zu gern hätte ich Betty alles erzählt. Aber ich durfte sie da wirklich nicht mit hineinziehen. Allen war bekannt, wie gut wir befreundet waren, und sie würde ohnehin in Verdacht geraten, mit mir unter einer Decke zu stecken. Deswegen schüttelte ich nur den Kopf.

»Später erzähle ich dir alles«, raunte ich Betty zu. Dann eilte ich so schnell wie möglich aus dem Saal.

»Dein Jupon«, rief Betty mir noch nach. Doch ich drehte mich nicht um. Ich hatte die ungute Ahnung, dass ich keinen Unterrock für den Sommerball mehr benötigen würde.

Gräfin Cäcilie von Zeutschlitz residierte im obersten Stockwerk der Villa. Hier oben war es still wie in einer Kirche, und meine Schritte hallten unangenehm laut auf dem Marmorboden. Vor der weißen Tür mit dem goldenen Knauf hatte ich schon einige Male gestanden, um mein Zeugnis in Empfang zu nehmen. Doch für eine Strafpredigt war ich noch nie hierherzitiert worden. Kam mir das Warten deswegen so quälend lang vor? Sollte ich an die Tür klopfen? Oder würde Gräfin von Zeutschlitz mich hineinrufen?

Unruhig ging ich den Korridor auf und ab und betrachtete die Ahnengemälde derer von Zeutschlitz, die die Wände schmückten. Eine freudlose Matrone mit Dreifachkinn und Perlendiadem auf der Stirn sah ausgesprochen missbilligend auf mich herab. Eine hagere alte Gräfin mit dünnen Lippen presste ihre Bibel an sich und riss die Augen so erschrocken auf, als wäre ich der Teufel in Person. Und ein weißhaariger General mit gezwirbeltem Schnurrbart zog die buschigen Augenbrauen zusammen und starrte mich durch sein Monokel so grimmig an, dass ich mich ganz klein und unbedeutend fühlte.

Sollte ich vielleicht doch an die Tür klopfen, um auf mich aufmerksam zu machen? Ich hob die rechte Hand und ließ sie dann wieder sinken. Ich wagte es einfach nicht. Stattdessen blieb ich stehen, wartete, ließ mich von den Gemälden anstarren und starrte zurück.

gefunden

Jetzt sah die Gräfin auf. »Und genau das ist das Problem«, sagte sie leise und ruhig. »Genau deswegen müssen Sie gehen. Weil Sie das nicht verstehen. Ich kann Ihnen Benimm beibringen, Fräulein von Burow. Aber den natürlichen Anstand des Herzens müssen Sie von Haus aus haben, den kann man nicht lehren. Und darüber verfügen Sie nicht. Nun gehen Sie bitte. Sie ekeln mich an.«

Meine Wangen brannten, als hätte sie mich geohrfeigt. Auf einmal fühlte ich mich, als wäre ich wirklich ein Eitergeschwür. Aber dann sah ich die Gräfin an, wie sie da saß, steif und unbewegt, in ihrer schwarzen Robe, mit ihren sorgfältig frisierten Haaren und den dünnen, freudlosen Lippen. Und plötzlich war da ein neuer Gedanke: Sah sie nicht jetzt schon aus wie eins der verstaubten Ahnengemälde?

Ich stellte mir vor, wie ich näher trat, um auch ihr Bild ein wenig schief zu rücken. Nur eine Nuance. Und nun konnte ich sehen, wie sie wirklich war: engstirnig, eingebildet und alt. Jedes weitere Wort an sie war verschwendete Atemluft. Trotzdem musste ich mir von dieser Person keine Demütigung gefallen lassen.

Ich trat einen Schritt vor. »Ja, wir haben zum letzten Mal miteinander gesprochen«, sagte ich mit fester Stimme. »Aber Sie werden bestimmt noch von mir hören.«

Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, so zu sprechen. Ich hatte das ganz spontan gesagt. Nicht, weil ich es wirklich so meinte, sondern nur, weil es gut klang und weil ich nicht zulassen wollte, dass sich ein Mensch wie diese Gräfin wegen eines lächerlichen Buchs so über mich stellte. Aber als ich mit hocherhobenem Kinn den Raum verließ und dabei die Tränen der Wut unterdrückte, wünschte ich mir, dass es genau so sein würde. Ja, sie sollte von mir hören. Und was sie hören würde, sollte an ihr nagen. Sie sollte sich gescheitert fühlen. Und genauso alt und dumm, wie sie war.