Über das Buch

Muskeln, Tattoos, ein eisiger Blick – für alle anderen ist er ein Monster. Für mich ist er die Liebe meines Lebens.

Ich wollte nie wieder nach Heart’s Edge zurückkehren. Zu viele Erinnerungen, zu viel Schmerz, zu viele ungesagte Worte.

Aber in mein Geschäft Sweeter Things wurde eingebrochen und meine Schwester Deanna ist seitdem verschwunden. Niemand weiß wo sie ist und was mit ihr passiert ist, aber ich habe einen Verdacht und deshalb werde ich mich meiner größten Angst stellen: der Rückkehr in mein altes Leben.

Alles hier erinnert mich an Leo, den jeder nur Nine nennt. Seit Jahren hat man ihn nicht mehr gesehen, doch ich weiß, dass er noch irgendwo hier ist. Leo, mein Beschützer, meine große Liebe, mein Ein und Alles. Die anderen haben immer nur das vernarbte, stark tätowierte, unheimliche Monster gesehen. Ich jedoch kannte ihn und wusste, wie wunderbar er ist. Wir wollten uns ein gemeinsames Leben aufbauen und glücklich sein, bis alles furchtbar schief ging und ich aus Heart’s Edge floh.

Niemals wieder wollte ich zurückkehren. Aber jetzt bin ich hier und bringe mein größtes Geheimnis mit ...

Über Nicole Snow

Nicole Snow ist eine Wall Street Journal und USA Today Bestseller Autorin. Sie entdeckte ihre Liebe zum Schreiben, als sie sich in ihren Mittagspausen oder in langweiligen Büromeetings Liebesszenen ausdachte und sich in Liebesgeschichten wegträumte.

Im Mittelpunkt von Nicole Snows Büchern stehen sexy Alpha-Helden, viel Spannung und noch mehr Leidenschaft.

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Nicole Snow

No broken Beast – Nine

Übersetzt dem amerikanischen Englisch übersetzt von Beate Darius

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

I: Das ist nicht der Anfang (Clarissa)

II: Es ist das Ende (Nine)

III: Zwischen zwei Stühlen (Clarissa)

IV: Versprich’s mir mit Trüffeln (Nine)

V: Ein paar Schritte die Straße hinunter (Clarissa)

VI: Eine Reise von tausend Meilen (Nine)

VII: Beginnt mit einem ersten Schritt (Clarissa)

VIII: Ein Schritt vorwärts (Nine)

IX: Zehn Schritte rückwärts (Clarissa)

X: Mach schneller (Nine)

XI: Aus dem Takt (Clarissa)

XII: Spurensuche (Nine)

XIII: Den Weg hinauf (Clarissa)

XIV: Bis ins Grab (Nine)

XV: Sackgasse (Clarissa)

XVI: Der Umleitung folgen (Nine)

XVII: Falsch abgebogen (Clarissa)

XVIII: Neue Richtungen (Nine)

XIX: Weg von ausgetretenen Pfaden (Clarissa)

XX: Achterbahn (Nine)

XXI: Haarnadelkurve (Clarissa)

XXII: Plötzlicher Crash (Nine)

XXIII: Durch die Wälder (Clarissa)

XXIV: Der richtige Ausgang (Nine)

XXV: Endstation (Clarissa)

Epilog: Eden finden (Nine)

Impressum

I: Das ist nicht der Anfang (Clarissa)

Ich dachte immer, ein Déjà-vu würde wie in den Büchern und Filmen ablaufen.

Schwindel, man sieht alles wie durch einen Schleier, Stimmen, die leise und kaum hörbar wie durch Watte ans Ohr dringen.

Alles schwankt hin und her.

Im Fernsehen ist ein Déjà-vu dieses Slow-Motion-Ding, wie wenn du auf einem Pferdchenkarussell herumgewirbelt wirst, das knirschend zum Halten kommt, und dein Magen macht irgendwie einen Satz nach hinten.

Doch in Wirklichkeit kommt ein Déjà-vu schnell.

Hart.

Es ist ein Schlag ins Gesicht, ein Hieb beim Boxen, ein in die Tiefe stürzender Fahrstuhl.

Und im Moment trifft es mich so hart, dass es mir den Atem aus den Lungen presst, wie ich da vor den Trümmern meines Confiserie-Geschäfts stehe, auf das ich so stolz gewesen bin.

Darf ich es eigentlich so nennen? Mein Geschäft?

Meine Geschäfte sind in Spokane, wo ich die Sweeter-Things-Kette gegründet habe. Mittlerweile gibt es diese von Washington bis Seattle.

Theoretisch gehört mir auch die Filiale in Heart’s Edge, aber ich sehe sie heute das erste Mal. Abgesehen von ein paar Fotos der Immobilie, bevor meine Schwester Deanna sie kaufte, um unsere Franchisekette nach Montana zu bringen.

Ich musste die Filiale auch vorher nie sehen. Ich habe meiner kleinen Schwester vertraut, dass sie den Laden hervorragend führt.

Zumal ein Besuch bedeutet, dass ich in diese verfluchte Stadt zurückkehren muss, und ich hatte mir geschworen, nie, nie wieder nach Heart’s Edge zu kommen.

Als ich das letzte Mal hier war, stand ich vor den Scherben eines Lebens und konnte zusehen, wie alles, was ich liebte, in Flammen aufging.

In diesem Sweeter Things hier hat es nicht gebrannt.

Allerdings sind Regale umgestürzt, Süßigkeiten liegen überall im Verkaufsraum verstreut, genauso wie zerbrochene Gläser und Geschirr und Kochutensilien.

Und ich bilde mir ein, Rauch zu riechen. Bei der Erinnerung an die schlimmste Nacht meines Lebens bekomme ich wieder dieses Engegefühl in der Brust und einen Würgereiz.

»‑iss Bell? Ms. Bell. Hören Sie mir überhaupt zu?«

Ich zucke zusammen und blinzele.

Wah-wah-wah posaunt es an meinem Ohr, so ähnlich wie Miss Othmar bei den Peanuts, und ich registriere, dass Sheriff Langley die ganze Zeit durch seinen dicken Schnauzbart mit mir geredet hat. Er sieht mich fragend an, sein Notepad ungeschickt mit einer Hand festhaltend, während ich fassungslos auf das wilde Durcheinander im Laden starre.

Ich nicke, aber ich bringe es nicht fertig, meinen Blick von dem Chaos loszureißen.

Alles ist noch da, wenn auch zertrümmert. Alles bis auf meine Schwester.

Sie ist verschwunden.

Das ist auch Teil des Déjà-vus. Die Erinnerung an jene furchtbare Nacht, der Versuch, sie zu finden, sie zu retten, die große Schwester zu sein, die Deanna brauchte, und sie zu beschützen, nur dass ich damals viel jünger war.

Jetzt bin ich älter.

Alt genug, um zu erkennen (viel zu spät), dass ich hier in Heart’s Edge hätte sein sollen, um ihr zu helfen, statt wegzulaufen, während sie sich mit Dingen befasst hat, die man besser auf sich beruhen hätte lassen.

Ich presse die Finger auf meinen Mund, schließe die Augen und nehme einen zittrigen Atemzug, als mir einfällt, wie aufgeregt und fast verzweifelt sie bei unserem letzten Telefongespräch klang: »Rissa, ich glaube, ich bin da auf was gestoßen. Irgendwas Großes. Etwas, das uns hilft, endlich unser Leben zurückzubekommen und nach vorn zu schauen.«

»Lass es«, hatte ich ihr gesagt. »Unser Leben ist uns nie genommen worden, Sis. Wir leben noch, und dafür bin ich jeden Tag dankbar. Das genügt mir. Ich bin glücklich, so wie es ist.«

Sie wurde total sauer.

Bezeichnete mich als passiv, eingeschüchtert, eine Lügnerin, und meinte, sie würde –

Das war’s.

Es knackte unheilvoll in der Leitung, und ich tippte, dass sie aufgelegt hatte, weil sie mit ihrer tiefen schwesterlichen Liebe am Ende war.

Als das Telefon vierundzwanzig Stunden später das nächste Mal klingelte, war es dieser Sheriff mit den seltsam zusammengekniffenen Schweinsaugen, der mir in seinem breiten Dialekt von dem Einbruch berichtete und dass Deanna unauffindbar sei.

»Ms. Bell?« Langley senkt wieder die Stimme. »Sie sehen gar nicht gut aus. Wollen Sie nicht doch lieber –«

»Nein.« Ich atme tief aus, öffne die Augen und zwinge mich, ihn zu fokussieren. Mir schwirrt der Kopf und mein Herz ist so schwer, dass es mein gesamtes Inneres zu einem harten Knoten aus Schmerz zusammenpresst. »Ich höre zu. Entschuldigung, ich … Sind Sie sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«

»Ich hab alles abgesucht, Ma’am. Weiß sogar, wo sie den Zweitschlüssel für ihre Wohnung versteckt. Hinter diesem künstlichen Felsen – auf so was fällt doch keiner rein.« Sein trauriger Versuch eines Lächelns soll mich scheinbar beruhigen, aber er merkt selber, dass das bei mir nicht funktioniert. »Ich hab ihr Apartment durchsucht, Ms. Bell. Alles ordentlich und aufgeräumt. Wenn da jemand drin gewesen ist, war er nicht auf Beute aus. Und es macht auch nicht den Eindruck, als wäre sie überstürzt aufgebrochen. Und …«

Er räuspert sich und blickt durch das Schaufenster.

Das eingeschlagene Schaufenster, durch das die langsam kühler werdende Luft des beginnenden Herbstes ins Innere strömt. Davor, auf dem Parkplatz, steht das Auto meiner Schwester, ein alter VW-Käfer, bonbonrosa wie ein Osterei.

Um ihn herum die Glasscherben der Fenster und der eingeschlagenen Eingangstür, auf der in geschwungenen goldenen Buchstaben Sweeter Things stand, verziert mit pinken und grünen Blumen, die aussahen, als wären sie aus Fondant.

Jesus, ist das Blut?

Ist der rot schimmernde Rand dort an einem der Glassplitter Blut?

Oder ist es nur sandig rote Erde?

Ich darf mir die Frage nicht stellen.

Weil ich sonst hyperventilieren und an Ort und Stelle in Ohnmacht fallen werde, und dann nutze ich niemandem mehr.

Langley räuspert sich erneut. Er bringt die Worte nicht heraus.

Deshalb hole ich tief Luft und beende seinen Satz. »… und Sie denken, wenn sie entführt wurde, muss das hier passiert sein?«

»Äh, ja.« Er blickt angestrengt auf sein Notepad. Die Seite ist leer, aber vermutlich realisiert er gar nicht, dass mir das auffällt. »Also, um ehrlich zu sein, Ma’am. Das hier ergibt kein bisschen Sinn.«

»Ergeben sinnlose Gewalthandlungen jemals Sinn, Sheriff?«

»Nein, aber … verdammt.«

Er kneift die Augen zusammen und sieht nachdenklich hinaus in den sonnigen Nachmittag, als käme von dort irgendwoher ein Geistesblitz. Sheriff Langley zeichnet sich nicht unbedingt durch kriminalistische Expertise aus.

Auf den ersten Blick würde man diese Art Verbrechen in Heart’s Edge auch nie vermuten.

Oberflächlich betrachtet ist es Pleasantville.

Ein Kleinstadtjuwel, Kleinstadtfreundlichkeit, Kleinstadtcharme.

Schöne Aussichten.

Kuriose lokale Legenden.

Herzlichkeit und Wärme und Gastfreundlichkeit an einem abgelegenen Ort, wo niemand ein Fremder ist und jeder ein Freund.

Doch unter der Oberfläche ist es wie in Stepford.

Grässliche Geheimnisse verbergen sich hinter einem Lächeln, und jedes davon könnte dich umbringen.

Ich hoffe nur, dass Deannas Verschwinden nichts mit diesen Geheimnissen zu tun hat.

»Ich verstehe das nicht. Wieso eine Entführung?«, bekennt er schließlich, als würde sein Mund weitergeben, was sein Verstand nicht begreifen kann. Vermutlich überlegt er gerade, wie man in einem Verbrechen ermittelt, das nichts mit Kuhschubsen zu tun hat oder irgendeinem Gast im Brody’s, der betrunken mit seinem Auto heimfahren will. »Ich meine, das sieht hier nach einem klassischen Einbruchsdelikt mit Raub aus. Einbrechen, Geld aus der Kasse nehmen, verschwinden. Aber wieso sollten die Ihre Schwester mitnehmen?«

Darauf habe ich tausend Antworten, aber keine, die ich ihm geben kann.

Manche Dinge werden besser totgeschwiegen. Je weniger Menschen davon wissen, umso besser.

Bei manchen Dingen würde ich mir wünschen, ich wüsste sie nicht. Trotzdem kann ich zumindest etwas tun.

Glassplitter knacken und knirschen unter den Absätzen meiner Stiefel, als ich vorsichtig durch die kaputte Schaufensterscheibe ins Innere trete. Ich ziehe mir den Ärmel meines dünnen Strickpullis über die Hand und umrunde die umgestürzte Ladentheke. Ich möchte vermeiden, dass ich fremde Fingerabdrücke verwische, falls Langley es jemals schafft, in die Gänge zu kommen und Spuren zu sichern.

Ich gebe den Code in die Kasse ein und sie springt auf.

Ich starre auf die Geldscheinbündel und Münzen in der Schublade.

»Sie ist voll«, sage ich mit tauben Lippen. »Sie haben das Geld nicht mitgenommen.«

Sie haben nur Deanna mitgenommen.

»Mist. Hmh.« Langley kratzt mit seinem Stift durch sein schütter werdendes Haar und runzelt die Stirn. »Wie ich schon sagte … es ergibt keinen Sinn.«

»Nein«, antworte ich langsam, mein Mund wird vor Angst staubtrocken. »Nein, wirklich nicht.«

Ein langes, unbehagliches Schweigen schließt sich an.

Langley räuspert sich, stockt, gibt dann ein irritiertes raues Husten von sich, bevor er seufzt und seinen Hosenbund hochzieht. »Hören Sie, ich werde eine Ermittlungseinheit aus Missoula anfordern müssen. Wir haben einfach nicht genug Detectives hier draußen.«

Ich nicke langsam. Gut.

Missoula, das bedeutet, mehr Leute mit mehr Erfahrung bei Kriminalfällen, die über einfachen Diebstahl hinausgehen, und die vielleicht etwas tun können. »Was meinen Sie, wann die hier sein können?«

»Keine Ahnung.« Er wirkt nervös. »Haben Sie vor, in der Stadt zu bleiben?«

»Ja«, schnappe ich. Hat er etwas anderes erwartet, nachdem meine Schwester verschwunden ist?

Er kann nichts dafür, sage ich mir.

Ich weiß, warum er mich so seltsam ansieht. Unbehaglich, nervös, als könnte er nicht glauben, dass ich wieder hier bin.

In Kleinstädten vergisst man nichts.

Ich auch nicht.

In jener Nacht vor vielen Jahren war Wentworth Langley dabei, genau wie ich. Trotzdem kann ich gut auf das Mitleid verzichten, von dem er förmlich überläuft.

Alle sehen in mir das arme, traurige Mädchen, das auf tragische Weise seinen angesehenen Vater verloren hat. Die Verkörperung einer Kleinstadt-Tragödie.

Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung, was ich in dieser Nacht wirklich verloren habe.

Aus Langleys Kehle kommt ein kratziges Räuspern und er sieht weg, das Ganze ist ihm sichtlich unangenehm. »Also … wenn Sie im Hintergrund bleiben wollen und das lieber geheim halten, verlier ich darüber kein Wort. Wenn … ich meine … wenn Sie nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich selber lenken wollen, Ms. Bell.«

Mein Gott. Am liebsten wäre ich unsichtbar.

Ich hasse es, wie die Leute mich ansehen.

Ich hasse es, denn wenn sie mich ansehen, sehen sie nicht Clarissa Bell.

Sie sehen entweder meinen Vater … oder ihn.

Den Mann, dem sie an allem die Schuld geben. Das Monster. Den Außenseiter. Den Dämon von Heart’s Edge.

Und ich weiß, wenn ihr Blick leicht verständnislos wird, ihr Lächeln ein bisschen zu künstlich, dann denken sie, was für ein armes Opfer ich doch bin. Oder vielleicht, was für eine Idiotin, einen Irren zu lieben.

Aber ich bin kein Opfer.

Ich habe ihn ewig lange nicht gesehen. Wer weiß, ob er noch lebt.

Wie dem auch sei, solange ich hier bin, kann ich unserer gemeinsamen Geschichte nicht entkommen.

Wenn ich allerdings diese Stadt verlasse, bleibt mir nur noch eine einzige, süße Erinnerung, die pures Glück bedeutet.

Ein metallisches Knirschen dringt durch die Doppeltüren, die hinten in die Küche führen, und ich stöhne auf. Da ist mein süßes kleines Glück. Tatsächlich.

Ich kenne dieses Geräusch.

Es ist kein Entführer. Es ist kein neues Problem.

Es ist mein Sohn, der keine Lust hat, untätig herumzusitzen, wenn ich ihn darum bitte.

Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, denn als ich auf den Parkplatz spähe, ist da kein kurzer kastanienbrauner Haarschopf auf dem Beifahrersitz meines Autos zu sehen. Dort sollte mein Sohn eigentlich auf mich warten.

Stattdessen steht da, als ich die Küchentüren aufschiebe, ein siebenjähriger Junge mit schamrotem Gesicht, umgeben von einer Wolke aus Mehl, neben den großen Schüsseln der Küchenmaschine, die er gerade umgeworfen hat.

Anscheinend hat Deanna gerade die Ware für morgen vorbereitet, als sie gestört wurde.

Der Gedanke ist so ernüchternd, dass ich nicht einmal böse sein kann auf Zach.

Ich kann einfach nicht sauer sein auf die Menschen, die ich liebe. Schon gar nicht, wenn ich so in Panik bin wie jetzt wegen Deanna. Sie ist das einzige bisschen Familie, das ich noch habe, neben diesem hübschen – und staubigen – kleinen Jungen, der jetzt nervös auf seine Füße starrt.

»Ich weiß nicht, wonach ich zuerst fragen soll.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Will ich wissen warum oder wie?«

Zach zuckt zusammen. »Es war ein Unfall, Mom.«

»Das erklärt das Wie. Und jetzt das Warum?«

»Ich … ich wollte bloß sehen, ob da Zucker oder Mehl drin ist!«, bekennt er kleinlaut, und ich seufze.

Wie ich ihn kenne, hat er darauf spekuliert, dass in einer der Schüsseln irgendwas Süßes ist, weil er eine große Naschkatze ist.

Das hat er von seinem Vater.

Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Doch ich schiebe den Gedanken beiseite, bevor die Erinnerung an jene idyllischen Nächte wieder in mein Bewusstsein dringt und mich mit der Frage quält, was hätte sein können.

In meinem Leben ist kein Platz für was-wäre-gewesen-wenn.

Nur für die Gegenwart.

In diesem Leben habe ich mich ganz allein eingerichtet. Mühsam, Schritt für Schritt, alles für meinen Sohn, den ich mehr liebe als alles andere.

Seufzend strecke ich eine Hand aus, um ihn an mich zu ziehen. Ich wuschle ihm durchs Haar, und es rieselt Mehl auf seine bereits staubige Jacke. »Komm, ZZ-Boy«, sage ich. »Du brauchst frische Sachen. Hier werden wir nicht mehr gebraucht.«

***

Ich erkenne den Mann hinter dem Empfangstresen des Charming Inn fast nicht wieder.

Dann fällt es mir ein. Es ist Warren Ford. Vor gefühlt einem halben Leben, als wir Kinder waren, haben wir miteinander gespielt.

Ich erinnere mich, dass er größer war als die anderen Jungen, und wenn mir jemand blöd kam, war Warren da und stellte sich wie eine schützende Wand vor mich.

Ich weiß auch noch, wie er mit Blake und dessen Bruder Holt spielte und kämpfte, und mit diesem sonderbaren Jungen, den wir alle Tiger nannten. Gewöhnlich sahen Deedee und ich bloß lachend zu und flochten Blumenkränze. Warrens Schwester Jenna sprang zwischen uns und den Jungen herum, bis sie wie immer ganz schmutzig war, mit Blumen im Haar und Löchern in ihrer Jeans.

Wie er da mit über dreißig und seinen eins neunzig vor mir steht, erinnert er mich an meine Kindheit, an Jungen mit schmutzverkrusteten Knien und verschmitztem Grinsen, mit Sommersprossen und zerzausten dunklen Haaren.

In meinen Erinnerungen ist er nicht der Besitzer des Charming Inn, es ist einfach … verrückt.

Wie seltsam, ihn hier zu sehen, und nicht Ms. Wilma Ford, seine Grandma. Stattdessen ist eine kleine, kurvige Frau mit grünen Augen bei ihm, vermutlich seine Ehefrau. Sie schmiegt sich an seine Seite, ein kleiner Junge mit strahlend blauen Augen und einem gurgelnden Lachen zappelt auf seiner Hüfte.

Als ich Warren anschaue, sehe ich wieder den schlaksigen Jungen vor mir, seine Hände und Füße zu groß für seinen Körper.

Doch der bärtige Mann, der meinen Blick erwidert, hat bestimmt einiges erlebt, den Narben und Tattoos auf seinem Körper nach zu urteilen. Dunkle Schatten liegen unter seinen klaren Augen.

Einiges, was ich verpasst habe, weil ich von zu Hause und all meinen alten Freunden weggelaufen bin. Es zeigt nur, wie viel Zeit vergangen ist.

Ich sehe mich mit großen Augen in der Lobby des Charming Inn um. Die weitläufige Hotelanlage ist eigentlich noch wie in meiner Erinnerung, ein Mix aus Blockhäusern und komfortableren Cottages, die das große Haupthaus im Plantagenstil umgeben.

Mein mehlbestaubter Sohn versteckt sich hinter meinem Rücken, und Warren starrt mich wahrscheinlich genauso verblüfft an wie ich ihn.

Dann lächelt er – zerknirscht, aber warmherzig, mit einem Schulterzucken, als wollte er sagen: Was kannst du dafür?

Ich zucke ebenfalls die Schultern und lächele genauso wehmütig zurück. Nicht viel.

»Hey, Rissa Bell«, murmelt er. »Willkommen zu Hause.«

Die Frau – es muss Haley sein, ich habe mit ihr telefoniert auf der hektischen Fahrt hierher – strahlt. Und nun erkenne ich ihre freundliche Stimme wieder. »Oh! Clarissa Bell, richtig? Möchten Sie gleich einchecken?« Lächelnd lehnt sie sich zur Seite, um an mir vorbei einen Blick auf Zach zu werfen. »Ich glaube, da braucht jemand eine Dusche.«

»Entschuldigung«, antworte ich nach einem kurzen Blick auf meinen Jungen beschämt. »Geh und warte auf der Veranda, Schatz. Du verteilst Mehl auf dem Teppich.«

»Ach, machen Sie sich deswegen keinen Kopf«, sagt Haley. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst Warren auf die Wange. Dann löst sie sich von ihm und angelt nach dem Schlüsselring an ihrem Gürtel. »Ich bring Sie eben zu Ihrem Blockhaus. Es ist eins von den neueren Häusern im Wald, und ich möchte nicht, dass Sie sich verlaufen. Die Bauarbeiter haben die Wege noch nicht richtig planiert, deshalb ist es mehr ein …« Sie rümpft die Nase. »Es ist nicht mal ein Trampelpfad. Es ist eine Zumutung. Aber wenn Sie sich erst mal orientiert haben, finden Sie es bestimmt wieder, versprochen.«

»Danke«, sage ich leise und folge ihr mit Zach nach draußen.

Ich spüre förmlich, dass Warren mich neugierig mustert. Vermutlich fragt er sich, was zum Teufel mich zurück nach Heart’s Edge geführt hat.

Er war in jener Nacht nicht hier. Vom Hörensagen weiß ich, dass er diese Stadt jahrelang selber gemieden hat, nach Jennas Tod im Ausland.

Und ich bin sicher, dass er auch einiges über mich gehört hat.

Die ganzen Gerüchte, die Lügen, die Dinge, die vielleicht wahr sind, was ich aber nicht wissen will, weil ich es nicht ertragen könnte.

Allerdings gibt es auch Dinge, die er nicht wissen kann.

Dinge, die ich nicht beantworten werde, sollte er es je darauf anlegen, ein nettes Pläuschchen mit einer Sandkastenfreundin zu halten.

Dinge, die ich nicht beantworten kann, wenn die einzige Person, die das womöglich könnte, ein Geist ist, ein dunkler Schatten, der in dieser Stadt herumspukt.

Ich habe gehört, dass sie ihn jetzt Nine nennen. Die Legende in den Bergen. Ein Monster, das so berüchtigt ist, dass es in den Erzählungen fast übernatürliche Kräfte angedichtet bekommt.

Für mich ist er einfach Leo.

Das Blockhaus, das Haley uns zeigt, ist brandneu. Es steht abseits von den anderen auf dem Hang, der zu der Klippe hinunterführt. Sie ist herzförmig und hat Heart’s Edge seinen Namen gegeben. Am Telefon sprach sie von ruhiger gelegenen, neu gebauten Häuschen mit Privatsphäre. Ich hatte erwähnt, dass ich lieber für mich bleiben und nicht auffallen wollte.

Von daher kommt es mir sehr gelegen, dass eine schützende Wand aus Bäumen das rustikale, aber moderne Blockhaus vom übrigen Gelände abschirmt. Durch die dicken Stämme kann ich die weißen Säulen des Haupthauses kaum sehen.

Wir nehmen den Weg über den bewaldeten Hang, der sich tiefer in die Berge und kilometerweit durch sattgrüne, unberührte Wälder windet. Deshalb riecht die Luft immer exakt so wie jetzt. Würzig und frisch nach Kiefern, egal um welche Jahreszeit.

Die anderen Blockhäuser sind von der Holzterrasse aus, die unseres umgibt, nicht zu sehen.

Perfekt.

Wir gehören nicht hierher. Ich gehöre nicht hierher. Aber hier kann man es eine Zeit lang aushalten.

Ich habe bestimmt nicht vor, so lange zu bleiben, dass die Leute auf dumme Ideen kommen und anfangen, mich auf Dauer in dieses Bilderbuch von Landschaft zu malen.

Als ob ich noch einmal in Heart’s Edge leben könnte.

Als würde ich auch nur eine Minute länger als nötig in dieser Stadt verbringen.

Freiwillig bestimmt nicht, aber in diesem Fall ist Deanna in Gefahr und ich muss ihr helfen.

***

Es dauert eine Stunde, Zach wieder sauber zu bekommen, denn das Duschwasser macht aus dem Mehl in seinen Haaren einen klumpigen Teig.

Er schüttelt sich wie ein Welpe, während ich seinen Kopf mit Shampoo bearbeite, schrubbe und ausspüle, bis er kein menschlicher Keks mehr ist. Typisch mein süßer Junge, lacht er und windet sich. Ich drücke ihn fest und hauche Küsschen in sein nasses Haar, dann scheuche ich ihn, dass er sich fertigmachen und seinen Schlafanzug anziehen soll, obwohl es fürs Abendessen noch reichlich früh ist.

Ich lasse ihn glücklich hingefläzt auf der Couch zurück, wo er Fernsehen guckt und dabei die Angebote der Takeaway-Restaurants durchblättert. Mir ist heute Abend nicht nach einem Einkauf im Supermarkt.

Vielleicht auch an keinem anderen Abend.

Einkaufen fühlt sich zu sehr wie Wiedereingewöhnung an.

Wie Zeit totschlagen, zumal ich nur warten und hoffen kann, dass die Ermittler aus Missoula bald eintreffen. Dass sie am Tatort Spuren finden werden, die zu Deanna führen.

Gott, ich hasse Warten.

Die Erfolgsstatistik bei Entführungsfällen hilft auch nicht wirklich.

Entführungsopfer kehren nur im Fall von klaren Motiven zurück. Bei Lösegeldforderungen zum Beispiel, wenn die Entführer konkrete Zusagen haben wollen, wenn sie Forderungen stellen und nicht auf Funkstille schalten.

Ich schlucke und spüre einen Kloß im Hals. Das Beste, um jemanden zum Schweigen zu bringen, ist, sicherzustellen, dass derjenige nie wieder einen Muckser von sich gibt. Und nach dem, was passiert ist, um mich aus Heart’s Edge zu vertreiben …

Wenn sie hier wäre, hätte ich nicht übel Lust, ihr eine zu knallen. Denn wenn Deanna in alten Geschichten herumgeschnüffelt hat, könnten unsere Freunde bei Galentron letztlich beschlossen haben, dass sie eine tickende Zeitbombe ist.

Meine Augen brennen. Ich versuche, nicht in Panik zu geraten.

Mit einer Ausrede verlasse ich den Wohnraum und flüchte in die Küche, bevor Zach mich am Rande eines Nervenzusammenbruchs erlebt.

Ich darf meinen Sohn nicht diesem Mist aussetzen.

Er ist hochsensibel und schnappt schnell etwas auf, das ihn belasten könnte.

Ich konnte ihn nicht in Spokane lassen, aber verdammt, diese Dunkelheit hier wird ihm nichts anhaben.

Ich habe darin versagt, Deanna zu beschützen … aber ich werde meinen süßen, aufgeweckten Jungen beschützen, in seiner ganzen lieben, naiven Unschuld.

Seufzend beschließe ich, mit dem Auspacken anzufangen, um mich abzulenken. Doch als ich den Koffer öffne, fällt mir ein kleines schwarzes Kästchen in die Hände.

Tief durchatmen. Ich breche doch nicht zusammen wegen diesem blöden Ding.

Was habe ich mir dabei gedacht, es einzupacken? Es hierher zu bringen?

Es ist der Stress, rede ich mir ein und sinke auf den Bettrand. Meine Arme fest gegen meinen Bauch gepresst, meinen Kopf zwischen meine Schultern gezogen, rolle ich mich zusammen.

Stress, Verwirrung, Angst um Deanna und all die Emotionen von Wut und Einsamkeit, verpackt in dieser staubigen, kleinen schwarzen Samtschachtel, die so alt ist, dass der weiche Überzug stellenweise abgewetzt ist.

Ich bringe es nicht einmal fertig, sie zu öffnen, den silbernen Ring mit dem funkelnden Diamanten zu betrachten und mich an das Versprechen zu erinnern, für das er steht. Ein Versprechen, das gebrochen wurde.

Leise fluchend kämpfe ich die Tränen zurück, mit der ganzen eigensinnigen Härte, die ich als alleinerziehende Mutter von einem kleinen Jungen in sieben Jahren aufgebaut habe.

Dann schnappe ich mir die Schachtel und stopfe sie zurück in den Koffer, bloß weg mit dem Teil.

Aus den Augen, aus dem Sinn? Ich wünschte, es wäre so.

***

Acht Jahre zuvor

Ich frage mich, ob es sich so anfühlt, wenn man stirbt.

In meinem ganzen Körper explodiert der Schmerz, ich schmecke mein eigenes Blut, metallisch in meinem Mund.

Und Leo hält mich fest, als ich mich nicht mehr aufrecht halten kann, als meine sämtlichen Kräfte schwinden und aus mir herausbluten, überall auf den Boden, doch er umklammert mich, als könnte er das Leben in mir festhalten, wenn er mich nur tief genug liebt.

»Es wird alles gut«, knurrt er. Er starrt auf mich herunter mit so viel Zuversicht, Verzweiflung und einer Million widersprüchlicher Emotionen in seinen Augen.

Seine Augen haben eine Farbe, wie ich sie noch nie gesehen habe, auch das liebe ich an ihm, wie so vieles andere.

Eigentlich sind sie dunkel, fast wie Mokka. Aber wenn das Licht in seine fällt, dann haben sie violette Einsprengsel, durchschimmernd und strahlend wie ein Amethyst in einer mondlosen Nacht.

Diese Augen halten mich fest wie rettende Anker. Seine Umarmung hält mich am Leben.

Ich schätze, wenn er mich nicht festhalten würde, würde ich ohnmächtig werden und vielleicht nie wieder aufwachen.

Ein Teil von mir ist sich unsicher, ob mir das nicht lieber wäre.

Jetzt, wo mein Vater tot auf dem Boden liegt, keine zwei Meter entfernt, seine Füße in diesem unnatürlichen Winkel abgeknickt. Und das Blut an Leos Händen ist nur zum Teil von mir.

Das Blut des anderen … hat Leos Wange benetzt, sein Hemd, die Hände, mit denen er mich sanft, aber unnachgiebig festhält. Er presst seine Stirn an meine, Entschlossenheit spiegelt sich in seinem Blick, in der harten Linie seines Kinns.

Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.

Noch vor drei Minuten waren die Hände meines Vaters um meinen Hals gelegt, schüttelten mich, bis ich keine Luft mehr bekam und weiß glühende Sterne vor meinen Augen tanzten, und ich begriff, dass der Mann, der mein gesamtes Leben kontrolliert hatte, dabei war, es zu beenden.

Mein Kopf dröhnt noch von der Vase, die er mir gegen den Schädel geschleudert hat.

Aber das Schlimmste ist, Leo muss verschwinden.

Ich weiß es schon, bevor er mein Haar zurückstreicht und mich an seine Brust zieht.

»Halte durch, Rissa. Für mich«, flüstert er, seine sonst energische Stimme weich, bittend.

Ich versuche ein Nicken. Selbst jetzt, zerrissen zwischen Schuldgefühlen und Hilfsbereitschaft, ist er ausnehmend attraktiv. Sein Gesicht ist von nahezu perfekter Symmetrie, seine Haare formen eine dunkle Welle über seiner Stirn, alles an ihm ist ungebändigte Kraft. »Ich liebe dich – ich werde dich immer lieben. Halte durch. Warte auf mich. Ich muss diese Scheiße beenden. Ich muss …«

»N-nein.« Ich bringe das Wort mühsam heraus. Ich bin geschwächt, aber ich schaffe es, eine Hand zu heben und zittrig nach ihm zu greifen. »Es ist … d-das Risiko … es ist zu hoch. L-Leo, wenn … wenn sie herausfinden … werden sie … sie … sie werden …«

Ich kann den Satz nicht beenden. Das muss ich auch nicht. Ich denke, er weiß es.

Sein Lächeln ist traurig, aber auch zuversichtlich, und ich begreife, dass er sein Schicksal bereits akzeptiert hat.

Das ist eine Sache, die ich an ihm liebe und wofür ich ihn gleichzeitig hasse.

Er ist ein Ehrenmann.

So anständig, dass er sich selber opfern wird, wenn er mich damit retten kann, mich und seine Stadt.

Er umschließt mit seiner großen, rauen Hand meine Wange. Er ist wie eine wilde Kreatur, mein zärtlicher Riese, voll tiefer Leidenschaft, und ich hätte nie gedacht, dass er jemandem etwas antun könnte. Auch wenn Security ein Teil seines Jobs ist.

Aber nach heute Abend …

Er sieht zu der Hausangestellten hinter mir, die ihm hilft, mich zu stützen, seine Augen pures schwarz-violettes Feuer. »Bring sie aus der Stadt«, sagt er. »Weg von Heart’s Edge. Du am besten auch. Haut ab, so weit weg wie möglich.«

»Leo, Leo, komm mit uns …«, wimmere ich.

Sein leiser Protest spült über mich hinweg, während er sich langsam von mir löst. Doch ich werde nie, niemals seine letzten Worte vergessen, als er mich noch einmal fest umarmt.

»Ich bin bereits verurteilt«, sagt er. »Bin bereits ein Gefangener. Lass mich noch eine letzte Sache richtigstellen, bevor sie mich finden und einsperren. Ich muss das tun, Rissa. Für diese Stadt. Aber wenn du auf mich wartest, werde ich zurückkommen. Verdammt, mir wird schon irgendwas einfallen, das schwöre ich dir. Ich werde immer zu dir zurückkehren, Kleines, selbst wenn ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss.«

Ich versuche mich an ihn zu klammern mit meinen blutbeschmierten, zittrigen Fingern.

Aber er entzieht sich mir, ist bereits verschwunden, als die Hausangestellte noch gestikuliert und leise mahnt, dass er sich beeilen soll, als ich die Sekretärin meines Vaters in der Halle höre und die Sirenen des eintreffenden Krankenwagens, der mein Leben retten soll. Für meinen Vater ist es schon zu spät.

Und es ist zu spät, um Leo zu retten.

Ganz egal, ob ich seinen Versprechen glaube …

Er verlässt mich jetzt.

In diesem Moment habe ich keinen Schimmer, was kommen wird, aber ich fühle es. Tief in meinem schaudernden, schmerzenden Inneren, sobald die süße Glut seiner schützenden Umarmung nachlässt.

Ich werde Leo Regis nie wiedersehen.

***

Gegenwart

»Mom?«

Ich reiße den Kopf herum, merke, dass ich geistesabwesend auf das Innenfutter des Koffers gestarrt habe, meine Hand mit der Schmuckschachtel immer noch in das Seitenfach geschoben. Der weiche Samt schmiegt sich an meine Handfläche. Ich nehme einen gepressten Atemzug, mein Blick klärt sich wieder.

Zach steht im Türrahmen, den Stapel Speisekarten in der Hand, die in einer Schublade der kleinen Küche lagen.

Ich setze ein Lächeln auf und strecke die Hände nach ihm aus.

»Was liegt an, ZZ Top? Hast du was gefunden?«

Er rümpft die Nase.

»Nenn mich nicht so, Mommy«, protestiert er halb im Spaß. Er hüpft zu mir, kniet sich neben mich und kuschelt sich in meine Arme. »Können wir heute Abend Pizza bestellen?«

»Klar. Aber ohne Oliven.«

Er streckt mir die Zunge raus. »Oliven sind das Allerbeste.«

»Deshalb bekommst du deine eigene Pizza, und bei meiner verzichte ich auf das Allerbeste.« Ich nehme die oberste Speisekarte von dem Stapel, überfliege die Preise und klappe sie auf, wegen der Telefonnummer.

Zach beobachtet mich interessiert. Er hat große, wissbegierige Augen. Irgendwann, wenn er älter ist, werden sie in sein Gesicht passen, aber jetzt hat er noch mehr Ähnlichkeit mit einem Hundewelpen. Allerdings habe ich noch keinen Welpen gesehen, der seine ungewöhnliche Augenfarbe gehabt hätte.

Mokka in der Dunkelheit.

Ein schimmernder Amethyst im Licht.

Ein Erbe, von dem er nie erfahren wird.

Ich bin bloß froh, dass Zach meistens eine Brille trägt und seine Augenfarbe deswegen nicht weiter auffällt. Wenn irgendjemand in Heart’s Edge jedoch genauer hinsehen würde … lieber Gott, was da für Kommentare kämen.

Nicht ausgeschlossen, dass ein paar verärgerte Leute die Sünden seines Vaters auch noch meinem süßen Jungen anhängen würden.

Als könnte er meine Gedanken lesen, legt er seine kleine Hand auf meinen Arm und murmelt: »Mom? Warum bist du so traurig? Ist es wegen Tante Deanna?«

Ich drücke die Wirbelsäule durch. Ich will nicht, dass er etwas merkt, denn das macht ihn nur traurig.

Stattdessen zaubere ich ein mütterliches Lächeln auf meine Lippen, das tief aus meinem Herzen kommt. Das passiert, wenn jemand dich Mom nennt.

»Ja«, antworte ich weich. »Ich mach mir ein bisschen Gedanken wegen ihr, aber hab keine Sorge. Es dauert bestimmt nicht lange, bis wir sie finden, und alles wird gut. Bald kommt ein ganzes Team von Profis hierher, die uns dabei unterstützen werden.«

»Ich weiß«, sagt er. Ich höre eine Überzeugung in seiner Stimme, wie sie nur Kinder haben. »Aber, Mom, wenn doch alles wieder gut wird … wieso bist du dann so traurig? Das hier ist doch dein Zuhause, oder?«

Ich zucke zusammen. Diesmal kann ich es nicht vor ihm verbergen. Er seufzt leise, fast zerknirscht, und kuschelt sich enger an mich.

Heart’s Edge ist seit nahezu einem verfluchten Jahrzehnt nicht mehr mein Zuhause.

Ich habe keine Ahnung, was er mitbekommen hat, woher er weiß, dass es vor langer Zeit mal meine Heimat war. Vielleicht habe ich am Telefon irgendeinen kleinen Hinweis gegenüber Deedee fallen lassen.

Zach ist ein aufgeweckter Junge. Unglaublich schnell von Begriff. Mir war bis jetzt nicht klar, dass er das herausbekommen hat.

Es ist nicht bloß ein Besuch in einer verschrobenen kleinen Stadt in den Bergen, in der seine Tante lebt.

Es ist eine Heimkehr, die ich nie wollte.

Ich küsse ihn auf die Stirn, lege meinen Arm um seine Schultern und drücke ihn fest. »Es ist nicht mein Zuhause, mein Kleiner«, murmele ich. »Trotzdem können wir versuchen, hier ein bisschen Spaß zu haben, sobald deine Tante Deanna zurück ist.«

Und wir werden sie finden, rede ich mir gut zu. Lebend. Galentron hat mir bereits zu viel genommen.

Es wird sich nicht auch noch meine Schwester einverleiben.

Ich schwöre, ich lasse mir meine glückliche kleine Familie von ihnen nicht zerstören.

II: Es ist das Ende (Nine)

Heart’s Edge hat einen Puls.

Und ich weiß, wann dieser Puls beschleunigt. Als hätte ich meine Finger permanent auf die Halsschlagader der Stadt gelegt und würde ihr Herzrasen fühlen. Heute Abend befeuern ihn Adrenalin und Angst und aufgestaute Anspannung.

Es ist etwas passiert, und ich kann es beinahe in der Luft riechen, wie Ozon.

Der Tod kommt zurück in diese Stadt.

Er schleicht durch die Straßen, auf der Suche nach einem ahnungslosen Opfer. Oder hat er schon eins gefunden?

Ich sitze auf einem kleinen Felsvorsprung, von dem aus ich die funkelnden Lichter der Stadt überblicken kann, geduckt in den Schatten der Bäume. Es ist nicht so, als würde jemand hochschauen und könnte mich hier entdecken. Das passiert nie.

Von morgens bis abends geht dieser Ort stoisch seinen Geschäften nach, ist sich nie bewusst, dass ich immer hier bin. Permanent beobachte. Warte.

Auf was ich warte, weiß ich verflucht noch mal selbst nicht mehr.

Aber ich denke, ein Teil davon ist hier.

Durch die zunehmende Dunkelheit beobachte ich Sheriff Wentworth Langleys schemenhafte Silhouette. Er stapft durch die Trümmer von Deanna Bells Candy Store und zieht hummelgelbes Absperrband um das Gebäude und den Parkplatz.

Er ist die einzige Person am Tatort.

Die Verstärkung aus Missoula und Spokane ist noch nicht eingetroffen. Ich weiß verdammt gut, dass Langley und seine Hilfssheriffs nichts auf die Reihe bekommen, egal welcher böse Wind in Heart’s Edge weht – doch die gute Nachricht ist, sie wissen es auch.

Aber eigentlich dürfte er sich nicht in seinen Streifenwagen setzen und wegfahren.

Irgendwer – Hawthorne oder Sanchez, einer von seinen Typen – müsste heute Abend auf Streife sein.

Also warte ich.

Ich warte, bis es richtig dunkel ist und mich niemand bemerken wird. Ich warte auch, um zu sehen, ob da unten nicht noch ein weiteres Paar Scheinwerfer von einem der wenigen städtischen Polizeiautos aufblenden wird.

Nichts.

Irgendwas stimmt da nicht.

In Anbetracht der Tatsache, dass das Sweeter Things erst seit drei Wochen geöffnet hat und wer den Laden führt … fuck.

Ja, ich mach mir Sorgen.

Ich bin bloß froh, dass sie nicht hier ist, um bei dem ganzen Mist zwischen die Fronten zu geraten. Das ist mein Job.

Sobald ich sicher bin, dass keiner kommt, geht es los. Ich kontrolliere kurz, ob ich meine Kapuze weit genug ins Gesicht gezogen habe, um es zu verdecken.

Dann nehme ich den kürzesten Weg, indem ich mich fallen lasse und mit kurzen Sprüngen den Hang hinuntersetze. Dabei halte ich mich an Wurzeln und Steinen fest. Ich kenne diese Berge und Wälder und Klippen in- und auswendig. Und finde meinen Weg, selbst bei Nacht.

Nach hier draußen passe ich besser als in die Stadt.

Nicht zuletzt weil ich mich wie ein nachtaktives Tier verhalte, das durch die Dunkelheit streift.

Verflucht, vielleicht bin ich ein Tier, nach der ganzen Zeit. Ein wildes Biest, angezogen von der schwachen Witterung von Blut, die in der Luft liegt.

Am Fuß des Hangs lande ich in einem Dickicht aus Sträuchern und ducke mich, während ein Lkw über den Highway rauscht und die grellen Scheinwerfer hinter der Kreuzung zum Brody’s abblenden. Wahrscheinlich einer der üblichen Übernachtungsgäste des Pubs.

In dem Moment, wo das Licht verschwindet, springe ich über die Leitplanke und sprinte über die Straße zum Sweeter Things. Ich laufe entlang der Gebäudewand, um nicht gesehen zu werden. Dieses Risiko darf ich nicht eingehen. Direkt vor dem Absperrband bleibe ich stehen.

Klar, ein paar Leute haben mich über die Jahre dann und wann mal gesehen. Aber solange es nur ein verschwindend kurzes Auftauchen ist, können sie mich wie eine urbane Legende behandeln. Der verrückte Mythos, das Monster aus den Wäldern, voller Narben und obskurer Tattoos.

Doch wenn mich einer lange genug sieht, um mich zu erkennen, und es an die Behörden weitergibt, dann bin ich am Arsch. Dann buchten sie mich ein.

Verdammt, ich gehe nicht wieder ins Gefängnis.

Nie wieder.

Wenn ich ein Biest bin, dann keins, das sich einsperren lässt.

Durch die Dunkelheit begutachte ich den Schaden. Es sieht so aus, als wäre das Ladenfenster eingeschlagen worden, Glassplitter glitzern wie ein Spiegelbild des Himmels, helle Punkte auf Schwarz. Ein pinker VW-Käfer – es ist zweifellos Deanna Bells Auto – ist ebenfalls von Absperrband umgeben, das Fenster auf der Beifahrerseite kaputt.

Scheiße.

Ich weiß, dass Deanna allein lebt, seit sie wieder hierhergezogen ist und ein Apartment gemietet hat. Viel anderes blieb ihr nicht, da das alte Herrenhaus – das ihr Vater bewohnte – in das örtliche Heart’s Edge History Museum umfunktioniert wurde.

Außer ein paar Aushilfen und den Lieferanten aus Spokane schmeißt sie den Laden allein.

Wieso das eingeschlagene Fenster auf der Beifahrerseite?

Falls es jemand auf Deanna abgesehen hatte, hätte er das auf der Fahrerseite zertrümmert.

Es sei denn, es war reine Schikane. Blinder, primitiver Vandalismus.

Durch die eingeschlagene Schaufensterscheibe betrachte ich das Chaos und überlege.

Wer immer hier war, hatte es darauf angelegt, Deanna Angst zu machen. Sie davon abgehalten, überhaupt auf die Idee zu kommen, zu ihrem Auto zu stürzen und zu fliehen.

Der oder die Täter haben sie hier abgefangen und ein anderes Fahrzeug benutzt. Das ist die Erklärung, warum ihr Wagen noch auf dem Parkplatz steht. Gänsehaut läuft mir eiskalt über den Rücken, dieses Gefühl, das manche Vorahnung nennen, das ich jedoch als Instinkt bezeichne.

Die einzige andere logische Erklärung ist, dass jemand in den Laden eingebrochen ist und Deanna flüchtete. Dann hat sie sich im Wald verlaufen.

Zwischen meine Brauen schiebt sich eine nachdenkliche Falte.

Es gibt eine letzte Option, aber ich weiß schon jetzt, dass Langley und seine auswärtigen Ermittlerteams nicht in einem oder zwei Tagen mit Deannas Leiche auftauchen werden, ein Opfer zufälliger Gewalt.

Bullshit. In Heart’s Edge wird nichts dem Zufall überlassen.

Wenn jemand stirbt, gibt es dafür einen Grund.

Deanna ist nicht tot, sage ich mir entschlossen.

Vielleicht, weil ich es nicht aushalten könnte, wenn es anders wäre.

Für mich ist sie die kleine Schwester, die ich nie hatte, und nachdem ich Clarissa nicht beschützen konnte …

Nein, verdammt. Ich halte die Vorstellung nicht aus, dass das Mädchen kaltblütig ermordet worden sein könnte während meiner Observation.

Ich trage für Deanna die Verantwortung.

Ich trage für die ganze Stadt die Verantwortung.

Auch wenn ich jahrelang nicht persönlich mit ihr gesprochen habe, kenne ich Deanna Bell. Ich weiß, wie gut sie über Heart’s Edge Bescheid weiß und über seine dunklen Geheimnisse.

Sie ist hier aufgewachsen, genau wie ich.

So wie Warren und Blake und Holt und Jenna.

Und wie Clarissa.

Deanna verläuft sich eher auf dem Weg von ihrem Wohnzimmer in ihre Küche, denn sie kennt diese Wälder fast so gut wie ich. Klar, sie hat jahrelang in Spokane gewohnt, trotzdem - die Orte, wo du in deiner Kindheit gespielt hast, vergisst du nie.

Demnach, wenn sie nicht hier ist, nicht zu Hause, nicht tot, liegt dann nicht klar auf der Hand, was passiert ist?

Sie wurde entführt.

Vermutlich als Geisel genommen von jemandem, der das schwer bereuen wird.

Das Geschäft gibt mir möglicherweise Antworten. Ein verborgener Hinweis, eine kodierte Botschaft, weitere Einzelheiten, versteckt in Häppchen von Indizien, und Langley ist vermutlich nicht gut genug, um daran zu knabbern.

Ich bewege mich unauffällig zur Rückseite des Ladens. Die Front ist zu gut einsehbar, und ein Teil von mir ist noch immer schwer auf Recht und Ordnung programmiert, also darf ich nicht hinter dieses knallgelbe Absperrband.

Trotzdem finde ich es voll okay, Schlösser zu knacken.

Ich greife in meine Jackentasche und wühle darin herum, bis ich etwas finde, das ich benutzen kann. Es ist eine Ahle, lang und beinahe nadelspitz, wie man sie zum Bearbeiten von Holz verwendet, aber das muss reichen – obwohl ich stinksauer wäre, wenn sie sich verbiegen würde.

An solche Werkzeuge ist schwer dranzukommen, wenn man von wenig Geld leben muss und im Umkreis von fünfzig Meilen in keinen einzigen Laden gehen kann.

Ich bekomme keine Gelegenheit, es auszuprobieren. Ein plötzliches Geräusch von der anderen Seite des Gebäudes sorgt dafür, dass ich mich in den tiefsten Schatten der Hausmauer flüchte.

Ist das …?

Ich höre, wie jemand kotzt.

Laut, stöhnend und definitiv nicht glücklich mit seinem Mageninhalt, nach dem Fluchen zu urteilen, das vom Ende der Gasse zu mir dringt.

Ich sollte gehen.

Mich wieder unsichtbar machen und diesen Mist der Polizei überlassen. Missoula wird irgendwen Kompetentes schicken. Sie werden der Sache auf den Grund gehen. Ich schätze, in einer Woche ist Deanna wieder da, und die ganze Geschichte ist bis auf eine Schlagzeile mit kurzem Artikel in der Zeitung vergessen.

Wer zum Henker … Es hört sich an, als würde jemand würgen. Oder husten.

Ein kratziges Seufzen kommt aus meiner Lunge. Scheiße, was ich alles für diese Stadt tue …

Egal. Ich werde mich vergewissern, dass sie okay sind und dann verschwinde ich.

Ich umrunde die Hausecke und bin dabei ziemlich laut, damit sie mich kommen hören und keinen Schreck bekommen.

Als ich am Ende der Gasse stehen bleibe und merke, wer es ist, bin ich mir unsicher, wer mehr zurückschreckt.

Ich ‑ oder Blakes sechzehnjährige Tochter.

Andrea Silverton.

Ich rieche schwarz gebrannten Schnaps an ihr. Stark. Überwältigend. Beißend in meiner Nase.

Es ist eindeutig dieser Fusel, den ein paar von den örtlichen Kids brennen, und sie glauben, ihre Eltern hätten davon keine Ahnung.

Sie ist nicht alt genug für Alkohol.

Ich schätze jedoch, dass sie das soeben kapiert, nach ihrer Schweinerei auf der Straße und wie sie sich angeekelt über den Mund wischt. Sie beäugt mich misstrauisch unter den langen Zotteln ihrer provokant regenbogenbunt gefärbten Mähne hindurch. Die andere Seite ihres Kopfes ist kahlgeschoren.

»Geh weg, du perverser Wichser«, lallt sie.

Automatisch senke ich den Kopf. Sehe ich echt so widerwärtig aus?

Muss ich wohl, denn wenn die Leute dem berüchtigten Monster von Heart’s Edge begegnen, brechen sie meistens in wildes Geschrei aus.

Sie ist schlicht und einfach betrunken, doch das hält sie nicht davon ab, ihre Schlüssel aus der Tasche ihrer flickenbesetzten Jeans zu fummeln und sie mit ihren schmalen Fingern zu umklammern. Sie zielt damit nach mir, als wäre ich eine lästige Katze. Dabei schwankt sie einen Schritt zurück. Ihr Atem bildet kleine Wölkchen in der kühlen Abendluft. »Ich hab k-kein sch… G…eld.«

Ich halte beide Hände hoch.

»Ich will kein Geld von dir, Andrea.« Mir ist ihr Name herausgerutscht, was dumm ist, denn für die meisten in dieser Stadt bin ich ein Fremder. Jetzt ist es passiert und ich fahre gleichmütig fort. »Wollte nur nachsehen, ob du okay bist. Wo ist dein alter Herr?«

Ich habe Glück. Sie ist so betrunken – und so schlecht drauf, dass sie das einfach hinnimmt und nicht mal fragt, woher ich ihren Namen kenne oder ihren Vater.

Ihr Gesicht verzieht sich missmutig.