Inhalt
30. Januar 1933
31. Januar 1933
1. Februar 1933
6. Februar 1933
28. Februar 1933
10. März 1933
Ende März 1933
Anfang April 1933
22. April 1933
Mai 1933
August 1933
Oktober 1933
24. Dezember 1933
Mai 1935
7. Juli 1935
11. August 1935
September 1935
Dezember 1935, kurz vor Weihnachten
April 1938
Juli 1938
9. November 1938
10. November 1938
12. November 1938
13. November 1938
Dezember 1938
1. Mai 1939
Juni 1939
31. August 1939
3. September 1939
Oktober 1939
November 1939
8. November 1939
12. November 1939
1. Dezember 1939
31. Dezember 1939
Januar 1940
Februar 1940
März 1940
20. April 1940
Ende April 1940
Mai 1940
31. Mai 1940
3. Juni 1940
Juli 1940
26. Juni 1940
Ende Juli 1940
29. Juli 1940
August 1940
September 1940
Oktober 1940
Dezember 1940
30. Januar 1933
Rosenheim
Die Luft schmeckte nach Schnee, als Hannah und Jacob nach Hause stapften. Ein klarer, wolkenloser Tag mit klirrender Kälte. Ihre Stiefel knirschten über die Schneedecke, auf der die Eiskristalle in der Sonne glitzerten. Seit Wochen hatte es nicht getaut, und der Schnee hielt sich hartnäckig auf den Feldern und Wiesen vor der Stadt. Wie schön es war, dachte Hannah. Im Süden erstreckte sich die lange Bergkette, deren Gipfel weiß schimmerten. Rosenheim. Diese Stadt war ihr Zuhause. Ihre Heimat. Ihr schützendes Nest, in dem sie sich sicher und geborgen fühlte.
Heimat – das waren die leuchtend gelben, von Löwenzahn gespickten Wiesen im Frühling, die rauschenden Kornfelder im Sommer, das Gefühl von Klee unter den nackten Fußsohlen. Im September waren es die prächtigen Apfel- und Birnbäume, deren Äste unter der Last erzitterten, wenn man die Früchte erntete und daraus Saft presste. Heimat – das waren die Sonnenblumen, die tief ihre Häupter senkten, die Heuernte der Bauern, der Almabtrieb der Kühe, die mit ihren scheppernden Glocken ins Tal trotteten. Es war der erste Frost im Herbst, die hungrigen Igel, die es sich im Laub heimisch machten, die dichten Nebelschwaden, die schwer auf den Boden und das Gemüt drückten. Heimat – das waren die schneereichen Winter, die Bäume, die wie mit Puderzucker bestäubt waren, Schneeschuhwanderungen und Skifahrten mit der Familie.
Hannah schirmte ihre Augen mit der flachen Hand ab, als die Sonne ein letztes Mal zwischen den Berggipfeln hervorspähte. Ihre Augen schweiften über die Felder, und als sie Jacobs Silhouette wahrnahm, zog sie die Luft lautstark durch die Zähne ein.
»Mir ist kalt«, rief sie Jacob hinterher, doch er schien sie gar nicht zu hören. »Jacob!«, schrie sie noch einmal. Lauter. Kräftiger. Kalt füllte die Luft ihre Lungen. Endlich drehte er sich um.
Die eisigen Temperaturen brachten seine Ohren wie Kohlen zum Glühen und aus seinem Mund formte sich der Atem zu Wolken. Er sah sie direkt an und watete durch das Schneemeer auf Hannah zu. Diese ließ die Schlittschuhe von den Schultern rutschen. Lange waren sie jetzt schon draußen in der Kälte gewesen. Zu lange. Den gesamten Nachmittag hatten sie beim Eislaufen am See verbracht.
»Was ist los? Warum bleibst du stehen?«
»Ich kann nicht mehr. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter.« In ihren Augen blitzte und trotzte es, und Hannah vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen. »Ich kann meine Fingerspitzen nicht mal mehr fühlen. Wir hätten schon viel eher umkehren müssen.« Vorwurfsvoll schob sie die Unterlippe nach vorne und blickte Jacob direkt in die Augen. Schuldgefühle schimmerten darin.
»Wir hatten doch so viel Spaß«, begann er, um sich zu rechtfertigen, doch sie unterbrach ihn mit lautem Zähneklappern.
»Ich will nach Hause. Sofort.« Hannahs Blick senkte sich auf ihre Schuhe. Das Mädchen bewegte die Fußspitzen auf und ab. Alles taub.
»Wir haben es gleich geschafft.« Jacobs Stimme war plötzlich nah an ihrem Ohr. Samtweich wie der Flaum eines Kükens. Tatsächlich. In nicht allzuweiter Ferne war der Weidezaun auszumachen. Die Pfosten sahen aus, als hätten sie weiße Hauben auf.
»Jetzt komm schon, Hannah. Es ist nur noch ein kleines Stück.« Seine Hand ruhte auf ihrem Rücken. Die beiden waren beinahe gleich groß, doch Jacobs lange Beine deuteten darauf hin, dass er noch ein gutes Stück wachsen würde. »Hier nimm.« Jacob hielt ihr seine Handschuhe dicht vors Gesicht, sodass ihr der Geruch von Leder in die Nase stieg. Er bückte sich, hob ihre Schlittschuhe auf und hängte sie sich zu seinem eigenen Paar über die Schulter. Dabei fiel ihr auf, dass auch seine Hände zitterten.
»Weiter jetzt. Sonst frieren wir hier noch fest. Ich meine es wirklich ernst.«
Jacob war ihr bester Freund seit Kindertagen. Sie hatten zusammen laufen gelernt, Sandburgen gebaut, waren um die Wette gerannt. Er hatte ihr beigebracht, wie man Kirschkerne spuckte, später wie man auf die höchsten Bäume kletterte und im Wald Fährten las. Sie hatten zusammen Streiche ausgeheckt, und Jacob hatte dabei die Schuld stets auf sich genommen, damit sie ohne Ärger davonkam. Es war für die Erwachsenen ohnehin immer schwer zu glauben, dass hinter Hannahs lieblichem Puppengesicht mit den blauen Augen und den blonden Haaren der Schalk schlummerte. Seit zwölf Jahren waren sie unzertrennlich.
Endlich löste sich Hannah aus ihrer Starre. Schritt für Schritt. Immer weitergehen. In der Ferne erkannte man die Umrisse der Häuser. Aus den Fenstern dämmerte Licht. Von hier waren sie winzig wie Stecknadelköpfe. Hannah entfuhr ein erleichterter Seufzer, als sie endlich die Allee der Obstbäume erreichten, die die Zufahrt zu ihrem Haus säumten.
Das große Gutshaus war seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Rechts und links vom Eingangstor thronten steinerne Löwen. Dichter Efeu kletterte an den Hausmauern empor und klammerte sich ganz oben an die Dachbalken. Mit einem Quietschen schwang das Eisentor auf. Unter dem Schnee knirschte der Kies, als Hannah und Jacob über die Einfahrt liefen. Wahrscheinlich hatte sich ihr Vater schon Sorgen gemacht, wo sie so lange blieb. Sie hasste es, ihn in Unruhe zu versetzen.
Am Fenster ein Schatten, wahrscheinlich Sofia. Als junge Frau war sie aus Russland gekommen, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Sofia sorgte dafür, dass die Böden glänzten, die Federbetten nach Frühling dufteten, dass am Sonntag ein Kuchen auf dem Tisch stand. Sofia erledigte die Einkäufe, kümmerte sich um den Kräutergarten und die Rosenbüsche ihrer Mutter. Trotz der täglichen Anforderungen, die der Haushalt bereithielt, wirkte sie nie angestrengt oder überlastet. Stets fand sie freundliche Worte. Für Hannah war sie alterslos. Obwohl ihre Haut an die Rinde des Kastanienbaumes im Garten erinnerte, waren ihre Stimme und ihr Lachen mädchenhaft jung, genau wie ihre Gestalt. Wenn Sofia saß, dann aufrecht, mit geradem Rücken.
Als Hannahs Fuß die erste Treppenstufe erreicht hatte, riss Sofia die Haustür auf.
»Schnell. Schnell. Reinkommen. Ist zu kalt. Mussen frieren.« Besorgt strich sie Hannah über die Wangen. »Mussen leise sein. Familie hören Radio«, flüsterte sie und hielt den Zeigefinger an die Lippen. Sie nahm Hannah und Jacob die Mäntel ab. Die beiden warfen sich einen verwunderten Blick zu. Hannah hatte sich so sehr aufs Heimkommen gefreut, wollte von ihrem Tag erzählen, doch keiner schien auch nur bemerkt zu haben, dass sie erst in der Dämmerung nach Hause gekommen war.
»Ist Hitler«, raunte ihnen Sofia zu, als sie den Flur entlanggingen.
Als sie das Wohnzimmer betrat, fiel Hannahs Blick zuerst auf ihren ältesten Bruder Hermann, der angestrengt lauschend am Kamin lehnte. Eines seiner Bücher lag noch geöffnet auf seinem Schoß. Vergessen. Er nahm sie nicht einmal wahr, als sie an ihm vorbeilief.
Dr. Georg Sedlmayr, Hannahs Vater, polterte im Wohnzimmer auf und ab. Im Mundwinkel hing seine Pfeife. Das linke Bein zog er dabei etwas nach. Eine schwere Verletzung aus dem Krieg. Oft schmerzte ihn das Bein so sehr, dass er sich in unbeobachteten Momenten setzen musste, doch er beklagte sich nie. Seit vielen Jahren führte er in der Innenstadt eine eigene Arztpraxis. Urlaub war für ihn ein Unwort. Seine Pflicht war es, den Leuten zu helfen. Georg Sedlmayr war kein großer Mann. Er maß keine einsachtzig, doch die Art, wie er ging und beim Reden mit den Händen sprach, ließ ihn viel größer erscheinen. Auf seiner Stirn bemerkte Hannah eine tiefe Zornesfalte. Sofort ging ihr Atem unwillkürlich schneller. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Aufgebracht. Wütend.
»Hindenburg hat Hitler zum Reichskanzler ernannt«, sagte Hannahs Mutter, um die Frage zu klären, die ihr auf der Zunge brannte. »Was bedeutet das? Reichskanzler?«
Aus dem Radio brach eine tobende Stimme hervor: »Unendlich ist die Kolonne der heranrückenden Freiheitskämpfer, auf deren braunen Hemden der Fackelschein gespenstisch hin und her huscht«, tönte der Sprecher.
Braune Hemden? Freiheitskämpfer? Hannah hatte davon schon gehört, genauso wie der Name »Hitler« in aller Munde war. Sein Gesicht zierte sämtliche Zeitungen: Braune Haare. Stechend blaue Augen. Der charakteristische Oberlippenbart. Von Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihren zwei Brüdern wusste sie, dass er der NSDAP angehörte. In der Schule, auf den Straßen, beim Einkaufen hörte man die Leute reden. Hitler sei der Mann für Deutschland.
Hannah sah von einem zum anderen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch Jacobs Eltern, Hans und Sarah Sternlicht, auf dem grünen Samtsofa saßen. Rechts und links von ihnen seine Brüder. Der vierzehnjährige Simon war groß gewachsen für sein Alter. Breitschultrig und stark wie ein Bär. Keiner konnte ihm beim Armdrücken das Wasser reichen. Simon und Karl, Hannahs anderer Bruder, besuchten dieselbe Klasse. Beim genaueren Beobachten fiel Hannah auf, dass bereits Bartstoppeln an Simons Kinn sprossen. Der neunjährige Levi war das Nesthäkchen der Familie. Sein Mund war halb geöffnet, und auch er horchte konzentriert. Jedes Wort saugte er auf wie ein trockener Schwamm. Auf seinen farblosen Wangen drängten sich so viele Sommersprossen wie Sterne am Himmelszelt und sein rotes Haar leuchtete. Hannah hatte Levi fest ins Herz geschlossen. Er war wie der kleine Bruder für sie, den sie selbst nicht hatte.
»Über zehn Jahre hat die NSDAP auf den Machtwechsel hingearbeitet. Jetzt ist es ihnen endlich gelungen, die Macht an sich zu reißen!«, grollte die Bassstimme ihres Vaters, aber heute blieb der sonst freundliche Klang fern. Hannah ließ sich auf einen der Holzstühle sinken und zwirbelte ihre zu zwei langen Zöpfen geflochtenen Haare.
»Fackelzüge!«, stieß Georg Sedlmayr verächtlich aus. »Hitler gewinnt immer mehr und mehr Anhänger. Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen könnte!« Hannah erschrak über die ungewohnte Wortwahl ihres Vaters. So sehr er sich gerade aufplusterte wie ein Kampfhahn, sie wusste, dass er das weichste Herz verbarg. Kein Kätzchen konnte er miauen hören, kein Kind weinen. Vor ihr stand ein Fremder, der ihr mit seinem Auftreten Angst machte.
»Hitler als Reichskanzler. Dass ich nicht lache! Hindenburg hat jeglichen Respekt verloren. Dieser dämliche alte Ziegenbock!«
Energisch griff er nach dem Gehstock, der zumeist in der Ecke lehnte, da er sich weigerte ihn zu benutzen. »Eins sag ich dir, Hans!«, donnerte Georg Sedlmayr und zeigte mit der Spitze des Stockes auf das Radio. »Dieser Mann ist gefährlich.«
»Wir können jetzt erst einmal nur abwarten«, schaltete sich nun Hans Sternlicht ein. Auf seiner Halbglatze spiegelte sich das Licht der Wohnzimmerleuchter. Hannah mochte es, dass seine Stimme eine leichte Rauchnote hatte. Sie mochte die lächelnden, blauen Augen, die Jacob von ihm geerbt hatte. Seine Ruhe. Den scharfen Verstand. Er trug einen langen Bart, in den sich einige graue Haare webten. Hans Sternlicht und Georg Sedlmayr waren eng befreundet. Vertraute. Sie waren Kameraden gewesen und gemeinsam aus dem Krieg heimgekehrt.
»Ungewöhnlich ist es aber trotzdem. Da gebe ich dir recht«, ergriff Hans erneut das Wort. »Vor ein paar Jahren noch hat die NSDAP bei der Reichstagswahl lediglich ein paar Prozent der Stimmen erhalten.«
»Genau das ist der springende Punkt! Hitler und seine Anhänger werden übermächtig. Glaub mir, Hans! Hitler bedeutet Krieg!«
Die Luft im Wohnzimmer schien zum Zerreißen gespannt und plötzlich herrschte Totenstille. Georg Sedlmayr hatte von Krieg gesprochen. Das lange Schweigen, das eintrat, schmerzte Hannah mehr in den Ohren als lautes Gebrüll.
»Jetzt übertreibst du aber, Schorsch. Rede doch nicht solch einen Blödsinn! Du machst ja noch die Pferde wild und setzt den Kindern Flausen in den Kopf.« Theresa Sedlmayr, Hannahs Mutter, schüttelte erzürnt den Kopf. Sie war eine hochgewachsene Frau schmaler Statur. Auch nach drei Geburten war ihre Taille gertenschlank. Von ihrer französischen Mutter hatte sie die leicht schrägen Augen und die tintenschwarzen Wimpern geerbt. Nach wie vor war sie eine Schönheit.
»Binnen vier Jahren muss der deutsche Bauer der Verelendung entrissen sein. Binnen vier Jahren muss die Arbeitslosigkeit endgültig überwunden sein«, drang die Stimme aus dem Radio.
Auch in Rosenheim war die Arbeitslosigkeit ein leidiges Thema. Die Bürgerinnen und Bürger tuschelten am Zaun des Nachbarn darüber. Sie suchten nach Arbeit auf einem der vielen Höfe, die genug Geld abwarf, um die hungrigen Mäuler daheim zu stopfen. War die Lage wirklich so aussichtslos? Im ganzen Land? Ihr Vater arbeitete seit Jahren als Arzt. Hans Sternlicht unterhielt eine Apotheke in der Innenstadt.
»Hitler ist der Einzige, der die Bevölkerung aus der Not und der sozialen Unterdrückung befreien kann.« Karl, der bisher an der Wand gelehnt hatte, richtete sich nun zu voller Größe auf. Schon jetzt überragte er Hannah um einen halben Kopf. Seine Beine waren lang und dünn wie Stelzen. Die Haare honigfarben.
»Wie kommst du denn auf diesen Kuhmist?«, blaffte Georg Sedlmayr seinen Sohn an. »Als ob du auch nur einen Funken Ahnung von Politik hast. Befreiung. Befreiung! Hindenburg stürzt uns alle ins Verderben.« Seine Brust hob und senkte sich, als würde ihn das Sprechen anstrengen. »Wir hatten schon einmal einen Krieg. Seitdem bin ich hellhörig. Wie wir wissen, ist dieser verdammte Krieg nicht gut für uns ausgegangen.«
»Das hier ist doch etwas völlig anderes, Schorsch«, fauchte seine Frau. »Du wirst ja richtig wild mit deinem Kriegsgefasel. Wie immer malst du den Teufel an die Wand!«
»Denk an meine Worte, Resi!«
Theresa Sedlmayr verzog den Mund und schüttelte den Kopf.
»Wir werfen einen Blick ins Arbeitszimmer Adolf Hitlers. Im hellen Licht steht er am Fenster und blickt hinaus auf die vorbeimarschierende SS, auf die ungeheuren Menschenmassen, die ihm zujubeln. Adolf Hitler steht mit todernstem Gesicht am Fenster. Er ist eben aus seiner Arbeit herausgerissen, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung, die auf seinem Gesicht liegt. Er ist nur unterbrochen worden und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über die Massen von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbeimarschieren. Arbeiter der Stirn und der Faust.« Der Sprecher überschlug sich fast vor Begeisterung.
Wie konnte ihr Vater denn so negativ sein? Alles klang großartig. Vielleicht übertrieb er ja wirklich, wie ihre Mutter es gesagt hatte. Im Radio konnte man doch nicht einfach irgendwelche Lügen erzählen. Schließlich hörten so viele Menschen zu.
Dr. Sedlmayr polterte zum Wohnzimmer hinaus und warf die Tür ins Schloss, die aber mit einem Knall wieder aufsprang.
»Ich sehe wohl besser mal nach ihm«, sagte Hans Sternlicht.
»Er muss jetzt nicht seine ganze Wut an den Türen auslassen«, schimpfte Hannahs Mutter. Mit beiden Händen strich sie sich das Kleid glatt, das vom Sitzen etwas verknittert war.
In der Küche hörte Hannah Sofia mit dem Geschirr klappern.
»Schorsch besteht bestimmt darauf, dass ihr zum Abendessen bleibt. Wir haben frisches Bauernbrot gebacken«, sagte Theresa Sedlmayr zu Jacobs Mutter.
»Warum ist Papa so wütend? Wird es wirklich Krieg geben?«, flüsterte Hannah ihrer Mutter zu.
»Hannah«, rief sie laut aus, sodass alle sich ihr zuwandten. »Ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass auch du so ein dummes Schäfchen bist. Jetzt hör auf vom Krieg zu reden. Genau das habe ich vorhin gemeint. Dein Vater setzt dir Flausen in den Kopf.«
»Hoffentlich! Hoffentlich wird es Krieg geben. Hitler will doch was gegen die Arbeitslosigkeit machen. Außerdem wurde Deutschland beim Versailler Vertrag über den Tisch gezogen. Ich würde sofort in den Krieg ziehen, wenn es sein muss«, mischte sich Karl ein.
»Natürlich würdest du das, mein Engel. Aber jetzt will ich kein Wort mehr vom Krieg hören. Verstanden!«
Im ersten Stock hörte man die beiden Männer noch lautstark diskutieren.
»Komm, wir decken den Tisch, während Sofia das Essen vorbereitet«, raunte Jacob Hannah zu.
Georg und Hans kamen mit erhitzten Gesichtern die Treppe herunter. Laut schnaubend ließ sich Hannahs Vater auf einen der Holzstühle fallen.
Von draußen drangen plötzlich Geräusche herein. Durch die Gassen auf der Rückseite des Hauses hallten Lieder und lautes Gelächter. In der nächsten Sekunde waren alle Kinder am Erkerfenster, das auf die Straße blickte. In nicht allzu weiter Ferne erkannte man einen Zug von Menschen, der sich die Straße entlangschlängelte. Das Licht der Fackeln tanzte über ihnen und erfüllte die Dunkelheit. Hannah drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Lachen. Rufe. Was musste es für ein Gefühl sein, da dazuzugehören! Der Wunsch, sich dem Treiben anzuschließen, keimte so schnell in ihr hoch wie eine Knospe in der Frühlingssonne.
»Seht mal da!«, rief Karl, der auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers aus dem Fenster geblickt hatte. Zwei Jungen standen vor dem Tor und winkten. »Das ist ja Max!« Karl eilte zur Garderobe und griff nach seinem Mantel.
»Hiergeblieben!« Georg Sedlmayr lief, so schnell es sein Bein erlaubte, hinter seinem Sohn her. Er packte ihn am Arm, bevor dieser die Haustür aufreißen konnte.
»Zurück ins Wohnzimmer sag ich dir!« Seine Stimme war scharf wie ein Messer. Hannah erstarrte. Noch nie hatte ihr Vater gegen eines der Kinder so die Stimme erhoben, geschweige denn eines je grob angefasst.
»Alle meine Freunde sind da draußen. Es ist meine Entscheidung, was ich mache. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.« Karl riss sich los und rannte zur Tür hinaus. Die Nacht war klar. Ein samtiges Schwarz mit einem Himmel voller Sterne.
Georg Sedlmayr warf die Tür ins Schloss und fluchte vor sich hin. Karl war weg. Die Sternlichts warfen sich irritierte Blicke zu. Keiner wollte sich einmischen.
»Lass den Jungen doch seinen Spaß haben. Schließlich habe ich Max selbst gesehen. Was ist schon dabei.« Theresa schnalzte mit der Zunge.
»Göring wird gleich im Radio zu hören sein«, brummte Hannahs Vater.
»Göring ist hier in Rosenheim geboren worden«, erklärte ihr Hans, da er Hannahs fragenden Blick aufgefangen hatte. »Er hat die ersten drei Jahre seines Lebens bei Familie Graf verbracht. Eure Großmutter war damals mit Frau Graf befreundet, und sie sind öfter mit den Jungen spazierengegangen. Göring und dein Vater sind ja beinahe gleich alt.«
Das Radio wurde wieder laut. »Hunderttausend und Aberhunderttausend SA, SS, Stahlhelm, Volk und immer wieder Volk strömte vorbei, um den geliebten Führer zu sehen. Strömte vorbei, um damit kundzutun, dass heute ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte gekommen ist. Darin sehen wir auch den Zusammenschluss der deutschen Nation. Hunderttausend im ganzen Land, Millionen deutscher Menschen fällt eine Zentnerlast von der Brust herunter, sie glauben wieder, dass das Volk zu sich selbst zurückgefunden hat. Die neue Reichsregierung wird vom ersten Tage an bestrebt sein, nicht in alten ausgefahrenen Gleisen dahinzuwandern, sondern neue Wege zu führen, um zum Erfolg zu kommen.«
»Ich kann den Blödsinn nicht mehr mit anhören.« Georg Sedlmayr drehte das Radio ab.
»Es ist schon spät geworden, Schorsch. Wir wollen euch keine Umstände machen und machen uns am besten gleich auf den Heimweg«, sagte Hans.
»Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Der ganze Pöbel ist auf den Straßen unterwegs. Ich lasse nicht zu, dass ihr auch nur einen Fuß nach draußen setzt. Ausgeschlossen! Sofia wird euch die Betten im Gästezimmer herrichten. Hermann schläft bei Karl, und deine Jungen können dann sein Zimmer haben. Jacob kann von mir aus zu Hannah.«
Theresa zog laut die Luft durch die Zähne, doch ihr Mann ignorierte sie. Georg Sedlmayr duldete keinen Widerspruch, sodass die Sternlichts doch am gedeckten Tisch Platz nahmen. Das Essen verlief schweigend. Es war genug gesagt worden. Nachdem das Abendbrot beendet war, nutzten Hannah und Jacob sofort ihre Chance, um sich schnellstmöglich abzuseilen. Karl war weg, und keiner wusste, wann er wiederkommen würde.
Als sie aus dem Badezimmer kam, lag Jacob schon auf der Gästematratze auf dem Fußboden. Hannah löschte das Licht und hörte Jacob in der Dunkelheit laut atmen.
»Papa hat mir heute Angst gemacht. Glaubst du auch, dass es Krieg geben wird?« Keine Antwort. »Jetzt sag schon endlich. Glaubst du es auch?«
»Ich glaube nicht, dass es so schlimm wird, wie dein Vater gemeint hat. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus.« Die Bettdecke raschelte. »Schlaf jetzt, Hannah. Mach dir nicht zu viele Gedanken.«
Hannah drückte ihr Gesicht ins weiche Federbett mit dem frisch gewaschenen Bezug, doch heute konnte sie den Duft nach Frühling einfach nicht riechen.
31. Januar 1933
Als Hannah und Jacob am Morgen zum Frühstück heruntertapsten, saß nur Theresa Sedlmayr am Eichentisch. Jacobs Eltern schliefen noch und die älteren Jungen waren dabei, sich anzuziehen und für die Schule fertigzumachen. Hannah hatte die lautstarke Diskussion, wer zuerst ins Badezimmer durfte, von der Treppe aus mitverfolgt. Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln, als Karls Stimme an ihre Ohren drang. Er war nach Hause gekommen und es ging ihm gut. Ob er ein Donnerwetter zu erwarten hatte?
Theresa blätterte durch die Zeitung und stieß hin und wieder einen lauten Seufzer aus. Hannah erkannte, dass ein großes Bild von Hitler auf der Titelseite prangte und die Seiten mit Informationen zur Machtergreifung gefüllt waren. Fragend blickte sie ihre Mutter an und hoffte, dass sie ihnen etwas sagen würde, Stellung beziehen, sie beruhigen, doch Theresas Lippen blieben stumm. Ihre Anspannung sprang sofort auf Hannah über, die sich steif auf ihren Stammplatz am Tisch setzte.
Wortlos faltete Theresa die Zeitung zusammen, stand auf und legte sie auf die Ofenbank. Hannahs Finger juckten vor Neugierde. Wie gern wäre sie aufgestanden und hätte die Zeitung genommen, Seite für Seite gelesen, die Nachrichten verschlungen, doch sie saß wie versteinert da und blickte voller Sehnsucht auf das große Stück Papier. Vielleicht konnte sie später einen Blick hineinwerfen.
»Ist Papa schon in der Praxis?«, wollte sie von ihrer Mutter wissen und griff über den Tisch nach einer Scheibe Brot. Jacob kaute bereits genüsslich und häufte wieder ein paar Löffel der Erdbeermarmelade auf, die Sofia im Sommer selbst gemacht hatte.
»Er ist bei einem Notfall. In der Nacht hat jemand angerufen. Anscheinend gab es gestern ein paar Zwischenfälle.« Theresa betonte das letzte Wort merkwürdig, so als hätte sie kurz überlegen müssen, wie sie es ausdrücken sollte.
»Was für Zwischenfälle?«
»Was weiß ich! Er hat mir auch nichts gesagt und ist gleich losgefahren.« Theresas Stimme klang zornig, und Hannah hatte das Gefühl, als hätte sie etwas falsch gemacht. »Iss nicht zu viel von der Marmelade. Sofia hat sie mit Unmengen Zucker gesüßt. Ungenießbar!«
Hannah blickte auf ihre Brotscheibe, die mit der leuchtend roten Masse bedeckt war, und legte sie halb angebissen zurück auf ihren Teller. Jacob zuckte nur mit den Schultern und schob sich bereits die vierte Scheibe in den Mund. Junge müsste man sein!
Vom ersten Stock polterten ihre Brüder zusammen mit Simon und Levi die Treppe herunter. Sie alle trugen Lederhosen und Strümpfe, die über die Waden gezogen waren. Hannah bemerkte, wie die Augen ihrer Mutter vor Stolz glühten, als ihre Söhne neben ihr Platz nahmen. Obwohl sie es nicht wollte, keimte Eifersucht in ihr auf. Warum konnte die Mutter sie nicht einmal so ansehen? Nur ein einziges Mal!
Auch Levi schlurfte auf den Tisch zu, seine Augenlider schwer wie Gardinen. Die Nacht war für ihn zu kurz gewesen. Gähnend griff er nach einem Glas Milch, stützte den Kopf auf und nippte immer wieder. Als er aufsah, säumte seine Oberlippe ein Milchbart. Hannah musste schmunzeln.
Simon wünschte Jacob einen guten Morgen und wuschelte durch seine dunkelblonden Haare. Karl erblickte die Zeitung auf der Ofenbank, hastete durchs Wohnzimmer und riss das Papier an sich.
»Es sind Bilder von uns drin«, raunte er stolz und zeigte die Aufnahmen in die Runde. Hannah erkannte Menschenmengen und einzelne, die Fackeln in die Höhe hielten, ihre Gesichter wirkten glücklich. In ihren Augen Euphorie und Begeisterung.
»Sieht man dich auch, Karl?«, wollte Hermann wissen.
»Ich hoffe nicht! Euer Vater würde völlig den Verstand verlieren, wenn sein Sohn auf den Bildern dieses – wie hat er es genannt – Narrenzuges zu erkennen wäre. Das hat Papa wirklich nicht verdient. Du hast ihm gestern den ganzen Schlaf geraubt, Karl. Er war krank vor Sorge!«, richtete sie nun das Wort an ihren jüngeren Sohn. Karls Wangen färbten sich etwas rot, doch er zuckte nur mit den Schultern und blätterte weiter in der Zeitung. Auch Hermann und Simon rückten näher zusammen, um alles genau sehen zu können.
»Ihr seid ja bis zum Max-Josefs-Platz marschiert«, staunte Hannah. »Wie bist du denn nach Hause gekommen? Etwa wieder gelaufen?«
»Max’ Vater hat mich mitgenommen. Er ist in der Partei.« Karl reckte das Kinn nach oben und der Stolz, den er empfand, ließ sich nicht verbergen.
»Du solltest lieber etwas essen, bevor Sofia den Tisch abräumt«, mahnte Theresa. Sie holte eine Haarbürste und begann, Hannahs lange, goldblonde Haare zu kämmen. Theresa flocht seitlich zwei Zöpfe, schlug sie einmal um und band sie jeweils mit einer hellblauen Schleife, die farblich genau zu Hannahs Dirndlkleid passte, gekonnt zu großen Affenschaukeln zusammen. Sie fasste Hannah am Kinn und drehte ihren Kopf nach rechts und links, um ihr Kunstwerk zu betrachten. Theresa strich ihrer Tochter noch eine Strähne hinter das Ohr und befestigte diese mit einer Klammer. Zufrieden nickte sie. Die Kopfhaut spannte, da die Zöpfe sehr streng geflochten waren, doch Hannah schluckte ihren Protest hinunter. Sie würde die Schaukeln später in der Schule etwas lockern.
»Guten Morgen.« Sofia betrat mit einem Lächeln das Esszimmer und legte jedem eine Brotzeittüte auf den großen Tisch. Hannah spähte hinein und grinste. Brot mit Marmelade und ein rot leuchtender Apfel. Sofia wusste stets, was die Kinder am liebsten aßen. Manchmal steckte sie heimlich eine Süßigkeit dazu, damit Theresa es nicht bemerkte. Diese war nämlich der Auffassung, dass sofort alle Zähne ausfielen, wenn sie mit Zucker in Kontakt kämen.
Nachdem alle mit dem Frühstück fertig waren, begleitete sie Sofia zur Tür, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Levi hatte es nicht weit in die nahegelegene Volksschule, während sich die Älteren denselben Schulweg teilten. Sie alle besuchten das Humanistische Gymnasium in der Stadt. Jacob und Hannah die dritte Klasse, Karl und Simon die fünfte, und Hermann war bereits in der Oberstufe.
Als sie nach draußen traten, empfing sie wieder die gewohnte Kälte. Wann würde es endlich etwas wärmer werden? Am Tor verabschiedeten sie sich von Levi, der in die andere Richtung bog. Die Straßen wirkten wie ausgestorben. Hannah vermisste das sonst übliche Treiben, wenn die Menschen in die Arbeit und in die Schule strömten. Hatte es etwas mit der gestrigen Nacht zu tun?
An der Schule angekommen, schlugen Hannah und Jacob den Weg zu ihrem Klassenzimmer ein. Hintereinander marschierten sie durch die Tür und Hannah staunte, als sie bemerkte, dass viele Klassenkameraden bereits das Hakenkreuz trugen. Herbert Bauer, ein riesiger Kerl und zwei Jahre zu alt für die siebte Klasse, hatte seine Hitlerjugenduniform angezogen und grinste über das ganze Gesicht, als fielen alle Feiertage des Jahres zusammen.
»Hallo Hannah«, rief er fröhlich und kam auf sie zu. Er riss den rechten Arm nach oben und schlug die Hacken zusammen. Herbert blickte Jacob einen Augenblick abschätzig von oben bis unten an, als wäre er ein Insekt, und drehte ihm dann den Rücken zu. »Schau mal, mein Abzeichen.« Seine Wangen glühten vor Aufregung, als er Hannah das Hakenkreuz zeigte, das auf seiner rechten Brust steckte. Liebevoll strich er mit seinen Bärentatzen über das Eisen.
»Hannah, du bist ja auch schon da!« Elsa, Hannahs beste Freundin, eilte zu ihr und fiel ihr freudig um den Hals. Auch sie trug ihre rötlichen Haare, wie fast alle Mädchen der Klasse, zu zwei Schaukeln gebunden. »Warst du gestern dabei? Papa hat uns erlaubt mitzugehen. Es war so aufregend.« Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Wir durften leider nicht mitgehen. Ich wäre so gerne raus, aber mein Vater hat es uns nicht erlaubt.« Hannah bemerkte, wie Jacob sie von seinem Platz aus irritiert ansah, als sie die Lüge laut aussprach, doch sie ignorierte seinen Blick und würde es ihm später erklären. Sie konnte unmöglich blöd vor ihren Freunden dastehen.
»Oh«, rief Elsa theatralisch aus, »du Ärmste. Du hast vielleicht was verpasst!« Hannah hatte jetzt tatsächlich das Gefühl, etwas Bedeutendes verpasst zu haben. Sie blickte sich im Klassenzimmer um. Fast alle Kinder berichteten aufgeregt von dem gestrigen Ereignis. Dem Wendepunkt der Geschichte. Was hatte sich ihr Vater nur dabei gedacht, sie davon fernzuhalten? Wie sehr sie Karl beneidete. Warum war sie ihm nicht gefolgt? Warum war Hermann nur danebengestanden? Wollte er nicht dazugehören?
»Ist ja nicht schlimm«, tröstete sie Elsa, »das nächste Mal bist du auch mit von der Partie. Jetzt geht es ja erst richtig los. Wird dein Vater auch in die Partei eintreten? Meiner ist schon dabei!«
»Ich weiß nicht. Ich frage ihn gleich nach der Schule.«
Hannah spürte erneut Jacobs Blick im Rücken. Als sie sich umdrehte, sah er sie an. War es Wut? Mitleid? Angst? Der Ausdruck in seinen Augen war ihr fremd und passte nicht zu Jacob. Er drehte den Kopf weg, als Herbert wieder auf sie zuging und damit begann, seine Schulbücher auf dem Tisch zu stapeln. Dann ließ er sich auf den Holzstuhl plumpsen, der viel zu klein für seine massige Statur war.
»Komm, setzen wir uns. Der Lehrer wird gleich kommen.« Elsa grinste breit. Hannah drehte sich mit Schwung um, sodass der Rock ihres Dirndls nach oben flog, und ließ sich dann neben ihre beste Freundin in die zweite Reihe sinken.
Von draußen drang das Geräusch polternder Stiefel herein und alle Schülerinnen und Schüler flitzten auf ihre Plätze. Schweigen kehrte ein. Max Völkl, ihr Lehrer, marschierte stramm, als würde er eine Militärparade anführen, ins Klassenzimmer. Das Hakenkreuz an seinem Oberarm kennzeichnete auch ihn als Parteimitglied. Kleine Schweinsaugen blitzten unter den buschigen Augenbrauen hervor und wanderten von einem zum anderen.
»Heil Hitler!«, schrie Völkl laut, knallte die Hacken zusammen und riss den rechten Arm nach oben.
»Heil Hitler!«, riefen die Kinder wie ein Echo zurück.
»Was ist das für ein gottverdammter Sauhaufen? Seid ihr Deutsche oder seid ihr das nicht?« Die Anspannung wuchs. »Wenn ich ›Heil Hitler‹ rufe, schaut ihr mich gefälligst nicht an wie eine Herde Rindviecher, sondern antwortet mit gebührendem Respekt. Ist das bei jedem von euch Hornochsen angekommen oder soll ich erst meinen Rohrstock herausholen?«
Totenstille. Hannah wagte kaum zu atmen. Noch nie zuvor hatte sie den Rohrstock zu spüren bekommen. Sie gehörte stets zu den Klassenbesten, schrieb gute Zensuren, war fleißig und lernte gerne. War das jetzt zweitrangig geworden?
»Heil Hitler!«, brüllte Völkl noch einmal.
»Heil Hitler«, brüllten die Kinder im Chor. Jeder so laut er konnte. Dabei rissen sie wie ihr Lehrer den rechten Arm nach oben. Zu Ehren Hitlers.
Endlich nickte Völkl zufrieden. Dabei wabbelte sein Gesicht wie Pudding, und er fuhr sich mit seinen Wurstfingern über den Mund, als würde er die Reste einer Nachspeise abwischen.
»Ihr habt gestern bestimmt die Radionachrichten verfolgt«, begann Völkl und schritt vorne auf und ab. Der Boden bebte unter seinem Gewicht.
Herbert Bauers Finger schoss in die Luft, ohne dass er überhaupt gefragt worden war.
»Ja bitte, Herbert.« Völkl lächelte väterlich, als sein Blick an Herberts Hakenkreuz hängen blieb.
»Die NSDAP hat die Macht übernommen. Hitler ist Reichskanzler. Hindenburg hat ihn dazu ernannt«, sprudelte es aus seinem Mund. »Mein Vater ist deswegen ganz aus dem Häuschen. Jetzt bekommt er wohl endlich bessere Arbeit.«
»Ausgezeichnet, Herbert«, lobte ihn der Lehrer, als hätte der Junge gerade den ganzen Goethe aufgesagt. »Endlich hat das deutsche Volk erkannt, dass allein die Partei dazu in der Lage ist, uns aus der Verelendung zu holen. Das Trauma von Versailles können wir damit vergessen und begraben. Gott sei Dank hat Hindenburg das eingesehen. Hitler ist der Mann der Zukunft!«
Hannah war überrascht, dass Völkl sich so klar positionierte. Den Biologieunterricht hatte er anscheinend komplett vergessen.
»Herbert! Du bist doch Mitglied bei der Hitlerjugend. Erzähl’ deinen Klassenkameraden davon.«
Herberts dunkelbraune Augen leuchteten vor Stolz, als wäre er gerade zum Ritter geschlagen worden. Betont langsam stand er auf und klammerte sich an der Stuhllehne fest. Hier war seine Bühne.
»Wir alle sind das junge Deutschland«, begann er und drückte die Brust heraus wie ein Hahn. »Jeder Deutsche kann beitreten. Eigentlich müsst ihr alle zu den Pimpfen, da ihr noch zu jung seid. Die Mädchen können dem Jungmädelbund beitreten. Wir unternehmen alles in der Gemeinschaft. Wir veranstalten Zeltlager, Lagerfeuer, machen Wanderungen, sportliche Wettkämpfe, wir singen. Das alles macht unwahrscheinlich viel Spaß. Meine Kameraden und ich würden uns freuen, wenn wir euch in unserer Mitte begrüßen dürften.« Herberts Stimme überschlug sich beinahe vor Euphorie und Hannah musste zugeben, dass seine Ansprache Neugierde in ihr geweckt hatte. Elsa stupste sie mit dem Ellenbogen an und nickte.
»Ach ja, bevor ich es vergesse. Juden dürfen nicht mitmachen.« Dabei sah Herbert Jacob missbilligend an, der unbewegt in der dritten Reihe saß. Auch Hannah drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt. Unbewegt. Emotionslos. Erlaubte sich Herbert womöglich nur einen dummen Scherz? Unsicher sah sie zu ihm hinüber, doch er hielt die Arme vor seiner Brust verschränkt. Erst jetzt bemerkte Hannah, wie groß er über den Winter geworden war. Vor allem schien er in die Breite gewachsen zu sein. Stark. Muskulös. Dem Bild der deutschen Jugend entsprechend.
Völkl nickte anerkennend und wiederholte noch einmal Herberts Satz: »Jawoll, Juden müssen draußen bleiben.« Für Hannah klangen die Worte wie die einer Verkäuferin, die zeterte: »Hunde müssen draußen bleiben«, wenn jemand seinen Vierbeiner mit in den Laden nehmen wollte.
Was sollte sie davon halten? Hannah war sich sicher, dass Elsa, Anni und Matilda, ihre anderen Freundinnen, dem BDM beitreten würden. Sie saß in der Zwickmühle. Einerseits wollte sie zu ihnen gehören, gemeinsam an den Aktivitäten teilnehmen, von denen Herbert so geschwärmt hatte, doch andererseits war Jacob ihr bester Freund. Aber er war Jude. Seine Brüder waren Juden. Seine Eltern waren Juden. Er durfte nicht dabei sein. Ausgeschlossen.
Immer wieder hatte sie aufgeschnappt, wie antisemitische Stimmen in Rosenheim aufflammten. Die Zeitungen und die Politiker der Partei schimpften öffentlich über die Juden, als wären sie eine Last. Abschaum. Dreck. Unrat. Doch weshalb? Was hatten sich Jacob und seine Familie zuschulden kommen lassen, dass sie der Bevölkerung ein Dorn im Auge waren?
Als sie die Schulglocke nach einer Doppelstunde erlöste, verabschiedete sich Völkl mit dem Hitlergruß, den alle erwiderten. Als nächstes stand der Deutschunterricht bei Alfons Seibt an. Hannah sank in ihrem Stuhl zusammen, als sie auch an Seibts Oberarm das Parteiabzeichen erblickte. Alles lief schon wie automatisiert ab, als der Lehrer ins Klassenzimmer trat. Hitlergruß. Hacken zusammenschlagen. Lautes Rufen. Strammstehen. Die Klasse hatte schnell gelernt.
Auf Hannahs Tisch wartete bereits Goethes Faust. Seibt legte sehr viel Wert auf das Werk, bezeichnete es sogar als den größten Klassiker. Unzählige Passagen mussten sie auswendig herunterleiern und einzelne Szenen hatten sie detailliert bearbeitet.
»Legt die alten Schinken weg«, flötete Seibt und fummelte an seinem Monokel herum.
Ein Raunen ging durch den Klassenraum, dennoch packten alle ihren Faust in den Lederranzen. Der kleine, hagere Mann zog ein anderes Buch aus seiner Tasche und hielt es nach oben, sodass jeder es sehen konnte. Mein Kampf. Hitlers Werk. Hannah hatte ihre Eltern darüber reden hören und natürlich hatte es Hermann bereits verschlungen. Wie jedes Buch, das ihm in die Hände fiel.
»Das wird in nächster Zeit unsere Lektüre sein. Wir erfahren viel über das Leben Adolf Hitlers. Über seine Überzeugungen und seine Vorstellungen. Das müssen wir auch, da ihr anständige deutsche Bürger werden wollt.«
Seibt räusperte sich und begann zu lesen. Wort für Wort ging er die ersten Passagen des Buches durch, blätterte und blätterte, während sich die Kinder in ihren Stühlen zurücklehnten, lauschten, flüsterten, staunten. Je mehr der Lehrer las, desto klarer nahmen Hitlers Gedanken Gestalt an, und Hannah merkte, wie auch sie an Seibts Lippen hing.
Ein Anruf in den frühen Morgenstunden. Das schrille Klingeln des Telefons hatte ihn aus dem Schlaf geschreckt. Bis nach Mitternacht war er wachgelegen und hatte darauf gewartet, dass Karl zurückkam. Als er den Schlüssel im Schloss vernommen und das Knarzen der Treppe unter den Füßen seines Sohnes gehört hatte, hatte er endlich einschlafen können. Das Donnerwetter musste bis zum nächsten Morgen warten.
Dr. Georg Sedlmayr setzte sich auf, darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken, die sich zur Seite drehte.
»Wer ruft denn um diese Zeit an?« Zu spät. Theresa richtete sich schlaftrunken auf. Zorn in ihrer Stimme.
»Schlaf ruhig weiter.« Dr. Sedlmayr schälte sich aus der Daunendecke und humpelte aus dem Zimmer. Nach dem Aufstehen pulsierte stets der Schmerz durch sein Bein und er krallte sich am Geländer fest, als er die Treppe nach unten ging. Dieses verdammte Knie.
»Sedlmayr«, raunte er in den Hörer.
»Herr Doktor? Kommen Sie schnell in Ihre Praxis. Ein Notfall.« Er kannte die Männerstimme am anderen Ende nicht, doch er hörte Panik heraus. Trotz der kurzen Nachricht war Georg Sedlmayr sich aufgrund der Dialektfärbung sicher, dass der Anrufer nicht aus Bayern kam. Was wollte ein Nordlicht um diese Uhrzeit in seiner Praxis?
»Was ist passiert?«, hakte er nach.
»Ein Notfall. Nun kommen Sie einfach.« Der andere legte auf.
Verwundert sah Dr. Sedlmayr auf den Hörer, aus dem nur noch ein Rauschen drang. Wer zum Teufel war das? So schnell es sein Bein erlaubte, zog er sich an und eilte zum Auto. Vor dem Tor musste er anhalten, austeigen und es öffnen. Der Weg war vereist und glatt. Die Fahrt würde volle Konzentration erfordern, deswegen war es von Vorteil, dass er die Strecke in die Stadt in- und auswendig kannte.
Als er auf den Parkplatz vor seiner Praxis einfuhr, sah er bereits zwei Gestalten an der Tür warten. Ein Mann in einem langen, dunklen Mantel stützte eine Frau, die den Kopf an seine Brust gelehnt hielt. Als Dr. Sedlmayr aus dem Auto stieg und auf das Paar zuhumpelte, drehte der Mann den Kopf zur Seite. Seine Gesichtsfarbe war fahl, beinahe etwas gelb. Er trug einen schwarzen Hut, den er zog, als er den Doktor begrüßte. Hellgrüne Augen stachen hervor. Augen wie gemähtes Gras. Die Pupillen groß und schwarz wie Einschusslöcher. Die arrogante Art, wie der Mann den Hut gezogen hatte und mit gerümpfter Nase sein verkrüppeltes Bein beäugte, wirkte auf Sedlmayr sofort unsympathisch. Er bereute, dass er aus dem Bett gestiegen war. Aber ging es nicht um die Frau?
»Herr Doktor, wie gut, dass Sie so schnell kommen konnten.« Der Mann streckte ihm mit einem Lächeln, das nicht die Augen erreichte, die Hand entgegen und drückte sie. Ein fester, ordentlicher Händedruck, den Georg Sedlmayr nicht von dem schlanken, beinahe zarten Mann erwartet hatte. Dennoch fühlte er sich nicht echt an, so als hätte er viele Male geübt, wie er die Hand des Gegenübers schütteln sollte. Seine Handflächen waren weich wie Butter. Wahrscheinlich hatte er im Norden noch nie eine Schaufel oder einen Besen benutzt. Ein Schreibtischtäter. Immer wieder waren ihm Leute wie er begegnet. In der Praxis. Im Leben. Sie hielten nichts von Wartezeiten, stellten sich über Bauern, Maurer und Schmiede. Sie hielten sich für etwas Besseres.
Die Augen des Mannes kamen ihm irgendwie bekannt vor. Aber woher? War er ihm womöglich schon einmal begegnet? Sedlmayr grub tief in seinen Erinnerungen. Unmöglich. Er hatte ein extrem gutes Gedächtnis, wenn es um Gesichter und Namen ging. Schreibtischtäter waren die schlimmste Sorte Mensch. Der Schmerz in seinem Bein erinnerte ihn wieder daran, dass er seine Verwundung auch einem Mann verdankte, der selbst noch nie Frontluft geschnuppert hatte. Er unterschrieb wichtige Dokumente und Befehle, entschied über das Leben und den Tod unzähliger Soldaten, schickte sie in die schlammigen Gräben, schickte neue Männer nach, wenn die alten abgeschossen worden waren wie Wachteln. Nein. Er durfte nicht an die dunkelste Zeit zurückdenken. Nicht jetzt.
Die Gesichtshaut des Fremden erinnerte an die eines Kindes. Glatt. Bartlos. Nicht einmal ansatzweise sprossen Bartstoppeln darauf. Aber es ging nicht um ihn.
Der Mund der Frau war vor Schmerz nur noch ein schmaler Strich, die Augen hielt sie geschlossen und immer wieder entschlüpfte ein Stöhnen ihren Lippen.
Der Doktor zog den Schlüssel der Praxis heraus und öffnete die Tür. »Bitte, kommen Sie herein.« Sofort führte er das junge Paar in den Behandlungsraum und half der Frau, auf der Liege Platz zu nehmen.
»Was ist passiert?«
»Sie ist gestern Abend in der Menge hingefallen und zahlreiche Menschen sind einfach über sie getrampelt wie eine Herde Elefanten.« Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Sie dachte eigentlich, dass es nicht so schlimm wäre, doch die Schmerzen sind immer größer geworden«, antwortete er für sie, »und dann musste ich Sie einfach kontaktieren.« Er wirkte, als wäre ihm die Situation äußerst unangenehm.
»Sie haben alles richtig gemacht.«
Dr. Sedlmayr half der Dame aus ihrem Wintermantel. Erst jetzt sah er, dass sie darunter nur ein Nachthemd trug. Ihr Mann wandte sich beschämt ab.
»Sie war nicht in der Lage sich anzukleiden«, versuchte er den Anblick seiner Frau zu entschuldigen.
»Können Sie das Nachthemd ausziehen?«, fragte der Arzt die junge Frau behutsam. Ein zaghaftes Nicken. Ihr Mann zog laut hörbar Luft ein, doch er protestierte nicht.
Der ganze rechte Brustkorb färbte sich bereits lila und blau. Als Sedlmayr sie berührte, zuckte sie unter seinen Fingern zusammen und wimmerte. Zwei Rippen waren mit Sicherheit gebrochen. Mit dem Stethoskop hörte er ihre Lunge ab und war erleichtert, dass es keine großen Auffälligkeiten gab. Anschließend tastete er ihren Bauch ab. Diese Frau war zerbrechlich wie eine Blume. Sie schien aber auf den ersten Blick keine inneren Verletzungen zu haben.
»Sie bekommen gleich ein Schmerzmittel. Dann müssen wir Sie röntgen. Ich vermute, dass zwei Rippen gebrochen sind.«
»Gebrochen? Sind Sie sich sicher, Herr Doktor?« Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. Er leckte sich über die Lippen und verschränkte die Finger, sodass die Knöchel weiß anliefen.
Georg Sedlmayr ignorierte ihn und zog eine Spritze auf, die er ihr in die Vene stach. Augenblicklich wurde der Atem der Frau etwas ruhiger.
»Bitte gehen Sie kurz vor die Tür, während ich Ihre Frau röntge.« Der Mann hob die Augenbrauen, verzog die Lippen aber dann zu einem Grinsen, erhob sich und ging vor die Tür.
»Es wird nicht weh tun. Keine Sorge«, redete er auf die Frau ein. Als er fertig war, holte er den Mann wieder herein, der nur wenige Zentimeter von der Tür entfernt gestanden hatte. Hatte er gelauscht? Als der Arzt zurück zum Behandlungstisch humpelte, spürte er erneut, wie der Fremde ihn beäugte. Sedlmayr entschied sich für die Konfrontation.
»Interessant, nicht wahr?« Ertappt zuckte der Mann zusammen, als wäre er von seiner Mutter beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt worden.
»Tut mir leid. Ich äh …« So leicht war er also aus der Fassung zu bringen. Er schien noch nicht viel Erfahrung zu haben.
Sedlmayr ließ ihn nicht aus und wandte bewusst den Blick nicht ab. Sollte er doch rot anlaufen.
»Ihr Bein. Wie ist das geschehen?« Endlich rückte er mit der Sprache heraus.
»Krieg.« Eine knappe Frage, eine knappe Antwort.
»Sie haben bestimmt heldenhaften Mut auf dem Schlachtfeld bewiesen.« So einer war er also.
»Im Krieg gibt es keine Helden«, meinte Sedlmayr, woraufhin der Fremde wieder die Augenbrauen hob. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch der Doktor ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ein Krieg fordert nur Opfer. Tote. Invaliden. Verkrüppelte Seelen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie diese Erfahrung machen müssen.« Schachmatt. Der Fremde sah beschämt wie ein Schuljunge auf seine Schuhspitzen. Sedlmayr entschied von ihm abzulassen und begann mit seiner Diagnose.
»Ich kann Ihnen erst morgen Genaueres sagen, wenn die Röntgenbilder entwickelt sind. Ich bin mir aber, wie bereits vorher schon erwähnt, sicher, dass mindestens zwei Rippen gebrochen sind. Ihre Frau sollte unbedingt das Bett hüten. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Ich melde mich dann sofort bei Ihnen, Herr …?«
»Winter. Erich Winter.« Der Name versetzte ihm einen Stich. Winter. Grüne Augen. Wie die einer Schlange. Er hatte all die Jahre gehofft, dass er diesen Namen nie wieder laut aussprechen müsste. Nun befiel ihn Atemnot. Er lockerte seinen Kittel und zog die Luft ein. Der Fremde schien sein Entsetzen bemerkt zu haben.
»Ist etwas, Herr Doktor?«
Sedlmayr schüttelte den Kopf und wandte sich der Frau zu.
»Bleiben Sie bitte im Bett und schonen Sie sich«, sagte er zu ihr. Stummes Nicken.
Erich Winter strich mit steifen Fingern über die rotblonden Haare seiner Frau. »Das wird schon wieder, Helene«, raunte er ihr zu. Seine Stimme klang kalt. Ohne Wärme.
»Vielen Dank, Herr Doktor, dass Sie sich Zeit genommen haben. Für die Nachtschicht werde ich Sie natürlich entschädigen.«
»Das ist nicht nötig. Ich bin Arzt. Krankheiten und Verletzungen suchen sich nicht die passende Zeit aus.«
»Das klingt sehr selbstlos, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich möchte nicht als Schmarotzer dastehen. Ich bringe das Geld morgen in die Praxis, wenn ich die Röntgenbilder ansehe.« Seine Stimme duldete keinerlei Widerspruch.
»Also schön. Dann sehen wir uns morgen wieder.«
Winter nickte zufrieden und half seiner Frau aufzustehen. Helene Winter drückte dem Doktor noch kurz die Hand, dann war das Paar aus seiner Praxis verschwunden.
Georg Sedlmayr sank auf dem Stuhl zusammen und stützte den Kopf in die Arme. Das konnte doch nicht wahr sein? Die grünen, kalten Augen. Der Name? Er musste Hans Sternlicht Bescheid geben. Oder sollte er es besser für sich behalten? All die Jahre hatte er seine Gefühle im Griff gehabt und allein der Klang dieses Namens ruinierte alles. Georg Sedlmayr gab es nicht gern zu. Aber er hatte Angst.
1. Februar 1933