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© 1976/2021 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-118-0
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Old Donegals Blick hinter die Kimm läßt die Arwenacks erschauern
„Gegen diese Stollen ist die Hölle ein gemütliches Spinnstübchen“, sagte Edwin Carberry und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Er hatte recht. Die Schwefelminen von Kavali, nördlich von Madras, waren ein Ort des Grauens. Staub und Dreck, dazu noch die brüllende Hitze, gnadenlose Aufseher und Fesseln an den Füßen – das ging auch den Arwenacks mächtig an die Nieren …
Jean Ribault – hat für den Stützpunkt des Bundes der Korsaren eine schwere Entscheidung zu treffen.
Hesekiel Ramsgate – glaubt sich zu irren, als er nachts im Kontor seiner Werft einen kurzen Lichtschein sieht.
Milton Smithfield – der Dritte Offizier der gestrandeten „Glorious“ hat keine Skrupel, seinen Rettern das Fell über die Ohren zu ziehen.
Hosea Ashburn – ist als bankrotter Kaufmann ständig auf der Suche nach dem ganz großen Geschäft.
Siri-Tong – die Rote Korsarin gerät auf Tortuga in die Hände von Erpressern.
Thorfin Njal – der Wikinger erlebt bei seiner Rückkehr in den Stützpunkt eine böse Überraschung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Drawida Shastri, der falsche Sultan, hatte in der Tat ein feines Süppchen für den Seewolf und seine Mannen gekocht, indem er sie als Sklaven an den Besitzer der Schwefelminen verkauft hatte. Bei der mörderisch harten Arbeit und der äußerst mangelhaften Ernährung ließ der körperliche Zusammenbruch in der Regel nicht lange auf sich warten. Zudem führten Dunkelheit, dichte Staubwolken und gefährliche Schwefeldämpfe bei vielen Arbeitern zur Erblindung. Und am Ende des Weges lauerte der Tod.
Philip Hasard Killigrew trank in kleinen Schlucken von seiner spärlichen Wasserration.
„Du hast es wieder mal erfaßt, Ed“, sagte er. „Ich würde auch lieber der Großmutter des Teufels beim Gemüseputzen oder Zwiebelschneiden helfen.“
„Und ich wäre sogar bereit, die ganze Hölle aufzuklaren und die riesigen Kessel umzurühren, in denen die Bösewichte schmoren“, sagte Ferris Tucker. „Selbst das wäre noch erträglicher, als in diesen verstaubten Mauselöchern herumzuwühlen.“
Die übrigen Seewölfe dachten ähnlich. Die meisten umklammerten ihre hölzernen Wasserbecher, als seien sie mit Rum gefüllt, und wünschten sich nichts sehnlicher, als den Staub und Dreck der vergangenen Tage durch einen Sprung in klares Wasser abspülen zu können. Doch daran war vorerst nicht zu denken. Alles, was sie zu erwarten hatten, waren einige Stunden Schlaf unter strengster Bewachung durch die brutalen Aufseher. Danach, im ersten Morgengrauen, würde die ganze Tortur von vorn beginnen.
Das waren trübe Aussichten für die Männer, und wie es aussah, gab es keine Chance für sie, dieser Hölle an der indischen Ostküste zu entrinnen.
Die meisten redeten sich ihren Grimm von der Seele. Bis auf einen. Er saß an diesem Abend etwas abseits und hüllte sich – was sonst selten geschah – in anhaltendes Schweigen: Old Donegal Daniel O’Flynn.
Zunächst nahmen die Arwenacks an, der rauhbeinige Alte sei einfach nur müde. Schließlich hatte er es mit seinem Holzbein in den Stollen besonders schwer. Doch dann sahen sie sein verwittertes Gesicht, dessen Züge an eine aus Granit und Eisen gehauene Statue erinnerten.
Old Donegal hockte bewegungslos am Boden, hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen starr in die Ferne gerichtet. Wie es schien, nahm er weder seine Kameraden wahr, noch die Hitze, den Dreck und die trostlose Umgebung.
Die Arwenacks kannten das, und einige begannen zu grinsen, obwohl ihnen gar nicht danach zumute war.
„Donegal blickt mal wieder hinter die Kimm“, sagte Ben Brighton. „Hoffentlich sieht er was Hübscheres als wir.“
Ferris Tucker rieb sich die rötlichen Bartstoppeln. „Fast könnte man neidisch werden auf den alten Zausel. Während wir mit dummen Gesichtern hier herumhocken und auf bessere Zeiten warten, schaut er sich hübsche Meerjungfrauen an.“
„Vielleicht hat er auch Pech, und es sind heute nur alte, grauhaarige Wassermänner zu sehen“, meinte Mac Pellew mit griesgrämigem Gesicht. „Da hält der Spaß auch nicht lange an.“
„Abwarten“, beschied Edwin Carberry. „Vielleicht sieht der Admiral auch mal was Vernünftiges. Wie wär’s mit einem geheimen Gang, der von den Stollen aus geradewegs nach England führt und dort in den Weinkellern der guten Lissy mündet, was, wie?“
Die Männer lachten verhalten. Ihre verschwitzten und mit Staub verschmierten Gesichter wirkten dabei wie Grimassen. Dennoch achteten sie wohlweislich darauf, daß die Aufseher es nicht bemerkten. Wenn jemand lachte, gingen die Kerle in der Regel davon aus, daß es ihm zu gut ging, und dann sorgten sie gründlich dafür, daß ihm das Lachen verging.
Man ließ Old Donegal in Ruhe. Sehr oft passierte es ohnehin nicht, daß er „hinter die Kimm“ blickte, und aus einer Art Kameradschaftsgefühl heraus gönnte man ihm das kleine Vergnügen. Außerdem war die Zeit, in der man einigermaßen ungestört miteinander reden und Fluchtmöglichkeiten erörtern konnte, ohnehin sehr begrenzt. Sie mußte ausgenutzt werden, darüber waren sich die Arwenacks im klaren, denn mit jedem Tag, den sie in dieser mörderischen Mine verbrachten, rückten sie dem grinsenden Sensenmann ein Stück näher.
Die Zeit verstrich, und das gedämpfte Stimmengewirr der Minenarbeiter, das überall im Lager zu hören war, wurde immer wieder vom Brüllen und Fluchen der Aufseher übertönt. Die Peitsche saß bei diesen Burschen ziemlich locker, und so manch einer erfuhr nie, warum plötzlich die verknoteten Lederriemen blutige Spuren über seinen nackten Rücken zogen.
Noch bevor sich die Abenddämmerung rasch und fast unmerklich in Dunkelheit verwandelte, ging ein schwaches Beben durch Old Donegals Körper. Seine am Boden kauernde Gestalt geriet in Bewegung, und sein Kopf wandte sich langsam den anderen Arwenacks zu. Meist pflegte das alte Rauhbein bei seiner „Rückkehr“ verlegen, ja, fast entschuldigend zu grinsen. Diesmal aber blieb sein Gesicht ernst. Sehr ernst sogar.
„Deinem Gesicht nach ist es nicht besonders spaßig gewesen, Donegal“, ließ sich Edwin Carberry vernehmen. „Ich möchte fast wetten, daß du hinter der Kimm nur bucklige Bilgengespenster gesehen hast. Habe ich recht?“
Old Donegal schwieg noch einen Moment, als müsse er erst mal seine Gedanken ordnen. Doch das übliche Grinsen – es blieb auch nach Carberrys Bemerkung aus.
„Wir müssen weg von hier – so schnell wie möglich“, murmelte er schließlich.
„Mann, bist du wieder mal schlau, Mister“, grollte der Profos. „Rate mal, über was wir uns die ganze Zeit die Köpfe zerbrochen haben?“
„Es geht nicht um uns“, fuhr Old Donegal mit ernstem Gesicht fort, „sondern um unsere Leute auf dem Stützpunkt …“
„Du sprichst von Great Abaco?“ fragte der Seewolf. „Die Karibik ist aber verdammt weit weg von hier, Donegal.“
„Das weiß ich so gut wie ihr“, entgegnete der Alte unbeirrt. „Aber das ändert nichts daran, daß der Stützpunkt und alle, die sich dort aufhalten, in Gefahr sind. Auch meine Mary und der kleine Edwin Shane und all die anderen …“
Die Arwenacks horchten auf. Gefahr auf Great Abaco, ihrer zweiten Heimat? Als ob sie nicht schon genug Probleme hätten!
„Diesen Witz finde ich aber nicht besonders gut, Donegal.“ Ferris Tucker zog die Stirn kraus. „Etwas Lustiges wäre uns zur Zeit lieber.“
„Mir auch, Ferris“, erwiderte Old Donegal und bedachte den rothaarigen Schiffszimmermann mit einem tadelnden Blick. „Aber leider gibt es nichts Lustiges zu vermelden, und wenn du es genau wissen willst: Mir ist ziemlich mulmig zumute.“
„Sprich, Donegal“, forderte der Seewolf.
Auch seine Stimme brachte Besorgnis zum Ausdruck. Er konnte sich deutlich genug daran erinnern, daß sich etliche Wahrträume des Alten in erstaunlicher Weise als zutreffend erwiesen hatten. Es war nun mal nicht abzustreiten, daß er so etwas wie das Zweite Gesicht hatte – oder wie immer man das auch nennen mochte.
„Der Himmel – war schwarz über unserer Insel“, berichtete Old Donegal etwas stockend. „Ein schwerer Sturm zog herauf – ein wirklich schwerer Sturm. Dann – dann sah ich ein Schiff, eine Galeone. Sie lief auf unsere Bucht zu. Offenbar suchte sie Schutz vor dem Sturm, aber sie schaffte es nicht mehr und zerschellte in den Klippen. Es war schlimm, sehr schlimm. Aber einige Männer überlebten das Unglück, weil unsere Leute ihnen halfen …“
„Kannst du dich erinnern, was das für Männer waren?“ unterbrach Hasard.
„Sie – sie sahen aus wie wir. Es könnten Engländer gewesen sein“, fuhr Old Donegal fort. „Sieben Männer waren es. Dann sah ich wieder dunkle Wolken. Danach ein riesiges Feuer. Dieses Feuer wiederholte sich. Später sah ich zwei tote Männer, die nicht zu den Schiffsbrüchigen gehörten.“
„Hast du die Toten erkannt?“ fragte der Seewolf.
Donegal zuckte mit den Schultern. „Ich sah ihre Gesichter nicht deutlich genug. Ebensowenig konnte ich erkennen, was da brannte. Mehr konnte ich leider nicht wahrnehmen.“
Das Gesicht des Seewolfs wirkte nachdenklich. „Und du bist ganz sicher, daß sich das alles auf unseren Stützpunkt bezogen hat?“
„Ganz sicher.“
Nun zeigten auch die anderen Männer betretene Gesichter. War ihr geheimer Stützpunkt wirklich in Gefahr, oder hatte Old Donegal nur geträumt? Ungewißheit setzte ein. Und diese quälende Ungewißheit ließ die Arwenacks die ganze Nacht hindurch kaum Schlaf finden. Hinzu gesellte sich das bittere Gefühl der Ohnmacht. Zwischen den Schwefelminen von Kavali und der Karibik lagen Welten – Welten, die sie in ihrer hoffnungslosen Lage nur durch Gedanken überbrücken konnten.
Great Abaco, Anfang November 1599.
Tropische Hitze überzog die Dünen und sanften Hügel der Insel mit einem flirrenden Schleier. Die Sonne verlieh den zahllosen Palmen, Abakokiefern und Farnbäumen satte, leuchtende Farben. Die Wellen liefen im rhythmischen Spiel gegen den hellen Sandstrand des im Nordosten gelegenen Cherokee-Sounds. Das ewige Rauschen und Plätschern des Wassers wurde lediglich vom Geschrei der Möwen übertönt.
Für den Bund der Korsaren war die Insel in der Tat ein kleines Paradies. Häuser aus Stein und Holz fügten sich idyllisch in die Landschaft ein und verschmolzen teilweise mit dem schattenspendenden Grün der Bäume und Büsche. Im klaren Wasser der versteckt gelegenen Bucht schwoite ein Teil der Schiffe des Bundes an den Ankertrossen.
In der kleinen Werft Hesekiel Ramsgates wurde gehämmert und gesägt. Außerdem hatte man einen Dreimaster aufgeslipt, um ihn von seinem hartnäckigen Muschelbewuchs zu befreien. Ein halbes Dutzend Männer war mit dieser schweißtreibenden Arbeit beschäftigt.
Hesekiel Ramsgate, einer der besten Schiffsbauer Englands, hatte seinen Betrieb in Plymouth bereits vor Jahren verlassen und war den Seewölfen mit seinen Plänen, Werkzeugen und einem Teil seiner besten Arbeiter in die Karibik gefolgt. Die Männer hatten hier nicht nur ein neues Betätigungsfeld, sondern auch eine neue Heimat gefunden.
Ramsgate hielt sich in seinem kleinen Kontor auf. Dort stand er am Pult und kramte in Plänen und Zeichnungen. Da er durch das gegenüberliegende Fenster fast das ganze Werftgelände überblicken konnte, entdeckte er Don Antonio, der zielstrebig auf das Kontor zuhielt. Über Ramsgates zerfurchtes Gesicht huschte ein Lächeln, wenige Augenblicke später klopfte er dem fülligen Spanier freundschaftlich auf die Schulter.
„Fein, daß du den alten Ramsgate nicht vergessen hast, Don Antonio.“
„Versprochen ist versprochen, Señor Ramsgate. Hier sind die beiden Balkenschlüssel. Ich wußte doch, daß wir noch einige dieser Dinger auf Lager haben.“ Der Spanier händigte dem Schiffsbauer die beiden Zubehörteile für ein sogenanntes Bratspill aus, das zum Einholen von Leinen und Trossen benutzt wird.
Ramsgate bedankte sich. „Meist sind es gerade die kleinen Dinge, die fehlen. Ich freue mich, daß wir ein so ordentlich geführtes Lager haben, Don Antonio. Möchtest du nicht noch ein Gläschen Rotwein trinken?“
Der Spanier vollführte eine bedauernde Geste.
„Normalerweise gern“, sagte er, „doch ich habe Señora O’Flynn versprochen, so rasch wie möglich zur ‚Rutsche‘ zu kommen. Heute wird wieder mal jede Hand gebraucht.“
„Kein Wunder“, meinte Hesekiel Ramsgate. „Bei dieser Hitze gibt’s trockene Kehlen. Außerdem wird es schon Abend, und die meisten haben ihr Tagewerk hinter sich. Weißt du was, mein Lieber? Ich begleite dich. Ein Abend unter guten Freunden in ‚Old Donegals Rutsche‘ – was könnte es Schöneres geben!“
„Du sagst es“, bestätigte Don Antonio und lächelte. Sein rundliches Gesicht signalisierte dabei ein hohes Maß an Zufriedenheit.
Nachdem Hesekiel Ramsgate die Balkenschlüssel in sein Kontor gebracht hatte, begaben sich die beiden Männer auf den Weg zur einzigen Kneipe im Stützpunkt.
An Don Antonio de Quintanilla erinnerte außer der fülligen Gestalt absolut nichts mehr an den, der er einmal gewesen war – der leichtlebige und korrupte Gouverneur der spanischen Krone auf Kuba. Er hatte in seinem Palast in Havanna Hof gehalten wie der König in Madrid. Rauschende Bälle, Freß- und Saufgelage in der Gesellschaft glutäugiger Señoritas waren damals an der Tagesordnung gewesen.
Die Zeit, die dann noch verblieben war, hatte er mit glühendem Eifer darauf verwandt, den Seewolf und seine Mannen zu verfolgen, um die vom spanischen König ausgesetzte hohe Belohnung zu kassieren. Doch schließlich hatte er aufgrund eigener bitterer Erfahrungen einsehen müssen, daß er diesen Männern unrecht tat. Schließlich hatte die politische Entwicklung in Spanien sogar dazu geführt, daß er auf die Hilfe der Seewölfe angewiesen war.
Das alles gehörte längst der Vergangenheit an, und nicht nur hinsichtlich der Stellung Don Antonios, sondern auch in bezug auf seine Persönlichkeit waren gewaltige Änderungen zum Positiven hin vor sich gegangen. Der Stützpunkt des Bundes der Korsaren, für dessen Auffinden er früher selber hohe Belohnungen ausgesetzt hatte, war ihm längst zur neuen Heimat geworden. Diejenigen, die er in seiner Verblendung gejagt hatte, waren heute seine engsten und zuverlässigsten Freunde.
Don Antonio hatte sich bemerkenswert rasch von den Annehmlichkeiten seiner Feudalherrschaft gelöst und gelernt, seine Hände zu nützlicher Arbeit zu gebrauchen. Als Lagermeister und Furier gab es auf Great Abaco eine Menge für ihn zu tun. Und immer, wenn in „Old Donegals Rutsche“ Hochbetrieb herrschte, bereitete es ihm Spaß, beim Ausschenken und Bedienen zu helfen.
„Die Zeit vergeht, Don Antonio. Und bevor man sich versieht, sind es schon einige Jährchen, die du bei uns bist“, fuhr der alte Ramsgate fort. „Ich habe dich immer bewundert, weil du dich so gut hier eingelebt hast, obwohl du doch aus einer ganz anderen Welt stammst.“