Antje Babendererde
Sommer der blauen Wünsche
Weitere Bücher von Antje Babendererde im Arena Verlag:
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Die verborgene Seite des Mondes
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Der Gesang der Orcas
Lakota Moon
Talitha Running Horse
Findet mich die Liebe?
Sommer der blauen Wünsche
ist auch als Hörbuch erhältlich.
Antje Babendererde,
geboren 1963, wuchs in Thüringen auf und arbeitete
nach dem Abi als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und Töpferin,
bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren
gilt ihr besonderes Interesse der Kultur, Geschichte und heutigen
Situation der Indianer. Ihre einfühlsamen Romane zu diesem
Thema für Erwachsene wie für Jugendliche werden von der Kritik
hochgelobt. Mit Sommer der blauen Wünsche entführt
Antje Babendererde ihre Leser nun erstmals in die schottischen
Highlands, an die sie auf ihren Reisen ihr Herz verloren hat.
1. Auflage 2021
© 2021 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,
unter Verwendung von Bildern von Shutterstock © Derplan 13,
Nicetoseeya, Carlos G. Lopez, michaeljung, Yuliya Loginova,
UfaBizPhoto, margit777 und Paladin12
Innenvignetten: Shutterstock © Nicetoseeya
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN 978-3-401-80940-3
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www.arena-verlag.de
1
»Bald sind wir da«, sagt Gran Silke, »das ist schon der Kyle of Durness. Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer.«
Eingelullt vom Geschaukel des alten Skoda, muss ich weggenickt sein. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von vierzig km/h lenkt meine Oma ihr Auto über eine einspurige Straße, die sich als grau schimmerndes Band durch eine kahle Heidelandschaft zieht. Es nieselt und graue Wolkenschleier verhüllen die Kuppen braungrüner Hügel, die wie die Flanken eines schlafenden Fabeltieres den Kyle, einen gewundenen Meeresarm, säumen.
Offenbar kann man im Nordwesten der Grafschaft Sutherland außer Schafezählen nicht viel anderes machen. Gran wohnt in einer kleinen Künstlerkolonie am Rand der schottischen Küstengemeinde Caladale. Zweihundert Menschen leben im Dorf, zwanzig in der Kolonie, die für eine Weile auch mein Zuhause sein wird.
Viel weiß ich nicht über die Mutter meines Vaters, nur dass sie als Lehrerin arbeitet, ursprünglich aus Marburg stammt und mit Malcolm Mackenzie, einem schottischen Brückenkonstrukteur, durchgebrannt ist, der zwanzig Jahre älter war als sie.
»Gran und Grandpa sind nicht mehr deine Großeltern, weil dein Dad nicht mehr dein Dad ist«, hatte Ma mit energischer Bestimmtheit zu mir gesagt, nachdem mein Vater auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.
Gran hat sich in den vergangenen zehn Jahren, in denen Ma sie aus unserem Leben verbannt hat, kaum verändert. Zwar überwiegt nun das Grau in ihrem dicken, einst schwarzen Haar und mir sind auch die feinen Falten um ihre bernsteinfarbenen Augen nicht entgangen. Aber als meine Oma auf dem Flughafen von Inverness vor mir stand, habe ich sie sofort wiedererkannt.
Während die düsterkahle Landschaft an uns vorüberzieht und pausenlos Nieselregen niedergeht, befallen mich Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war hierherzukommen.
»Im Flieger hat jemand gesagt, das normale Wetter endet da, wo Schottland beginnt.«
Gran lacht. »Stimmt. Hier wechselt das Wetter von einem Moment auf den anderen.«
Wie die Stimmungen meiner Mutter, geht es mir durch den Kopf. Doch während dem schottischen Wetter mit nichts beizukommen ist, versucht man in einer geschlossenen Klinik in Berlin, die wogenden Gefühlszustände meiner Ma mit Psychopharmaka zu bekämpfen. Und ich komme mir vor wie eine Verräterin, weil ich es war, die den Notarzt gerufen hat.
»Carlin?«
»Hm.«
»Ich weiß, du machst dir Sorgen um deine Mutter, aber in der Klinik ist sie in den besten Händen. Du hast ihr das Leben gerettet, Schätzchen. Susanne braucht jetzt professionelle Hilfe.«
Schätzchen? Gran meint es gut mit mir, aber sie weiß nicht, was ich getan habe. Niemand weiß das, außer Ma. Wenn die Depression ihre dunklen Flügel hebt und sie es begreift, wird sie mich auf ewig dafür hassen.
Ich schlucke gegen die Enge an, die meine Kehle zuschnürt. Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich außerhalb der Welt meiner Mutter überhaupt existiere. Doch bei Gran werde ich weit weg von allem sein, was mein Leben bisher ausgemacht hat. Von einer Plattenbauwohnung in Berlin-Marzahn in den wilden Norden Schottlands an einem Tag. Tada!
»Du hast alles richtig gemacht, Carlin.« Gran tätschelt mein Knie.
Ich weiß, denke ich. Trotzdem sitzt das dämliche Schuldgefühl in meiner Brust wie ein kleines Tier, das mir seine spitzen Zähne ins Herz gräbt.
Wir erreichen Caladale, ein verschlafenes Nest, das aus einer losen Ansammlung von kleinen Häusern entlang der Straße besteht. Im Zentrum – links der Pub mit ein paar Fremdenzimmern darüber, rechts eine Tanke – stoßen wir auf die eigentliche Ortsstraße und den SPAR-Laden, der laut Gran tagsüber das gesellschaftliche Zentrum des Dorfes ist, so wie der Pub am Abend. Die Straßenschilder sind zweisprachig. Die gälischen Namen – A-Màireach, Clachan-ciúird Bhaile na Cille, Diurnais, Uam Smudha – sind unaussprechlich wie geheimnisvolle Zauberformeln.
»Sprechen denn die Leute hier überhaupt noch Gälisch?«, frage ich Gran.
»Oh ja, einige schon. Viele Eltern legen wieder Wert darauf, dass es an der Schule Gälischunterricht gibt.«
Auf den Schildern, die nach rechts weisen, lese ich Durness, Campingplatz, Smoo Cave, Loch Eriboll und Wick. Nach links geht es zur Künstlerkolonie Little Caladale, zur Caladale Bay, zum Friedhof und zum Golfplatz. Gran setzt den Blinker und biegt nach links.
»Hinter dem Golfplatz ist Schluss«, sagt sie. »Schroffe Klippen und dann nur noch Meer bis Island.«
Caladale ist der Arsch der Welt, aber das wusste ich, bevor ich Gran angerufen habe.
Wir passieren eine alte, weiß getünchte Kirche mit einem großen Holztor, das weit offen steht. Drinnen aufgebockt das helle Gerippe eines Bootes. Hinter dem zweckentfremdeten Gotteshaus säumen Trockensteinmauern die schmaler werdende Straße. Zottelige Schafe mit schwarzen Gesichtern und gescheckten Beinen stehen auf regennassen Wiesen. Drei Ponys mit zerzausten Mähnen heben neugierig ihre Köpfe über die Mauer.
Am Ende des Dorfes macht die Straße eine Linkskurve, bevor sie leicht nach unten abfällt. Gran bremst und bleibt stehen. Links vor uns liegt Little Caladale, eine großflächig verteilte Ansammlung von flachen Steinbaracken mit überdimensionalen Betonquadern auf den Dächern, die zwischen Bäumen und Sträuchern hervorragen. Rechter Hand blicke ich einen grünen Hügel hinab auf eine lang gezogene, sandige Bucht mit einem schmucklosen, alten Bau, der herrschaftlich über dem Strand thront.
Plötzlich ein Riss in den Wolken. Sonnenlicht flutet die von Trockenmauern und Schafen gemusterten Hügel, die unter Nebelschwaden geheimnisvoll glitzern. Die Wände des großen Hauses erstrahlen hell. Ein breiter Regenbogen in Rot, Orange, Gelb, Grün, Indigo und Violett spannt sich über der leuchtend türkisfarbenen See mit den weißen Schaumkronen.
»Caladale heißt dich willkommen«, bemerkt Gran lächelnd.
Wow. Auf einmal bin ich hellwach, mein Herz schlägt schneller und fast meine ich, den Salzduft des Meeres riechen zu können.
Gran lässt ihren Skoda die letzten hundert Meter bis zur Einfahrt der Künstlerkolonie rollen und erzählt, dass man in den Fünfzigerjahren hier eine militärische Frühwarnstation gebaut, die Gebäude jedoch nie genutzt hat. »Niemand hat sich dafür interessiert, sie waren den Herbststürmen überlassen. Mitte der Sechzigerjahre hat dann ein bunt zusammengewürfelter Haufen Aussteiger aus aller Welt die Militärgebäude und ein Stück vom umliegenden Land gekauft und zu einem kreativen Ort umgebaut.«
Gleich am Eingang empfängt uns ein hellblau gestrichenes Gebäude mit großen Fenstern und einer Terrasse mit Tischen und Stühlen, die von gelben Ginsterbüschen umgeben ist. Choco Factory prangt in Großbuchstaben über dem Eingang.
»Hier gibt es die besten Pralinen und die göttlichste heiße Schokolade im Umkreis von zweihundert Kilometern«, verspricht Gran mit einem Augenzwinkern. »Und wir wohnen gleich da drüben.«
Vor uns liegt eine kleine Rasenfläche. Drum herum stehen hinter Bäumen, Sträuchern und blühenden Stauden die ehemaligen Militärgebäude, die mit bunten Anstrichen versehen sind und Wohnungen, Läden und Werkstätten beherbergen. Fünfzehn Häuser, hat Gran gesagt, und zwanzig derzeitige Bewohner.
»Wie hat es dich ausgerechnet hierher verschlagen?«, will ich von ihr wissen.
Ursprünglich hatten meine Großeltern in Inverness gelebt und ich kann mich noch vage an unsere Besuche in ihrem kleinen Haus mit dem handtuchgroßen Garten erinnern. Als ich sieben war, stellte mein Vater fest, dass seine Familie ihm ein Klotz am Bein ist, und er machte sich aus dem Staub, um seine Karriere voranzutreiben. Seither hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm und auch nicht zu meinen Großeltern in Schottland. Ich wusste nicht mal, dass mein Großvater Malcolm gestorben war.
Als ich Gran vor einer Woche anrief und sie es mir erzählte, fürchtete ich, dass sie nichts mehr von mir wissen will. Doch als ich meiner Großmutter den Schlamassel schilderte, in dem ich steckte, schlug sie mir, ohne zu zögern, vor, eine Weile bei ihr zu wohnen. Sie hat mir ein Flugticket von Berlin nach Inverness gekauft und mich am Flughafen abgeholt.
»Malcolms Familie stammt aus Caladale.« Gran lenkt den Wagen nach rechts vorbei an einen kleinen Parkplatz, auf dem zwei Autos stehen. »In den letzten Jahren haben wir uns jeden Sommer in Caladale eine Ferienwohnung gemietet. Es war unsere schönste Zeit, obwohl dein Grandpa schon so krank war. Nach seinem Tod habe ich unser Haus in Inverness verkauft und bin in die Künstlerkolonie gezogen. Das ist jetzt sieben Jahre her und ich habe noch keinen einzigen Tag davon bereut.«
Gran parkt vor einem rot getünchten, L-förmigen Gebäude mit zwei weißen Eingangstüren und einer weißen Bank davor. Wir steigen aus und sie deutet auf den vorstehenden Gebäudeteil mit blühenden Blumen in Terrakottakübeln neben der Tür und einem kleinen Schaufenster, in dem gerahmte Grafiken hängen. »Mein Atelier und der Laden.«
Meine Oma unterrichtet Kunst und Englisch an der Grundschule in Durness, dem Nachbardorf von Caladale. Den kleinen Laden, in dem sie ihre Druckgrafiken und Kunstpostkarten verkauft, betreibt sie nur nebenbei.
»Ich werde dir alles zeigen«, sagt sie, »aber bringen wir erst mal die Einkäufe ins Haus.« Gran hat die weite Fahrt nach Inverness genutzt, um Lebensmittel einzukaufen und ein paar Dinge zu besorgen, die sie hier nirgendwo bekommt. Denn die Grafschaft Sutherland ist eine Grafschaft ohne Stadt. Bis nach Thurso, dem nächstgrößeren Ort mit einem Tesco Superstore, fährt man über zwei Stunden, bis nach Inverness mehr als drei.
Wir tragen Lebensmittel durch einen schmalen Flur in die behagliche Küche mit einer Eckbank und einem runden Esstisch aus Eichenholz, an den ich mich noch erinnere. Grandpa hatte zu jeder Kerbe in seiner Oberfläche eine Geschichte gewusst. Er hatte mir erzählt, es sei der Tisch eines Piratenkönigs, gebaut aus den Planken seines Schiffes, das vor der Küste an einer Klippe zerschellt war. Während ich mit den Fingern über die Tischplatte streiche und die Kerben mit den Fingern nachzeichne, kann ich die Stimme meines Großvaters hören und auf einmal vermisse ich ihn und sein gemütliches Lachen.
»Na komm«, sagt Gran mit belegter Stimme, »ich zeige dir dein Zimmer. Den Rest des Hauses kannst du dir später noch ansehen.«
Ich folge ihr durch den Flur und sie öffnet kurz die Tür zum Bad mit Waschmaschine und Trockner gleich neben der Küche. Die letzte Tür am Ende des Flures führt in ein geräumiges Zimmer mit breiten honigfarbenen Dielen und weiß gestrichenen Wänden. Auf dem Doppelbett in der Ecke liegt ein Quilt in den Farben des Meeres.
»Im Sommer vermiete ich sonst an Feriengäste, deshalb hast du hier dein eigenes kleines Bad.« Gran zeigt auf eine schmale Tür, doch ich schaue kaum hin. Eine breite Fensterfront mit einer Terrassentür zieht sich über die hintere Wand des Raumes. Sie gibt den Blick frei auf von Steinmauern gesäumte smaragdgrüne Wiesen, einen blauen, in der Sonne blitzenden See und Hügel, die grauviolett schimmern. Von der Terrassentür aus kann ich sogar ein schmales Band leuchtendes Meer sehen. Mein Herz schlägt schneller. Die Aussicht ist atemberaubend und ich habe Mühe, meinen Blick loszureißen.
»Was sagst du?«, fragt Gran vorsichtig. »Gefällt es dir?«
Auf den Dielen liegt ein Flickenteppich, vom selben Türkisblau wie der Quilt und die Kissen in den beiden Korbsesseln. Der Kleiderschrank mit Spiegeltür ist so groß, dass sich die wenigen Klamotten in meiner Sporttasche darin verloren vorkommen werden. Das deckenhohe Bücherregal ist, abgesehen von einer kleinen Büchersammlung, leer. Unter der Fensterfront steht ein Schreibtisch, und wieder wandert mein Blick hinaus auf die umliegenden Hügel und den See, der wie ein Topas in der Sonne funkelt. So flirrendes Licht. So unwirkliche Einsamkeit. Es brennt verdächtig hinter meinen Augen, denn ich muss an den tristen Ausblick von meinem Zimmer in Marzahn auf den benachbarten Wohnblock denken.
Ich drehe mich zu Gran um. »Oh ja, danke. Ich …« Und dann kommen die Tränen.
Meine Großmutter schließt mich in die Arme. »Willkommen, Kleines«, flüstert sie und ich spüre, dass ihr Körper genauso bebt wie meiner. »Ich bin so glücklich, dass du wieder Teil meines Lebens sein wirst.«
In der Küche schiebt Gran ein vorbereitetes Blech mit Lachsfilet, Kartoffelstücken und Gemüse in den Ofen, dann zeigt sie mir das Wohnzimmer. Schlichte helle Holzmöbel, ein hellblaues Sofa und zwei passende Sessel, die vor einem Panoramafenster stehen, durch das man denselben Blick wie aus meinem Zimmer hat. Vom Wohnzimmer geht eine Tür in ihr Schlafzimmer ab.
Gegenüber dem Wohnzimmer befindet sich der Laden und wir werfen noch einen kurzen Blick hinein. Der hintere Teil dient Gran als Atelier, wo sie ihre Linoldrucke herstellt. Im vorderen Teil verkauft sie ihre Kunstpostkarten und Drucke, aber auch bunte Schafwollmützen und Socken sowie eigenwilligen Schmuck, handgeschöpfte Seife aus Schafmilch und andere lokale Produkte.
Während Gran in der Küche den Tisch für zwei deckt, betrachte ich die gerahmten Fotos über der Eckbank. Da ist ein Hochzeitsfoto von meinen Großeltern, auf dem Gran nicht viel älter ist als ich. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid und Grandpa Malcolm ein weißes Hemd und eine schwarze Weste über einem Schottenrock im Mackenzie-Tartanmuster.
»Wow«, sage ich.
»Wie alle Schotten war dein Grandpa stolz auf seinen Clan«, bemerkt Gran. »Ein Viertelchen Mackenzie-Blut fließt auch in deinen Adern, Schätzchen. Wenn es dich interessiert, versorge ich dich mit Lektüre über deinen Clan.«
Meinen Clan? Über diese Dinge hatte ich noch nicht weiter nachgedacht, aber ich merke, dass meine Herkunft mich sehr wohl interessiert. Auf dem Foto daneben hält Gran einen Säugling im Arm, der auf jedem folgenden Bild immer älter wird und schließlich ein junger Mann mit schwarzem Haar und großen hellen Augen ist. Mein Vater Iain, ihr einziges Kind. Er hat in Berlin Architektur studiert und dort an der Uni meine Mutter kennengelernt. Ma hat mir erzählt, sie hätte sich wegen seiner Augen in meinen Vater verliebt und ich solle niemals einem Mann mit schönen Augen trauen.
Als ich geboren wurde, machte mein Vater seinen Abschluss an der Uni in Glasgow. Ma brach ihr Studium ab und zog mit mir wieder zurück ins Haus meiner Oma Marianne in Nienhagen, einem kleinen Ostseebad. Sie kellnerte und malte und wartete auf meinen Vater, der kam und ging, wie er wollte.
Auf dem nächsten Foto bin ich zusammen mit meinen Eltern zu sehen, da war ich drei oder vier. Und dann eins nur mit meinem Vater, er mit Dreitagebart und ich mit kurzen Haaren. Wir stehen vor einem Steinturm, der einsam aus weitem Moorland aufragt.
»Culloden Moor, das Schlachtfeld«, versucht Gran, mir auf die Sprünge zu helfen. »Das war dein letzter Besuch bei uns in Inverness, zusammen mit deinem Dad. Du warst sieben. Erinnerst du dich noch daran?«
Ich schüttele den Kopf und mein Blick wandert weiter zu einem Bild, auf dem mein Vater einen Hipster-Bart trägt und vor einem futuristisch aussehenden Haus steht.
»Das ist in Darwin, Australien.« Gran holt das Blech aus dem Ofen und tut uns auf. Es duftet köstlich und mein Magen knurrt, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Mein Vater lebt also in Australien.
»Ich bin nicht stolz auf Iain.« Gran stochert mit der Gabel in ihrem Gemüse herum. »Es war unverantwortlich von ihm, Susanne mit dir allein zu lassen. Dein Vater hat davon geträumt, ein berühmter Architekt zu werden, und tja, dabei wart ihr beide ihm wohl im Weg. Malcolm hat sich darüber mit seinem Sohn entzweit. Iain kam nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters, das kann ich ihm bis heute nicht verzeihen.« Gran wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und seufzt. »Damals, als Malcolm krank wurde, wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht, und der Kontakt zu deiner Oma Marianne brach ab.« Entschuldigend blickt sie mich an. »Es tut mir leid, Carlin, ich hätte versuchen müssen, Susanne und dich zu finden. Das war bestimmt keine leichte Zeit für dich, allein mit deiner Mutter.«
Keine leichte Zeit? Ich senke den Blick auf meinen Teller und denke an die emotionalen Achterbahnfahrten der letzten drei Jahre. Frage mich, ob Gran auch nur eine Ahnung davon hat, wie das für mich war, mit Ma zu leben. Mit einer Mutter, die zwei Gesichter hat, eins lachend, eins weinend. Eins fürsorglich, eins erschreckend. Und niemand, mit dem ich mir die Aufgabe, für sie da zu sein, teilen konnte.
Gran hätte Ma und mich problemlos finden können in Berlin. Sie hätte nur Susanne Schwarz und Malerin googeln müssen. Aber ich mache ihr keine Vorwürfe, denn was vergangen ist, kann man nicht mehr ändern. Und schließlich bin ich ja jetzt hier, bei ihr.
»Wenn du darüber reden möchtest …« Gran mustert mich beinahe bittend, aber ich schüttele den Kopf.
Ma ist in der Klinik und bekommt professionelle Hilfe – auch wenn sie die nicht will. Statt in einer Jugendeinrichtung bin ich in Schottland bei meiner Oma gelandet. Alles ist super. Ich will nicht über meine Mutter reden und auch nicht über mich. Ich will endlich ans Meer. Der Druck um meine Kehle löst sich und ich stürze mich auf Lachs und Gemüse. Genieße jeden Bissen. Freue mich, dass jemand für mich gekocht hat. Fühle mich willkommen und hoffe, dass ich gut mit Gran auskommen werde.
»Bestimmt wirst du dich hier schnell einleben und Kontakt zu Gleichaltrigen finden«, sagt sie, glücklich über meinen plötzlichen Appetit.
»Gibt es denn hier überhaupt Gleichaltrige?«, frage ich mit vorsichtiger Skepsis. An Grans Grundschule im Nachbardorf werden derzeit dreizehn Schüler im Alter von vier bis zwölf unterrichtet und ich habe das Gefühl, ein Sommer wird nicht reichen, um hier jemanden in meinem Alter zu treffen.
»Aber ja«, erwidert Gran. »Allerdings bleiben die jungen Leute lieber unter sich.« Ihr Gesicht hellt sich auf. »Drüben im Café arbeitet ein Mädchen aus dem Dorf, sie heißt Ruby und dürfte so alt sein wie du. Ruby ist offen und sehr nett. Wenn du dich mit ihr anfreundest, bekommst du vielleicht schneller Kontakt zu den einheimischen Jugendlichen.«
»Klingt zumindest nach einem Plan«, erwidere ich, um ihr eine Freude zu machen. Außerhalb der Schule habe ich die Gesellschaft von Menschen weitgehend gemieden und deshalb wenig Erfahrung damit, auf andere zuzugehen. Aber Caladale ist eine Welt weit weg von meinem wirklichen Leben und ich habe beschlossen, in den nächsten Wochen einiges nachzuholen, was ich in den vergangenen drei Jahren versäumt habe.
Schließlich halte ich es nicht länger aus, meine Ungeduld, ans Meer zu kommen, macht mich ganz kribbelig. »Gran, ist es okay für dich, wenn ich noch eine Runde drehe? Ich habe das Meer so sehr vermisst.«
»Na, worauf wartest du dann noch?« Meine Oma macht eine scheuchende Handbewegung. »Du kannst tun und lassen, was du willst, Carlin, nur hab dein Handy immer dabei, okay? Hier gibt es zwar so viele Funklöcher wie Kaninchenlöcher, aber hin und wieder funktioniert die Verbindung.«
»Mach ich«, sage ich, fasse in die Tasche meiner schwarzen Jeans und halte mein neues Handy in die Höhe, das Gran mir am Flughafen gekauft hat.
»Bis zur Bucht sind es nur ein paar Minuten zu Fuß«, sagt sie. »Du kannst überall entlanglaufen, aber wenn du ein Weidetor öffnest, dann achte darauf, es wieder hinter dir zu schließen, damit die Schafe nicht abhauen können. Sonst bekommen wir mächtigen Ärger mit den Campbells von der Farm.«
Wir, denke ich. Gran hat gerade wir gesagt. Ich darf tun und lassen, was ich will, bin aber nicht mir selbst überlassen. Das ist neu für mich und hört sich wundervoll an. Ich ziehe meine schwarze Windjacke über, und während ich die Schnürstiefel binde, frage ich meine Oma, ob es da draußen irgendetwas gibt, das ich an meinem ersten Tag unbedingt sehen sollte.
»Auf jeden Fall den Friedhof von Caladale und die alte Kirche.« Gran erzählt mir von Donald McMurdo, einem Straßenräuber und Mörder, der mindestens achtzehn Menschen auf dem Gewissen haben soll. »McMurdo wurde vor vierhundert Jahren am Loch Croispol hingerichtet. Für viel Geld hat er sich ein Grab in der Wand der Kirche von Caladale erkauft, weil er nicht wollte, dass seine Feinde über seine Gebeine hinwegtrampeln.«
Wow, denke ich, ein Massenmörder, der in einer Kirche begraben liegt. Willkommen in Schottland, Carlin.
2
Obwohl es schon fast neun ist, steht die Sonne noch hoch am Himmel und ich laufe durch eine Landschaft in Grün- und Goldtönen. Zwischen den Trockensteinmauern führt die schmale, geteerte Straße aus Caladale nach einer scharfen Rechtskurve weiter hinunter zur Bucht. Auf den Gänseblümchenwiesen grasen die zottigen Schafe mit ihren schwarzen Gesichtern und kleine Wildkaninchen stoßen Warnrufe aus, als sie mich bemerken. Hakenschlagend hoppeln sie von Bau zu Bau.
Nach ungefähr dreihundert Metern liegt zu meiner Linken der Friedhof. Hinter der Mauer, die ihn umgibt, ragen Grabsteine und die stufenförmige Silhouette eines alten, aus grauem Stein erbauten Gemäuers auf. Rechter Hand befindet sich über einem halb verfallenen Steingebäude ein kleiner Parkplatz, dahinter ein versumpfter Teich mit leuchtend gelben Schwertlilien. Das alte Herrenhaus beherrscht die Bucht. Wie ein Wächter thront es auf dunklem Fels, beschienen von der Abendsonne.
Ich bin fast da, schmecke das Salz in der Luft, höre das sanfte Rauschen des Meeres. Carlin, Carlin!, ruft es nach mir. Die letzten Meter hinunter zum Strand renne ich. Türkisgrün funkelt das Wasser über beinahe weißem Sand. Der breite Strand und die Dünen dahinter ziehen sich sichelförmig bis zu einer Landzunge, die weit ins Meer ragt. Die hereinkommende Flut überspült den Sand mit schaumigen Bögen. Das alles nur für mich, denke ich, denn außer mir ist keine Menschenseele in Sicht.
Ich lasse mich rücklings fallen, strecke alle viere von mir und meine Hände streichen immer wieder über den weichen Muschelsand. Wie habe ich das vermisst: den Salzduft der See, das Rauschen der Wellen. Schließlich schlüpfe ich aus Schuhen und Socken, laufe zur Wasserlinie und grabe meine Zehen in den kühlen, feuchten Sand.
Endlich. Endlich. Endlich.
Von der Strandseite aus wirkt das Herrenhaus massig wie eine mittelalterliche Trutzburg. Es hat zwei spitz aufragende Giebel mit Kaminen an beiden Enden des Daches. Ich zähle neun verschieden große Sprossenfenster, die scheinbar unwillkürlich verstreut in der schmucklosen Rückwand sitzen. Die sinkende Abendsonne leuchtet wie Feuer in den Fensterscheiben, als ich am Haus vorbeilaufe.
Ein paar Meter vor mir streiten zwei Mantelmöwen kreischend um einen silbrigen Fisch. Ich habe einen Heidenrespekt vor den Vögeln mit den rot umrandeten Augen und scharfen Schnäbeln, also mache ich einen weiten Bogen um sie. Als eine schäumende Welle über meine nackten Füße schwappt, stoße ich einen spitzen Schrei aus und bekomme fast einen Kälteschock. Die karibischen Farben täuschen darüber hinweg, dass der Nordatlantik auch Anfang Juni noch kalt ist wie ein Eismeer.
Eine Windböe fährt unter meine Jacke, und als mich die nächste Welle erwischt, renne ich, meine Schuhe in den Händen, über den festen Sand am Rand der Brandung. Meine langen Haare flattern mir übers Gesicht, ich stoße wilde, befreiende Rufe aus, die sich mit dem Geschrei der Möwen vermischen. Die großen Vögel segeln in einem schwerelosen Tanz über dem Wasser und scheinen sich zu fragen, was das am Strand da unten für ein komischer schwarzer Vogel ist.
Ich laufe langsamer und atme tief durch. Merke, wie sich das kleine, scharfzahnige Tier aus meiner Brust löst und der Wind es fortträgt über die funkelnde See bis weit über den Horizont. Der ganze Druck der vergangenen Jahre fällt von mir ab. Mein Herz öffnet sich und ein prickelndes Glücksgefühl durchströmt mich: Ich habe gerade den schönsten Ort der Welt entdeckt.
Als ich umkehre und zurücklaufe, sind meine Spuren im nassen Sand längst verschwunden, getilgt von der Brandung. Ich halte Ausschau nach Strandgut am Ufersaum und finde eine schöne Muschel mit orangefarbenem Rand, die in meiner Jackentasche verschwindet. Etwa dreißig Meter vor dem Herrenhaus entdecke ich am Rand der Dünen eine hölzerne Plattform mit einer Bank und einem breiten Bohlensteg, der nach oben führt. Ich setze mich auf die Bank, auf der ein mit Patina überzogenes Schild an eine Catriona Mackay erinnert. Nachdem ich mir mit den Socken den Sand von meinen Füßen gerieben habe, schlüpfe ich wieder in meine Stiefel.
Es ist ein windgeschützter Platz in den Dünen mit einem weiten Blick über Strand und Meer. Ich verabschiede ich mich von der Bank mit dem Versprechen, jeden Tag wiederzukommen.
Der Bohlensteg windet sich in sanfter Steigung durch die mit Strandhafer bewachsenen Dünen und endet vor einem hübschen, kleinen Steinhaus mit einem geteerten Vorplatz. Das Häuschen hat eine rote Tür und ein Dach aus dunklen Steinplatten. Eine Fensterfront zeigt auf den Strand. Bestimmt ist es gemütlich, dadrin zu wohnen, und am liebsten würde ich durch ein Fenster spähen. Doch das lasse ich lieber bleiben, vielleicht ist das Häuschen ja bewohnt.
Schließlich stoße ich auf eine hohe Trockensteinmauer, an der ich entlanggehe und an einem großen Eisentor vorbeikomme, an dem das Schild WORKING FARM prangt. Das muss die Campbell Farm sein, von der Gran gesprochen hat. Ich spähe durch das Tor und sehe einen Offenstall und eine Blechscheune mit landwirtschaftlichen Maschinen davor. Weiter hinten steht ein einstöckiges Wohngebäude. Zwei schwarz-weiße Border Collies kommen angerannt, um mich anzubellen.
»Schon gut, regt euch ab«, sage ich mit ruhiger Stimme, als ich weitergehe. Der Weg führt an der Auffahrt des Herrenhauses vorbei und von dieser Seite sieht es beinahe freundlich aus mit seinem gelben Anstrich, den stufenförmig gezackten Giebeln und dem kleinen, steinernen Brunnen vor der Eingangstür. Nach hundert Metern bin ich wieder vorne an der Asphaltstraße angelangt und steuere die Schautafel vor der Friedhofsmauer auf der gegenüberliegenden Seite an.
Die kleine Kirche von Caladale wurde vor vierhundert Jahren auf den Mauern eines alten keltischen Klosters erbaut, das der irische Mönch Maelrhubba Anfang des achten Jahrhunderts hier gegründet hat, um im Norden Schottlands das Christentum zu verbreiten. Auf dem Friedhof liegen unter anderem die Gebeine des gälischen Dichters Rob Dunn und in einem Massengrab sämtliche Passagiere der Canton, einem Auswandererschiff, das 1849 vor der Küste gesunken ist. Kein Wort über den lokalen Bösewicht aus dem Mittelalter, von dem Gran mir erzählt hat.
Die schmiedeeiserne Pforte quietscht grässlich, als ich sie öffne, und ein kleiner Schauer rinnt über meinen Rücken. Hinter der Mauer steigt der Duft von frisch gemähtem Rasen auf. Mein Blick schweift über die uralten Grabplatten, verschieden große Grabsteine und keltische Steinkreuze, die aus dem satten Grün aufragen und von der orangeroten Abendsonne beleuchtet werden. Die dachlosen Mauern der uralten Kirche sind von Efeu überwachsen, der aussieht wie ein funkelnder grüner Pelz.
Auf meiner Suche nach der letzten Ruhestätte des Mörders mustere ich die schwer zu entziffernden Inschriften auf den alten Grabsteinen, die von Moosen und blassgrünen Flechten überzogen sind. Als ich rieche, dass ich nicht allein bin, ist es längst zu spät. Schon bin ich die drei Stufen ins Innere der Kirchenruine hinabgestiegen und bleibe wie angewurzelt stehen.
Lange Beine baumeln von der Mauer. Nur gut einen Meter vor mir sitzt ein Junge in einem spitz zulaufenden Fensterbogen, als gehöre er genau dorthin. Ich bin nur eins sechzig groß, deshalb muss ich den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Halblange kupferfarbene Locken fallen ihm ins blasse, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Aus seinen geblähten Nasenlöchern steigt blauer Rauch wie der Atem eines Drachen. Ich rieche den süßlichen Duft von Marihuana.
Mein Fluchtinstinkt meldet sich, doch da streicht sich der Junge das Haar aus der Stirn und mein Blick fällt in seine Augen. Sie sind von einem hellen Grün, durchwirkt von Blau. Es ist verrückt, doch ich habe das Gefühl, irgendwo, vermutlich in einem Traum, habe ich diese Augen schon einmal gesehen.
Der Typ in Strickpullover und abgetragener Jeans, viel älter als ich kann er nicht sein, unterzieht mich mit leicht zusammengekniffenen Lidern einer kritischen Musterung.
»Suchst du jemanden?« Gerundete Vokale und ein gerolltes R wie Kiesel, die von weichen Wellen über den Strand gespült werden. Trotz des Unmutes, den ich in seiner Stimme wahrnehme, tanzt sie auf irritierende Weise in meinem Magen.
»Ähm … das Grab von Donald McMurdo.« Ich stammele zwar ein bisschen, aber alles in allem halte ich mich ziemlich tapfer. Der Typ schient nicht allzu glücklich zu sein über mein Auftauchen, aber der Friedhof gehört ihm schließlich nicht.
»Du stehst direkt davor.«
Ich mache eine halbe Drehung und schaue auf eine massive Grabplatte im Mauerwerk mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen. Mühsam versuche ich, mich auf die verwitterte Inschrift zu konzentrieren.
»Memento mori«, hilft Strickpullover nach. »Bedenke, dass du sterblich bist. Hier liegt Donald McMurdo begraben. Er war fies zu seinen Freunden und schlimmer zu seinen Feinden. Wahrhaft seinem Meister in Wohlstand und Leid.«
Sein schottischer Akzent hört sich jetzt ein wenig spöttisch an. Ich hebe den Kopf und der Junge starrt mich immer noch unverblümt an, mit einem Blick, den ich nicht zuordnen kann. Ist es Ablehnung? Neugier? Beides oder keines von beidem?
»Störe ich dich bei etwas?«, frage ich vorsichtshalber. »Ich meine, außer beim Grasrauchen.«
»Aye.« Ein Muskel in seiner Wange zuckt. »Bei meinen Gedanken über den Tod.«
»Oh … tut mir leid.« Ich trete einen Schritt zurück. Mist.
»Schon gut.« Ein verstohlenes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht und ich muss zugeben, dass ihm dieses Lächeln gut steht. »Bei deinem Anblick, nighean dubh, verflüchtigen sich alle trüben Gedanken. Ich bin übrigens Arran.«
Arran. Ich registriere seinen Namen, doch das, was er zuvor gesagt hat, lässt mein Herz schneller schlagen: Bei deinem Anblick. War das Spott oder ein Kompliment? Mit Spott kenne ich mich aus, aber Komplimente versetzen mich in erhöhte Alarmbereitschaft. Und wie hat er mich gerade genannt? Nijendu?
Ich runzele die Stirn. »Was … was hast du da gerade zu mir gesagt? War das Gälisch?«
»Aye.« Arran nickt, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. »Nighean dubh. Schwarzes Mädchen.«
Das kann doch, verflixt noch mal, nicht wahr sein. Bis eben hatte ich noch das Gefühl, alles völlig im Griff zu haben. Doch nun spüre ich rote Flecken heiß auf meinen Wangen brennen.
Mist. Mist. Mist. »Woher weißt du, wie ich heiße?«
Aus Arrans Lächeln wird ein breites Grinsen. »Weil ich ein direkter Nachfahre des ersten Master of Reay bin und der war ein draoidh eagalach, ein gefürchteter Zauberkünstler, Herr über Feen und Elfen, und er hat …« Ich sehe ihn so entgeistert an, dass Arran stockt und mit völlig akzentfreier Stimme meint: »Ich habe keine Ahnung, wie du heißt, Süße. Aber hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?«
Klar, das ist es, was er sieht: glatte schwarze Haare, schwarzer Kajal, enge schwarze Jeans, schwarze Jacke, schwarze Schnürstiefel … Süße? Mein Herz stolpert. Nein, nur keine Anmache. Davon bin ich kuriert.
»Wie heißt du denn?« Unverhohlene Neugier funkelt jetzt auf mich herab.
»Carlin«, antworte ich und räuspere mich. »Ähm …« Gegen meinen Willen schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, als ich ihm meinen vollen Namen nenne. »Carlin Schwarz.«
Nach einer kleinen, irritierenden Pause schüttelt Arran den Kopf und lacht. Es ist ein echtes Lachen, tief aus dem Bauch heraus, bei dem ich mich gleich wohler fühle. Mit einer Hand streicht er sich eine ungehorsame rote Haarsträhne hinters Ohr und sieht mich wieder an. »Hi, Carlin Black.«
Sein Lachen und mein Name auf Englisch aus seinem Mund. Sein meergrüner, seltsam vertrauter Blick. Ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Bin wie gebannt. Etwas geschieht, für das ich noch keinen Platz in meinen Gedanken habe.
»Càit a bheil thu, Carlin? Wo gehörst du hin?«
Wo ich hingehöre? Verwirrt schaue ich Arran an, denn das ist eine Frage, die ich ihm nicht beantworten kann. Ich bin aus meiner Umlaufbahn geflogen, fühle mich, als käme ich von einem anderen Stern. »Ich, also …«
»Sorry«, sagt er, »das ist in den Highlands unsere Art zu fragen. Ich meine natürlich: Wo kommst du her?«
Diese Antwort ist leicht. »Aus Berlin.«
»Ah, eine echte Großstadtpflanze.« Arran grinst. »Daher der Hauch der großen, weiten Welt.«
Ich gebe ein belustigtes Schnauben von mir, widerspreche ihm jedoch nicht. Er muss ja nicht wissen, dass Marzahn nichts mit großer, weiter Welt zu tun hat. Soll er doch annehmen, dass ich bin, was er zu sehen glaubt. Hier kennt mich niemand, ich kann jede sein und keine.
»Kommst du vom Campingplatz?«
Ich schüttele den Kopf. »Bin zu Besuch in der Künstlerkolonie.«
Seine Augen werden wieder schmal und er scheint über etwas nachzudenken. »Und, hast du heute Abend schon was vor, Carlin Black?«
»Ich … ob ich was vorhabe? Nein. Ich bin gerade erst angekommen und kenne hier noch niemanden.«
»Du kennst mich.« Arran breitet seine Arme aus, als wäre er mein Treffer im Lotto. In seinem Gesicht leuchtet das grüne Feuer der Hoffnung.
»Klar, seit sieben Minuten.« Lächelnd schüttele ich den Kopf.
»Kommt mir so vor, als würde ich dich schon viel länger kennen.«
Verflixt. Mir geht es genauso. Leider weiß ich mit ziemlicher Sicherheit, dass wir uns im wirklichen Leben nie begegnet sind, denn ich kenne keinen Jungen mit türkisgrünen Augen und solchen roten Haaren. Jemanden wie Arran hätte ich bestimmt nicht vergessen.
»Wir könnten zu mir gehen«, schlägt er mit einem unanständigen Grinsen vor und nickt in Richtung Herrenhaus. »Ich habe Bier und Whisky im Kühlschrank.«
Seine Stimme klingt mir jetzt ein wenig zu siegessicher und das löst den Bann, in den Arran mich mit seinen Meeresaugen, seinem Highlandakzent und seinem Gerede vom Zauberer-Urahn geschlagen hat. Wir sind ganz allein auf diesem verwunschenen Friedhof, weit und breit nichts als Schafe, Möwen, alte Steine und die See. Bestimmt ist Arran einen Kopf größer als ich und seine Hände, die auf dem Fenstersims liegen, sehen aus, als könnten sie fest zupacken.
»Meine Oma wartet auf mich«, sage ich. »War nett, dich kennengelernt zu haben.« Ich drehe mich um und mache Anstalten zu gehen.
»Hey, lauf nicht weg. War doch nur Spaß.«
Es ist dieses kleine Beben in Arrans Stimme, das mich innehalten lässt. »Schon klar«, sage ich, »aber ich muss jetzt trotzdem gehen.« Mit einem Lächeln winke ich ihm und verlasse mit schnellen Schritten den Friedhof.
Auf der Asphaltstraße hole ich tief Luft und sauge Sauerstoff in meine Lungen, als wäre ich nach langem Tauchen wieder durch die Wasseroberfläche gestoßen. Wow. Caladale mag ja am Arsch der Welt liegen, doch ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es hier einiges zu entdecken gibt.
Gran sitzt auf der Couch und korrigiert Arbeiten, als ich nach Hause komme. Sie hat das linke Bein hochgelegt und auf ihrem Knie liegt ein Coolpack, denn es ist nach ihrer Meniskus-OP vor drei Wochen immer noch geschwollen und schmerzt. Die lange Autofahrt hat das Ganze offenbar nicht besser gemacht.
Vor ihr stehen eine Kanne mit Tee und zwei Keramikbecher. Aus einem dampft es. Sie legt die Arbeiten zur Seite. »Möchtest du?«, fragt sie. »Ist Kräutertee.«
Ich nicke und setze mich zu ihr. Gran gießt Tee in den zweiten Becher und schaut mich fragend an. »Na, wie war dein erster Erkundungsspaziergang durch die Einsamkeit von Caladale?«
Beinahe bin ich geneigt, ihr von meiner Begegnung mit Arran zu erzählen, tue es aber dann aus einem seltsamen Gefühl heraus doch nicht. Denn ich weiß nicht, ob die Freiheit, die Gran mir versprochen hat, auch Jungen mit einschließt, die am Abend auf Friedhöfen sitzen, Marihuana rauchen und über den Tod nachdenken.
»Viele Schafe, Kaninchen und keine Menschen«, berichte ich. »Das Meer ist herrlich, aber furchtbar kalt. Wird es denn im Sommer noch ein bisschen wärmer?«
»Mehr als fünfzehn oder sechzehn Grad wird es auch im August nicht«, antwortet Gran kopfschüttelnd. »Für die Einheimischen ist das Meer ohnehin nicht zum Schwimmen da.«
Für Anfang Juni ist es noch ziemlich frisch da draußen, aber das stört mich nicht. Ich denke an den letzten Sommer in Berlin, die quälende Hitze zwischen den Häuserzeilen und in unserer Wohnung. Beinahe jede Nacht hatte ich mich ans Meer geträumt.
»Ich war ganz allein am Strand«, sage ich. »Wo treffen sich die jungen Leute aus dem Dorf eigentlich?«
»Im Pub beim Poolbillard und Dart. Oder sie hocken zusammen vor dem Fernseher und gucken Fußball oder irgendwelche Serien auf Netflix.« Gran zuckt die Achseln. »In Caladale gibt es nur wenige Möglichkeiten, sich zu vergnügen. Deshalb wollen viele Jugendliche zum großen Bedauern ihrer Eltern so schnell wie möglich von hier weg und sich ins wilde Großstadtleben stürzen.« Gran schaut mich an und ich meine, einen Anflug von Sorge in ihrem Gesicht auftauchen zu sehen. »Du bist von Berlin sicher anderes gewöhnt, Carlin, aber es ist hier gar nicht so einsam, wie es vielleicht den Anschein hat.«
Ich lächle in mich hinein. Alles hier ist anders, als ich es aus Berlin kenne. Und anders ist genau das, was ich jetzt brauche.
»Mach dir keine Gedanken«, sage ich, »mir gefällt es hier.« Ich gehe duschen, und als ich Gran eine gute Nacht sagen will, ist sie vor laufendem Fernseher auf der Couch eingeschlafen. Ich breite die Decke über meine wiedergefundene Oma, stelle den Fernseher ab und gehe auf leisen Sohlen in mein Zimmer.
Als ich die Tür zur Terrasse öffne, strömt kühle Luft in den Raum, die den Geruch nach Gras und Schafen mit sich bringt. Es ist nach elf, die Sonne ist gerade erst untergegangen und umschmeichelt die Hügel am Horizont mit goldenem Licht. Da draußen wartet etwas auf mich, das kann ich spüren. Schon jetzt komme ich mir vor wie umgekrempelt. Mein Leben auf links gedreht wie ein Strickpullover, doch das Gefühl ist gar nicht so verkehrt. Ich liebe meine Mutter, aber ich brauche eine Atempause.
Seit fünf Tagen ist Ma jetzt in der Klinik. Wie es ihr wohl geht? Wenn die Medikamente irgendwann wirken, wird ihr bewusst werden, was ich getan habe. Und dass ich wirklich fort bin. Zum ersten Mal sind Ma und ich nicht mehr miteinander vertäut. Zum ersten Mal muss sie ohne mich klarkommen.
Und ich ohne sie.
Ein merkwürdiges Schnarren holt mich aus meinen Gedanken. Rerrrp, rerrrp. Als wenn jemand mit dem Daumennagel über die Zinken eines Kammes streicht. Komisch, was mag das wohl sein? Fröstelnd reibe ich mir die Arme und schließe die Tür.
Ich packe meine Tasche aus, räume die schwarzen T-Shirts, meine zweite schwarze Jeans und meine Unterwäsche in den Schrank. Mein Waschzeug bringe ich ins kleine Bad. Ordnung zu schaffen, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.
Meinen Laptop platziere ich auf dem Schreibtisch und schließe ihn ans Netz. Gran hat mir zwei Adapter für die Steckdosen gegeben. Es gibt WLAN in Little Caladale, das dem Wetter unterworfen ist, aber immerhin. Schließlich setze ich mich aufs Bett und öffne die kleine Holzkiste auf meinem Schoß, in der ich schon seit vielen Jahren meine wertvollsten Schätze aufbewahre. Sie hat die Form einer mittelalterlichen Truhe mit kleinen Holzfüßen und verzierten Metallbeschlägen. Oma Marianne hat sie mir zum sechsten Geburtstag geschenkt.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss, klappe den Deckel auf und wühle mich mit dem Zeigefinger durch das Sammelsurium. Ein von Ma bunt angemaltes Schneckenhaus – mit Fenstern, einer Tür und Blumen. Eine uralte deutsche Münze, die ich in einer Ritze auf Oma Mariannes Dachboden gefunden habe. Ein Hühnergott mit zwei Löchern, der wie ein steinerner Knopf aussieht. Ein Bernstein mit einer riesigen Mücke im Inneren, den ich gefunden habe, als ich zwölf war. Ein Schlüsselanhänger mit einem Hirschkopf auf der einen und einem Tartanmuster auf der anderen Seite – und zig andere Dinge.
Ich lege die Muschel mit orangefarbenem Rand dazu und stelle die kleine Truhe auf meinen Nachtschrank. Dann rolle ich mich in die Zudecke und bin sofort weg.