Frankfurt am Main 1974. Ein Anwalt wird tot in seiner Kanzlei aufgefunden. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Die Polizei ermittelt: Er war Anwalt der linken Szene, zu seiner Klientel gehörten RAF-Mitglieder, Rocker, Junkies und Strichjungen.

Seine Frau, die seit drei Jahren von ihm getrennt lebt, beginnt, sich noch einmal mit ihm auseinanderzusetzen: mit seiner Arbeit, seinem Leben – und ihrer Liebe. Was weiß sie eigentlich von diesem Mann, den sie einmal geliebt hat, der ihr so vertraut war?

Bald gerät die Witwe selbst ins Visier der polizeilichen Ermittlungen, wird der Mitwisserschaft an politischen Aktivitäten verdächtigt, während sie verschlüsselte Botschaften aus dem politischen Untergrund erhält. Um zu begreifen, sucht sie seine Kollegen auf, Mandanten aus der Halbwelt, Genossen und ehemalige Revolutionäre und kehrt in dunklen Spelunken ein. Immer tiefer wird sie in ein verborgenes Leben des Toten hineingezogen, der ihr gleichzeitig immer fremder wird.

Scheintod ist der Roman einer Liebe zu Zeiten großer politischer Unruhen. Eva Demski erzählt unsentimental, doch mit feinem Gespür von einer Frau, die vor die Herausforderung gestellt wird, ein Leben im Tod zu ergründen und dabei Erinnerungen und Zweifel, Trauer und Verlust zu bewältigen.

Eva Demski, geboren 1944 in Regensburg, lebt in Frankfurt am Main. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 2008 erhielt Eva Demski den Preis der Frankfurter Anthologie.

Eva Demski

Scheintod

Roman

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2020
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Umschlagabbildung: Kaiserstraße in Frankfurt am Main, 1959; Foto: Alfred Strobel/SZ Photo/laif, Köln
Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
eISBN 978-3-458-73604-2
www.insel-verlag.de

So what’s the difference
if we don’t come back?
Who’s gonna miss us
in a year or so?
Nobody knows us
all the things, we’ve been thinking.
So what’s the difference if we go?

Scott McKenzie

Wem sonst als Dir

DER ERSTE TAG

Die Bühne

Als der Mann gestorben war, schien niemand es für nötig zu halten, ihn in angemessener Zeit unter die Erde und damit allmählich aus den Köpfen seiner Umgebung zu bringen. Das letzte, was die Frau von ihm gesehen hatte, war ein badewannenartiger Zinksarg gewesen, den zwei graugekleidete Männer leise fluchend um die enge Spindel des Treppenhauses drehten. Vier Stockwerke waren es. Die Frau war oben stehengeblieben und wußte nicht, wie das Auto, in das sie den Sarg geschoben hatten, aussah. Grau? Schwarz? Wahrscheinlich irgendeine nicht störende Farbe, damit die Leute, die auf der Straße unten stehengeblieben waren, nicht erschraken.

Wohin der Sarg gebracht wurde, war zunächst unklar. Niemand fragte danach, die Eltern nicht, auch die Frau nicht, und den Freunden stand es nicht zu. Erst als die Zeit zwischen dem Tod des Mannes und seiner endgültigen Entfernung sich unangemessen dehnte, fielen ein paar Fragen, die sich auf den Blumenschmuck und die Toleranz des Priesters bezogen.

Elf Tage und Nächte also war der Körper des Mannes noch über der Erde aufbewahrt worden, und das keineswegs in würdiger Dunkelheit, auf einem geschmückten letzten Bett, sondern zunächst in einer Blechschublade, dann auf einem Tisch mit Rinnen, dann wieder in einer Blechschublade und ganz zuletzt erst in einem Sarg. Jedenfalls ergaben dies die Nachforschungen der Frau. Hätte sie nicht etwas geahnt, sie hätte nicht danach gefragt.

Man macht wohl einen Kreuzschnitt über dem Brustbein, ein wenig vom Inneren wird herausgenommen und den für notwendig gehaltenen Untersuchungen zugeführt. Der Rest der Organe wird weggeworfen, dann polstert man den Körper mit Holzwolle aus und näht ihn zu. Das ist sicher nicht schwierig, denn zu dem Zeitpunkt hat der Leib längst ausgeblutet. Bei den Ägyptern wäre der Organrest in einem kunstvoll gestalteten Töpfchen bewahrt worden, das Herz vielleicht in Gold. Die Frau hatte elf unruhige Tage und elf stille Nächte Zeit, sich derlei auszudenken.

Als der Mann an einem sonnigen kühlen Aprilsamstag starb, stand er im dreißigsten Lebensjahr. Er starb nackt und schnell, wenn man bedenkt, wie schrecklich viel Zeit andere damit verbringen. Sein Sterben hatte nicht länger gedauert als einen Vierteltag. So schien es jedenfalls am ersten Tag seines Totseins. Er war nicht mehr dazu gekommen, sich anzuziehen, vielleicht hatte er auch gar nicht den Wunsch gehabt. Menschen, die es mit dem Atmen schwer haben, sind gern nackt, so als könne die Haut mit Millionen kleinen Lungen helfen.

Die große Wohnung war halbdunkel geblieben, nur wenig Sonne zwängte sich durch die Lamellen der Jalousien. Das erste, was die Frau tat, als sie auf die Nachricht seines Sterbens hin in die Wohnung kam, war, Licht und Luft hereinzulassen. Der Mann war noch nicht ganz tot, und sie begann schon sich über ihn hinwegzusetzen, ihn zu verhöhnen. Er hatte Licht und Luft gehaßt, Gemüse und Spaziergänge auf Erdboden waren ihm ein Greuel. Vitamine in jeder Form schlugen ihn in die Flucht. Aber an diesem Tag konnte er sich nicht mehr wehren.

Im Flur der Wohnung standen verlegen einige Leute in weißen Mänteln, unten hatte die Frau einen großen Krankenwagen stehen sehen. Niemand sprach mit ihr. Es wäre ihr recht gewesen, übersehen zu werden, wenn Geschäftigkeit, warme, freundliche, leidenschaftliche Hilfe der Grund für das Desinteresse an ihrer offensichtlich gesunden Person gewesen wäre. Aber die Helfer halfen nicht, höchstens einander mit gemurmelten Ratschlägen und Beschwichtigungen. Als die Frau ins Zimmer wollte, hielten sie sie fest, denn darin, daß das nicht möglich sei, waren sie einig. Sie schaute in den Kanzleiraum, vom Blau des Flurs in das Grün des Kanzleiraums, und nur vor dem Rot des Schlafzimmers blieb die Tür geschlossen. Da, am ersten Tag seines Totseins, setzte sich die Frau ins Treppenhaus, um nicht zu stören, bei der Hilfe dachte sie, aber es war beim Sterben.

Allerdings war davon nicht die Rede, dazu waren alle Leute viel zu beschäftigt, und weil die Frau beschlossen hatte, nicht zu stören, wunderte sie sich darüber, wie viele Männer jetzt an ihr vorbei in die Wohnung gingen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie störten. Es waren gutaussehende, lässig angezogene Männer im Alter des sterbenden Mannes. Alle in der Wohnung waren etwa gleich alt, bis auf den Jungen, der in einer Ecke stand und sich schluchzend hinter den Strähnen seiner langen Haare versteckte. Die Frau erkannte sofort, daß es Kripobeamte waren, die da an ihr vorbei, über sie hinweg in die Wohnung stiegen, als seien sie gebeten, ja geradezu erwünscht. Als die Frau begriffen hatte, was sie sah, wußte sie, daß der Mann tot war. Sie hätte ihn sonst gehört. Aber nun schwieg es hinter der geschlossenen Schlafzimmertür anders als vorher. Er wehrte sich nicht gegen die Zivilen, also war er tot.

Die Frau stand auf und ging zurück in die Wohnung. Es war nicht ihre Wohnung. Sie bewegte sich vorsichtig, trotz des Übergriffs mit den Jalousien, sie ging viel zögernder als die Zivilen, die ihre Nasen in alle Zimmer steckten und die Schlafzimmertür öffneten, als sei überhaupt nichts passiert.

Ich möchte ihn sehen, sagte die Frau.

Da war absolut nichts mehr zu machen, antwortete einer der Ärzte verlegen – oder war es ein Ersatzdienstler? Oder ein Ehrenamtlicher vom Roten Kreuz? –, absolut nichts. Hat er das Asthma schon lange?

Die Frau sagte nichts, nur: Ich möchte ihn sehen.

Es geht noch nicht, sagte ein anderer Arzt oder Ersatzdienstler oder Ehrenamtlicher, Sie sehen doch, die Kripo ist bei ihm. Da erst fiel der Frau ein, daß der Mann katholisch war und daß es hätte heißen müssen, der Pfarrer ist bei ihm, und nicht, die Kripo ist bei ihm. Obwohl das gut zu ihm paßte.

Der Junge weinte noch immer ein schwächliches, maunzendes Gewinsel. Die Frau tröstete ihn nicht.

Ich gehe jetzt hinein, sagte sie. Es waren so viele Leute in der Wohnung, wer hätte sie hindern sollen. Außerdem war es ihr Recht, ihren Mann zu sehen, einen toten Rechtsanwalt von gut dreißig Jahren, mit dem sie seit drei Jahren nicht mehr zusammengelebt hatte und dessen Freund noch immer in der Ecke des Flurs sein schniefendes Weinen hinter einem Haarvorhang versteckte.

Die Frau hatte schon Tote gesehen, Sterbende auch, sie hatte Nachtdienst im Krankenhaus gemacht. Die Leute sterben, wie man weiß, im Krankenhaus in den Stunden nach Mitternacht. Meist waren die Toten ausgetrocknet gewesen, abgemagert, an Leitungen hängend, die sie mit Flüssigkeit versorgten, von großen weißen Verbänden verunstaltet. Die Frau war oft froh gewesen, wenn diese Sterbenden es dann endlich hinter sich hatten. Der zähe Rest Leben hatte sie so zermergelt, sie hatten sich so abarbeiten müssen und waren am Ende ganz in der Hand einer Fremden. Die Frau erinnerte sich an Patienten, denen sie das Loch am Hals hatte zuhalten müssen, damit sie sprechen konnten, damit ihre Stimme den Ton zurückbekam. Auf der Schwelle zum Schlafzimmer des Mannes wollte sie keine Angst haben vor einem Toten.

Die Kripoleute störten sie sehr, sie fragten mit halblauter Stimme Sachen, die sie nicht verstand, und verdeckten ihr den Blick auf das große Bett. Das hatte er sich nach ihrer Trennung gekauft. Das Schlafzimmer war ein schöner, unrechtwinkliger Raum in warmem Rot, Bücher und Süßigkeiten auf der Erde, ein Stuhl, auf dem die Kleider des Mannes warteten. Seine großen Schuhe standen drunter. Die Frau schaute auf ein Plakat, auf das der Mann »Keine Macht für niemand« geschrieben hatte. Sie glaubte ihm das nicht. Er hatte Macht gern, natürlich nicht von anderen. Ein Plattenspieler hielt noch ihren Blick vom Bett fern, ein Regal, ein Stoß Zeitungen. Ein Tischchen, auf dem die kleinen weißen Rezeptzettel gut sichtbar lagen. Der Nachtschrank, dessen Tür halb offenstand und Plätzchenschachteln, Schokoladetafeln und Bonbonbeutel sehen ließ, große Dauerlutscher und Lakritzen, Kekse, Medikamente und ein paar Pornohefte.

Sie hatten ihn nicht einmal richtig auf das Bett gelegt, sondern es schien, als sei nur sein Oberkörper zur Ruhe gekommen, zu einer unwillig ertragenen Ruhe. Er lag genau wie einer, bei dem man nicht weiß, ob er gerade dabei ist aufzustehen oder sich eben hinlegen will, seine Füße schon oder noch auf der Erde, der Oberkörper mit ausgebreiteten Armen noch oder schon auf dem Bett. Es störte die Frau, den schönen Leib des Mannes in einer so hilflosen Stellung zu sehen, seiner letzten Bewegung, wenn sie den Leuten, die sich da überall zu schaffen machten, Glauben schenkte. Aber so einfach war es nicht, ihnen zu glauben. Zu viele Jahre hatte der Mann ihr beigebracht und immer wieder bewiesen, daß man ihnen nichts glauben darf, weder denen im weißen Kittel noch denen in den grünen Uniformen, denen in den schwarzen Roben nicht und auch nicht denen in jener bewußt legeren Freizeitkleidung, denen noch am allerwenigsten. Aber er lag da, sah niemanden an und schaute doch auf das aufgeregte Gedränge in seiner Kanzlei und seiner Wohnung. Er wehrte sich nicht, und das war zunächst das einzige, was sie an seinen Tod glauben ließ.

Er war nackt gestorben, und sie hatten ihn nicht bedeckt. Die Frau schaute den Körper des Mannes an, nichts an diesem Körper war ausgedient. Warum also sterben, wenn das Kleid noch schön und brauchbar ist, seine winterweiße Haut glatt, seine Knochen fest und stark, seine Haare wild und dunkel und sogar seine Zähne trotz der ungehemmten Zuckerschleckerei noch beißfähig? Allein seine Haare sahen übrigens tot aus. Das hatten sie manchmal zu seinen Lebzeiten schon getan, wenn er unzufrieden war oder das Leben ihn nicht genug aufregte. So waren seine Haare jetzt, sie waren gestorben.

Die Frau hätte nun Zeit gebraucht, allein in diesem roten Zimmer mit ihrem Mann. Sie hätte ihm die Füße aufs Bett gehoben, ein sauberes Bettuch gesucht und ihn damit zugedeckt. Dann hätte sie ihm die Hände gefaltet, sein Kruzifix dazwischengesteckt, den Rosenkranz und das Bakuninfoto von seinem Schreibtisch. Vorher hätte sie ihm die Augen geschlossen. Sie hätte die Spiegel mit Tüchern verhängt, die restlichen Fenster auch noch geöffnet und jemanden aus dem Haus nach Kerzen geschickt. Sechs Kerzen, oder besser zwölf. Wenn dann jemand mit den Kerzen gekommen wäre, hätte sie die Fenster wieder zugemacht – es war Zeit genug für die Seele, ins Freie zu kommen – und hätte die Kerzen um das Bett gestellt. Oder nur ans Kopfende. Dann hätte sie sich die Hände gewaschen, einen Stuhl aus dem Arbeitszimmer geholt und sich hingesetzt. Sie hätte mit dem Abschied beginnen können, wie es sich gehört. Die Frau hatte, während sie den toten Mann anschaute, etwa sechzig Sekunden Zeit, um das alles zu überlegen. Vieles davon kam nur als Gedankenbeginn in ihren Kopf, manches als Erinnerung, fast alles als Wunsch. Dann nahm jemand sie an den Oberarmen und schob sie aus dem Zimmer.

Sie wehrte sich nicht, denn es war noch immer der erste Tag, also der letzte Tag von etwas Vergangenem, und die Frau hatte noch nicht gelernt, damit umzugehen. Früher hatte sie in solchen Fällen dem Mann eine Vollmacht unterschrieben. Die ließ ihn durch die Gerichtsgänge toben, die Robe um sich schlingen wie Talma, Staatsanwälte anschreien und mit Polizisten, die als Zeugen auftraten, drohend flüstern. Irgendwo zwischen all den Papieren mußten Dutzende von Vollmachten herumliegen, für jede Demonstration schrieb man eine, und der Mann schrieb auch welche für andere Anwälte, die er für seine Freunde hielt.

Die Beamten in den Freizeithemden schauten mittlerweile gezielter. Die Politsachen hatten rosa Aktendeckel, das wußte die Frau, aber sonst wußte sie nicht viel von dem, was sich in den vielfarbigen Zimmern abgespielt hatte. Auch von dem nicht, was dort aufbewahrt war, aber sie konnte es sich denken und wollte das Spähen der Beamten nicht.

Seit dem Tod des Mannes waren noch nicht mehr als drei Stunden vergangen, und das Herumschauen, das halblaute Fragen und Reden der Beamten wurde frecher. Aber sie vergewisserten sich doch immer wieder, daß die Tür, hinter der der Tote lag, geschlossen blieb. Als ein unerklärlicher klopfender Laut herausdrang, fuhren sie zusammen. Das war die einzige Freude der Frau an diesem ersten Tag, denn sie zweifelte nicht daran, daß der Mann an diesem warnenden Geräusch schuld war, aber nachlässig, als hätte er anderes zu tun. Solche Gedanken kamen ihr nun immer öfter, sie brachte den Leichnam hinter der Tür auf andere Weise mit dem Leben in Verbindung, da es auf die übliche Art keine Möglichkeit mehr zu geben schien, ihn einzubeziehen. Die Aberglauben kamen lautlos herangeflogen, einer nach dem anderen.

Die Frau stand, nachdem man sie aus dem Sterbezimmer gewiesen hatte, verlegen im Flur und versuchte, nicht zu dem Jungen hinüberzuschauen, der sich jetzt in eine Ecke gehockt hatte, pathetisch und vorwurfsvoll wie eine orientalische Witwe und genauso laut. Seinetwegen konnte die Frau nicht weinen, er war ihr als Grund gerade recht. Einer von den Zivilen versuchte den Jungen vom Boden hochzuziehen und ihm Fragen zu stellen.

Ich kann nicht, sehen Sie denn nicht, daß ich nicht mehr kann? Haltets Maul, ihr Ärsche, sagte der Junge schluchzend, und der Beamte ließ erleichtert von ihm ab, weil er die Sprache endlich wiedererkannt hatte. Wenn schon die Situation so unpassend und fremd war, klangen wenigstens die Wörter des Gegners vertraut.

Können Sie mir was zu den Personalien sagen? fragte der Beamte die Frau. Sie gab Antwort. Der Mann hatte einen Fragebogen in der Hand, als ginge es um eine Erlaubnis. Die Frau war stolz, weil ihr alle Daten einfielen, der Reihe nach und ohne zu stocken. Sie hätte dem Beamten auch noch den Hochzeitstag und das Datum des ersten Staatsexamens nennen können, alle Tage reihten sich auf, und jeder trug ordentlich seine Zahl. Die Frau bedauerte, daß die Befragung nur so kurz dauerte. Danach kam sie sich wieder überflüssig vor in einer Gruppe von Leuten, von denen jeder wußte, was er zu tun und wonach er zu suchen hatte. Sie erinnerte sich, wie der Mann sie zur Unerbittlichkeit erzogen hatte. Das sind Feinde, hatte er ihr immer wieder bewiesen, du hast sie mit listigen, würdigen Mitteln zu bekämpfen. Schon Schweigen ist eine scharfe Waffe. Dennoch ertappte sich die Frau dabei, daß sie diesen herumsuchenden Männern gern etwas von dem toten Mann erzählt hätte, nur um sie zu beschämen oder um sie mit Neugier zu erfüllen. Aber aus dem verschlossenen Zimmer drang noch immer die Mahnung.

Du könntest eigentlich nach Hause gehen, sagte sie zu dem Jungen. Kein Kinn, dachte sie, flatternder Blick. Warum gehst du denn nicht? Du kannst doch hier nichts mehr tun. Außerdem ist es besser, du ruhst dich aus, setzte sie scheinheilig dazu.

Der Junge schaute unter seinen Haarfransen heraus und hätte sie wohl gern gehaßt. Sie schickte ihn nach Hause, weil sie nicht teilen wollte. Ein einziges Mal nicht teilen, das reglose Beutetier.

Wo soll ich denn hin? sagte der Junge.

Geht es schon los mit dem Erben, dachte die Frau. Sie hatte tatsächlich vergessen, daß der Junge ja bei dem Mann gewohnt hatte, bis auf die kurzen Stunden, in denen sie zerstritten waren.

Aber wie ausgelöscht war der Gedanke an Streit. Und es wäre auch keinem eingefallen, der Frau nicht, dem Jungen nicht und auch den Beamten nicht, Licht anzuzünden und ein wenig genauer in die Gesichter zu schauen.

Ein aufdringlicher Geruch störte die Frau. Nicht der, der noch lange nicht. Aber sie sah im Bad, daß das letzte, was der Mann getan hatte, noch da war – wie er selbst. Er hatte es nicht mehr beseitigen können. Das tat jetzt die Frau für ihn, so wie sie ihn selbst auch beseitigen würde, wenn die Zeit dafür gekommen war.

Noch immer drängelte sich ein Dutzend Leute in der Wohnung. Auch die Ärzte hatten sich noch nicht davongemacht, sondern beredeten ihr Tun wichtigtuerisch mit den Zivilen. Manchmal wandten sie sich zu dem Jungen, als wollten sie sich etwas von ihm bestätigen lassen. Aber der spielte nicht mit, dafür hatte der Mann noch gesorgt. Der Junge würde nie mit einem Polizisten reden, und er würde ihn auch nie so bezeichnen. Die Frau fühlte sich übergangen, aber es fiel ihr nichts ein, wie sie sich zum Mittelpunkt hätte machen können, endlich einmal, schließlich war sie jetzt eine Witwe, seine Witwe. Sie, nicht der Junge, ein für allemal. Über den Tod hinaus gab es etwas wie den Jungen nicht.

Die Frau sah dem Jungen an, daß er sie durchschaute. Aber er konnte ihr nichts tun.

Wo sind eigentlich die Katzen? fragte sie ihn.

Der Mann hatte zwei Katzen besessen, einen netten normalen grauen Kater und eine magere Kätzin, die den Namen Izru trug, Internationales Zentrum Rote Universität, das arme Tier. Gänzlich unsichtbar waren die beiden, auch sie hatten ihre Lektion für den Umgang mit der Staatsgewalt gelernt.

Die mußt du nachher mitnehmen, sagte der Junge.

Ich kann dich auch mitnehmen, sagte die Frau und fühlte sich von Toleranz und Solidarität ganz aufgeschwollen. Der Junge nickte und hatte offenbar damit gerechnet, aus der Hand des Mannes in die ihre überzugehen. Er schien nichts dagegen zu haben.

Später dachte die Frau oft darüber nach, wie die Männer es geschafft hatten, mit dem Metallsarg ohne jedes Geräusch in die Wohnung zu kommen. Kein Scheppern hatte die Totenwanne angekündigt, kein Knirschen, und das Dutzend suchender Leute hielt auch nicht inne, schwieg nicht voll Ehrfurcht. Es war dies eben kein Sarg, sondern ein Leichenbehälter, in dem sauberen Silber, das auch die Wurstwannen der Metzger zeigen. Die Männer waren plötzlich da, einer der Zivilen sagte: In die Gerichtsmedizin!, und als die Frau irgend etwas schrie, legte er ihr die Hand auf den Unterarm und sagte beruhigend, das sei immer so, sie sehe das doch ein, bei ungeklärten Todesursachen, in diesem Alter sterbe man schließlich nicht einfach so. Der Beamte lenkte den Blick der Frau weg von der geschlossenen Tür, durch die die Sargträger offenbar gegangen waren, denn man hatte nichts gehört, und sie waren, bis die Frau wirklich etwas begriffen hatte, mit dem Zinksarg schon fast um die erste Treppenhausbiegung verschwunden. Der Junge wollte hinterher, die Frau auch, sie drängten sich mit törichter Eile in der Eingangstür. Aber sie hatte kein Recht, genausowenig wie der Junge. Es geschah ihnen beiden etwas Ähnliches.

Die Frau schaute das leere Treppenhaus hinunter und bemerkte, daß trotz der strahlenden Sonne das Licht brannte. Eine der Katzen kam jetzt von irgendwoher und versuchte, platt auf dem Bauch kriechend ins Treppenhaus zu entkommen. Es war die Katze namens Izru, von der in dieser Geschichte nicht viel mehr zu erzählen ist, als daß sie den Mann nur um ein Jahr überlebte, an der gleichen Krankheit wie er starb und im gleichen Grab wie er beerdigt wurde.

Einstweilen, an diesem ersten Tag aber, versuchte sie hinter dem Sarg her abzuhauen. Jedenfalls bildete sich die Frau das ein, es paßte so schön. Es roch auch etwas nach Katzen in der Wohnung, und der Junge sagte, ich fang sie dir ein, wenn wir gehen, sie passen beide zusammen in den Korb.

Die Zivilen hatten, da der Mann nun weg war, anscheinend jedes Interesse an seiner Kanzlei verloren. Vielleicht taten sie aber auch nur so, denn die Anwesenheit der Frau und des Jungen war für ernsthafte Nachforschungen sicher störend.

Wir müssen die Wohnung versiegeln, sagte einer von den Zivilen. Sie werden das ja sicher auch wollen, wandte er sich zu der Frau, es ist doch wichtig, daß jetzt niemand Unbefugtes die Wohnung betritt.

Sie hatte das Gefühl, als könnte sie den Mann ein letztes Mal lachen hören. Sie mußte nicht nachdenken, wie sein Lachen geklungen hatte, sie hörte es deutlich.

Ein grotesker Zug die Treppe hinunter: Die weißgekleideten Notärzte hatten sich nun endlich entschlossen, jemand anderem beizustehen und ihr Funkgerät nicht mehr so einsam quäken zu lassen. Sie piepsten jetzt am ganzen Leib, aus Brust- und Hosentaschen drangen hilfesuchende Töne. Sie waren an der Spitze, nach ihnen kamen mit flotten Schritten die Zivilen, nur einen hatten sie oben gelassen, der zählte die Teilnehmer des kleinen Exodus durch, Mensch und Tier, damit nicht etwa jemand in der toten Wohnung vergessen würde. Nach den Zivilen kam der Junge, der nicht mehr weinte. Ein paar Nachbarn, die sich im Flur aufgehalten hatten, begleiteten den Zug, und eine Frau, die sich für ihr langes Warten endlich belohnt sah, trug das Ihre bei und sagte dreimal: Man hat ihn ja schreien gehört, eine ganze Zeit lang hat man ihn ja schreien gehört. Sattler, mein Name, sagte sie dann noch, wie um zu beweisen, daß sie wirkliche Schreie gehört hatte, da sie ja mit einem wirklichen Namen dienen konnte. Die Frau des Mannes, der zum Schluß noch geschrien haben sollte, trug den Korb mit den schreienden Katzen, sonst nichts.

Als sie sich umdrehte, sah sie, wie der Türwächter sorgfältig ein kleines Papier beschrieb und es über die Tür klebte. So ein schwacher, mächtiger Schutz. In den Märchen aus Tausendundeiner Nacht schützten die Dschinns ihre Höhlen mit einem einzigen Wort. Die Frau stellte sich das Wort vor, mit dem man die Wohnung des Mannes nun geschützt haben mochte, sicher war es kein Geisterwort, sondern ein Beamtenwort, ein Zivilenwort. Sie war sicher, daß trotz der Aufmerksamkeit des Wächters etwas in der Wohnung oder in den Kanzleiräumen vergessen worden war, etwas sehr Wichtiges, schwer zu Findendes. Sie dachte nach und zerbrach sich den Kopf. Der Mann war es nicht, der war ja schon unterwegs zu einem Ort, den sie nicht kannte und von dem sie nicht wußte, ob man ihn von dort wiederbekommen konnte und in welchem Zustand. Nein, der Mann war fürs erste weg. Aber etwas anderes war zurückgeblieben in der Wohnung, vielleicht die Geschichten, die in den rosa Aktendeckeln stillhielten, bis einer sie mit einem Wort erlöste und laut machte. Wer aber konnte das tun außer dem Mann, der jetzt selber stillhielt? Fürs erste.

Jetzt müssen wir nach Hause, sagte die Frau. Sie sagte es zu niemand Bestimmtem und hätte sich über eine frohe Zustimmung der Zivilen gar nicht gewundert. Die Ärzte stiegen in ihr großes, nützliches Klinomobil und fuhren weg. Wie heißen Sie? fragte die Frau jeden von ihnen. Aber sie bekam keine Antwort.

Die Wohnung der Frau lag in einem besseren Viertel, eine schöne Wohnung mit einem kleinen Garten und freundlichen Gegenständen, nur manchmal dröhnten nachts die Militärmaschinen tief über die Häuser und erinnerten daran, daß es nicht leicht ist, aus der Stadt zu fliehen und doch in ihrer Nähe zu sein. Die Wohnung des Mannes war da mutiger.

Die Frau stand noch unten am Eingang und schaute die israelische Bar gegenüber an, die jetzt, am Nachmittag, offenstand und aus deren Eingang in kurzen Abständen Eimer voll sehr schmutzigen Wassers geschüttet wurden. Sie konnte den Bahnhof hören und roch das Suppengrün aus dem türkischen Gemüseladen nebenan, und eine der dünnen Huren löste sich aus einem dunklen Eingang, sie hatte totgekräuseltes, totgefärbtes Haar, gelb, und einen sehr kurzen schwarzen Lederrock. Früher hatte die Frau mit ihrem Mann oft darüber gelacht, daß in diesem Viertel, in dem er wohnte und arbeitete, jeder, den er auf der Straße traf, ein Mandant sein konnte. Zumindest konnte es jeder werden. Ich bin in der Mitte meiner Kundschaft, hatte der Mann gesagt und gelacht.

Stimmts, der Herr Rechtsanwalt ist tot? fragte die Hure freundlich. Ich habs schon heut mittag gehört. Furchtbar, so ein junger Mann, gut ausgesehen hat er, das muß man sagen. Bißchen blaß war er ja immer, aber das sind wir hier alle, da stirbt man doch nicht gleich dran. Mein Beileid.

Sie gab der Frau die Hand, drehte sich um und ging wieder zurück an ihren Arbeitsplatz. So berühmt hatte der Mann leider nicht mehr werden können, daß die Huren des Viertels einen Trauertag eingelegt und die schwarzen Nerze ausgemottet hätten.

Es ist gar nicht einfach, nach so einer Sache wegzukommen, sagte der übriggebliebene Zivile zu der Frau, die der blonden Hure nachschaute. Die Hinterbliebenen stehen dann oft stundenlang auf der Straße herum und wissen nicht, was als nächstes zu tun ist. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, legen Sie eine Liste an.

Die Frau mußte lachen und dachte wieder an das Lachen des Mannes. Wie ein Truthahn hatte er gekollert. Ein Hohoho, das es einem manchmal schwermachte, an eine wirkliche Fröhlichkeit zu glauben.

Was würden Sie denn auf die Liste schreiben?

Na, die Angehörigen, antwortete der Zivile streng. Eltern. Ich hab noch kein Wort von Eltern gehört. Und ein Pfarrer. Ein Beerdigungsinstitut ist überhaupt das allererste.

Die Frau hörte zu und versuchte, sich alles der Reihe nach zu merken.

Ich hol ein Taxi, sagte der Zivile.

Es warteten aber schon eine Menge Taxis gleich am Eingang der Straße. Nirgendwo in der Stadt lauerten so viele, weil es nirgendwo so viele Leute gab, die hilflos waren. Mit Koffern und betrunken, eine neue Freundin am Arm oder einen Zettel mit fremden Straßennamen in der Hand, hilflos, Opfer für die vielen Taxis. Und sicher hatte einer von ihnen den Sarg gesehen, wie er aus dem Haus getragen worden war, und sich gedacht, da könnte man immer mal wieder vorbeischauen, da käme bestimmt noch was nach. So warteten sie also schon, aber nicht, um sie über den Fluß zu bringen. Der Mann war gestorben, und sie mußte auf der gleichen Flußseite bleiben. Sie schob also den Korb mit den verzweifelt schreienden Katzen in den Wagen. Der Junge stieg mit ein.

Setz dich vorn hin, sagte die Frau, und der Junge gehorchte. Wenigstens schrie er nicht, oder noch nicht. Den Katzen nahm sie das ja nicht übel, aber bei Menschen ging es ihr auf die Nerven.

Sie kam bei Dunkelheit in ihrer Wohnung an. Nicht mehr der erste Tag, sondern der erste Abend, ein Samstagabend, Zeit zum Ausgehen. In der Dunkelheit ging sie in die Wohnung, befreundete sich neu mit den Bildern und den bunten Reihen der Bücher. Der Junge blieb nicht im Flur stehen, sondern ging in die Küche, nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich ins Wohnzimmer. Die freigelassenen Katzen des Mannes begannen, Revierkämpfe mit den Katzen der Frau auszutragen.

Wer wird je herausfinden, wie sich eine neue Nachricht verbreitet, wie ein Ereignis in die Münder der Leute kommt? Gibt es eine meßbare Geschwindigkeit dafür, wie das geschieht? Es ist nur bekannt, daß die schlechten Nachrichten ein viel größeres Tempo vorlegen als die sogenannten guten. Die Geburt eines Kindes beispielsweise wird sehr viel schneller bekannt, wenn es unehelich ist – und ganz besonders schnell, wenn es beschädigt zur Welt gekommen ist. Und niemand ist, soweit man das sehen kann, an der Verbreitung einer Nachricht beteiligt. Das geht ganz drahtlos. Jedenfalls klingelte an diesem Abend das Telefon in der Wohnung der Frau so häufig, daß es ihr als ein guter Vorwand erschien, bestimmte Gespräche, die sie dringend hätte führen müssen, zu verschieben.

Alle, die anriefen, wußten, daß der Mann tot war. Sie bedauerten seinen Rauschgiftmißbrauch. Sie fragten nach der Identität seines Mörders. Sie beklagten ihre Unfähigkeit, ihn vom Selbstmord abgehalten zu haben. Die Frau schämte sich fast, daß sie den Asthmaanfall und den Herzstillstand ins Gespräch bringen mußte, und es schien ihr eigentlich, soweit sie noch klar denken konnte, falsch. Ihre Gedanken begannen sich mit dem fortschreitenden Abend ein wenig zu trüben. Das ist immer so, hatte ein befreundeter Arzt, der auch angerufen hatte, gesagt und seinen Besuch in Aussicht gestellt.

Was red ich von Asthma, sagte die Frau zu dem Jungen, die andern haben schon recht. Mord und Selbstmord, alles auf einmal, das ist es viel eher.

Niemand starb im Jahr vierundsiebzig, jedenfalls niemand, der politisch war und jung und für gefährlich gehalten wurde. Nein, da wurde nicht gestorben, gefallen waren sie, wenige bis zu diesem Zeitpunkt und auf dem Feld ihrer Ehre. Es war genau auszumachen, welche Tode sie in ihren Reihen duldeten. Der im Bett jedenfalls gehörte nicht dazu. Der erste Abend half ihr, sich einen Helden zu denken.

Die Frau mußte die Eltern des Mannes anrufen, sie wohnten einige hundert Kilometer weiter südlich. Niemand war dort zu Hause. Die Frau erinnerte sich an einen Schulfreund des Mannes, einen kleinen freundlichen Dicken, den sie einmal gesehen hatte und von dem sie annahm, daß er sie nicht mochte. Der Mann und sie, jung verheiratet, hatten ihn damals besucht, auf einem Dorf an der Pegnitz, in einem kleinen, nach Eingemachtem riechenden Haus. Die Frau war von dem Freund des Mannes sehr beeindruckt gewesen. Er erschien ihr gütig, arm und unbestechlich, fast hochmütig in der Ärmlichkeit des bäuerlichen Hauses. Die Frau hatte ihn mit ihrem Geflatter und ihrem verständnisvollen Getue nicht beirren können. Er hatte sie angeschaut, ruhig, fremd, ein wenig verächtlich.

Wie alt war dieser Freund Joseph gewesen, als sie ihn zum ersten- und letztenmal gesehen hatte, älter als sie, über Mitte Zwanzig? Er hatte kein Alter, er würde, dessen war sie sicher, noch immer unbeirrt im selben Haus sitzen, von Mutter und Schwester umsorgt wie ein katholischer Priester. Sechs Jahre schon.

Die Frau rief ihn an und sagte, daß der Mann tot sei, bat ihn, dessen Eltern ausfindig zu machen, er könne es von seinem nahegelegenen Haus aus doch leichter als sie. Er antwortete kaum etwas am Telefon. Ein Tod soll nicht auf diese Weise erzählt werden. Aber er rief doch wenig später an. Es war ihm gelungen, den Aufenthaltsort der Eltern, ihrer Schwiegereltern, ausfindig zu machen. Man könnte den Ortspfarrer hinschicken, es ist weit weg von hier, sagte er. Er wußte den rechten Weg, mit einer solchen Nachricht umzugehen. Sie bat ihn, das Netz der Pfarrer zu benutzen. Der Einheimische sagts dem Amtsbruder und der wieder dem Pfarrer der Familie, bei der die Schwiegereltern zu Gast waren. Fürs erste war die Frau nun beruhigt, die Schwarzen hatten jemanden wieder zurückbekommen, auf ihre Professionalität konnte sie sich verlassen.

Alle waren katholisch, der Mann, seine Eltern, sein bester Freund, das Land, aus dem er sich gebürtig wußte, das er nie bewußt gesehen hatte und dessen Mythos er liebte: Marienaltärchen und polnische Freiheitshelden. Einen kurzen Moment lang an diesem ersten Abend hatte die Frau Angst, die Schwarzen, die Katholischen könnten ihr diesen Tod aus der Hand nehmen. Sie wollte ihn aber behalten und ganz und gar begreifen. Nicht schon am ersten Abend, da begriff sie noch nichts. Aber sie ging doch schon in Verteidigungsstellung, um den Leichnam und seinen Geist beisammen zu lassen, bei ihr zu lassen, wo er trotz allem hingehörte. Denn es steht in der Bibel, daß der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen soll – nicht einem Jungen ohne Kinn und mit strähnigen Haaren.

Es war dem Freund Joseph Deutner sehr schnell gelungen, die katholische Maschinerie in Gang zu setzen. Jedenfalls klingelte ein weiteres Mal das Telefon, ziemlich spät abends schon.

Was ist das? fragte die Stimme ihres Schwiegervaters, was ist da los?

In der Wohnung hatte sich inzwischen eine Menge flüsternder Gäste eingefunden. Die Frau war gerührt. Der alte Mann schien zu versuchen, durch Festigkeit das Ereignis auszulöschen; ein Irrtum der Geschichte, das ist doch zu korrigieren. Die Frau stotterte. Man würde sie des Mordes anklagen, das wußte sie. Alle Mütter von Söhnen halten ihre Schwiegertöchter für Mörderinnen. Dabei haben die Schwiegertöchter meist nur noch einen Rest zu erledigen. Die Frau hatte Angst. Die Schwiegermutter war eine, die ließ sich nichts vormachen. Blond und fest, kleiner Mund. Der Mann hatte ihr einmal ein Jugendfoto seiner Mutter gezeigt, darauf sah sie aus wie eine Operettensoubrette. Eigentlich hätte sie sechs Kinder und ein Riesenhaus haben sollen, hatte der Mann über seine Mutter gesagt. Sie tobte mit ihrer Aktivität gegen Wände. Sie würde mit ihrer Trauer über den Tod des einzigen Sohnes gegen Wände toben. Der Schwiegervater hatte nur das eine gesagt: Was ist das? Was ist da los? Mehr sollte er dazu nie sagen können.

Wir kommen morgen, sagte die Schwiegermutter am Telefon, während der Vater im Hintergrund schwer atmete, vielleicht weinte. Wir kommen, so schnell wir können.

Die Frau hörte aus der Stimme ihrer Schwiegermutter, was sie eigentlich sagen wollte: Wir kommen, damit ich diesen Unsinn wieder in Ordnung bringen kann. Mir stirbt kein Sohn. Es ist alles deine Schuld, alle Unordnungen, und jetzt diese letzte. Aber ich werde dafür sorgen, daß es wird wie früher.

Der Mann hatte manches von ihr erzählt. Anderes hatte sie selber berichtet. Die Flucht! Was ich mit dem Jungen durchgemacht habe!

Er: Sie hat mich die Hosen runterziehen lassen, noch mit elf oder zwölf, damit irgendwelche blöden Weiber meine Narben auf dem Hintern anschauen sollten!

Sie: Ich habe ihn auf der Flucht zu einer russischen Ärztin gebracht, und die hat ihn gespritzt, unsteril! Sie haben es uns Deutschen gegenüber eben mit allen Mitteln versucht.

Die unerschöpflichen Beweise der Mutterliebe auf der Flucht aus Schlesien.

Wie beweist man, dachte die Frau, während sie noch am Telefon ihrer Schwiegermutter zuhörte, wie beweist man Mutterliebe ohne Krieg? Man macht selber einen, wahrscheinlich. Einmal hatte die Frau die Nerven verloren und ihre Schwiegermutter gefragt: Was ist dir denn anderes übriggeblieben? Oder hättest du ihn unterwegs in die Mülltonne stecken wollen? Wie alle sehr starken Menschen konnte auch die Mutter des Mannes unendlich beleidigt sein.

Du hast die Mutti sehr gekränkt, hatte der Vater gesagt. Wahrscheinlich hätte er am Abend des Todes seines einzigen Sohnes – hätte der ihm noch ein einziges, letztes Mal zuhören wollen – auch zu ihm gesagt: Du hast die Mutti sehr gekränkt.

Auf morgen dann, sagte die Frau ins Telefon und hatte Angst. Die Narben des Mannes waren ihr wieder in den Sinn gekommen, tiefe, schmerzhaft aussehende Spuren auf der rechten Gesäßhälfte, Spuren wie von einer Folter. In Wirklichkeit Spuren einer Lebensrettung. Und als die Frau an diese Narben dachte, kam ihr der Körper des Mannes zu Bewußtsein, der ferne, aber sicher noch unversehrte Körper, nur die russischen Narben am Hintern, schöne lebendige Narben. Die Wunden, die ihm bald einer schlagen würde, würden nicht mehr vernarben. Die Frau fühlte sich leise zittern und hatte, die Gäste sahen es, Mühe, den Kopf ruhig zu halten. Sie spürte das unkontrollierbare Wackeln ihres Kopfes und wußte, daß sich ihr damit das Alter zeigte.

So wird es sein, wenn man lang genug lebt, sagte sie zu einer Freundin, man kriegt das Kopfzittern. Das ist ihm erspart geblieben.

In der Wohnung saßen etwa zehn Leute und hatten sich zu entscheiden, wem sie die Witwenschaft zuerkannten. Aber die Frau machte sich keine Sorgen. Man würde ihre Großzügigkeit dem Jungen gegenüber anerkennen und ihn so bald wie möglich vergessen. Alle hatten ihr etwas mitgebracht, statt Blumen, sagte eine andere Freundin ironisch. Valium, Librium, Nobrium. Nehme ich nicht, sagte die Frau. Das reicht ja, um die halbe Stadt auszurotten. Im Nachtschränkchen des Mannes waren die gleichen Pillen gestapelt, Raufpillen und Runterpillen, als sei alles anders nicht auszuhalten. Die Frau trank sehr viel Cognac, alle unterhielten sich leise, und manche weinten, während sie von dem Mann sprachen. Der Frau fiel nichts ein, was sie sagen könnte. Die Katzen hatten sich müde gekämpft und schliefen auf den Schränken.

Es gab an diesem Abend eine schöne Gemeinschaft zwischen Leuten, die sich sonst nicht mochten oder einander gleichgültig waren. Politische Freunde hatte der Mann in seinem eigenen Beruf nicht viele. Er, der Anarchojurist, der Chaot, der Linke, der andere Linke mit standesrechtlichen Verfahren bedrohte, Verrücktheiten über Verrücktheiten. Wo doch der dialektische Materialismus seit kurzem vereinnahmt und als Meister richtigen Handelns außer Frage gestellt worden war. Dem hatte der Mann sich nie unterworfen. Nicht weil er ihn als falsch entlarvt hätte, sondern weil es sich in diesem System einfach nicht gut spinnen ließ.

Der Mann war nämlich nicht ernsthaft gewesen. Systeme, die ihre Vertreter grämlich erscheinen ließen, waren ihm zuwider. Eine Politik, in der Radmäntel, Schlapphüte und Ausbrüche keinen Platz hatten, war ihm langweilig.

Die Übereinstimmung, was die Farbe der Fahnen betraf, hatte er früh durchbrochen. Die Frau hatte ihm aus einem neuen weißhölzernen Besenstiel und vier Meter schwarzer Faschingsseide eine eigene Fahne genäht. Sie hatten sie abwechselnd getragen. In einer Schlacht um ein amerikanisches Kaufhaus, in deren Verlauf es ihnen gelungen war, ihre schwarze Fahne höher als alle roten auf dem Gebäude zu hissen, hatten sie sie dann bei einem Sturmangriff der Polizei ehrenhaft verloren. Die Frau hatte immer versprochen, eine neue zu nähen – es ist die Sache der Frauen, das Fahnennähen. Aber die Schlacht war im Jahre neunundsechzig gewesen, und in den darauffolgenden Jahren hatte sie immer eine Ausrede gehabt, weil ein leises Gefühl der Lächerlichkeit in ihr allmählich deutlicher geworden war.

Es gab noch ein Foto aus dem neunundsechziger Jahr. Darauf waren der Mann und die Frau ernsthaft und aufgeregt, aber auch selbstbewußt zu sehen, er sechsundzwanzig, sie fünfundzwanzig Jahre alt, die dunkelseidene Fahne über der Schulter, beide in schwarzen Kleidern.

Geh nach Hause ficken, du Anarchistensau, hatte einer von den Marxisten/Leninisten zur Frau gesagt. Aber als sie ihn dem Mann zeigen wollte, damit er ihm die Fahnenstange über den Kopf hauen könnte, sah sie ihn nicht mehr. Fünf Jahre war das her, und am Abend des Todes ihres Mannes fand sie die Fahne plötzlich nicht mehr lächerlich, sondern bedauerte, daß sie keine neue genäht hatte. Mit Fahnen bedeckt man Särge, mit Fahnen und Blumen. Und etwas anderes wäre ihr beim besten Willen nicht eingefallen, auch nicht das pompöse Familienwappen, das er ihr oft gezeigt hatte.