Cover

Buch

Ist der Kapitalismus das Ende der Geschichte, eine Weltordnung, die unüberwindbar ist? Jean Ziegler widerspricht dieser Ansicht vehement. Er erklärt seiner Enkelin Zohra und ihrer Generation, welchen unmenschlichen Preis wir für dieses System zahlen. Auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, leiden 2 Milliarden Menschen an extremer Armut, sterben täglich Zehntausende Kinder an Mangel- und Unterernährung. Kapitalistische Profitgier zerstört die Umwelt, vergiftet Böden, Flüsse und Meere, beschädigt das Klima und bedroht die Natur. Ziegler erklärt, warum dieses System »radikal zerstört« werden muss: der Kapitalismus als »kannibalische Weltordnung« ist unreformierbar. Und er zeigt sich überzeugt, dass seine Abschaffung eine kraftvolle Utopie ist, an deren Verwirklichung bereits Millionen Menschen arbeiten, die sich als breite Widerstandsfront formieren. Eine ermutigende Streitschrift des international bekannten Kapitalismus- und Globalisierungskritikers!

Autor

Jean Ziegler, Soziologe, emeritierter Professor der Universität Genf, bis 1999 Nationalrat im Eidgenössischen Parlament. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats und Träger verschiedener

Ehrendoktorate und internationaler Preise, wie z. B. des Internationalen Literaturpreises für Menschenrechte (2008). Seine Bücher, zuletzt Der schmale Grat der Hoffnung (2016), wurden in viele Sprachen übersetzt, haben erbitterte Kontroversen ausgelöst und ihm hohes internationales Ansehen verschafft.

Jean Ziegler

WAS IST
SO SCHLIMM AM
KAPITALISMUS?

Antworten auf die Fragen meiner Enkelin

Aus dem Französischen übertragen von Hainer Kober

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel
»Le capitalisme expliqué à ma petite-fille
(en espérant qu’elle en verra la fin)«
bei Éditions du Seuil, Paris, erschienen.


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© 2018 by Jean Ziegler

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23602-1
V002


www.cbertelsmann.de

Ich widme dieses Buch
allen meinen Enkelkindern

Die Räuber kommen! Mit ungeheurer
Heeresmacht überziehen sie unser Land. Sie wollen
Uns das Leben lassen, wenn wir ausliefern
Was wir brauchen zum Leben.
Warum
Den Tod fürchten, aber nicht
Den Hunger?
Wir unterwerfen uns nicht!

Bertolt Brecht, Die Horatier und die Kuriatier
(1934 im Exil geschrieben)

I

Neulich abends hat Mama mich ganz aufgeregt gerufen: Du warst im Fernsehen und hast mit einem – offenbar recht liebenswürdigen – Herrn über den Kapitalismus diskutiert. Aber ihr wart euch in gar nichts einig. Ich habe nicht viel von eurem Streit verstanden, aber du hast ziemlich zornig ausgesehen. Warum?

Du hast recht, Zohra, ich war wütend. Der Mann, der mir gegenübersaß, war Peter Brabeck-Letmathe, Präsident von Nestlé, dem mächtigsten transkontinentalen Nahrungsmittelkonzern der Welt. Heute steht Nestlé, das vor 150 Jahren in der kleinen Schweiz gegründet wurde, auf Platz 27 der weltgrößten Unternehmen.

Das verstehe ich nicht. Nestlé stellt gute Schokolade her! Und wenn die Schweiz es schafft, Unternehmen hervorzubringen, die ihre Geschäfte auf allen Kontinenten abwickeln, warum macht dich das zornig?

Weil Peter Brabeck sich ständig auf die Theorie seines Freundes Rutger Bregman beruft, eines berühmten holländischen Wirtschaftswissenschaftlers. Doch ich wehre mich gegen dessen Geschichts- und Wirtschaftsverständnis. Vor allem behauptet er Folgendes: »Während 99 Prozent der Weltgeschichte waren 99 Prozent der Menschheit arm, hungrig, schmutzig, furchtsam, dumm, hässlich und krank … Das alles hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre geändert … Milliarden von uns sind heute reich, gut genährt, sicher und gelegentlich sogar schön. Selbst jene, die wir immer noch »die Armen« nennen, leben heute unter nie da gewesenen Bedingungen des Überflusses.«

Peter Brabeck behauptet, die kapitalistische Ordnung sei die gerechteste Organisationsform, die die Erde je gesehen habe, und garantiere die Freiheit und das Wohlergehen der Menschheit.

Und das ist nicht wahr?

Natürlich nicht! Das Gegenteil ist wahr!

Die kapitalistische Produktionsweise trägt die Verantwortung für unzählige Verbrechen, für das tägliche Massaker an Zehntausenden von Kindern durch Unterernährung, Hunger und Hungerkrankheiten, für Epidemien, die schon lange von der Medizin besiegt wurden, für die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Meere, die Vernichtung der Wälder …

Gegenwärtig sind wir 7,3 Milliarden Menschen auf unserem schutzlosen Planeten. 4,8 Milliarden, das heißt mehr als zwei Drittel, leben in einem Land der südlichen Hemisphäre, davon Hunderte Millionen unter unwürdigen Bedingungen. Die Mütter haben panische Angst vor dem Morgen, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder einen weiteren Tag ernähren sollen. Die Väter werden erniedrigt, verachtet bis in ihre Familien hinein, weil es ihnen nicht gelingt, Arbeit zu finden – sie sind Opfer der sogenannten Dauerarbeitslosigkeit. Die Kinder wachsen in Elend und Angst auf, häufig sind sie Opfer häuslicher Gewalt, ihre Kindheit liegt in Trümmern. Für zwei Milliarden Menschen – die gemäß Weltbank in »extremer Armut« leben – gibt es keine Freiheit. Ihre einzige Sorge ist ihr Überleben.

Die verheerenden Auswirkungen der Unterentwicklung sind Hunger, Durst, Epidemien und Krieg. Sie vernichten jedes Jahr mehr Männer, Frauen und Kinder als die fürchterliche Schlächterei des Zweiten Weltkriegs in sechs Jahren. Was viele von uns zu der Auffassung bringt, dass für die Völker der Dritten Welt der »Dritte Weltkrieg« längst begonnen hat.

Wenn ich das recht verstehe, seid ihr, Brabeck und du, vollkommen entgegengesetzter Meinung. Ihr konntet euch über die Wohltaten und Missetaten des Kapitalismus absolut nicht einigen.

Du hast recht. Für mich – und für all diejenigen, die meine Meinung teilen – hat der Kapitalismus eine kannibalische Ordnung geschaffen: Überfluss für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für die große Mehrheit.

Ich bin ein Feind des Kapitalismus. Ich bekämpfe ihn.

Dann muss man also schlicht und einfach den Kapitalismus abschaffen?

Meine liebe Zohra, die Antwort ist nicht einfach.

Einer Minderheit der Menschen, vor allem denjenigen, die die nördliche Hemisphäre bewohnen oder die zu den herrschenden Klassen der Länder des Südens gehören, haben die beeindruckenden industriellen, wissenschaftlichen, technologischen Revolutionen, die das kapitalistische System während der letzten zwei Jahrhunderte in Gang gesetzt hat, einen nie da gewesenen wirtschaftlichen Wohlstand gebracht. Die kapitalistische Produktionsweise beweist eine verblüffende Vitalität und Kreativität. Da die Eigentümer des Kapitals enorme Finanzmittel konzentrieren, menschliche Begabungen mobilisieren, sich Wettbewerb und Konkurrenz zunutze machen, kontrollieren die mächtigsten Eigentümer des Kapitals das, was die Wirtschaftswissenschaftler »problematisches Wissen« nennen, das heißt die wissenschaftliche und technologische Forschung auf so verschiedenen Gebieten wie Elektronik, Informatik, Pharmazie, Medizin, Energie, Luftfahrt, Astronomie, Materialwissenschaft und so fort.

Dank der von ihnen gesponserten Labors und Universitäten erzielen sie spektakuläre Fortschritte in der Biologie, Genetik, Physik etc. In den Laboratorien der Pharmaunternehmen – Novartis, Hoffmann-La Roche oder auch Sanofi – wird fast jeden Monat ein neuer Wirkstoff, ein neues Medikament entwickelt; an der Wall Street kommt fast alle drei Monate ein neues Finanzinstrument in Umlauf. Ununterbrochen steigern die transkontinentalen Nahrungsmittelunternehmen die Produktion, diversifizieren die Saatgüter, entwickeln immer rentablere Düngersorten, steigern die Ernten und erfinden immer wirksamere Pestizide, um sie zu schützen; die Astrophysiker beobachten andere Sternsysteme, die um ihre eigenen Sonnen kreisen, und entdecken fortwährend neue Exoplaneten; die Autoindustrie konstruiert jedes Jahr robustere und schnellere Fahrzeuge; Wissenschaftler und Ingenieure schicken immer leistungsfähigere Satelliten ins All; Tausende von Patenten, die Tausende von neuen Erfindungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens schützen, werden Jahr für Jahr von der WIPO, der Weltorganisation für geistiges Eigentum in Genf, erteilt.

Wenn ich dich recht verstehe, beeindruckt dich die kapitalistische Produktionsweise durch ihren Erfindungsreichtum und ihre schöpferische Kraft …

Genau, Zohra. Stell dir vor: Zwischen 1992 und 2002, während eines Jahrzehnts, hat sich das Bruttoweltprodukt – also die Summe aller auf der Welt in einem Jahr produzierten Güter – verdoppelt und das Welthandelsvolumen verdreifacht. Der Energieverbrauch verdoppelt sich im Durchschnitt alle vier Jahre.

Zu Beginn unseres Jahrtausends kommt die Menschheit zum ersten Mal in den Genuss eines Güterüberflusses. Der Planet ächzt unter seinen Reichtümern. Die verfügbaren Güter übersteigen die Grundbedürfnisse der Menschen um ein Vielfaches.

Also hat der Kapitalismus auch seine guten Seiten?

Die kannibalische Weltordnung, die er geschaffen hat, muss radikal zerstört werden, aber die wunderbaren Errungenschaften der Wissenschaft und Technik wollen wir nicht nur erhalten, sondern noch potenzieren. Die Arbeit, die Begabungen, der Erfindungsgeist des Menschen sollen dem Gemeinwohl – also allen Menschen – dienen und nicht nur der Bequemlichkeit, dem Luxus, der Macht einer Minderheit. Ich werde dir später erklären, unter welchen Bedingungen sich die neue Welt, von der die Männer und Frauen träumen, verwirklichen lässt. Im Augenblick lass mich dir erzählen, woher der Kapitalismus kommt.