Buch
London: Vier Menschen erhalten anonym eine Geburtstagskarte mit der Nachricht: »Dein Geschenk ist das Spiel – traust du dich zu spielen?« Danach verschwinden sie spurlos. Da die Polizei die Sache nicht ernst nimmt, engagiert die Tochter einer der Verschwundenen die Psychologin und Privatdetektivin Dr. Augusta Bloom. Als sich Bloom die Lebensläufe der Vermissten anschaut, findet sie eine Gemeinsamkeit, die alle betrifft – und die alle zu gefährlichen Menschen macht. Offensichtlich nutzt der Täter das Gewaltpotenzial seiner Opfer. Und versucht, auch Augusta Bloom in sein tödliches Spiel hineinzuziehen …
Autorin
Die Psychologin Leona Deakin hat als Profilerin für die West Yorkshire Police gearbeitet, bevor sie sich als Psychotherapeutin selbstständig gemacht hat. Sie lebt mit ihrer Familie in Leeds. »Mind Games« ist der Beginn einer Psychothriller-Reihe um die Londoner Profilerin Dr. Augusta Bloom.
Leona Deakin
Mind Games
Dieses Spiel wirst du verlieren
Psychothriller
Aus dem Englischen
von Ariane Böckler
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Gone« bei Black Swan, an imprint of Transworld Publishers. Transworld is part of the Penguin Random House group of companies whose addresses can be found at global.penguinrandomhouse.com
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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2020
Copyright © der Originalausgabe 2019 by Leona Deakin First published as Mind Games by Transworld Publishers, a part of the Penguin Random House group of companies.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Redaktion: Christiane Mühlfeld
BH · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-23934-3
V004
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Schwestern Elizabeth und Joanne
Danke, dass ihr mich zum Schreiben inspiriert habt.
»Wir sind doch alle Würmer. Aber ich glaube, ich bin ein Glühwurm.«
Winston Churchill
Wenn nachts sich trübt der Auen Blick
Der Glühwurm seinen Funken schickt
Zu haschen den ersehnten Fang
Und Licht zu sein auf Wand’rers Gang
James Montgomery
1
Seraphine Walker war vierzehn Jahre alt und hatte niedliche blonde Locken. Sie trug einen eng anliegenden Schulpullover und einen kurzen Rock und hatte etwas unmittelbar Verführerisches an sich. Doch genau wie die Glühwürmchen, die mit ihrem hypnotischen Blinken ihre Beute anlocken, war auch Seraphine nicht ganz das, was sie zu sein schien.
Die Schulglocke läutete. Seraphine ließ den Bleistift fallen. Mit einem leisen Klicken traf er unten auf, winzige Blutströpfchen spritzten dabei von seiner Spitze über den glänzenden Holzfußboden. Neben dem Bleistift lag der Hausmeister, beide Hände um den Hals geschlungen, während sich um seinen verkrümmten Körper ein scharlachroter Kreis bildete. Höchstwahrscheinlich war er dem Tod nahe. Schön sah das aus. War der Gedanke respektlos? Wahrscheinlich. Doch danebenzustehen und zu verfolgen, wie mit jedem seiner Atemzüge Blutbläschen hervortraten, die ihm übers Kinn rannen – war das nicht ebenso respektlos?
Eigentlich hätte sie wegsehen müssen, doch sie konnte nicht. Es war faszinierend. So faszinierend, dass sie plötzlich der Impuls durchzuckte, sich hinzuknien, näher heranzugehen, um zu sehen, ob die Wunde, die ihr Bleistift seiner Haut zugefügt hatte, scharf umrissen oder schlaff und fransig war. Die Logik sagte ihr, dass Ersteres der Fall sein dürfte. Sie hatte schnell und entschlossen auf ihn eingestochen, also musste es eine saubere Wunde sein. Doch sie wollte es genau wissen. Nur ein klein wenig näher.
»Seraphine? Seraphine?« Mrs Brown rannte durch die Turnhalle. Die großen Brüste der Kunstlehrerin wippten auf und ab, während ihr Cordrock gegen die Stiefel wischte. Ihr Gesicht verriet panische Angst. Das erstaunte Seraphine. Sie hatte Wut erwartet. Seraphine sah zu Claudia hinüber, die schluchzend dasaß, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Mrs Brown lief an ihr vorüber, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Claudia hob den Kopf und weinte lauter. Ihre Augen waren rot und ihre Wangen tränenüberströmt, doch ihr Gesichtsausdruck war seltsam. Ganz und gar nicht erleichtert.
Seraphine konnte Menschen lesen. Sie war darin richtig gut. Doch sie verstand die anderen nicht immer. Warum weinten sie? Warum schrien sie? Warum rannten sie?
Und so sah sie sehr genau hin. Studierte sie. Ahmte sie nach. Und täuschte sie.
2
Die Kaffeetasse in der Hand und noch im Schlafanzug, saß Lana an dem kleinen Schreibtisch auf dem Treppenabsatz zwischen den Stockwerken. Sie ignorierte die Aussicht auf Nordlondon und starrte stattdessen auf den Bildschirm des Laptops. Nachdem sie sich durch das an diesem Tag gehypte Facebook-Quiz – Was für ein Kaffee bist du? – geklickt hatte, lehnte sie sich zurück, umfasste den Becher mit beiden Händen und wartete auf das Ergebnis. Der Bildschirm war zu hell, und der Cursor pulsierte im Rhythmus ihrer schmerzenden Schläfen. Ein geduldigerer Mensch hätte die Kontrolleinstellungen aufgerufen und den Kontrast angepasst, doch Lana riss einfach nur das Stromkabel heraus, woraufhin der Laptop in den Energiesparmodus überging und der Bildschirm drei Schattierungen dunkler wurde.
Das Ergebnis lautete: Du bist ein doppelter Espresso – zu heiß und zu stark für die meisten. Das war Musik in Lanas Ohren. Ihre Tochter benutzte Bezeichnungen für sie, die weit weniger schmeichelhaft waren – zum Beispiel verantwortungslos, verrückt, chaotisch. Jane würde sie für die Weinflasche im Küchenabfall und den Wodka neben dem Bett kritisieren. In Janes Alter hatte Lana Drogen genommen, war mit einem nach dem anderen ins Bett gegangen und hatte schon mindestens drei Festnahmen wegen irgendwelcher Bagatelldelikte hinter sich. Verglichen damit, was Lana ihrer Mutter zugemutet hatte, war eine pingelige Langweilertochter also kein großes Ding. Ein bisschen enttäuschend zwar, aber kein großes Ding.
Lana teilte das Ergebnis mit ihren Facebookfreunden und Twitterfollowern. Marj hatte ein Zitat gepostet, wonach guten Menschen Gutes widerfuhr. Siebzehn andere hatten es gelikt. Lana tippte eine rasche Antwort – Sag das den 39 Leuten, die bei der Schießerei in dem Nachtclub in Istanbul umgekommen sind – und klickte auf Enter. Manche Leute konnten wirklich optimistische Idioten sein. Als es an der Tür klopfte, tappte Lana barfuß nach unten und fragte sich, was für ein Mensch eine einwandfrei funktionierende Türklingel ignorierte, um mit seiner Faust kräftig gegen eine Holzplatte zu schlagen. Instantkaffee mit massenhaft Milch und zwei Stück Zucker, mutmaßte sie, während sie die Tür öffnete. Es stand niemand draußen. Lana sah sich nach einer Benachrichtigungskarte oder einem Päckchen auf der Treppe um, fand aber nichts dergleichen.
»Blöde Kids«, murmelte sie und ging zurück nach oben, um den Wasserkocher wieder anzuschalten.
In der Küche gab sie mehrere Löffel Kaffee in die Stempelkanne, goss Wasser darauf und spülte ihre Tasse unter dem Wasserhahn aus. Im Garten mühte sich eine große Amsel damit ab, ihr zappelndes Frühstück aus der Erde zu ziehen. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als besäße der Wurm die Oberhand, doch dann bewegte die Amsel in einer Art Vogeltodestanz mehrmals hintereinander die Füße, und ping, sprang der Wurm heraus. Lana wandte sich ab, um Milch aus dem Kühlschrank zu nehmen, und da entdeckte sie es:
Im Flur, gleich bei der Tür, lag ein kleiner weißer Umschlag auf dem Teppich. Er war gegen die Wand geschoben worden, als sie aufgemacht hatte. Lana hob ihn auf und drehte ihn um. Er schimmerte bei jeder Bewegung. Ihr Name stand auf Silberfolie geprägt in Druckbuchstaben auf der Vorderseite.
In diesem Augenblick begann ihr Telefon zu klingeln. Sie kramte es heraus und sah aufs Display.
»Hi, Babe«, sagte sie und registrierte, dass ihre Stimme rau und verkatert klang.
»Ich wollte dir alles Gute zum Geburtstag wünschen«, sagte Jane.
»Nur zu«, sagte Lana.
Es entstand ein kurzes Schweigen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mum. Was hast du für heute geplant?« Das war verklausuliert für: Verbring nicht den ganzen Tag in der Kneipe.
Lana ignorierte die Frage ihrer Tochter. »Ist die Karte hier von dir?«
Erneutes Schweigen.
»Die Karte, die gerade gekommen ist«, fuhr Lana fort. »Ist die von dir?«
»Was für eine Karte?«
»Vergiss es. Kommst du zur üblichen Zeit nach Hause? Sollen wir zum Abendessen ausgehen?«
Jane sagte etwas mit der Hand über dem Mikrofon und wandte sich dann wieder an Lana. »Ich muss Schluss machen, Mum. Bis später. Einen schönen Tag noch.«
Ein einfacher Latte macchiato mit Magermilch – das wäre Jane. Nicht zu viel Koffein, nicht zu viel Fett; ein vernünftiger, langweiliger Kaffee. Lana griff erneut nach dem Umschlag. Sie machte ihn auf und zog eine weiße Karte heraus. Auf der Vorderseite stand: Herzlichen Glückwunsch zum 1. Geburtstag.
War das ein Witz? Sie verstand ihn nicht.
Sie klappte die Karte auf und las.
DEIN GESCHENK IST DAS SPIEL
TRAUST DU DICH ZU SPIELEN?
Lana lächelte. »Um was für ein Spiel geht es denn?« In der strahlend weißen Karte lag ein langer Streifen dünnes Papier mit einer URL und einem Zugangscode. Lana schnappte sich ihr Handy, öffnete die Webseite und folgte den Anweisungen. Eine schlichte weiße Webseite ging auf. Darauf stand in der gleichen silbernen Schrift:
Hallo, Lana,
ich habe dich beobachtet.
Du bist etwas Besonderes.
Aber das weißt du ja schon, nicht wahr?
Die Frage ist nur …
Lana scrollte nach unten.
Bist du bereit, es zu beweisen?
Darunter war ein großer, roter Knopf mit der Aufschrift PLAY. Dann erschien ein weiterer Satz. Er wanderte von rechts nach links über den Bildschirm, wieder und wieder.
Ich fordere dich heraus.
Wie jeder Spieler vor ihr und jeder Spieler nach ihr drückte Lana auf den Knopf. Sie hatte keine Angst. Sie kam nicht einmal auf die Idee, an die möglichen Folgen zu denken oder über die mysteriöse Karte nachzusinnen. Sie wollte einfach nur wissen, wie es weiterging.
3
Seraphine saß in dem kleinen, fensterlosen Raum auf der Polizeiwache und überlegte, ob ihre Antworten glaubhaft klangen und ob sie normal waren. Sie hatte keine Ahnung, wie ein normaler Mensch über so etwas sprechen würde. Sie stützte sich auf Kriminalfilme, Bücher und ihre eigene Fantasie.
»Dann erzähl uns doch noch mal, Seraphine, wie es kam, dass du heute Morgen in der Turnhalle warst.« Police Constable Caroline Watkins hatte diese Frage bereits zweimal gestellt. Ihre Stimme klang hell und mädchenhaft. Sie hatte das dunkle Haar im Nacken zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden. Ihr Make-up war dick, aber makellos, und jedes Mal, wenn sie eine Frage wiederholte, zuckte ihr linkes Auge.
Seraphine zuckte die Achseln. »Uns war einfach langweilig«, sagte sie zum dritten Mal.
»Und du hast gesagt, der Hausmeister Darren Shaw ist dir und Claudia Freeman gefolgt?«
Seraphine nickte.
Watkins deutete mit dem Kopf auf das Aufnahmegerät.
»Ja«, sagte Seraphine.
»Und der Bleistift?«
»Den hatte ich in der Jackentasche.« Watkins sah Seraphine direkt in die Augen. »Ach ja«, sagte sie. »Vom Kunstunterricht.« Ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Nein«, widersprach Seraphine. »TZ. Technisches Zeichnen.«
»Natürlich. Irrtum meinerseits.« PC Watkins tat so, als korrigierte sie ihre Notizen. »Also, Mr Shaw hat sich dann in der Turnhalle Claudia genähert. Du hast gesagt, sie war in der Klemme. Was meinst du damit?« Watkins’ rechtes Auge zuckte.
Seraphine wiederholte ihre Antwort mit demselben Wortlaut wie zuvor. »Er hat sie im Nacken festgehalten und eine Hand in ihr Oberteil geschoben.«
»Und du bist sicher, dass das nicht einvernehmlich geschah?«
Seraphine hielt einen Moment lang inne, um zu überlegen, was das kleine Miststück Claudia gesagt haben mochte. Sie waren befreundet, doch Seraphine wusste, dass Claudia neidisch auf ihre Beliebtheit war. Wie weit würde Claudia gehen, um sie bloßzustellen?
»Bist du sicher, dass er Claudia gegen ihren Willen angefasst hat?«, hakte Watkins nach.
»Sie ist fünfzehn«, versetzte Seraphine, gekränkt von der stillschweigenden Unterstellung, dass sie die Bedeutung des Wortes »einvernehmlich« nicht kannte.
Watkins’ Wangen färbten sich rot.
Seraphines Mutter saß schweigend dabei, so wie man sie vorher angewiesen hatte – sie war ein solch folgsames Schaf – , doch jetzt ergriff sie das Wort. »Was wollen Sie damit unterstellen?«, schimpfte sie und löste ihre verschränkten Arme. »Wir sind eine gute Familie. Meine Tochter würde niemals jemandem etwas zuleide tun. Dieser Mann hat ihr Angst gemacht, und sie hat sich lediglich selbst verteidigt.«
»Stimmt das, Seraphine? Hattest du Angst?«, fragte Watkins.
»Ja.«
»Er hat also Claudia losgelassen und ist auf dich losgegangen?«
»Ja.«
»Und du hast mit dem Bleistift auf ihn eingestochen, wie du selbst gesagt hast, in der Absicht, ihm einen Kratzer zuzufügen?«
»Ja.« Seraphine führte die Sache nicht weiter aus.
Watkins sah Seraphine weiter unverwandt an.
Sie glaubt mir nicht, dachte Seraphine. Sie senkte den Blick und ließ die Schultern fallen, ehe sie auf dem Stuhl nach unten rutschte und an ihren Fingernägeln zupfte. Ich bin ein vierzehnjähriges Mädchen, und ich habe Angst. Ich wollte niemanden verletzen. Ich habe nur versucht, meiner Freundin zu helfen, und jetzt werde ich verhört.
Einen Moment lang fürchtete sie, es nicht hingekriegt zu haben. Vielleicht war ihre Haltung falsch oder ihr Gesichtsausdruck nicht ganz richtig. Polizisten waren darauf trainiert, Schwindler zu entlarven.
Doch dann faltete Watkins ihre Papiere zusammen. »Okay, das reicht fürs Erste. Wir machen eine Pause, und PC Felix zeigt euch, wo die Kantine ist.« Watkins sah Seraphines Mutter an. »Essen hilft gegen den Schock.« Dann sah sie wieder Seraphine an, ein warmes Lächeln im Gesicht. »Und dann reden wir noch mal.«
Seraphine nickte. Ich bin ein verletzlicher Teenager unter Schock. Ich bin ein verletzlicher Teenager unter Schock. Sie stellte fest, dass es half, die Worte in Gedanken zu wiederholen.
Watkins stand auf und wandte sich ab. Seraphine entspannte sich. Es würde ein Kinderspiel werden.
4
Der Sekundenzeiger der großen Uhr im Sprechzimmer stolperte auf die Neun zu. Dr. Augusta Bloom saß aufrecht auf ihrem Stuhl, verfolgte den Zeiger und fühlte, wie jedes Ticken ihre Ängste zerstreute und alles beseitigte, was sie davon ablenken könnte, sich eine ganze Stunde lang auf einen anderen Menschen zu konzentrieren. Diese Sitzung würde anstrengend werden. Sie hatte die Notizen gelesen und wusste, was sie zu erwarten hatte. Ein traumatisiertes Opfer, das sich für Handlungen zu rechtfertigen hatte, die nicht vorsätzlich, sondern instinktiv erfolgt waren.
Tick.
Tick.
Vierzehn. Mit vierzehn sollte man mit einem Bein noch in der Kindheit stehen. Die Unschuld sollte nach und nach schwinden: zuerst der Weihnachtsmann und die Zahnfee, dann die Erkenntnis, dass die eigenen Eltern nicht unfehlbar sind, dann, dass die Menschen manchmal egoistisch sind, und schließlich dass die Welt unendlich grausam sein kann. Die Kindheit muss sich langsam auflösen, damit der Geist sich anpassen kann. Wird sie einem in einem einzigen brutalen Augenblick weggerissen, bleiben die Umrisse von Verdrängung, Wut und letztlich Verzweiflung.
Augusta Bloom verfügte nicht über die Macht, die Uhr zurückzudrehen und das Trauma zu löschen. Doch sie konnte versuchen, das Licht im Geist eines Kindes zu verstärken und die Wucht der Belastung zu verkleinern.
Seraphine blieb in der Tür zu dem kleinen Raum stehen und taxierte Dr. Bloom, die in einem hohen Sessel mit hölzernen Armlehnen saß. Sie hatte kurzes hellbraunes Haar und trug eine schwarze Hose sowie einen grünen Pulli mit V-Ausschnitt, was insgesamt adrett und schick wirkte. Ihre Füße steckten in flachen schwarzen Schuhen, die Seraphines Mutter als zweckmäßig bezeichnet hätte. Die Füße der Psychologin reichten kaum bis zum Boden.
Sie ist genauso klein wie ich, dachte Seraphine. Das könnte sich als nützlich erweisen.
»Hallo, Seraphine«, sagte Dr. Bloom. »Komm rein. Setz dich.« Sie hatte die Hände im Schoß liegen und umfasste damit ein kleines schwarzes Buch. Sie wartete, bis Seraphine sich gesetzt hatte, und sprach dann weiter. »Wie geht es dir?«
Seraphine blinzelte mehrmals. »Okay«, sagte sie. Das war eine unverfängliche Antwort.
»Okay«, wiederholte Dr. Bloom. »Weißt du, warum deine Mutter mich gebeten hat, mit dir zu reden?«
»Wegen des Hausmeisters.«
Dr. Bloom nickte. »Du weißt, dass ich Psychologin bin?« Bloom wartete, bis Seraphine ihre Frage verarbeitet hatte, ehe sie weitersprach. »Ich arbeite mit Jugendlichen, denen eine Straftat zur Last gelegt wird.«
»Dann arbeiten Sie für die Polizei?«
»Manchmal. Aber hauptsächlich arbeite ich mit Anwälten und deren Mandanten zusammen oder beschäftige mich mit jugendlichen Straftätern, meist in Vorbereitung auf ein Gerichtsverfahren. Deine Mutter hat mich gebeten, mit dir zu sprechen, weil sie besorgt darüber ist, wie sich dein jüngstes Erlebnis auf dich auswirkt. Deshalb möchte ich dir helfen, damit zurechtzukommen. Das Tempo richtet sich ganz nach dir. Hier steht ein Glas Wasser, und es gibt Papiertaschentücher, und wenn du irgendwann eine Pause machen willst, dann sag es einfach, und wir machen eine.« Seraphine musterte die Schachtel mit den Taschentüchern. Es wird erwartet, dass ich sie brauche, dachte sie. »Wie soll ich Sie ansprechen?«
»Am besten mit Dr. Bloom. Ich habe gehört, dass du eine ziemlich gute Schülerin bist und deine Lehrer viel Potenzial in dir sehen. Gehst du gern zur Schule?«
Seraphine zuckte die Achseln.
»Deine Mutter sagt, du bist sehr sportlich. Sie hat mir erzählt, dass du im Netball-Team bist und bei Regionalwettkämpfen Badminton gespielt hast. Stimmt das?«
Seraphine zuckte erneut die Achseln.
»Und du hast in der Schultheateraufführung letztes Jahr die Hauptrolle gespielt, also hast du offenbar ganz viele Talente.«
Seraphine rutschte auf ihrem Stuhl herum. Sie musste sich zusammenreißen. Langsam benahm sie sich schon wie eine ihrer dämlichen Freundinnen. Dr. Bloom ihr gegenüber saß aufrecht da, die Füße ordentlich Seite an Seite und die Hände im Schoß. Seraphine richtete sich auf. »Ich bin gut in Naturwissenschaften und Mathe.«
Dr. Bloom nickte.
»Ich mache gern Sport.« Sie ruckelte den rechten Fuß zurecht, bis er direkt unter dem rechten Knie stand.
»Und du bist ein Einzelkind. Stehst du deinen Eltern nahe?«
»Sehr.«
»Das ist gut.« Dr. Bloom lächelte, als würde sie sich aufrichtig über diese Antwort freuen. »Kannst du mir sagen, was du mit ›sehr‹ meinst?«
Seraphine stellte ihren linken Fuß genau neben den rechten. »Und ich mag auch gern Technisches Zeichnen, weil Mr Richards ein guter Lehrer ist.« Und weil er seine Stifte richtig, richtig scharf spitzt.
»Aha.«
»Sind Sie Ärztin?«, fragte Seraphine und faltete die Hände auf den Schenkeln.
»Nein, aber ich habe einen PhD in Psychologie. Weißt du, was das ist?«
Seraphine nickte. »Wo haben Sie studiert? Ich weiß nicht, ob ich auf die Universität gehen will. Es kommt mir wie Zeitverschwendung vor. Ich könnte doch auch gleich Geld verdienen. Was meinen Sie?«
»Würdest du sagen, dass du deiner Mutter oder deinem Vater näherstehst?«
Weder noch, dachte sie. »Beiden«, antwortete sie. »Gleichermaßen.«
»Und sind sie seit dem Angriff für dich da gewesen?«
Füreinander. Als ob sie die blöden Opfer wären. Seraphine vertuschte ihren Ärger mit einem Lächeln. »Sie waren sagenhaft.«
»Sagenhaft?« Seraphine war sehr bewusst, dass Dr. Blooms braune Augen sie nach wie vor fixierten. »Da hast du wirklich großes Glück, Seraphine.«
Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, an ihrem Tonfall, ließ Seraphine vermuten, dass sie das glatte Gegenteil meinte.
»Kannst du mir in deinen eigenen Worten schildern, was in der Turnhalle passiert ist?«
Seraphine holte Luft. Darauf hatte sie sich vorbereitet. »Claudia und ich sind reingegangen, und der Hausmeister ist uns gefolgt. Tatsächlich hat er schon seit Monaten was mit Claudia. Nicht, dass sie das gewollt hätte. Er hat sie immer wieder vergewaltigt. Er hat uns also in die Halle gehen sehen und sich gedacht, er könnte es bei uns beiden versuchen. Claudia hat versucht, ihn aufzuhalten, aber er ist auf mich losgegangen und hat versucht, mich zu betatschen. Er hat mich in eine Ecke gedrängt, und ich wusste nicht, was ich tun soll. Also …« Seraphine hielt inne: Sie musste es richtig formulieren.
»Ich hatte einen Bleistift in der Jackentasche und bin damit auf ihn losgegangen. Ich dachte, ich würde ihn kratzen, ihn verletzen, damit wir davonrennen können. Aber der Stift ist direkt in seinen Hals eingedrungen, wie in Pudding, und auf einmal war da massenhaft Blut. Es war überall, und dann ist er ausgerutscht und hingefallen und nicht wieder aufgestanden. Das war alles.«
Dr. Bloom schlug ihr Notizbuch auf und schrieb drei oder vier Wörter. »Danke. Das ist sehr hilfreich. Und als der Hausmeister dich in die Ecke gedrängt hat« – sie machte sich weitere Notizen –, »bevor du den Bleistift benutzt hast. Was hast du da gedacht?«
»Ich wollte nicht, dass der Perversling mich vergewaltigt.«
Dr. Bloom sah auf. »Und wie hast du dich gefühlt?«
»Völlig verängstigt.«
Dr. Bloom nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Und in dem Moment, was hast du da gesehen?«
»Gesehen?«
»Hast du alles mitbekommen, was in der Halle vor sich ging, oder hast du dich auf ein spezielles Detail konzentriert?«
Seraphine erinnerte sich, wie sie auf den Pulsschlag am Hals des drögen Darren gestarrt hatte. »Ich glaube nicht … ich weiß es nicht mehr.«
»Hast du geschrien oder geweint?«
»Nein.«
»Und Claudia?«
Seraphine schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Er hatte die Türen verschlossen. Es hätte keinen Sinn gehabt.«
»Du hattest also keinen Ausweg und keine Aussicht auf mögliche Hilfe von außen?«
Seraphine nickte.
»Er hatte dich in die Ecke gedrängt und seine Absichten klar zum Ausdruck gebracht?«
»Ja.«
»Und du warst völlig verängstigt?«
»Ja.« Seraphine unterdrückte ein Grinsen. Es lief gut.
Dr. Bloom hielt inne und holte tief Luft. »Was meinst du mit verängstigt? Kannst du mir beschreiben, was für ein Gefühl das war?«
»Ähm …«
Dr. Bloom ließ das Schweigen im Raum stehen.
»Wie viele Sitzungen werden wir haben?«, fragte Seraphine.
»So viele, wie wir brauchen.«
»Normalerweise?«
Die Psychologin lächelte. »Betrachtest du dieses Erlebnis als normal, Seraphine?«
Mist. Ich muss wirklich aufpassen, was ich sage. »Tut mir leid. Nein. Ich dachte einfach, es wäre eine bestimmte Anzahl.«
»Das weiß ich erst, wenn wir uns öfter getroffen haben.«
Dr. Bloom schlug ihr Notizbuch zu. »Es könnte für uns beide hilfreich sein, wenn du ein Tagebuch führen und deine Gedanken über dieses Erlebnis und unsere Sitzungen aufschreiben würdest. Einfach das, woran du dich erinnerst, irgendwelche Einzelheiten, die dir wieder einfallen, und wie du dich fühlst und mit alldem fertig wirst.«
Dr. Bloom nahm ein Notizbuch genau wie ihres vom Schreibtisch hinter sich und reichte es Seraphine. »Vielleicht könntest du das hier benutzen.« Seraphine lehnte sich vor, nahm das Notizbuch, legte es sich auf den Schoß und faltete darüber die Hände. Sie erwartete, dass Dr. Bloom auf diesen sehr augenfälligen Akt der Imitation reagierte. Oft hoben die Leute eine Augenbraue oder warfen ihr ein Minilächeln zu. Doch Dr. Bloom reagierte überhaupt nicht. Sie stellte Seraphine etliche Fragen über ihr Leben zuhause und in der Schule, und Seraphine tat ihr Bestes, um abzulenken und auszuweichen.
Eine Stunde später verließ Seraphine das Sprechzimmer und sonnte sich in ihrem Talent, eine Psychologin zu manipulieren. Bis ihr auf halbem Weg den Flur entlang die Taschentücher einfielen. Ich hätte die Taschentücher benutzen sollen. Ein so dummer Fehler würde ihr beim nächsten Mal nicht wieder unterlaufen.
5
Augusta Bloom tastete in der Manteltasche nach ihrer Oyster-Card und ging auf die U-Bahn-Station Angel zu. Beim Anblick der vielen Pendler, die auf die Sperren zuströmten, beschloss sie, die zweieinhalb Kilometer zum Russell Square lieber zu Fuß zurückzulegen. Eine neue Patientin kennenzulernen war immer aufregend, und die frische Luft würde ihr helfen, die Sitzung gedanklich zu verarbeiten.
Sie bog nach rechts in die Chadwell Street ein und plante, am Myddelton Square entlang und durch die ruhigen Seitenstraßen zu gehen, als ihr Telefon klingelte.
»Tag, Sheila.« In Marcus Jamesons Adern floss kein australisches Blut, trotzdem begrüßte er sie Tag für Tag auf diese Weise, garniert mit einem einigermaßen authentischen Akzent.
»Tag, Bruce«, antwortete Bloom, ohne auch nur zu versuchen, ihren charakteristischen Yorkshire-Singsang zu unterdrücken.
»Was liegt an?«, fragte Jameson, jetzt mit walisischem Tonfall.
Bloom fragte sich, ob ein Mann, der in seiner Zeit beim Geheimdienst so viele Auszeichnungen eingeheimst hatte, nicht politisch sensibler sein sollte. Doch vermutlich war seine Vorliebe für verschiedene Akzente etwas ganz Ähnliches wie der beißende Humor eines Rechtsmediziners: ein Behelfsmechanismus, um das Dunkle aufzuwiegen. Vielleicht war das aber auch nur ihre Überinterpretation. Vielleicht mochte er Akzente einfach.
»Ich bin gerade auf dem Rückweg«, antwortete sie. »In etwa zehn Minuten müsste ich da sein.«
»Wie lief’s mit der Neuen?«
»Ich weiß nicht recht.«
»Schwieriger Fall?«
»Schwierige Person, glaube ich. Aber vielleicht ist das auch unfair. Sorry. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Es ist in Ordnung, einen Verdacht zu haben, weißt du? Du kannst nicht in einem vorurteilsfreien Vakuum leben. Manchmal weiß dein Bauch einfach Bescheid.«
»Ja, ja. Das mag sein, doch es ist nie verkehrt, sich um Objektivität zu bemühen. Jetzt brauche ich erst mal Zeit zum Nachdenken. Bis gleich.«
»Ehrlich gesagt … habe ich angerufen, um dich um einen Gefallen zu bitten.«
Bloom drückte sich das Handy fester ans Ohr, um den Verkehr auszublenden. Das war etwas Neues. In den fünf Jahren, die sie nun schon ihre kleine Beratungsagentur betrieben, hatte Jameson sie noch kein einziges Mal um einen Gefallen gebeten. Er war ein unabhängiger Machertyp, und deshalb arbeitete sie auch gern mit ihm zusammen. Sie beriet jugendliche Straftäter – da konnte sie nicht auch noch einen bedürftigen Kompagnon gebrauchen.
»Ich höre«, sagte sie.
»Hier im Büro ist jemand, mit dem du sprechen solltest. Sie braucht unsere Hilfe. Ihre Mutter wird vermisst, und, na ja, das Ganze ist ein bisschen seltsam.«
»Werden wir für unsere Hilfe bezahlt?« Bloom bog in die Margery Street ein.
»Nein. Keine Bezahlung. Deshalb heißt es ja auch ›Gefallen‹. Ich erkläre es dir, wenn du da bist. Ich wollte dich nur schon mal einweihen, damit du nicht das Gefühl hast, überfallen zu werden.«
Natürlich sagte Jameson nicht die Wahrheit. Er hatte sie nicht etwa deshalb angerufen, damit sie sich nicht überfallen fühlte. Er hatte angerufen, um die Saat zu streuen, weil er wusste, dass sie einem rätselhaften Fall nicht widerstehen konnte. Ihre Mutter wird vermisst, und, na ja, das Ganze ist ein bisschen seltsam. Es gab immer irgendeinen rätselhaften Fall. Manchmal wurden sie von Familien engagiert, die wissen wollten, was ihren Liebsten zugestoßen war, wenn die Polizei mit ihrer Weisheit am Ende war. Oder von den Strafverfolgungsbehörden oder einem Anwalt der Verteidigung, wenn die Vergehen von besonders undurchsichtiger Natur waren.
Sie hatten sich bei einer Konferenz kennengelernt. Augusta hatte einen Vortrag über die hauptsächlichen Motive für Straftaten gehalten. Jameson hatte sie angesprochen und gewitzelt, dass niemand besser geeignet war, um rätselhaften Fällen auf die Spur zu gehen, als ein Exspion und eine Kriminalpsychologin. Sechs Monate später begannen sie genau damit.
Sie waren ein gutes Team. Und sie waren verschieden. Augusta vermutete, dass Jameson in der Schule in jeder Hinsicht herausgeragt hatte. Vermutlich war er beliebt, witzig, Klassensprecher und Kapitän des Rugbyteams gewesen. Und obwohl er der unordentlichste Mensch war, den sie kannte, besaß er genug Selbstvertrauen, um mit unerschütterlicher, ruhiger Autorität aufzutreten. Sie dagegen war von vorn bis hinten klar strukturiert.
Ihr Büro lag im Souterrain eines Hauses am Russell Square, unter einer schicken PR-Agentur. Es war klein und dunkel und angemessen diskret.
Bei Blooms Eintreffen saß Jameson an seinem Schreibtisch. Seine dunklen Haare waren etwas zu lang, und die Locken fielen ihm über die Augen. Er trug Jeans und ein Hemd und wie immer keine Krawatte. Ein Mädchen im Teenageralter saß neben ihm. Ihre engen, ausgebleichten Jeans hatten mehrere gewollte Risse. Sie hatte das lange braune Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug einen schlichten grauen Pullover. »Jane«, sagte Jameson. »Das ist Augusta.«
Bloom stellte ihre Tasche auf dem Fußboden ab und setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Jane wohnt oft bei meiner Schwester Claire, wenn ihre Mutter in Übersee stationiert ist«, erklärte Jameson. »Lana ist beim Militär. Daher kennen wir Jane, seit sie ganz klein war. Wir haben viele lustige Abende mit Grillen und Filmegucken verbracht, nicht wahr? Sie ist meine inoffizielle Nichte Nummer drei.« Das Mädchen lächelte ihn voller Zuneigung an. »Kannst du Augusta das erzählen, was du mir erzählt hast, Jane?«
Janes Stimme war fest, trotz ihrer rot verweinten Augen. »Sie haben gesagt, dass sie freiwillig weggegangen ist und sie nichts tun können. Obwohl ich ihnen gesagt habe, dass das einfach nicht stimmt.«
»Die Polizei«, erklärte Jameson.
»Es geht um deine Mutter?«, fragte Bloom.
Jane nickte. »Sie haben gesagt, sie käme zurück, wenn sie dazu bereit ist, aber es geht ihr nicht gut.« Jane sah erst Jameson an, dann wieder Bloom. »Sie leidet an PTBS, also an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie hat in Afghanistan gedient und hat seither damit zu kämpfen. Sie bleibt oft über Nacht weg, aber sie kommt immer am nächsten Tag wieder.«
»Wie alt bist du?«, fragte Bloom.
»Sechzehn«, antwortete Jane.
»Und wo ist dein Vater?«
»Ich habe keinen.«
Bloom sah Jameson an.
»Wie lange ist deine Mutter denn schon weg?«, fragte er.
»Mehr als eine Woche. Sie hat unser ganzes Geld mitgenommen, mir nichts für Essen oder die Miete dagelassen, und kein Mensch hat sie gesehen. Ich habe alle gefragt.«
»Keine Anrufe? Nichts online?«, fragte Jameson.
Jane schüttelte den Kopf. »Niemand will mir helfen«, sagte sie, den Blick nach wie vor auf Jameson gerichtet. »Aber Claire hat gesagt, du würdest es vielleicht tun.«
Bloom sah, wie Jameson nickte, und fühlte sich unbehaglich. Er hatte noch nie zuvor um einen Gefallen gebeten, also wusste sie, dass es ihm wichtig war. Doch im Leben von Verwandten und Freunden zu recherchieren war voller Gefahren, wie sie nur allzu gut wusste.
»Du hast gesagt, deine Mutter war beim Militär?«, fragte sie.
Jane nickte.
»Dann helfen sie dir … irgendwann.« Bloom wusste, dass diese spezielle Maschinerie erst anlaufen würde, wenn Lana wieder zum Dienst erwartet wurde. »Aber wenn deine Mutter die Gewohnheit hat, immer wieder plötzlich zu verschwinden, dann ist das vermutlich auch diesmal der Fall.«
»Aber ich habe euch das Seltsame noch gar nicht erzählt.« Jane zog ihre Tasche auf den Schoß und begann darin herumzukramen.
Bloom sah Jameson an und zog eine Braue hoch.
»Es gibt noch mehr davon.« Jane hielt Bloom einen Stapel Blätter hin. »Ich habe im Internet herumgefragt, ob noch andere Personen einfach so verschwunden sind, und vier Leute haben sich bei mir gemeldet.«
Bloom sprach leise: »Jede Woche verschwinden Hunderte Personen.«
Jane schwenkte die Blätter, bis Bloom die Hand ausstreckte und sie ihr abnahm.
Sie breitete die Blätter auf ihrem Schreibtisch aus. Jedes enthielt eine längere E-Mail-Korrespondenz.
»Da ist eine schwangere Frau aus Leeds, deren Verlobter mit dem Auto von der Straße abgedrängt wurde. Dann ist er einfach ausgestiegen und weggegangen, und seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Und ein Mann in Bristol hat gesagt, seine Frau …«
»Wo ist der Zusammenhang?«, wandte sich Bloom an Jameson.
Jane runzelte die Stirn.
»Es gibt tatsächlich einen gemeinsamen Nenner«, entgegnete er.
»Sie sind alle an ihrem Geburtstag verschwunden«, fügte Jane hinzu, als würde das alles erklären.
»Okay«, sagte Bloom und dehnte das Wort in die Länge. Sie wollte ja nett sein.
»Zeig ihr die Karte«, sagte Jameson. Sein Blick bewies Vertrauen.
Jane reichte ihr einen weißen Umschlag. »Sie haben alle so eine bekommen, bevor sie verschwunden sind. Schauen Sie …« Jane zeigte darauf, während Bloom den Umschlag wendete und die silberne Schrift entdeckte. »Darauf steht der Name meiner Mum. Innen steht in jeder Karte das Gleiche.«
»Herzlichen Glückwunsch zum 1. Geburtstag.« Bloom klappte die Karte auf. »Dein Geschenk ist das Spiel. Traust du dich zu spielen?« Sie drehte die Karte um, doch die Rückseite war leer. »War noch irgendetwas anderes dabei?«
Jane schüttelte den Kopf.
»Und sie haben alle die gleiche Karte bekommen?« Bloom blätterte erneut den Stapel mit der E-Mail-Korrespondenz durch.
»Der Mann in Leeds hat seine im Auto liegen lassen. Seine Verlobte hat mir erzählt, die Polizei hätte sie auf dem Beifahrersitz gefunden.«
»Seltsam, oder?«, sagte Jameson.
»Und du hast das der Polizei gezeigt?«, fragte Bloom.
Jane nickte. »Sie haben gesagt, das würde beweisen, dass die Leute freiwillig verschwunden sind und dass Erwachsene das dürften.«
»Vielleicht haben sie es abgetan, weil von einem Spiel die Rede ist«, mutmaßte Bloom.
»Hatten wir so was schon mal?«, fragte Jameson.
Bloom musste die Frage nicht beantworten. Er kannte jeden Fall, den sie je bearbeitet hatten, in allen Einzelheiten. Unter seinem wilden Haarschopf befand sich ein enorm beeindruckendes Gehirn. Ein Gehirn, das Facetten erkennen und komplexe Gedankengänge bearbeiten konnte wie kein zweites. Sie hätte sich keinen anderen als Kompagnon vorstellen können.
»Und warum herzlichen Glückwunsch zum ersten Geburtstag?«, fragte Jameson.
Bloom steckte Lanas Karte wieder in den Umschlag. »Ich vermute, wenn wir die Antwort darauf wüssten, wüssten wir auch, worum es bei der Sache geht.«
»Also, was meinst du?«, fragte Jameson, nachdem er Jane weggeschickt hatte, um Kaffee zu holen. »Sie war schon immer eine schräge Person, diese Lana. Ein bisschen daneben, weißt du, nie richtig präsent. Claire hat sich ständig Sorgen um Jane gemacht. Der Krieg hat Lana schwer zugesetzt, und die Kleine hat den Preis dafür bezahlt. Wie alle Kinder.«
Er hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Sie registrierte, wie er von diesem traurigen jungen Mädchen dazu überging, wie wichtig es sei, sich für belastete Kinder von Militärangehörigen einzusetzen, schwieg jedoch dazu.
»Ich weiß, was du sagen willst. Wir haben zu viel zu tun. Wir können es uns nicht leisten, gratis zu arbeiten, aber hier geht es um eine Freundin. Du weißt, warum ich diese Büropartnerschaft mit dir eingegangen bin … um etwas zu verbessern oder etwas Gutes zu tun oder … wie auch immer. Und wenn ich das nicht für meine Freunde und Verwandten tun kann, wozu dann das Ganze?«
Bloom seufzte. Sie wollte es durchdenken, sämtliche Aspekte berücksichtigen und die Risiken abschätzen. Bei ihrer Arbeit untersuchten sie oft das Privatleben eines Menschen bis ins Kleinste, erforschten dessen verborgene Ansichten, Verhaltensweisen und Beweggründe. Wie würde sich das auf Jamesons und Claires Beziehung zu dieser Lana auswirken?
»Was machen wir mit unserer anderen Arbeit, solange wir deiner Freundin helfen?«
»Das kriegen wir hin.«
»Was sagen unsere Klienten, wenn wir Termine verpassen?«
»Wir verpassen keine Termine. Wir schaffen das.«
»Hältst du es wirklich für eine gute Idee, im Leben deiner Freundin herumzuschnüffeln?«
»Lana ist nicht meine Freundin. Wir würden einem verletzlichen jungen Mädchen dabei helfen, seine Mutter wiederzufinden.«
»Eine verantwortungslose Mutter, die womöglich aus einer Laune heraus bald wieder verschwindet.«
Jameson stützte die Unterarme auf seine Schenkel und musterte Bloom einen Moment lang. »Aber du bist neugierig geworden, nicht wahr? Ich habe es dir angesehen. Fünf Personen, die verschwunden sind, nachdem sie identische Aufforderungen erhalten haben. Es geht nicht nur um eine flatterhafte Mutter, die durchgebrannt ist. Es ist mehr als das.«
Er würde kein Nein akzeptieren. Und er hatte recht – sie war neugierig geworden.
»Sprich mit diesen anderen Familien«, sagte sie. »Vergewissere dich, dass sie nicht einfach bloß das erzählen, was Jane hören will. Und ich spreche mit ihr.«
»Und du wirst ihr versichern, dass wir ihr helfen?«
»Nein.«
»Augusta …«
»Nein, Marcus. Noch nicht. Erst wenn wir wissen, dass wir das auch können. Es gehört nicht zu unserem Leistungsspektrum, falsche Versprechungen zu machen.«
6
Für wen zum Teufel halten die sich? Stoßen sie herum. Sie! Die sollen sich mal lieber gut in Acht nehmen. Idioten. Verdammte Idioten.
Seraphine ging auf dem kalten Fliesenboden der Toilette auf der Polizeiwache auf und ab. Ja, sie hatte ihm mit einem Bleistift in den Hals gestochen. Ja, sie hatte eine Arterie durchbohrt. Aber der Typ war ein perverses Schwein. Er hatte es verdient.
Und jetzt wollte dieses Miststück von Polizistin wissen, ob Seraphine ihren Angriff gezielt ausgeführt hatte.
»Weißt du, wo die Halsschlagader liegt?« Seraphine imitierte PC Watkins’ piepsige Mädchenstimme. »Hast du auf die Halsschlagader gezielt?« »Wolltest du Mr Shaw töten?«
»Ja«, übte sie in langsamem, singendem Tonfall. »Ich weiß, wo die Halsschlagader ist. Das habe ich in Biologie gelernt.« Sie wollten sie übertölpeln. Hielten die sie für dumm? Als ob sie ihnen die Wahrheit sagen würde. Vollidioten.
Seraphine presste sich ein paar Tränen in die Augenwinkel. Sie starrte auf ihr Spiegelbild und übte die Worte. »Nein, ich wollte ihn nicht töten.«
»Nein, natürlich wollte ich ihn nicht töten.« Sie erinnerte sich daran, wie gebrochen Claudias Stimme geklungen hatte, als sie vom drögen Darren angegriffen worden waren, und versuchte, diesen Effekt zu imitieren. »Nein, ich wollte ihn nicht töten.«
Geschafft, dachte sie und kehrte in den Verhörraum zurück, ehe sie vergaß, wie es ging.
7
»Hallo?« Bloom hielt sich das Telefon an die Wange und drehte das Küchenradio leiser.
Es war Jameson. Ohne jede Vorrede schilderte er ihr die Einzelheiten.
»Also, es sind drei der anderen vier verschwundenen Personen verbürgt. Ich habe mit Angehörigen und den jeweiligen Polizeidienststellen gesprochen. Alle haben an ihrem Geburtstag diese Traust-du-dich-zu-spielen-Karte erhalten, und zwar irgendwann in den letzten drei Monaten. Die erste war Faye Graham, eine Mutter von zwei Kindern, die am fünften Januar zweiundvierzig geworden ist, dann Grayson Taylor, ein Student der Politischen Wissenschaften, der am zehnten Februar zwanzig wurde, und Stuart Rose-Butler, der werdende Vater, der einfach sein Auto stehen gelassen hat. Er ist am vierundzwanzigsten Februar neunundzwanzig geworden.«
»Und Lanas Geburtstag war vor gut einer Woche?«
»Ja. Am neunten März.«
»Wie heißt sie mit Familiennamen?«
»Reid, mit ›e‹ und ›i‹.«
Bloom schrieb den Namen neben Lanas Geburtsdatum. »Und die fünfte Person?«
»Scheint ein Ablenkungsmanöver zu sein. Eine junge Frau namens Sara James hat sich über Facebook an Jane gewandt und behauptet, ihre Mutter sei auch verschwunden. Allerdings nannte sie keine weiteren Einzelheiten über das hinaus, was Jane bereits preisgegeben hatte.«
»Und Janes Message war welche?«
»Sie hat gefragt, ob jemand von einer Person gehört habe, die eine Geburtstagskarte mit einer Traust-du-dich-zu-spielen-Nachricht bekommen hat und danach verschwunden ist.«
»Ganz toll«, sagte Bloom, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Ich weiß, aber sie ist noch jung, und so machen sie es eben heutzutage – posaunen jeden Gedanken in den sozialen Medien hinaus. Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob diese Sara vielleicht eine Schwindlerin sein könnte. Die E-Mail kam aus einem Bürogebäude in Swindon. Ich habe mich dort erkundigt, und niemand in der Firma kennt eine Sara James.«
»Jemand, der sich an dem Drama weidet? Oder es als Aufhänger dafür nutzt, sich an andere heranzumachen?«
»Etwas in der Art. Ich halte weiter die Augen offen, aber bis jetzt haben wir vier verbürgte Verschwundene. Für Faye und Grayson könnten wir zu spät dran sein – sie sind ja schon seit ein oder zwei Monaten verschwunden –, aber Lana und Stuart sind erst ein paar Wochen weg.«
»Auch das könnte bereits zu lang sein. Und die Polizisten, mit denen du gesprochen hast: Haben sie irgendetwas unternommen?«
»Nein. Nada.«
»Irgendwelches Interesse daran, wie viele mögliche Opfer es gibt?«
»Sie meinten, ich solle sie auf dem Laufenden halten.«
»Natürlich.«
»Hör zu, ich weiß, dass du wegen unserer anderen Fälle beunruhigt bist, aber ich habe unseren Kalender durchgesehen, und wir haben in der nächsten Woche keine dringenden Termine. Der nächste im Gericht steht erst in vierzehn Tagen an. Ich habe auch mit den Anwälten und Kriminalbeamten gesprochen, die mit unserer Arbeit betraut sind, und es hat sich nichts an der Dringlichkeit geändert.«
»Ich habe noch meine jungen Straftäter zu beraten.«
»Dienstagvormittags und freitagnachmittags, richtig?«
Bloom murmelte zustimmend. Die Beratung der Minderjährigen war ihr wichtig, und Jameson wusste das.
»Das bringen wir unter. Eine Woche. Mehr verlange ich nicht. Nur um zu sehen, ob an der Sache was dran ist. Ich übernehme sämtliche Kosten.«
»Das ist nicht nötig. Wir haben genug Rücklagen.«
»Ist das ein Ja? Soll ich ein Treffen mit Stuarts Verlobter ausmachen? Sie leitet die Finanzabteilung am Flughafen Leeds-Bradford, also in der Nähe deiner alten Heimat. Und sie ist in der achtunddreißigsten Woche schwanger.«
Bloom lächelte. Jameson wusste, wie er sie herumkriegte. »Gut. Ja. Und setzen wir uns doch noch mal mit Jane zusammen und befragen sie ausführlich.«
»Abgemacht«, sagte Jameson, und die Verbindung brach ab.
Bloom stellte wieder Radio 4 an. Sie wollte zuhören, wie Ian Rankin über Colin Dexter sprach, den Schöpfer von Inspektor Morse. In jungen Jahren hatte sie zusammen mit ihrem Vater begeistert die Morse-Filme im Fernsehen verfolgt. Sie hatten gewetteifert herauszufinden, wer der Täter war, und hinterher nahm ihr Vater die Anwaltsposition ein und wies auf die logischen Fehler im jeweiligen Fall hin. Er hatte den Grundstein dazu gelegt, dass sie sich für die Denkweise von Kriminellen interessierte.
Sie erwärmte die Brokkoli-Stilton-Suppe, die sie am Sonntag gekocht hatte, und schnitt einen Laib Bauernbrot auf. Gerade in dem Moment, als Barrington Pheloungs Titelmusik zur Serie um Inspektor Morse erklang, setzte sie sich mit ihrem Essen an den Küchentisch. Die ersten Töne weckten nostalgische Gefühle in ihr. Wie gerne hätte sie noch einmal auf dem Sofa ihres Vaters gesessen, um gemeinsam mit ihm einen Abend zu verbringen.