Cover

So haben Sie den Sehnsuchtsort Wald noch nie gesehen.
Ein fantastischer Streifzug durch unsere nächtlichen Wälder – mit spektakulärem Fotomaterial!

Kilian Schönberger, 1985 in Tännesberg in der Oberpfalz geboren, ist Diplom-Geograf und arbeitet seit 2012 als freier Landschaftsfotograf. Wald, Berge und Nebel sind seine großen fotografischen Themen. Schönberger lebt heute in Köln und arbeitet vor allem in Mitteleuropa und im Alpenraum. Die Natur ist für ihn nicht nur reine Kulisse, sondern immer auch das Spiegelbild geologischer Prozesse und menschlicher Eingriffe in die Umwelt. Durch akribische Planung der Wetter- und Lichtbedingungen gelingen Kilian Schönberger einzigartige Aufnahmen der Landschaften vor unseren Haustüren. Er ist bekannt für Bildbände wie »Sagenhaftes Deutschland« oder »Waldwelten«; daneben veröffentlicht er seine Arbeiten in Magazinen wie GEO oder STERN und bei Ausstellungen wie im Frankfurter Goethe-Haus.

KILIAN SCHÖNBERGER

Nachts
im Wald

Wanderabenteuer
zwischen Abenddämmerung
und Morgengrauen

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Hinweis: Da nicht bei jeder Tour die große Kameraausrüstung dabei war, stammen einige Aufnahmen von ähnlichen Unternehmungen auch aus anderen Regionen.

Originalausgabe Oktober 2020

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München,
unter Verwendung eines Fotos von © Kilian Schönberger

Alle Fotos im Buch: © Kilian Schönberger

Kartenillustration Umschlaginnenseite: © Peter Palm, Berlin
Redaktion: Regina Carstensen

DF | Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25098-0
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Mariann

Inhalt

Vom Verschwinden und Finden der Dunkelheit

Zurück zu den Wurzeln

Schlafende Bäume und wilde Katzen

Der Sternenpark

Waldwasser

Krabatland

Die Bedrohung der Waldgeister

Nebeldämmerung

Eiswald eiskalt

Ein Wintermärchen

Nachtwanderung im Zauberwald

Der Tanz der Glühwürmchen

Die Blutmond-Nacht

Gefahrensituationen

Das ist Fledermausland

Geisterbäume

Nachts im Wald – ein Test für die Sinne

Nachtfotografie

Gespensterwald an der Ostsee

Vom Verschwinden und Finden der Dunkelheit

Obwohl Nächte die Hälfte unseres Lebens ausmachen, ist uns die Dunkelheit fremd geworden. Nur vor dem Einschlafen, wenn die Schwärze der Nacht in unsere Schlafzimmer vordringt, erleben wir sie noch in voller Intensität. Dann sind wir gezwungen, uns mit der Dunkelheit zu arrangieren. Die Nacht bietet Schutz und weckt doch menschliche Urängste. Quer durch alle Kulturen wird sie mit dem Schattenreich in Verbindung gebracht. In der Dunkelheit fangen die Gedanken zu kreisen an. Gibt uns diese Zwischenphase eine leise Ahnung von der nächtlichen Welt, die sich außerhalb unserer von Kunstlicht erhellten Siedlungsräume erstreckt? Die Dunkelheit ist ein Schatz, den wir bis auf wenige Minuten am Tag verloren haben. Überallhin begleitet uns das Licht. Metropolen sind inzwischen so hell erleuchtet, dass der natürliche Tag-Nacht-Rhythmus vollständig zu verschwimmen droht. Virtuelle Welten, die immer mehr Zeit – und gefühlt auch Raum – in unserem Alltagsleben einnehmen, kennen keine Nachtruhe. Die Errungenschaften der modernen Zivilisation lassen das Licht über die Dunkelheit endgültig triumphieren. Wir müssen nur einen Lichtschalter betätigen – und schon entzaubern wir die Dunkelheit. Wir können dem natürlichen Rhythmus von Hell und Dunkel unseren Willen aufzwingen.

Die Erinnerung an das frühere Verhältnis zur Nacht ist aber noch lebendig. Sonnwendfeuer, Lichtprozessionen oder Raunächte sind Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Dunkelheit das Leben der Menschen weitaus stärker beeinflussten. Die längste Nacht des Jahres am 21. Dezember markierte einen Wendepunkt im Jahreskreis. Archäologische Artefakte wie die Himmelsscheibe von Nebra oder die Ausrichtung von Steinbauten wie Stonehenge geben eine Ahnung davon, welche Rolle damals die Beobachtung von Natur und Nachthimmel für die Menschen gespielt haben könnte.

Eigentlich hatte die Emanzipation von der Nacht aber damals bereits begonnen. Mit der Zähmung des Feuers veränderte sich die Kulturgeschichte des Menschen für immer. Vor rund 32 000 Jahren lernte der Mensch Feuer durch das Zusammenschlagen von Pyrit und Feuerstein selbst zu erschaffen. Der Funke sprang über, und die neue Errungenschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer um den Erdball. Auch Ötzi hatte ein Steinzeit-Feuerzeugset mit Zunderschwämmen in seinem Gepäck. Die Herrschaft über das Feuer bot nicht nur Wärme und Licht, sondern auch Schutz vor den Gefahren der Nacht wie streunenden Raubtieren. Der Weg vom ersten Lagerfeuer bis zu den von Millionen von Lichtern erleuchteten Großstädten der Moderne war weit. Doch durch das vom Menschen kontrollierte Licht wurde die wilde Natur zunehmend in die Dunkelheit gedrängt. Waren es früher nur ein paar Quadratmeter rund ums Feuer, die erhellt wurden, sind heute in urbanen Räumen Tausende Quadratkilometer vom Mantel der Nacht befreit.

Die Nacht wurde nur in kurzen Phasen glorifiziert. Unter anderem durch die Landschaftsmaler der Romantik wie Caspar David Friedrich. Heute faszinieren wieder Fotografien von nächtlichen Phänomenen wie Nordlichtern oder der Milchstraße. Vermutlich, weil derartige Beobachtungen fast vollständig aus unserem Alltag verschwunden sind.

In Deutschland wird es immer schwieriger, Orte zu finden, an denen man nächtliche Natur erleben kann. Zum Glück sind aber ausgedehnte Waldgebiete zu Refugien der Dunkelheit geworden. Wobei der Nachtwald immer noch einen schlechten Leumund hat. In den Märchen der Brüder Grimm steht der Wald für das Unheimliche und Verzauberte. Wo der Wald beginnt, schwindet der Einfluss der Menschen – und das Reich der Magie beginnt. Der Wald als Zauberreich wird heute fortgeschrieben: in Der Herr der Ringe oder den Harry-Potter-Romanen.

Deutschland ist waldreich. Ein Drittel der Gesamtfläche ist von Wald bedeckt. Das Thema Wald bewegt die Deutschen. Gerade das Schicksal der durch die Trockenjahre 2018 und 2019 bedrohten Bäume sorgte für enormes Interesse. Wälder reagieren sensibel auf Umweltveränderungen. Aber nur selten treten diese Veränderungen so rasant auf, dass der Mensch dabei zusehen kann, wie sich ganze Ökosysteme verändern. Die Zukunft wird zeigen, wie einheimische Baumarten mit dem sich verändernden Klima zurechtkommen. Aber umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein für den Schutzwert des Waldes und auch des nächtlichen Waldes hervorzurufen.

Der nächtliche Wald – diese unbekannte Seite der Natur hat es mir angetan. Jedes Jahr verbrachte ich in der Vergangenheit ungefähr 150 Tage in der Natur. Bei Tageslicht. Wald betrachte ich beim Wandern auch immer im Kontext seines Umlandes. Mit der Entdeckung seiner dunklen Seite eröffneten sich mir völlig neue Waldwelten. Selbst meine Rot-Grün-Blindheit wurde irrelevant, denn nachts sind alle Bäume grau. Vor mir lag eine Welt, die ich nicht nur mit Augen und Kamera, sondern mit allen Sinnen entdeckte. Ich habe die Dunkelheit wiedergefunden.

Der Wecker klingelt. Eine neue Nacht beginnt …

Kilian Schönberger

Nebelfall

Ohne Wurzeln gäbe es kein Wachstum.

Zurück zu den Wurzeln

Oberpfälzer Wald (Bayern)

Direkt hinter dem Garten meiner Eltern hat der Wald begonnen. Die Welt der Abenteuer meiner Kindheit. Das Gartentor war das letzte Hindernis zwischen dem Ernst des Lebens auf der einen und dem Zauberreich Wald auf der anderen Seite. Die gefühlte Wildnis jenseits des Zauns lockte mehr als der gepflegte Garten. Seit Generationen lebte meine Familie von, mit, aber auch für den Wald. Die Wurzeln liegen in Bayern und Böhmen, ich selbst bin in Tännesberg aufgewachsen, einem Marktflecken im Oberpfälzer Wald. Der Oberpfälzer Wald ist ein relativ unbekanntes Mittelgebirge, aber für mich eine der authentischsten Regionen Bayerns. Grob gesagt, begleitet er zwischen Nürnberg und Prag den Verlauf der Grenze von Deutschland und Tschechien. Weiter südlich findet er seine Fortsetzung im bekannteren und höheren Bayerischen Wald.

Der Oberpfälzer Wald und Tännesberg mittendrin waren also die Schaubühne für meine kindliche Abenteuerlust. Eine beruhigend normale Landschaft. Sanfte, von Waldkämmen und Stromleitungen gekrönte Hügel, dazwischen Mais-Monokulturen und von Neubausiedlungen umringte Dörfer. Ein Autor, dessen Name ich leider vergessen habe, bezeichnete den Oberpfälzer Wald einmal als »Land von herber Schönheit«. Menschen mit weniger Bezug zur Region würden wohl eher zur Umschreibung »unspektakulär« tendieren. Aber wo einen die Sehenswürdigkeiten nicht direkt anspringen, lernt man, genauer hinzusehen. Denn an versteckten Naturschätzen ist der Oberpfälzer Wald reich. Vielleicht einer der Gründe, weshalb ich ein Landschaftsfotograf für die verborgenen Plätze geworden bin.

Als Kind kam mir dieses Waldland schier endlos vor. Bei unseren Entdeckungstouren drangen meine Freunde und ich immer weiter in den Wald vor. Unsere Ziele waren Burgruinen, Felsen und wilde Bachtäler. Der Tännesberger Forst geht in andere Wälder fließend über, und wenn man wollte, könnte man bis zur Grenze Tschechiens weiterwandern, ohne dafür den Wald verlassen zu müssen.

Irgendwann fiel mir damals eine Wanderkarte vom Naturpark Nördlicher Oberpfälzer Wald in die Hände. Die Landkarte und ich – das war Liebe auf den ersten Blick. Stundenlang brütete ich über der Karte, markierte besondere Punkte und suchte nach unbekannten Wegen. Die Karte wurde meine stete Begleitung, denn ohne Internet war noch viel Eigenrecherche nötig, um Entdeckungen zu machen. Vielleicht war diese Landkarte sogar der Auslöser dafür, dass ich viele Jahre später Geografie studierte. Die Kunst, eine reale Landschaft visuell nachvollziehbar auf einem Blatt Papier darzustellen, übte eine gewaltige Faszination auf mich aus.

Vor zwei Jahren fand ich genau diese Wanderkarte zufällig beim Aufräumen meines Jugendzimmers wieder. Die Haptik erinnerte eher an Leder als an Papier, so abgenutzt war sie. An vielen Stellen eingerissen oder notdürftig mit Tesafilm geflickt, war sie ein lebendiges Zeugnis meiner Begeisterung für die Natur. Vorsichtig klappte ich sie auf. Ein feierlicher Moment. Mein Blick blieb an den von Hand eingetragenen Markierungen hängen – viele Orte hatte ich seit über einem Dutzend Jahre nicht mehr aufgesucht. Wie es dort wohl inzwischen aussah? Plötzlich lockte mich der Wald vor der Haustür wieder. Mir schwebte eine Art Expedition zu den Erlebnissen meiner Kindheit vor.

Außerdem erwartete ich, dass dieses Experiment den Kopf ein wenig freier machen würde. Bereits während des Studiums hatte ich als Landschaftsfotograf zu arbeiten begonnen. Aber dadurch veränderte sich auch mein Verhältnis zum Wald. War er früher Abenteuerspielplatz, war er inzwischen mehr und mehr zu meinem Arbeitsplatz geworden. Das führte wiederum zu einer anderen Sicht auf den Wald. Die visuelle Attraktivität wurde zum Entscheidungskriterium. Während meine Kindheit ein einziges langes Waldbad war (den Begriff »Waldbaden« kannte man damals natürlich noch nicht), jagte ich als Erwachsener mit der Kamera nur bestimmten Motiven hinterher. Um meine Aufnahmen zu optimieren, beschäftigte ich mich mit vielen Wissensgebieten, Flora und Fauna, Meteorologie, Geologie. Häufig konnte ich schon aufgrund eines Fotos sagen, wo sich der entsprechende Wald in Deutschland befindet. Aber je mehr Wissen ich mir aneignete, desto mehr wurde der Wald auch entzaubert. Als Kind war er mir nicht geheuer. Besonders nachts nicht, denn ich hatte eine sehr lebhafte Fantasie. Vermutlich war es nicht förderlich für die nächtlichen Aufenthalte im Wald, dass ich alle Heldensagen und die Herr-der-Ringe-Trilogie verschlungen hatte, sobald ich einigermaßen lesen konnte. Denn eigentlich war ich mit sieben, acht Jahren etwas zu jung für diese Geschichten, und so ging nachts öfter mal die Fantasie mit mir durch. Damals war der Wald tatsächlich ein verzauberter Ort für mich. Bei Nachtwanderungen schien jeder Schatten lebendig zu sein. Je dunkler es im Wald wurde, desto unheimlicher das Kopfkino, das sich in meinen Gedanken abspielte.

Das entspannte sich spätestens durch meinen Beruf. In den letzten zehn Jahren wurde mir der nächtliche Wald immer vertrauter. Ein Stück weit ist der Wald bis heute ein verzauberter Ort geblieben – aber genau diese Magie suchte ich mit der Kamera einzufangen.

Bin ich also ein Waldmensch? Jein.

Lange Zeit waren Städte für mich ein rätselhafter Lebensraum. Aber ein Teil von mir hatte sich schließlich für ein Dasein als »Stadtpark-Erwachsener« entschieden. Wenn ich nicht gerade irgendwo in Mitteleuropa die Natur durchstreife, lebe ich heute mit meiner Familie in Köln-Ehrenfeld. Der nächste Wald ist weit weg. Klar, es gibt in Köln den Grüngürtel und den Stadtwald. Aber das sind eher Parkanlagen, in denen so viel Betrieb herrscht, dass sich nie diese besondere Waldatmosphäre einstellt. Viele Bäume machen noch lange keinen Wald.

Wald will erlebt werden. In einen Wald muss man eintauchen und die Zivilisation ein Stück weit hinter sich lassen, um ein Teil von ihm zu werden.

Meine Gedanken waren beim Betrachten der alten Landkarte abgeschweift. Jetzt machten sich meine Augen zwischen Höhenlinien und Waldflächenschattierungen wieder auf die Suche nach Zielen, die sich für eine Rückkehr in die Abenteuerwelt meiner Kindheit lohnen würden. Mir kam so eine Idee in den Sinn … einfach mal wieder draußen übernachten.

Gedacht, getan. Aus verschiedenen Schränken trug ich meine alte Ausrüstung zusammen: den in die Jahre gekommenen Schlafsack, die Stirnlampe noch ohne LED-Licht, meine alte Wanderjacke, Buchstabenplätzchen und Tee in der Aluflasche. Alles musste authentisch sein. Im Wald gibt es keinen Dresscode, und ein echter Oberpfälzer kennt sowieso keinen Laufsteg.

Die Nacht und alte Bäume erwecken gleichermaßen Ehrfurcht. Mecklenburg

Schließlich stand ich an einem Sommerabend im August wieder wie zwei Jahrzehnte zuvor am Gartentor. Auf die Kameraausrüstung verzichtete ich, in den Neunzigern hatte ich auch keine dabei. Die obligatorische Steinschleuder wurde aus pazifistischen Gründen ebenfalls gestrichen. Das Smartphone nahm ich als Wecker dagegen mit. Die Suche nach den Wurzeln meiner Kindheit im Tännesberger Forst konnte beginnen. Ein schmaler Pfad leitete mich in wenigen Minuten zum Teufelsberg. Eigentlich nur ein paar Felsbrocken im Wald, früher jedoch der beste Abenteuerspielplatz. Von Berg konnte somit keine Rede sein, der Name war eine Erfindung von uns Kindern. Querwaldein führte mich mein Weg weiter zum Geologischen Lehrpfad. Die Steine wirkten kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte.

Bis zu meinem Ziel lagen noch einige Kilometer vor mir, aber aufmerksam verfolgte ich das Geschehen in der mich umgebenden Natur. Im Abendlicht der Sonne flirrten Staubteilchen, und ein Mückenschwarm tanzte an der Grenze zwischen Schatten und Licht. Auf dem nächsten Kilometer warf die tief stehende Sonne meinen Schatten lang gestreckt auf den Weg vor mir. Es sah so aus, als würde ich mir selbst folgen – was in gewisser Hinsicht auch stimmte. Mein anvisiertes Nachtlager war ein von unwegsamem Gelände umgebener Felssporn, dessen höchste Steinkanzel etwas über die Baumwipfel hinausragte. Dieser Fels war für mich als Jungen mein Rückzugsort in der Wildnis gewesen. Nach einigem Suchen fand ich den Zustieg zur Felswildnis. Totholz und Steinbrocken waren zyklopenhaft übereinandergeworfen. Kein Terrain für Forstmaschinen, daher konnte sich der Wald hier besonders frei wachsend entwickeln.

Auch Tiere fühlten sich in dieser Umgebung wohl. Nicht immer sind Mensch und Natur auf spontane Treffen ausreichend vorbereitet. Einmal musste ich hier einen halben Nachmittag auf einem Baum verbringen, wie üblich hatte ich mich durch das Gestrüpp zum Fuß des Felsens vorangekämpft. Plötzlich hörte ich etwas im Unterholz rascheln. Kleine Schatten liefen schemenhaft zwischen den Bäumen umher. Schon freute ich mich, junge Füchse gefunden zu haben, und schlich näher, um sie besser beobachten zu können. Bis auf wenige Meter war ich bereits herangekommen und wollte die letzten Fichtenzweige beiseiteschieben, die meine Sicht auf den Nachwuchs von Meister Reineke behinderten. Doch genau in diesem Augenblick stockte mein Atem, denn zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass da keine Fuchswelpen vor meiner Nase waren, sondern ein Haufen gut vier Monate alter Frischlinge. Das charakteristische Streifenmuster zeichnete sich nur mehr leicht im Fell ab. Dem sich nähernden Grunzen nach zu urteilen in Begleitung einiger ausgewachsener Wildschweine. Zwischen eine Bache und ihre Jungen zu geraten, wünscht sich niemand. Schon konnte ich auch die stämmigen Schwarzkittel mit bloßem Auge sehen und klatschte mehrmals laut in die Hände, um kein überraschendes Aufeinandertreffen zu provozieren. Dann wühlte ich mich wie der Blitz aus dem Dickicht.

Eine Buche mit tief ansetzenden Ästen erschien mir als beste Rettungsmöglichkeit, und ohne groß nachzudenken, kletterte ich an ihr hoch. Die Wildschweinrotte dagegen ließ sich durch mein Klatschen nicht wirklich beirren. Nach kurzer Unruhe wanderten die Schweine langsam Richtung Buche und durchpflügten dabei mit ihren Rüsseln und Eckzähnen den Boden. Der typisch beißende Geruch nach Maggi stieg mir intensiv in die Nase. Hätte ich ihn zuvor bemerkt, wäre ich erst gar nicht so nah herangepirscht. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als die Wildschweine aus meinem Baumversteck zu beobachten. Nach einiger Zeit grunzte die Leitbache einmal laut, und schon rauschte die Rotte im Schweinsgalopp durchs Unterholz davon, immer dem Rüssel nach. Der Geruchssinn der Wildschweine ist hervorragend. Er führt die Rotte zu den besten Knollen und Wurzeln, dient aber auch zur Orientierung in Dämmerung und Dunkelheit. Das Sehvermögen – insbesondere bei Dunkelheit – ist eher schlecht, wobei trotzdem noch deutlich besser als das des Menschen.

Ich atmete auf. Trotzdem wartete ich noch, bis die Luft rein war, um meine Kletterpartie auf den Felsen fortzusetzen.

An diesem Abend meiner Erinnerungstour achtete ich bewusst auf den Geruch der Tiere. Die Luft war rein. Also keine artistische Einlage in einer Baumkrone, ich konnte direkt auf die Felsen steigen. Nach kurzer Kraxelei erreichte ich die höchsten von ihnen und stellte fest, dass sich in all den Jahren wenig verändert hatte. Einige Blaubeersträucher neben blankem Gestein, etwas Heide, einige Kiefern und Birken. Dazu ein schöner, wenn auch nicht aufregender Blick über die Hügellandschaft des Oberpfälzer Waldes. Ich fühlte mich an meinem Rückzugsort für die Nacht heimisch. Umgeben von alten Baumbeständen, von Wildschweinen (die auf Distanz blieben), von Füchsen und Dachsen, die zwischen den Felsblöcken unter mir ihren Bau hatten, und von einem scheuen Schwarzstorch, der in einiger Entfernung in dichten Baumkronen seinen Horst hatte.

Den Schlafsack breitete ich an geeigneter Stelle aus und setzte mich für einige Minuten auf den noch warmen Fels. Mit meinem Retro-Proviant in Form von Buchstabenplätzchen und Tee hatte ich ein mageres, aber authentisches Abendessen. Nach Sonnenuntergang war es im Wald schnell dunkel geworden, aber von hier oben konnte ich noch das abendliche Nachglühen beobachten. Ein letzter Lichtglanz legte sich über die Hügelketten, hier und da reflektierte ein Solardach in der Ferne den rötlichen Abendhimmel. Auch die Silhouetten von Windkraftanlagen zeichneten sich ab. Nein, die Zeit war in der Oberpfalz nicht stehen geblieben. Ganz im Gegenteil: Die Dörfer waren von Biogasanlagen umringt, die im abendlichen Zwielicht an orientalische Kuppelbauten erinnerten.

Im Osten, in entgegengesetzter Richtung zum Sonnenuntergang, konnte ich am klaren Abendhimmel den Erdschatten beobachten, einen graublauen Bereich knapp über dem Horizont. Dieser Schattenbogen entsteht, weil die untergehende Sonne die tiefen Schichten der Atmosphäre nicht mehr mit ihren Strahlen erreicht. Daher erscheint der Himmel dann in Horizontnähe dunkler, während die höheren Bereiche noch von der Sonne erhellt werden. Bei einem klaren Sonnenaufgang lässt sich dasselbe Phänomen im Westen betrachten.

Der Schattenbereich des Bogens eroberte recht schnell den ganzen Himmel, und der letzte helle Schimmer verschwand. Mit der hereinbrechenden Nacht wetteiferten die hellen Punkte von Straßenlaternen und anderen Lichtquellen in der Ferne mit den immer zahlreicher erscheinenden Sternen. Ich lauschte der Stille der Dämmerung. Ein Windhauch. Abendliche Kühle strich über das Felsplateau und mein Gesicht. Im Wald, am Fuß der Felsen, war es schon länger stockfinster. Die Dunkelheit hatte die Farben verschluckt. Das lebendige Grün des Blätterdachs verblasste zusehends.

Der Schatten des Dämmerungsbogens füllte jetzt den kompletten Himmelsbereich. Die »Blaue Stunde« hatte begonnen. Dieser Begriff bezeichnet einen je nach Jahreszeit ungefähr eine Stunde langen Zeitraum kurz vor Sonnenaufgang und kurz nach Sonnenuntergang, der durch besondere Lichtstimmungen charakterisiert ist. Nicht nur Fotografen schätzen die Blauen Stunden für das an klaren Tagen außergewöhnliche Ambiente. Die Dunkelheit nimmt zu, aber gleichzeitig sorgt der Dämmerungshimmel für eine harmonische Ausleuchtung der Landschaft. Während dieser Phase befindet sich die Sonne 4 bis 8 Grad unter dem Horizont. Daher erklärt sich, dass die Blaue Stunde am Abend erst einige Minuten nach Sonnenuntergang beginnt und am Morgen ebenso bereits einige Minuten vor Sonnenaufgang endet. Die Umgebung wird währenddessen in die namensgebende bläuliche Farbstimmung getaucht. Der Kontrastumfang ist geringer als bei Tageslicht, sodass sehr stimmungsvolle Aufnahmen möglich sind. Auch das die Blaue Stunde häufig begleitende Morgen- und Abendrot erreicht – ebenfalls etwas zeitversetzt zum eigentlichen Auf- und Untergang der Sonne – die höchste Intensität. Da die Blaue Stunde immer wieder besondere Momente in der Natur beschert, ist meine Faustformel, mindestens fünfundvierzig Minuten vor Sonnenaufgang und bis fünfundvierzig Minuten nach Sonnenuntergang vor Ort zu sein. Bei den nächtlichen Wanderungen zuvor und danach darf eine Stirnlampe natürlich nicht fehlen. Bei mir ist sie sowieso stets im Gepäck. Die Blauen Stunden waren maßgeblich daran beteiligt, dass ich überhaupt begonnen habe, die Nacht zu entdecken: Ohne Blaue Stunden wäre ich nie bis spät in die Nacht noch auf dem Rückweg gewesen und konnte erst so das spannende Reich der Dunkelheit für mich entdecken.

Endlos reihen sich Waldwogen aneinander. Oberpfälzer Wald