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Zum Buch

Der kurdische Journalist Behrouz Boochani musste aus dem Iran fliehen und wurde Anfang 2013 auf der berüchtigten Abschiebeinsel Manus Island in einem von Australien betriebenen Auffanglager als staatenloser Flüchtling interniert. Bald wurde er als Sprecher der unter unfassbaren Zuständen festgehaltenen »Boatpeople« erneut zur Zielscheibe von Repression und Erniedrigung. Die bewegende Geschichte seiner Flucht und seiner über sechs Jahre andauernden Inhaftierung hat er über Monate hinweg als Kurznachrichten an seinen Übersetzer geschrieben. Satz für Satz. Auf einem Handy.

»Woher bin ich gekommen? Aus dem Land der Flüsse, dem Land der Wasserfälle, dem Land der uralten Gesänge, dem Land der Berge […]. Die Leute rannten in die Berge, um den Kriegsflugzeugen zu entkommen, und sie fanden Asyl in ihren Walnusswäldern […]. Haben Kurden noch irgendwelche anderen Freunde, außer den Bergen?«

Zum Autor

BEHROUZ BOOCHANI, geboren 1983, ist ein kurdisch-iranischer Journalist, Autor und Filmemacher. Bis zu seiner Flucht vor der Verfolgung durch die iranischen Sicherheitsbehörden im Jahr 2012 war er in Teheran Chefredakteur eines liberalen Magazins für Politik und Kultur. Für »Kein Freund außer den Bergen« erhielt er Anfang 2019 den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Trotz der teils massiven Einschränkungen erscheinen seine Texte regelmäßig in zahlreichen Zeitungen und Nachrichtenportalen, darunter The Guardian, Huffington Post, Financial Times und Sydney Morning Herald. Außerdem ist er Preisträger zahlreicher Menschenrechts-, Journalismus- und Aktivismuspreise, u. a. des »Anna-Politkowskaja-Awards for Journalism 2018«. Seit November 2019 ist er in Freiheit. Nach über sechs Jahren illegaler Haft auf Manus Island.

Behrouz Boochani
mit Omid Tofighian

KEIN FREUND
AUSSER DEN BERGEN

Nachrichten aus dem Niemandsland

Aus dem Englischen
von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Mit einem Vorwort
von Richard Flanagan

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »No Friend but the Mountains. Writing from Manus Prison« im Verlag Picador Australia, Sydney.

Die Namen einiger Personen in diesem Buch sind geändert, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen.

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Deutsche Erstausgabe März 2020

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Behrouz Boochani

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Picador Australia

Umschlagmotiv: © Jonas Gratzer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25408-7
V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Inhalt

Vorwort

1 Unter Mondlicht / Die Farbe der Beklemmung

2 Berge und Wellen / Kastanien und Tod / Jener Fluss … dieses Meer

3 Das Floß des Fegefeuers / Monde werden von furchtbaren Wahrheiten künden

4 Die Kriegsschiff-Meditationen / Unsere Golshifteh ist wirklich eine Schönheit

5 Eine Weihnachtsgeschichte / Ein staatenloser Rohingyajunge, der in die Verbannung muss

6 Die fahrenden Qawliya treten auf / Schleiereulen schauen zu

7 Der greise Generator / Der Premierminister und seine Töchter

8 Anstehen als Folter: Das Prinzip Manus / Die glückliche Kuh

9 Vatertag / Der märchenhafte Mangobaum und der sanfte Riese

10 Grillengezirp, Rituale der Grausamkeit / Eine mythische Topographie des Gefängnisses Manus

11 Blumen wie Kamillenblüten / Ansteckung: Das Gefängnis-Manus-Syndrom

12 Im Zwielicht / Die Farben des Krieges

Die Geschichte des Übersetzers: Ein Fenster auf die Berge

Reflexionen von Omid Tofighian

Ein rechtlicher Hinweis

Für Janet Galbraith /
Die ein Vogel ist

Vorwort

Kein Freund außer den Bergen ist ein Buch, das mit vollem Recht seinen Platz neben den großen Kerkerbüchern der Weltliteratur einnehmen kann, Werken wie Oscar Wildes De Profundis, Antonio Gramscis Gefängnishefte, Ray Parkins Into the Smother, Wole Soyinkas Der Mann ist tot und Martin Luther Kings »Brief aus dem Gefängnis von Birmingham«.

Allein schon, dass es dieses Buch gibt, ist ein Wunder. Ein junger kurdischer Dichter, Behrouz Boochani, hat es in persischer Sprache geschrieben, in Zeiten größter Bedrängnis, unter Folter und Leid, mit außerordentlichem Mut und unglaublicher Beharrlichkeit. Er schrieb es nicht auf Papier oder am Computer, sondern tippte es mit seinen beiden Daumen auf dem Telefon und schmuggelte es in Tausenden von SMS-Nachrichten aus dem Internierungslager auf der Insel Manus.

Wenn wir die Leistung von Behrouz Boochani würdigen wollen, sollten wir als Erstes an die Schwierigkeiten denken, unter denen der Text entstand, Umstände, unter denen es dieses Buch eigentlich gar nicht geben könnte. Die australische Regierung hat alles getan, um den Asylsuchenden alles Menschliche zu nehmen. Ihre Namen, ihre Geschichten werden uns vorenthalten. In den Lagern auf Nauru und Manus sind sie grausam eingesperrt wie in einem Zoo. Systematisch nimmt man ihrem Leben jeden Sinn.

Bei diesen Gefangenen handelte es sich durchweg um Leute, die ohne Anklage eingekerkert waren, ohne Verhandlung und ohne Urteil. Es ist ein ausgesprochen kafkaeskes Schicksal, das sehr oft die grausamste aller Wirkungen zeitigt – genau diejenige, auf die ihre australischen Kerkermeister es anlegen –, nämlich die Zerstörung aller Hoffnung.

So wurde der Ruf nach Freiheit zu verkohltem Fleisch, als der 23-jährige Omid Masoumali seinen Leib anzündete. Und die Schreie von Hosan Yasin, als auch sie sich verbrannte, 21 Jahre alt.

Das ist aus unserem Land, Australien, geworden.

Vergebliches Flehen einer Frau, auf Nauru vergewaltigt.

Ein Mädchen, das sich die Lippen zunähte.

Ein Flüchtlingskind, das sich ein Herz in die Hand ritzte und nicht wusste, warum.

Auch Behrouz Boochani begehrte auf, doch er wählte eine andere Form. Denn das eine, was seine Kerkermeister bei Behrouz Boochani nicht zerstören konnten, war sein Glaube an die Sprache: ihre Schönheit, ihre Notwendigkeit, ihre Möglichkeiten und ihre befreiende Kraft.

Und so machte Behrouz Boochani als Gefangener eine der erstaunlichsten Karrieren, die man in der australischen Presse je gesehen hat: Er berichtete über die Geschehnisse auf der Insel Manus in Gestalt von Tweets, SMS, Handyvideos, Telefonanrufen und E-Mails. Damit trotzte er der australischen Regierung, die alles tat, um zu verhindern, dass die Gefangenen ihre Geschichten erzählten, und immer wieder Journalisten den Zugang zu den Inseln Manus und Nauru verweigerte; ja, die nicht davor zurückschreckte, den drakonischen Paragrafen 42 des Grenzschutzgesetzes (Australian Border Force Act) zu verabschieden, der bis zu zwei Jahre Gefängnisstrafe für Ärzte oder Sozialarbeiter vorsah, die öffentlich von Prügeln, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und Sadismus sprachen.

Am Ende las die ganze Welt seine Worte, man hörte sie jenseits der Meere, sie übertönten das schrille Geschrei der Legionen bezahlter Propagandisten. Mit nur der Wahrheit als Kampfgefährten und einem Telefon in der Hand öffnete ein einzelner eingesperrter Flüchtling der ganzen Welt die Augen und machte das unglaubliche Verbrechen der Australier bekannt.

Behrouz Boochani hat nun ein eigentümliches und aufrüttelndes Buch geschrieben, die Chronik des Schicksals eines jungen Mannes, der fünf Jahre auf der Insel Manus als Opfer der Flüchtlingspolitik der australischen Regierung zugebracht hat – einer Politik, in der die beiden großen Parteien des Landes einander, und das in aller Öffentlichkeit, an Grausamkeit überbieten.

Die Lektüre dieses Buches ist nicht leicht. Wir Australier halten uns für anständige, freundliche, großzügige Leute, Fairness steht hoch im Kurs. Keine von diesen guten Eigenschaften ist in Boochanis Bericht zu finden, denn dort geht es um Hunger, Elend, Prügel, Selbstmord und Mord.

Seine Beschreibungen der australischen Schergen auf Manus erinnerte mich schmerzlich an die Erzählungen meines Vaters über die Grausamkeiten der Kommandeure in den japanischen Kriegsgefangenenlagern, unter denen er und seine Mitgefangenen so schwer zu leiden hatten.

Wie tief sind wir gefallen, wenn wir es nun sind, die solche Verbrechen begehen?

Am Ende dieses Berichts bleibt eine Rechnung offen. Jemand muss die Verantwortung für diese Verbrechen übernehmen. Denn wenn nicht, dann können wir aus der Geschichte eines mit Gewissheit lernen: Die Ungerechtigkeiten von Manus und Nauru werden sich wiederholen, in größerem, weiterem, unendlich tragischerem Maßstab in ganz Australien.

Es gibt Verantwortliche, und sie sind es – und nicht die Unschuldigen, deren Leid uns dieses Buch mit so verstörender Klarheit vor Augen führt –, die im Gefängnis sitzen sollten.

Aber dieses Buch ist etwas Bedeutenderes als einfach nur ein J’accuse. Es ist ein großer Sieg, errungen von einem jungen Dichter, der uns allen vor Augen geführt hat, welche Wirkung Worte auch heute noch haben können. Australien hat seinen Leib ins Gefängnis gesteckt, aber seine Seele blieb die eines freien Mannes. Heute sind seine Worte unwiderruflich die unseren, die Geschichte unseres Landes wird in Zukunft für das Schicksal dieses Mannes Rechenschaft abzulegen haben.

Ich hoffe, dass der Tag kommt, an dem ich Behrouz Boochani in Australien willkommen heißen kann, und zwar als den, als der er sich für meine Begriffe in diesem Buch erweist. Als Schriftsteller. Als großer australischer Schriftsteller.

Richard Flanagan, 2018

Es gibt eine Insel, fernab von allem, in einem verschwiegenen Ozean, und dort werden Menschen gefangen gehalten. Die Menschen haben keinen Zugang zur Welt jenseits der Insel. Sie können die Gesellschaft direkt vor den Toren des Gefängnisses nicht sehen, und noch weniger erfahren sie, was in anderen Teilen der Welt geschieht. Sie sehen nur einander und hören nur die Geschichten, die sie einander erzählen. Das ist ihre Realität: Sie sind zermürbt von ihrer Isolation, vom Eingesperrtsein, aber sie haben auch gelernt, ihr Unglück zu ertragen.

Irgendwie macht im Gefängnis die Nachricht die Runde, es gäbe eine andere Insel, auf der der Verstand frei ist, frei zu wissen und kreativ zu sein. Die Gefangenen bekommen eine Ahnung davon, wie das Leben auf der anderen Insel ist, aber sie haben nicht die Fähigkeit und nicht die Erfahrung, es wirklich zu begreifen. Die Menschen auf der anderen Insel sehen mehr: Sie sehen Dinge, die die Gefangenen nicht sehen, sie schaffen Dinge, die die Gefangenen nicht schaffen, und mit Sicherheit wissen sie Dinge, die die Gefangenen nicht wissen können. Manche unter den Gefangenen verachten die Leute auf der anderen Insel. Manche verstehen die Leute dort einfach nicht oder versuchen sie schlechtzumachen. Manchen ist die andere Gesellschaft gleichgültig. Manche von den Gefangenen empfinden Mitleid mit ihnen, weil sie fest davon überzeugt sind, dass ihre eigene Lage sich bessern wird und am Ende sie die größere Freiheit haben werden.

Die eine Insel ist das genaue Gegenteil der anderen. Die eine Insel tötet die Visionen, die Kreativität, das Wissen – sie steckt die Gedanken ins Gefängnis. Die andere Insel nährt die Visionen, die Kreativität, das Wissen – sie ist ein Land, in dem der Verstand frei ist.

Die erste Insel ist der Siedlerkoloniestaat Australien, und die Gefangenen sind die Siedler.

Auf der zweiten Insel liegt das Gefängnis Manus, und das Wissen ist das der dort gefangen gehaltenen Flüchtlinge.

1

Unter Mondlicht / Die Farbe der Beklemmung

Unter Mondlicht /
Die Route unbekannt /
Der Himmel die Farbe größter Beklemmung.

Zwei Lastwagen mit verängstigten, unruhigen Menschen auf dem gewundenen Weg durch ein Felslabyrinth. Sie fahren in vollem Tempo, rundum Dschungel, aus dem Auspuff ein furchterregendes Fauchen. Die Seiten der Fahrzeuge sind mit schwarzem Tuch verhüllt, das Einzige, was wir sehen, sind die Sterne über uns. Frauen und Männer sitzen dicht gedrängt, ihre Kinder auf dem Schoß … Wir blicken hinauf zum Himmel, die Farbe größter Beklemmung. Von Zeit zu Zeit verändert jemand ein klein wenig seine Position auf der hölzernen Ladefläche, damit das Blut in den müden Muskeln wieder fließt. Wir sind erschöpft vom Sitzen, aber trotzdem müssen wir unsere Kräfte schonen, für den Rest der Reise.

Sechs Stunden lang habe ich gesessen, ohne mich zu rühren, mit dem Rücken an die Holzwand der Pritsche gelehnt, einem alten Trottel zugehört, der sich über die Schleuser beschwerte, ein steter Strom Schimpfwörter aus seinem zahnlosen Mund. Drei Monate sind wir hungrig und elend durch Indonesien geirrt, doch immerhin hat es uns dies hier beschert, die Straße durch den Dschungel, an deren Ende der Ozean liegt.

In einer Ecke der Pritsche, gleich an der Luke, ist eine improvisierte Trennwand aus Tuch errichtet; ein Sichtschutz, damit die Kinder in leere Wasserflaschen pinkeln können. Keiner achtet darauf, wenn ein paar hochmütige Männer hinter den Schirm gehen und die Flaschen mit Urin über Bord werfen. Keine von den Frauen rührt sich. Bestimmt müssen auch sie austreten, aber vielleicht gefällt ihnen die Vorstellung nicht, hinter dem Tuch ihre Blase zu entleeren.

Viele Frauen halten ihre Kinder im Arm, in Gedanken bei dem gefährlichen Weg übers Meer. Die Kinder hüpfen auf den Schößen, erschrecken bei jedem Schlagloch und den Buckeln der Straße. Selbst die ganz jungen spüren die Gefahr. Man hört es am Tonfall ihrer Schreie.

Das Dröhnen des Lastwagens /
Das Diktat des Auspuffs /
Furcht und Beklemmung /
Der Fahrer befiehlt uns: Bleibt sitzen.

Ein dünner Mann mit dunklem, wettergegerbtem Gesicht steht nahe der Luke, gebietet regelmäßig mit Gesten Schweigen. Doch die Luft auf der Ladefläche ist erfüllt vom Weinen der Kinder, den Lauten der Übung, die sie trösten wollen, von dem furchteinflößenden Dröhnen des Auspuffs, wie ein Schrei.

Der Schatten der Furcht über uns schärft unsere Sinne. Manchmal ragen Äste so weit über die Straße, dass sie den Himmel verdecken, dann ist er wieder zu sehen; es wechselt schnell bei unserem Tempo. Ich kann nicht genau sagen, welche Route wir nehmen, aber ich nehme an, dass das Boot, das uns nach Australien bringen soll, an einer entlegenen Ecke der indonesischen Südküste liegen wird, irgendwo bei Jakarta.

In den drei Monaten, die ich in der Kalibata City von Jakarta und auf der Insel Kendari war, hörte ich immer wieder von untergegangenen Booten. Aber man denkt immer, diese Art Unglück stößt nur den anderen zu – nicht leicht, sich vorzustellen, dass man selbst dem Tod ins Auge blicken muss.

Den eigenen Tod stellt man sich anders als den anderer Leute vor. Ich kann ihn mir überhaupt nicht vorstellen. Kann es sein, dass diese zwei Lastwagen auf ihrer rasenden Fahrt Richtung Ozean Kuriere des Todes sind?

Nein /

Nicht solange Kinder an Bord sind /

Unmöglich /

Wir sollen im Meer ertrinken? /

Mein Tod wird anders, da bin ich mir sicher /

Die Umstände werden friedlicher sein.

Andere Boote kommen mir in den Sinn, die in letzter Zeit am Grunde des Meeres gelandet sind.

Meine Furcht wird größer /

Gab es denn auf diesen Booten nicht auch kleine Kinder? /

Waren die, die ertranken, nicht genau wie ich?

Augenblicke wie diese wecken eine Art metaphysischer Kraft in uns und vertreiben aus unseren Gedanken den Tod. Nein, das darf nicht sein, dass ich dermaßen schnell vor dem Tod kapituliere. Es ist mir vorbestimmt, in ferner Zukunft zu sterben, und nicht durch Ertrinken oder ein Schicksal ähnlicher Art. Ein ganz bestimmter Tod ist mir vorbestimmt, und ich wähle ihn selbst. Ich komme zu dem Schluss, dass mein Tod eine Sache des Willens sein muss – ich nehme es mir vor, schreibe es tief in meine Seele ein.

Der Tod muss eine Sache des Willens sein.

Nein, ich will nicht sterben /

So leicht gebe ich mein Leben nicht her /

Der Tod ist unausweichlich, das wissen wir /

Einfach nur ein Bestandteil des Lebens /

Aber ich will vor dem Tod nicht kapitulieren /

Schon gar nicht so weit fort von zuhaus /

Ich will nicht dort draußen sterben, umgeben von Wasser /

Und nichts als Wasser.

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich an dem Ort sterben würde, an dem ich geboren war, an dem ich aufgewachsen war und mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Unmöglich, sich vorzustellen, dass man Tausende von Kilometern entfernt von da stirbt, wo man seine Wurzeln hat. Was für ein schrecklicher, elender Tod, die schiere Ungerechtigkeit; eine Ungerechtigkeit, die mir die reine Willkür scheint. Natürlich will ich mir da nicht vorstellen, dass es mir so ergeht.

Ein junger Mann und seine Freundin Azadeh1 fahren im vorderen Wagen. Bei ihnen sitzt unser gemeinsamer Bekannter, der Junge mit den blauen Augen. Alle drei quält der Gedanke an das Leben, das sie im Iran zurücklassen mussten. Als die Lastwagen uns von unserem Quartier abholen kamen, warfen die beiden Männer ihr Gepäck wie Soldaten hinten auf die Ladefläche und kletterten auf die Pritsche. In den drei Monaten, die wir in Indonesien verbracht haben, waren sie uns anderen Flüchtlingen immer einen Schritt voraus gewesen. Ob es darum ging, ein Hotelzimmer zu finden, etwas zu essen oder um die Fahrt zum Flughafen, immer erwies sich dieser Eifer ironischerweise als Nachteil. Einmal, als wir nach Kendari fliegen mussten, fuhren sie schon vor allen anderen zum Flughafen. Doch bei ihrer Ankunft konfiszierten die dortigen Beamten ihre Pässe, und sie konnten nicht mit nach Kendari; tagelang mussten sie durch die Straßen von Jakarta irren, in den Sträßchen und Gassen um Essen betteln.

Jetzt sind sie wieder ganz vorn, schnell wie der Blitz, an der Spitze des Rudels, die Nase im scharfen Wind. Mit dröhnendem Auspuff suchen sich die beiden Lastwagen ihren Weg zum Ozean. Ich weiß, der Junge mit den blauen Augen trägt eine Furcht in seinem Herzen, noch aus der Zeit in Kurdistan. In Kalibata City, in der Zeit, die wir dort in der Hochhaussiedlung zubringen mussten, saßen wir abends auf den winzigen Balkonen, rauchten und redeten über unsere Vorstellungen von der bevorstehenden Reise. Er gestand uns, dass er sich vor dem Meer fürchtete; der reißende Fluss Seimare in der Provinz Ilam2 hatte seinen älteren Bruder verschlungen.

… An einem heißen Sommertag seiner Kindheit begleitet der Junge mit den blauen Augen seinen älteren Bruder zu den Fischnetzen, die sie am Abend zuvor im tiefsten Teil des Flusses ausgelegt haben. Sein Bruder taucht tief hinab; wie ein schwerer Stein, den man ins Wasser wirft, sinkt sein Leib in die Tiefe. Eine unerwartete Welle bekommt ihn zu fassen, und Augenblicke später ist nur noch seine Hand zu sehen, dem Jungen mit den blauen Augen hilfesuchend entgegengestreckt. Der Junge mit den blauen Augen ist noch klein, er schafft es nicht, die Hand seines Bruders zu ergreifen. Er kann nur weinen; er weint und weint, stundenlang, hofft, dass sein Bruder wieder auftaucht. Aber er ist fort. Zwei Tage später holen sie vom Fluss seinen Leichnam zurück, beschwören ihn nach alter Sitte mit einer Trommel, der Dohol. Der Klang der Dohol bewegt den Fluss dazu, den Toten freizugeben – eine musikalische Beziehung zwischen Tod und Natur …

Auf der ganzen Reise schleppt der Junge mit den blauen Augen diese erdrückende Erinnerung mit sich umher. Er hat schreckliche Angst vor dem Wasser. Trotzdem ist er am heutigen Tag dabei, als es in rasender Fahrt dem Ozean entgegengeht, zu einer Überfahrt von erschreckenden Dimensionen. Eine ominöse Fahrt im Schatten dieses alten, entsetzlichen Schreckens …

Die Lastwagen hasten voran durch den dichten Dschungel, zerreißen die Stille der Nacht. Alle sitzen schon seit Stunden auf der hölzernen Pritsche, die Erschöpfung steht auf jedem Gesicht. Ein oder zwei Leute mussten sich übergeben; sie haben alles, was sie zu sich genommen hatten, in Plastikbehälter gespuckt.

In einer anderen Ecke der Ladefläche sitzt ein Paar aus Sri Lanka mit seinem Kind, ein Säugling noch. Die meisten sind Iraner, Kurden, Irakis, und man sieht ihnen an, wie fasziniert sie davon sind, dass auch eine sri-lankische Familie mitfährt. Die Frau ist außerordentlich schön, mit dunklen Augen. Sie hält ihr Baby im Arm, von Zeit zu Zeit stillt sie es. Ihr Partner sorgt für sie; er macht es ihnen so bequem, wie er kann. Sie soll wissen, dass er da ist, ihre Stütze. Auf der ganzen Fahrt müht sich der Mann, ihr Mut zu machen, massiert ihr die Schultern, hält sie fest, wenn der Lastwagen seine Sprünge über die holprige Straße macht. Aber man merkt, dass die Sorge der Frau ganz ihrem kleinen Kind gilt.

Das Bild dort in der Ecke /

Ist Liebe /

Wunderbar und rein.

Aber sie ist bleich, einmal übergibt sie sich in ein Gefäß, das ihr Mann ihr holt. Über die Vergangenheit dieser beiden weiß ich nichts. Vielleicht war es etwas an ihrer Liebe, was sie hinaus in diese entsetzliche Nacht getrieben hat? Aber fest steht: Ihre Liebe war stärker als alles – das zeigt sich an ihrer Sorge um dieses Kind. Doch ohne Zweifel haben in ihren Herzen und Gedanken die Ereignisse, die sie zur Flucht aus der Heimat trieben, ihre Spuren hinterlassen.

Auf den Lastwagen gibt es Kinder jeglichen Alters. Kinder schon an der Schwelle zum Erwachsenenleben. Ganze Familien. Ein lauter, lästiger, vollkommen rücksichtsloser Mann, Kurde, zwingt auf der ganzen Fahrt alle anderen, seinen Zigarettenrauch einzuatmen. Begleitet wird er von einer abgehärmten Frau, einem erwachsenen Sohn sowie einem zweiten, jüngeren, einem kleinen Teufel. Dieser Junge hat die Gesichtszüge seiner Mutter und den Charakter seines Vaters. Mit seinem Lärm fällt er der ganzen Besatzung zur Last; für ihn ist das alles ein großer Spaß, und er stört alle anderen mit seiner ungeduldigen und ungestümen Art. Selbst dem Schleuser geht er auf die Nerven, und er brüllt ihn an. Wenn der Junge groß wird, denke ich, wird er noch hundertmal rücksichtsloser sein als sein Vater.

Die Lastwagen verlangsamen ihr Tempo; offenbar lassen wir den Dschungel jetzt hinter uns und sind an der Küste angekommen. Der Schleuser fuchtelt wild mit den Armen – alle sollen still sein.

Das Fahrzeug hält.

Alle verstummen . . . kein einziger Laut.

Selbst der lästige kleine Teufel begreift, dass er jetzt still sein muss. Unsere Furcht ist berechtigt; wir dürfen uns nicht von der Polizei erwischen lassen. In vielen Fällen sind Reisende noch direkt am Ufer verhaftet worden, nur Augenblicke bevor sie an Bord hätten gehen können.

Alle sind mucksmäuschenstill. Das sri-lankische Baby drückt sich an die Mutterbrust, ohne einen Laut – trinkt nicht, aber es schaut mit großen Augen. Das kleinste Geräusch, ein Weinen könnte jetzt alles verderben. Drei Monate heimatlos und hungrig durch Jakarta und Kendari geirrt. Alles kommt darauf an, dass kein Laut fällt.

In dieser letzten Phase.

Am Strand.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt vierzig Tage hinter mir, die ich halb verhungert im Keller eines kleinen Hotels in Kendari saß. Kendari ist seit jeher ein Ziel für Flüchtlinge gewesen, es ist ein Umschlagplatz, ein Ort, an dem es leicht ist, eine Möglichkeit zur Weiterreise zu finden. Aber als ich schließlich in Kendari ankam, war der Ort bereits öde und leer wie ein Friedhof.

Alles dort wird mittlerweile dermaßen von der Polizei überwacht, dass ich mich in einem Hotelkeller verstecken musste. Ich hatte kein Geld mehr, Hunger forderte seinen Tribut von Körper und Seele. Ich wachte früh am Morgen auf, verschlang eine Scheibe Toast und ein Stück Käse, trank eine brühheiße Tasse Tee mit viel Zucker. Das war alles, was ich an Nahrung hatte – es musste für den ganzen Tag und die folgende Nacht reichen. Die Polizeipatrouillen ließen auf ihrer Suche nach uns keinen Winkel der Stadt aus; nicht eine einzige Sekunde lang konnte ich mich entspannen. Alle, die sie aufgriffen, steckten sie ins Gefängnis, und ein paar Tage später wurden sie deportiert. Schon die Vorstellung ist eine Qual. Brächte man mich an den Ort zurück, von dem ich aufgebrochen bin, wäre es für mich das Todesurteil.

Trotzdem nutzte ich an meinen letzten Tagen in Kendari nach dem Frühstück meine Chance, aus dem Hotel herauszukommen. Ich war überzeugt, dass in den schwülwarmen Stunden vor Sonnenaufgang die ganze Stadt schlief und auf dem stets gleichen Pfad in den Dschungel keine Gefahr bestand, dass ich einem neugierigen Polizisten in die Arme lief.

Ich überquerte ein kurzes Stück Asphaltstraße – bebte am ganzen Körper vor Furcht – und kam in einen stillen Wald, ganz mit einem Holzzaun umgeben. Wahrscheinlich war es ein Privatgrundstück, ich tat etwas Verbotenes, aber keiner vertrieb mich. Dort, umgeben von einer großen Kokosnussplantage, stand ein wunderschönes Haus. Jedes Mal begegnete mir ein kleiner Mann mit einer ganzen Schar neugieriger, schwanzwedelnder Hunde. Er lächelte mir zu und winkte mir freundlich. Dieses Lächeln nahm ich als Ermutigung, auf dem Feldweg tiefer in die Plantage hineinzugehen, und ich fühlte mich sicher.

Am Wegrand war ein großer Baum umgestürzt, neben einem gefluteten Reisfeld. Ich setzte mich auf den Stamm, zündete mir eine Zigarette an und studierte die Umgebung, was mir die wirren Gedanken und den Hunger vertrieb. Wenn ich die Zigarette zu Ende geraucht hatte, ging allmählich die Sonne auf, und ich kehrte auf demselben Weg durch den Dschungel zum Hotel zurück. Der kleine Mann winkte mir noch einmal zu, wieder mit seinem freundlichen Lächeln. Die hohen Kokospalmen beiderseits dieses Pfades und das winzige grüne Reisfeld am Ende, die schönen Momente, die ich dort verbrachte, all das kommt mir heute in meiner Erinnerung wie das Paradies vor.

Mein Leben in diesen drei Monaten bestand fast ganz aus Angst, Anspannung, Hunger und Einsamkeit – aber auch aus den kurzen Stunden dort auf dem Baumstamm in der Seligkeit dieser Plantage. Diese drei flüchtigen Monate sind nun zu ihrem Höhepunkt gekommen, in diesem lähmenden Augenblick, in dem ein einziger Kinderschrei uns alle wieder an den Anfang unserer Reise zurückwerfen könnte.

Der Lastwagen fährt noch ein paar Meter die stille Küste entlang, dann verstummt der Motor. Der Wagen rollt lautlos weiter, pirscht sich an den Strand heran wie ein Jäger, dann bleibt er stehen, alles ist still. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Das alles könnte immer noch mit einem einzigen Schlag vorbei sein.

Den Rucksack halte ich an meine Brust gedrückt, ich bin zum Sprung von der Pritsche bereit, bereit für eine Verfolgungsjagd, eine Flucht an diesem dunklen und unvertrauten Strand. Ich darf nicht ins Gefängnis kommen, nicht einmal wenn die Polizei uns stellt. Ich weiß, was andere versprengte Reisende über ihre Erfahrungen erzählen, ich habe es die letzten Monate gehört. Die Polizei schießt nie … Wenn sie dich zum Stehenbleiben auffordern, musst du laufen, so schnell du kannst. Nicht stillstehen … Meine Schuhe sind fest geschnürt.

Der Wagen bewegt sich wieder, diesmal ein etwas größeres Stück. Noch ein weiterer Anlauf, dann sind wir am Ozean angelangt. Ich bin aufgeregt wie ein Kind, ich halte es nicht aus. Ich warte, dass der dunkle, wettergegerbte Mann uns absteigen lässt. Aber er spricht mit dem Fahrer und gibt uns nur mit einer Handbewegung zu verstehen, dass wir still sein sollen. Der kleine Teufel kichert frech vor sich hin. Er ist vermutlich der Einzige, der keine Angst hat – für ihn ist das alles nur ein spannendes Spiel.

Die beiden Ceylonesen haben einander den Arm um die Taille gelegt. Es ist ein Bild, das Mut macht, wie sie da sitzen, die Köpfe aneinandergeschmiegt.

Ein tröstliches Gefühl /

Zwei Körper vereint; Arme, Taillen und Köpfe /

Ganz miteinander vereint /

Zum Zeichen der Gemeinschaft /

Der Gemeinschaft im Widerstand /

So widerstehen sie der Angst.

Mit einem weiteren Schrei – lauter diesmal – fährt der Lastwagen neu an, dann hält er nach noch nicht einmal hundert Metern. Der Motor schreit – der Lastwagen ist ein Jäger, er setzt alles daran, seine Beute zu fangen, und jetzt stößt er einen Freudenschrei aus, jetzt wo er sie packt.

Der Schleuser mit der wettergegerbten Haut gibt das Kommando zum Absteigen. Ich bin ganz am Vorderende der Pritsche, zusammen mit dem zahnlosen Trottel, und wir lassen uns nicht von den zögernden Frauen und Kindern aufhalten – wir springen seitwärts herunter. Jetzt beginnt das Stimmengewirr wieder, das Lärmen der Männer und Frauen und die Schreie der Kinder zerreißen die Stille des Strands.

Die Gesichter der Schleuser sehen wir nicht, denn sie gehen vor uns her und geben uns Zeichen, mit denen sie uns ans Wasser lenken. Sie brüllen uns an, wir sollen den Mund halten. Wir sind ein Trupp Diebe in der Nacht, wir wollen nichts als so schnell es nur geht auf der anderen Seite sein.

Der Junge mit den blauen Augen und der Freund des Jungen mit den blauen Augen sind – wie immer – allen anderen voraus. Sie warten am Ufer, die Rucksäcke neben sich. Die Schleuser drängen uns. Draußen auf dem Ozean tosen die Wellen, ein Klang, der alles andere übertönt. Das erste Mal seit meiner Ankunft in Indonesien, dass ich das Meer sehe, nach drei schrecklichen Monaten der Flughäfen und der Küstenstädte.

Wir sind angelangt am Ozean /

Die irrwitzigen Wellen am Strand branden an, ziehn sich zurück /

In alle Ewigkeit, wie es scheint /

Ein winziges Boot ein paar Meter vom Ufer /

Keine Zeit zu verlieren /

Wir müssen los, wir steigen ein.


1 Der iranische weibliche Vorname Azadeh stammt aus der gleichen Wurzel wie das persische Wort für Freiheit – āzādi.

2 Ilam oder Elam ist eine der einunddreißig Provinzen des Iran, im Westen des Landes an der Grenze zum Irak, Teil der Region Kurdistan.