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Buch

Der Mythos von der deutschen Einheit, so Tillmann Bendikowski, prägt bis heute die Sicht der Deutschen auf sich selbst und ihre Geschichte. Zentrales Gründungsdatum dieses Mythos ist der Krieg gegen Frankreich und die anschließende Reichsgründung im Jahr 1870/71. Anhand der eingehenden Schilderung von neun symbolträchtigen Tagen werden entscheidende Abschnitte auf dem Weg zur deutschen Einigung unter Preußens Führung vergegenwärtigt: von der Flucht des Welfenkönigs aus Hannover ins österreichische Exil im Juni 1866 bis – nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles – zur Siegesparade fünf Jahre später.

Autor

Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, Journalist und Historiker, leitet die Medienagentur Geschichte in Hamburg. Der leidenschaftliche Geschichtserzähler schreibt Beiträge für Printmedien und Hörfunk, betreut wissenschaftliche Forschungsprojekte und kuratiert historische Ausstellungen. Als Autor verfasste er u.a. »Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht« (2008), »Friedrich der Große« (2011), »Sommer 1914« (2014), »Der deutsche Glaubenskrieg – Martin Luther, der Papst und die Folgen« und »Helfen. Warum wir für andere da sind« (beide 2016) sowie »Ein Jahr im Mittelalter: Essen und Feiern, Reisen und Kämpfen, Herrschen und Strafen, Glauben und Lieben« (2019).

TILLMANN BENDIKOWSKI

1870/71

Der Mythos

von der

deutschen

Einheit

C. Bertelsmann

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© 2020 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Christian Sell,
Beginn der Verfolgung bei Königgrätz, 1872, Nationalgalerie,
Staatliche Museen zu Berlin
© bpk / Nationalgalerie, SMB / Jochen Remmer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25709-5
V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

Vorwort: Das Echo der Reichsgründung

  1      30. Juni 1866 Ein deutscher König auf der Flucht

  2      18. Mai 1868 Ein Parlament für Deutschland?

  3      13. Juli 1870 Telegramm für Herrn Bismarck!

  4      2. September 1870 Gotteskrieger und der Glaube an die Unbesiegbarkeit

  5      30. November 1870 Bayern macht einen Preußen zum deutschen Kaiser

  6      Weihnachten 1870 Was die Zukunft bringt

  7      18. Januar 1871 Fremder Herrscher im Spiegelsaal

  8      21. März 1871 Die Reichsfeinde nehmen Platz

  9      16. Juni 1871 Sieg, Frieden und wieder Krieg?

10      In der Vitrine der Erinnerung

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Bildteil

»Das Land, in dem unsere Geschichte anhob, sich entfaltete und zu Ende ging, ist, muß man wohl sagen, verschwunden. Denn zu jener guten Zeit war es noch ein schönes, freies und blühendes kleines Fürstentum im alten Deutschland, und sein Souverän war niemandem verantwortlich als Gott, dem Herrn. Später jedoch, als Zeiten und Menschen sich verhärteten, wurde es still-traurig vom großen neuen deutschen Reich verschluckt.«

Tania Blixen in ihrer Erzählung Ehrengard (1963)1

Vorwort: Das Echo der Reichsgründung

Die Geschichte, die die Deutschen bis heute über sich selbst und ihr Land erzählen, geht ungefähr so: Lange hatten sie es nicht leicht mit ihrer Nation, denn anders als die meisten ihrer Nachbarn hatten sie keinen Nationalstaat vorzuweisen, kein einiges Reich mit einem mächtigen König an der Spitze, kein geschlossenes Territorium mit einer überall in gleichem Maße funktionierenden Herrschaft. Ihr Deutschland hatte zwar von vielen anderen Errungenschaften mehr als genug, allen voran ein reiches kulturelles Leben mit angesehenen Dichtern, Denkern und Künstlern, einen Wissenschaftsbetrieb samt weltweit geschätzten Forschern und Gelehrten sowie eine Volkswirtschaft, die vom florierenden Handel mit der Welt profitierte und zudem mit zahlreichen technischen Innovationen kluger Tüftler reich gesegnet war. Aber das reichte nicht, um die Menschen glücklich zu machen. Denn ein Land, ein Deutschland gab es eben lange nicht, sondern stattdessen eine Vielzahl großer, mittlerer und noch viel mehr kleinerer Länder, die nicht oder nur lose miteinander verbunden waren. Kein einiges Deutschland? Das bedauerten viele Deutsche und empfanden es zugleich als ungerecht, oft sahen sie die Schuld bei den anderen Ländern, von denen sie sich schlecht behandelt, sogar regelrecht gedemütigt fühlten. Zudem ärgerten sie sich immer auch über sich selbst, weil sie es augenscheinlich partout nicht schafften, ein einiges Vaterland aufzubauen.

Und was man schmerzlich entbehren muss, steigt bekanntermaßen umso stärker im Wert, je länger das Warten dauert. So war es auch in der Beziehung der Deutschen zu ihrer nationalen Einheit. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einer geeinten deutschen Nation immer lauter – doch weiterhin gab es keine praktischen Fortschritte in dieser Richtung. Viele Versuche scheiterten, besonders spektakulär in der Revolution von 1848/49, als das Verlangen nach einem einigen Deutschland mit ersten mutigen parlamentarisch-demokratischen Ansätzen verknüpft wurde. Das Ergebnis war ernüchternd: Die alten Herrschaftsstrukturen blieben weitgehend intakt, und auch die zahlreichen großen, mittleren und kleinen Staaten im Land bestanden fort – der berühmte »Flickenteppich«. Erst 1871, so jedenfalls das vorherrschende Verständnis in der kollektiven Erinnerung, gelang dann unter lautem Jubel der Deutschen die Gründung des Deutschen Reiches mit Kaiser Wilhelm I. an der Spitze. In die Geschichtsbücher ging diese Reichsgründung folglich als die Krönung aller deutschen Einheitsbestrebungen ein. Endlich, so die bis heute gängige Vorstellung, sei Wirklichkeit geworden, wovon Generationen von Deutschen so sehnlich geträumt hatten. So weit also diese Geschichte.

Aber stimmt sie eigentlich? Oder trügt unsere kollektive Erinnerung, wenn es um die »deutsche Einheit« geht? Bis heute ist sie ein politischer Koloss, ein Schwergewicht unter den politischen Argumenten, wenn es um das Wohl und Wehe der Nation geht. Ohne Einheit und Einigkeit scheint es nicht zu gehen, sie gelten als »des Glückes Unterpfand« – auch deshalb wird die Einigkeit in unserer Nationalhymne stets vor dem Recht und der Freiheit besungen (wenn denn noch gesungen wird). Haben sich unsere Ahnen bei der Reichsgründung 1871 die Einheit wirklich so gewünscht, wie sie schließlich kam? Haben sie sie überhaupt gewünscht? Und wie hoch war eigentlich der Preis, den sie dafür zu zahlen bereit waren – und jener, den sie schließlich dafür zahlen mussten? Wie konnte es geschehen, dass der Mythos von der deutschen Einheit politisch so wirkungsmächtig wurde, dass er in unserer Erinnerung nahezu uneingeschränkt positiv erscheint?

Im Rückblick drängt sich die Vermutung auf, dass die Einheitsidee den Deutschen zuweilen die Gedanken vernebelt hat. Geradezu rauschhaft verfielen sie bereits im 19. Jahrhundert der Vorstellung, wonach sie allen politischen Stürmen trotzen könnten, wenn sie nur fest – eben vereint – zusammenstehen. Die politische Quittung dafür erhielten sie im 20. Jahrhundert, spektakulär zunächst einmal nach 1914, als das Deutsche Reich und sein Kaiser glaubten, vereint gegen »eine ganze Welt von Feinden« antreten zu müssen. Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich die Hybris dann noch auf sehr viel dramatischerem Niveau, ehe die anschließende deutsche Teilung der Einheitsfrage eine neue, tragische Dimension verlieh und dann nach 1990 eine regelrechte Sentimentalisierung der Einheit einsetzte: Der Zustand der »inneren Einheit« scheint heute das Maß der Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer Welt schlechthin zu sein. Das mag übertrieben klingen, aber es zeigt zugleich, dass die Wucht, die der Glaube an die Kraft einer vereinten Nation so lange freigesetzt hat, kaum überschätzt werden kann. Diese Geschichte wirkt nach, und ihren zentralen Ausgangspunkt hat sie in den Ereignissen der Jahre 1870 und 1871, in denen in einem spektakulären Krieg zunächst das benachbarte Frankreich niedergeworfen und anschließend das Deutsche Reich gegründet wurde.

Doch so zentral »1870/71« für die deutsche Nationalgeschichte ist, so wenig sind die tatsächlichen Ereignisse dieser beiden Jahre in der deutschen Erinnerung präsent. Der Krieg selbst scheint weitgehend vergessen zu sein, jedenfalls hierzulande. Die Annexion Elsass-Lothringens ist womöglich noch bekannt, aber kaum hingegen die wochenlange Beschießung der eingekesselten Stadt Paris. Zwar gibt es in unseren Städten und Dörfern noch immer Denkmäler und Straßennamen, mit denen an die gefallenen Soldaten der Schlachten bei Spichern oder Mars-la-Tour erinnert wird. Aber wer weiß denn noch, wo diese Orte liegen und welche Schlachten dort wirklich geschlagen wurden? Und wie ist eigentlich die folgende Reichsgründung in der deutschen Erinnerung verankert? Das bekannte Gemälde des Malers Anton von Werner von der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles ziert so ziemlich jedes Geschichtsbuch, es zeigt die bunte Pracht der Fahnenträger und Militärs sowie den stolzen Kaiser Wilhelm. Doch wird durch dieses farbenprächtige Stück wilhelminischer Geschichtspropaganda nicht das spektakuläre Ringen innerhalb Deutschlands verdrängt – die Angst vieler kleiner Staaten vor dem angeblich kriegslüsternen Preußen, die Ohnmacht selbst großer Königreiche wie Bayern oder Württemberg? Auch die nicht erst im Rückblick geradezu skandalöse Auslöschung des Königreichs Hannover im Jahr 1866, die ebenfalls der Reichsgründung vorausging, wird kaum noch als die politische Erschütterung wahrgenommen, die sie damals fraglos war.

Hinter »1870/71« verbergen sich zahlreiche unterschiedliche und zuweilen widersprüchliche Geschichten, die in ihrer Gesamtschau nicht nur einen anderen Blick auf das Geschehen der Reichsgründung ermöglichen, sondern im Detail auch den Aufstieg und die politische Instrumentalisierung des Mythos von der deutschen Einheit aufzeigen. Es gab schon damals Gegner eines preußisch dominierten Einheitsstaates, es gab Nachfragen und Alternativen. Zugleich existierten aber auch große Hoffnungen und es machte sich eine entfesselte Begeisterung über die Weichenstellungen für eine Zukunft breit, von der sich auch die Mehrheit der Menschen, und keineswegs nur die politischen oder militärischen Eliten, eine bessere Zeit erhofften. Dass das Reich und die Einheit 1871 so gekommen sind, war nicht von vornherein klar, und es war auch keineswegs selbstverständlich. Zuweilen, und dies nicht nur im Ausland, hatte man sogar regelrecht Angst vor diesem neuen Gebilde – und die »deutsche Einheit« erschien eher als ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung.

Dieses Buch geht zurück zu den Ereignissen. Es lenkt den Blick auf die Zeit des Geschehens selbst, es stellt sich an die Seite der Handelnden und erzählt »1870/71« nicht von seinem Ende her, sondern in seinem Verlauf. Und es beherzigt die Einsicht, dass die Reichsgründung mehr beinhaltete als »Bismarck«: Der preußische Ministerpräsident und spätere erste Kanzler des Deutschen Reiches spielte zwar fraglos eine gewichtige Rolle, aber er war beileibe nicht der einzige Akteur – auch wenn sich dieser Eindruck aufgrund der späteren Geschichtsschreibung heute zuweilen einstellt. Deshalb kommen im Folgenden Minister und Könige ebenso zu Wort wie Landtagsabgeordnete aus Württemberg, Bayern oder Preußen, einfache Soldaten, die in diesem Krieg ihr Leben riskierten, oder Journalisten, die tagesaktuell über die Ereignisse berichteten. Welches Bild machten sie sich von der deutschen Vergangenheit, und mit welchen Hoffnungen und Erwartungen schauten sie in die Zukunft?

Das Thema »deutsche Einheit« ist aber keineswegs nur ein historisches. Wenn sich Deutschland regelmäßig an den Mauerfall von 1989 und die Vereinigung ein Jahr später erinnert und wenn im Sinne eines innenpolitisch befriedeten Landes das Gelingen einer »inneren Einheit« beschworen wird, so knüpft dies an den historischen Mythos an. Und heute wie damals ist die Kehrseite des Einheitsappells offensichtlich: Wie stark war und ist die Abneigung gegen abweichende Standpunkte, gegen Kritiker und Einheits-»Feinde«? Müssen sie mit ihrer Ablehnung einer bestimmten Einheitsidee zwangsläufig als »Vaterlandsverräter«, zumindest als patriotisch unzuverlässige Zeitgenossen abgewertet werden? War und ist die »Einheit« als Denkfigur wirklich das geeignete politische Mittel, eine Pluralität zu einem großen Ganzen zusammenzuführen – oder dient sie vielmehr als aggressives innenpolitisches Mittel dem Zweck, diese Pluralität zu beseitigen, so wie sie womöglich außenpolitisch auch als Drohung gegenüber den Nachbarn verstanden werden könnte?

Wie schwer es angesichts der deutschen Nationalgeschichte weiterhin ist, auch einzelne Länderinteressen und regionale Bedürfnisse bundesweit zu akzeptieren, zeigt der Umstand, dass »Partikularismus« hierzulande zuweilen immer noch als politisches Schimpfwort verwendet wird – und auch der »Föderalismus« kommt oft nicht viel besser weg. Wie ist es heute um unsere Fähigkeit bestellt, eine Einheit im Blick zu haben, die Einzelinteressen nicht als einheitsgefährdend oder egoistisch denunziert? Solche Überlegungen sind in unserer Gegenwart über nationale Belange hinaus von Bedeutung, denn auch das anstehende große Friedenswerk der europäischen Einigung ist darauf angewiesen, dass die beteiligten Völker und ihre Staats- und Regierungschefs dieses Zusammenwachsen in Respekt vor der Vielfalt und der Mehrdeutigkeit des europäischen Lebens und seiner Traditionen vorantreiben. Für dieses Vorhaben lässt sich mit Blick auf die deutsche Geschichte tatsächlich einmal etwas aus der Vergangenheit lernen, und dies vor allem in einer Zeit, in der auch in Deutschland politische Gruppierungen sich als EU-Feinde positionieren, die den demokratischen Ideen und Werten der Europäischen Union feindlich gegenüberstehen und die ganz offen das Ende einiger ihrer Institutionen fordern.

Dieses Buch greift zur Beschreibung der Reichsgründung auf neun ausgewählte Tage zwischen den Jahren 1866 und 1871 zurück, an denen wegweisende Entscheidungen gefällt wurden oder wichtige Ereignisse stattfanden. Dabei geht es beispielsweise um den Anlass für einen Krieg, um den eine geschickte Legende gestrickt wurde, oder um eine höchst eigentümliche Kaiserkrönung in einem beschlagnahmten Palast eines fremden Königs, bei der übrigens der eingeschnappte Monarch kein Wort mit seinem Reichskanzler sprach. Auch wird verschiedenen Parlamenten ein Besuch abgestattet, in denen sich die anwesenden Männer eine politisch wie emotional denkbar intensive Debatte um ihre Heimat, ihren König und Deutschlands Zukunft lieferten. Den Anfang macht allerdings ein Tag im Jahr 1866, an dem sich ein König aus Deutschland vor seinen Feinden in ein kleines Jagdschloss seines Schwiegervaters flüchten musste. Zusammengenommen sollen die Beschreibungen dieser neun Tage ein Gesamtbild des Einigungsprozesses ergeben und zugleich deutlich machen, dass das »Echo« von 1870/71 im Grunde immer noch nachklingt – ob wir wollen oder nicht. Es ist also angebracht, genauer hinzuhören.

»So ist nun das Schlimmste geschehen! Unser schönes, theures Land, es ist uns geraubt! All die treuen lieben Menschen, die so rührend die schweren Schicksalsschläge der 3 letzten Monate mit uns getragen, wir sollen sie vielleicht auf immer verlassen! Ich kann es noch nicht glauben!«

Königin Marie von Hannover in einem Brief an ihren Mann im August 18662