Der spektakulärste Kriminalfall Deutschlands – psychologisch raffiniert und extrem fesselnd
Im Hannover der 1920er-Jahre verschwinden Jungs, einer nach dem anderen, spurlos. Steckt ein bestialischer Massenmörder dahinter? Für Robert Lahnstein, Ermittler im Fall Haarmann, wird aus den Gerüchten bald schreckliche Gewissheit: Das Deutschland der Zwischenkriegszeit, selbst von allen guten Geistern verlassen, hat es mit einem Psychopathen zu tun. Lahnstein, der alles dafür gäbe, damit der Albtraum aufhört, weiß bald nicht mehr, was ihm mehr zu schaffen macht: das Schicksal der Vermissten; das Katz-und-Maus-Spiel mit dem mutmaßlichen Täter; die dubiosen Machenschaften seiner Kollegen bei der Polizei; oder eine Gesellschaft, die längst nicht mehr daran glaubt, dass die junge Weimarer Republik sie vor dem Verbrechen schützen kann.
Dirk Kurbjuweit inszeniert den spektakulärsten Serienmord der deutschen Kriminalgeschichte psychologisch raffiniert und extrem fesselnd. Eindringlich ergründet er die dunkle Seite der wilden 1920er-Jahre, zeigt ein Zeitalter der traumatisierten Seelen, der politischen Verrohung, der massenhaften Prostitution. So wird aus dem pathologischen Einzelfall ein historisches Lehrstück über menschliche Abgründe.
Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, zählt zu den vielseitigsten und produktivsten Autoren unserer Gegenwart. Als Zeit- und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh als Erzähler. Nach dem Debüt »Die Einsamkeit der Krokodile« (1995) wurden besonders die Novelle »Zweier ohne« (2001) und der Roman »Angst« (2013) von der Kritik gefeiert. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten als Vorlage für Verfilmungen und Hörspielbearbeitungen.
»Ein leiser und fesselnder Psychothriller, der die Frage klug beantwortet, wieviel unsere liberalen Werte wert sind, wenn wir unser Leben bedroht sehen.« Brigitte über »Angst«
»Dirk Kurbjuweit zeigt, dass dicht unter der Zivilisationsschicht das Böse lauert.« Stern über »Angst«
»Hochspannend und vielschichtig.« Frankfurter Neue Presse über »Angst«
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook
Dirk Kurbjuweit
HAARMANN
Kriminalroman
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2020 Penguin Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Covermotiv: © Laurence Winram/Trevillion Images; shutterstock/
Von mykhailo pavlenko und Nimaxs
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-23801-8
V003
www.penguin-verlag.de
Kapitel 1
Seit einer Stunde lief er die Landstraße entlang, und noch immer wurde es nicht hell. Er sehnte sich nach Licht, hatte aber Angst davor, gesehen zu werden. Noch war er niemandem begegnet, nur einmal war ihm ein Automobil entgegengekommen, er hatte sich hinter einem Baum versteckt. Der Fahrer starrte geradeaus, der Beifahrer schlief, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Der Junge wartete, bis er das Auto nicht mehr hörte, dann trat er hinter dem Baum hervor und lief weiter. Er schaute auf seine Uhr, es war halb sechs, um fünf nach sechs fuhr der Zug, er würde ihn erreichen, da war er sich sicher. Wenn man ihn nicht vorher abfing. Er sah sich um. Sei ruhig, sagte er sich, warum sollte dir jemand folgen, warum sollte dich jemand suchen? Mutter und Vater schliefen noch, um sechs Uhr würden sie aufstehen, ihn um Viertel nach sechs wecken wollen. Das waren ihre Zeiten.
Es war nicht seine Uhr, es war die Uhr des Vaters, er hatte sie mitgehen lassen, sonst nichts. Das Geld war seins, er hatte es zurückgelegt, nicht viel, es blieb ja nicht viel übrig, aber bis Bremerhaven würde er damit kommen. Die Uhr würde er dem Vater zuschicken, wenn er angekommen war, das hatte er sich fest vorgenommen, er hatte es dem Vater auch geschrieben. Die Uhr kriegst Du zurück, hatte er in einem Abschiedsbrief geschrieben, sie ist nur geliehen. Wir sehen uns wieder, das ist versprochen. Mehr nicht. Sein Ziel konnte er nicht nennen, das andere würden sie bald herausfinden. Vielleicht würde es ein Trost für sie sein.
Plötzlich ein Krachen, ein Trommeln, ein Schnauben. Er zuckte, ließ seinen Koffer fallen, erstarrte, wusste nicht, was passierte. Ein Schatten huschte vorüber, ein Reh querte die Straße. Dann noch eins. Meine Güte, hatte er sich erschreckt. Die Rehe rannten in das Feld hinein, dann gingen sie, blieben stehen, drehten sich um und sahen ihn an. Dumme Viecher. Sein Herzschlag beruhigte sich, er nahm den Koffer auf, lief weiter.
Ein bisschen Licht dort hinten am Himmel, ein gelber Schimmer, und da waren schon die ersten Häuser der kleinen Stadt. Zwei Reiter näherten sich von hinten, langsam, Schritt, offenkundig nicht auf der Suche. Sie grüßten, zogen vorbei.
Er hatte Hunger, war ohne Frühstück aufgebrochen, ohne Kaffee. Es war Viertel vor sechs, als er die Stadt erreichte. Er ging in eine Bäckerei, kaufte sich drei Brötchen, eins aß er sofort, noch im Gehen, die beiden anderen mussten bis Hannover reichen. Dort hatte er beim Umsteigen Zeit und würde sich ein warmes Mittagessen leisten, ein kleines, eine Wurst, Kartoffelsalat. Die Menschen, die er sah, beachteten ihn nicht, sie eilten zur Arbeit, zum Markt. Trotzdem hatte er Angst, dass ihn jemand erkennen, ansprechen würde. Aber das geschah nicht. Um fünf vor sechs war er am Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg in den Zug nach Hannover.
Am späten Abend, als Müller längst gegangen war und Stille in den Gängen des Präsidiums herrschte, ging er runter ins Archiv. Er hatte sich die Schlüssel besorgt, mit Erlaubnis des Polizeipräsidenten, da er oft bis spät in die Nacht arbeitete. Er schaltete das Licht an, klack, Lahnstein sah Regalreihen mit Akten, schmalen, breiten. Luft, die sich fett anfühlte, getränkt mit den Ausdünstungen dieser Ordner, der Geruch vergilbten Papiers, vergangener Tage.
Was er suchte, waren neue Ordner, nicht vergilbt, nicht abgegriffen. Er ging die Reihen durch, begann unten, kniete, richtete sich langsam auf, bis er sich strecken musste, um etwas erkennen zu können. So bewegte er sich nach links, auf der Rückseite genauso. Bald schmerzten seine Knie, Steifheit im Nacken. Er hustete, der Staub.
Eine erste Akte, die neu aussah. Er zog sie raus, öffnete sie. Ein Mörder, die Gattin und die eigenen Kinder. Er stellte den Ordner zurück, machte weiter. Am Ende, nach zwei Stunden, hatte er gefunden, was er suchte, einen leeren Ordner, glänzende Pappe, unbenutzt, unter dem Buchstaben J, aber das hieß nichts. Wahrscheinlich hatten sie die Ordner verschoben, damit niemand erkennen konnte, welche Akte fehlte. Irgendwas in der Nähe von J, ein Buchstabe zwischen G und M, schätzte er.
Er schloss das Archiv ab, holte seinen Hut und seinen Mantel und lief nach Hause, wie immer mit einem Schlenker zum Theater, wo die Prostituierten warteten, vor allem die Knaben, Puppenjungs genannt. Sie traten aus den Schatten der Bäume, hakten sich bei ihm ein, manchmal griff einer in seinen Schritt. Er wischte die dreiste Hand weg, zischte »sei vorsichtig«, und das meinte er in einem doppelten Sinne. Die Knaben lachten. Lahnstein ging weiter, beobachtete aus den Augenwinkeln die anderen Männer, ob sich jemand auffällig verhielt. Aber was war hier schon auffällig, außer dass alle unauffällig wirken wollten? Er hoffte auf einen Zufallstreffer, eine Eingebung.
Kurz nach Mitternacht traf er in seiner Pension ein, eine große Wohnung, in der drei Räume vermietet wurden. Im Moment war er der einzige Gast. Schuhe aus, das war Vorschrift, über welliges Parkett in sein Zimmer. Warten auf den Schlaf, Angst vor dem gewohnten Traum. Nach einer Stunde schlief er ein.
Die Sonne musste er im Blick behalten, denn von dort würden sie kommen, ihn überraschen, weil er sie gegen das Licht erst spät erkennen konnte. Er schaute zur Sonne, schaute voraus, schaute nach unten, wo Bauern ihre Felder bestellten, Vieh auf den Weiden, ein Automobil auf einer Landstraße, Dörfer, Höfe, Menschen an einem Fluss.
Die Sonne, achte auf die Sonne. Nichts. Er lauschte. Der Motor brummte gleichmäßig, der Wind rauschte, die üblichen Geräusche. Alles in Ordnung.
Er sah sich um, zum hinteren Sitz, wo Lissy und August saßen, August auf Lissys Schoß. Lissy schrie ihm etwas zu, aber er verstand sie nicht. Sie winkte, gestikulierte. Er sah zur Sonne, nichts, sah nach unten, durch den kleinen Bombenschacht, ein Kirchturm, ein Weiher, Häuser, Frieden, aber jetzt stotterte der Motor, der Propeller kreiste langsamer und langsamer.
Sie segelten, glitten dahin, sanken, aber nur langsam. Manchmal drehte er sich um. August war eingeschlafen, Lissy hielt ihn fest in ihren Armen. Er sah wieder nach vorne, suchte nach einer Stelle, wo sie landen konnten, nach einer ebenen Wiese, einer Straße, die nicht von Bäumen gesäumt war. Aber da waren nur noch Felsen, Berge und Flüsse, die sich durch Schluchten wanden, schroffes, karges Land.
Eine Bruchlandung, etwas anderes war nicht möglich. Aber es kam nie dazu, er wachte auf, bevor sie den Boden berührten oder an einem Berg zerschellten. Er wachte auf mit einem Gefühl, als würde er immer noch fliegen, aber er sah schon das Zimmer, in dem er schlief, das Fußende des Bettes, das kleine Fenster, den schiefen Schrank, die Haken an der Wand, an denen seine Sachen hingen. Er war wach, aber er stürzte der Erde entgegen. Das war der schlimmste Moment.
Dann war es vorbei. Er lag reglos in seinem Bett, hatte es überstanden. Er schaute nach der Uhr auf dem Nachttisch. Halb sieben morgens. Lahnstein war lieber, wenn ihn dieser Traum mitten in der Nacht ereilte, dann konnte er noch einmal einschlafen und sich davon erholen. So aber musste er das Gefühl des Sinkens und Stürzens mit in den neuen Tag nehmen. Ein Tag mit Junge?
Der Letzte war am 27. Oktober 1923 vermisst gemeldet worden, davor einer am 25. Oktober und einer am 12. Oktober. Im September wurde ein Junge vermisst gemeldet, im August einer, Pause im Juli, im Juni einer, im Mai zwei, Pause im April, im März einer. Der Erste verschwand am 12. Februar 1923, Fritz Franke. Die Namen steckten tief in Lahnsteins Kopf, in seinem Gemüt, er kannte sie alle.
Es gab keinen Rhythmus, er hatte sich die Abstände angeschaut, hatte gerechnet, gemittelt, Gruppen gebildet, Linien gezeichnet, Pfeile, nichts, kein Muster. Der größte Abstand zwischen den Taten, wenn es denn welche waren, lag bei gut zwei Monaten, vom 20. März bis zum 23. Mai, der kürzeste bei zwei Tagen, Ende Oktober. Zehn Jungs, zwischen 13 und 18 Jahre alt, vier davon 16 Jahre, die größte Gruppe. Heinz Brinkmann war bislang der Letzte, 13 Jahre alt. Auch die Altersangaben hatte er stundenlang betrachtet, mit den Daten des Verschwindens verknüpft, kein Muster.
Keine Leichen, nicht eine. Auch sonst: keine Spur.
Er stand auf, schwankte leicht, noch nicht wirklich gelandet. Und wenn es zu Ende war? Kein weiterer Junge mehr vermisst werden würde. Dann hatte er trotzdem zehn Fälle, die er aufklären musste. Seine Hoffnung war der nächste Fall, dass dieser eine Spur offenbarte, ihm eine Leiche lieferte, irgendwas, an das er anknüpfen konnte. Abscheulicher Gedanke, aber wahr. Er brauchte einen weiteren Fall. Er brauchte einen Toten, er brauchte einen Mord. Er wartete darauf, das wusste er, obwohl er sich sagte, dass dies nicht stimmen würde, nicht stimmen konnte. So war er doch nicht. Hoffentlich nicht.
Er lauschte an der Tür, hörte nichts und trat hinaus, schwankte zum Klo, im Schlafanzug. Da er nicht den kleinsten Hinweis hatte, wie die Taten abgelaufen waren, wer der Täter sein könnte, waren seiner Fantasie keine Grenzen gesetzt, er konnte, musste sich alles vorstellen, Gemetzel, Bluträusche. Wenn er so aufwachte wie heute, wenn sein Gemüt so angegriffen, so durchlässig war, verwandelte er sich in Heinz Brinkmann in den letzten Minuten seines Lebens. Er wurde bei lebendigem Leib gehäutet, schrie und schrie in seinen Gedanken. Es gab auch Tage, da war er der Täter, einer von ihnen. Ein Messer in der Hand. Aber warum ein Messer? Sie wussten nichts, gar nichts.
Gab es überhaupt Morde? Er hatte, in optimistischen Momenten, seine Zweifel. Es war das Alter, in dem Jungs nun einmal abhauen, nach Amerika, zur Fremdenlegion. So viele waren traurig, weil der Krieg zu Ende gewesen war, bevor man sie hatte einziehen können. Deshalb suchten sie sich ihren eigenen Krieg, fuhren nach Straßburg, ließen sich rekrutieren, kämpften in irgendwelchen Dschungeln oder Wüsten. Konnte doch sein.
Robert Lahnstein lauschte an der Toilettentür, nichts. Er öffnete die Tür, sah direkt in das Alkoholgesicht seiner Vermieterin, die sich herangeschlichen hatte und still auf ihn wartete. Ein graues Kittelkleid, graue Pantoffeln.
Ist alles recht?
Ja.
Und der Mörder?
Bald.
Er drängte sich an ihr vorbei, weil sie ihm den Weg zu seinem Zimmer versperrte. Als er die Klinke runterdrückte, sagte sie hinter ihm: Es ist Menschenfleisch aufgetaucht.
Er drehte sich um.
Wo?
Im »Wirtshaus Walterscheidt«.
Woher wollen Sie wissen, dass es Menschenfleisch war?
Da war einer, der in Afrika gelebt hat, und der sagt, es war eindeutig Menschenfleisch. Hat’s ausgespuckt.
Kann ich den mal sprechen?
Ich kenn den nicht. Der ist gleich abgehauen, so hat er sich geekelt.
So war es immer. Hysterie, Gerüchte, aber nie wurde etwas konkret, alle hatten irgendetwas gehört, aber niemand wusste irgendetwas.
Warum sollte jemand Menschenfleisch verkaufen?, fragte er die Zimmerwirtin.
Sie senkte die Stimme: So lindern sie die Engpässe, halten die Preise erträglich. Die Regierung steckt dahinter, die Berliner.
Unsinn.
Er trat in sein Zimmer, schloss die Tür, stellte sich ans Waschbecken, stand endlich stabil, das kleine Flugzeug war gelandet, war zerschellt, was auch immer, es hatte die Lüfte verlassen und ihn der Erde zurückgegeben. Schnelle Wäsche, flüchtige Rasur. Er sah in hellblaue Augen, ein schmales Gesicht, Nase und Ohren nicht markant, eher zierlich, was er nicht mochte, hohe Stirn, was er mochte. Helle Haut, ein Leberfleck rechts neben der Nase.
Im Café schaute er kurz auf die Morgenzeitungen. Ein neuer Fall? Nein. Hitler, alle schrieben immer noch hysterisch über Hitler. Der Putsch in München, Marsch auf die Feldherrnhalle, mit Ludendorff, ausgerechnet. Gescheitert, Hitler saß in Untersuchungshaft. Ein Glück, dachte Lahnstein, am Ende hätten sie noch ihm die Schuld an dem Putsch gegeben. Weil er die Mordserie nicht aufklären konnte. Das Land war nervös. Oder war nur er nervös? Beruhige dich, sagte er sich.
Lahnstein griff nach einem regionalen Blatt, zog sich in eine hintere Ecke zurück und bestellte Kaffee und Gebäck. Im Lokalteil suchte er nach den Polizeiberichten. Schlägereien, Diebstähle, konfiszierte Schmuggelware, eine Vergewaltigung. Er hatte gestern schon davon gehört. Der Täter war an seinem Zimmer im Präsidium vorbeigeführt worden, ein 50jähriger Mann, der seiner Nachbarin im Keller aufgelauert hatte. Die Frau war 41 Jahre alt, von dort führte keine Linie zu seinen Jungs. Trotzdem würde er sich die Protokolle ansehen. Er blätterte zurück zu den vorderen Seiten und las alles zum Putschversuch. Hermann Göring war entkommen. Er hatte ihn einmal auf einem Flugfeld getroffen. Galt als As. Nun ein Gesuchter.
Er setzte seinen Hut auf, zahlte und ging. Den Mantelkragen hoch, Wind, leichter Regen. Er hielt den Hut fest, eilte durch die Gassen, vorbei an den kleinen Häusern, die eingesackt waren, wie auch uralte Menschen einsackten, standen schief, als stützten sie einander, Fachwerk, blätternde Fassaden, hier und dort Pappen statt Fenstergläsern, auch blindes Glas. Katzenkopfpflaster, mit Dellen und Hügeln, eine Landschaft aus Steinen. Die Hufe der Pferde klackten gemächlich, Frachtkutschen, manchmal ein Automobil, wütendes Hupen. Die Fußgänger waren schneller in diesem Gedränge, am schnellsten waren die Zeitungsjungs, auch am lautesten. Putsch in München, Hitler im Gefängnis. Aber kein Vermisster. Passt auf, dachte Lahnstein, euer Alter. Bislang war kein Zeitungsjunge unter den Opfern. Arbeiter meist, Handwerker, noch in der Lehre. Darüber musste er nachdenken, warum es kaum Gymnasiasten waren, nicht die Kinder reicher Eltern. Hundertfünfundsiebziger? Wahrscheinlich.
Gedränge auf der schmalen Leine-Brücke, der Geruch von Katzenwäsche, von einmal Baden in der Woche, höchstens, der Geruch alter Kleidung, selten gewechselt, wenig gewaschen. Unangenehm, aber Lahnstein war da nachsichtig. Die Zeit der Hyperinflation war nicht die Zeit der Hygiene. Man war zu arm, um sich neue Kleider zu kaufen, man war zu abgelenkt, um auf Hygiene zu achten, ständig in Sorge, altes Geld loszuwerden, neues zu beschaffen, ständig damit beschäftigt, auf die Preise zu achten, zu tauschen. Kleidung gab man her für Lebensmittel. Man roch das. Er war selbst durch eine solche Phase gegangen. Sein Mantel war verschlissen, aber er wusste nicht, wann er einen neuen kaufen sollte. Seit einiger Zeit stabilisierte sich der Geldwert, er würde warten.
Ein Mann rempelte gegen seine Schulter, traf ihn hart, weil er, vertieft in Gedanken, den Mann nicht hatte kommen sehen. Er blickte sich um, ein bodenlanger Mantel, ein schmaler Rücken, ein leerer Ärmel. Er wollte dem Mann folgen, ihn zur Rede stellen, aber dann ließ er es sein. Somme, würde der Mann schreien, Verdun, Eisack. Das waren die Chiffren, die alles erklärten, alles entschuldigten. Auch im Präsidium.
Er eilte weiter, aufmerksamer nun. Zündhölzer, Schals, Socken, Zigaretten, Vasen, Messer, das waren die Waren, die ihm auf kurzer Strecke angeboten, entgegengestreckt wurden, manchmal wortlos, nur von einem flehenden Blick begleitet. Sie waren ein Volk von Händlern geworden seit dem Krieg. Erst Helden, jetzt Händler, dachte er bitter. Er kaufte nichts, auch keine Zigaretten, obwohl sein Vorrat knapp war für den Tag, aber er wollte am Abend in die Zigarrenhandlung gehen. War es wegen der Besitzerin? Er schämte sich ein bisschen für den Gedanken, weil Lissy immer noch in dem Flugzeug saß. Das Meer, der Wind, der träge Propeller. Manchmal sah sie aus, als wolle sie winken, sei aber zu schwach, um eine Hand zu heben. August schlief.
Ein Pferd pisste neben ihm, und der harte Strahl spritzte vom Pflaster auf seine Füße. Überall Pferdedreck, vom Regen verteilt, verschmiert. Je näher er dem Präsidium kam, desto mehr wuchs seine Angst. Er wollte nicht, dass ein Elternpaar auf ihn wartete, Mutter und Vater, noch schlimmer: eine Witwe, die ihren Sohn, der seinem Vater so ähnelte, vermisste. Und wollte es doch.
Unten war niemand, Erleichterung, er grüßte die Beamten am Empfang, ein gleichgültiger, nicht eben freundlicher Gruß zurück, niemand hielt ihn an, um zu sagen, dass man schon auf ihn warte. Sein Büro war leer, Freude, Enttäuschung. Er ging auf die Toilette, nahm reichlich Papier und wischte seine Schuhe, bis sie sauber waren. Spucke, er polierte, bis er mit dem Glanz zufrieden war. Er ging in sein Büro, setzte sich hin und verpasste den Moment, in dem er nach einer Akte, nach dem Telefonhörer greifen musste, damit er nicht im Strudel seiner Gedanken verschwand.
August. Lissy. Er dachte an den Abschied auf dem Bahnhof in Salzburg. Nach zwei Wochen am Irrsee, im Seehof. Lissy hatte Verwandte im Dorf. August war ein halbes Jahr alt, Sommer, aber viel Regen, er hatte drei Wochen Urlaub. Sie liefen um den See, jeden Tag, die Straße entlang, die Berge erst im Rücken, dann voraus. So hatten sie es bestimmt, damit sie sich auf den Rückweg freuen konnten und damit ihnen das letzte Stück leichter fiel. Die Berge machten beiden Freude. Ein Ausflug nach Fuschl, ein Ausflug an den Wolfgangsee. August lag im Kinderwagen, und wenn er schrie, holte Lahnstein ihn raus und trug ihn ein Stück. Manchmal setzten sie sich auf eine Wiese, und Lissy stillte das Kind. Lahnstein lag auf dem Rücken und schaute in den verdammten Himmel.
Sie besuchten Lissys Bruder, der Bauer war. Lahnstein ging mit August in den Stall, zeigte ihm die Tiere, aber dann brüllte eine Kuh, August erschrak, und es dauerte eine Viertelstunde, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Vom Hof aus gingen sie einen Berg hinauf, weil dort oben eine schöne Kapelle war, wie der Bruder sagte. Lahnstein hatte Mühe, den Wagen zu schieben, machte dazu die Geräusche einer Lokomotive, Lissy lachte. Abends saßen sie auf dem Bett, das Baby lag zwischen ihnen. Sie freuten sich, wenn sie einen neuen Gesichtszug entdeckten, eine Bewegung, die nicht zufällig schien, sondern gewollt. Sie wollten Fortschritt sehen, Entwicklung. Ein Lächeln von August, und Lahnstein schwamm in der warmen Milch einer Rührung, die ihm bis dahin unbekannt gewesen war. Es wog den Krieg auf, den Beschuss, das Lazarett. Es ließ das alles verschwinden, bis er nachts wach wurde und der Krieg wieder da war, und noch zwölf Tage, dann acht, sechs.
Du schaust so oft in den Himmel, sagte Lissy.
Es stimmte, er schaute nach den Wolken, nach dem Licht, er betrachtete das Wetter als Flugwetter. War es günstig oder nicht, und für wen?
Sei hier unten bei uns, sagte Lissy und nahm seine Hände. Sie stritten nicht in diesem Urlaub, obwohl das Zimmer klein war und August viel schrie. Manchmal wünschte er sich nach draußen, nach da oben, an den Himmel, wo die Sopwith Camels auf ihn warteten. War das nicht maximaler Verrat an seiner Familie? Den verhassten Kampf der Familie vorziehen, weil die mal anstrengend war. Scham. Die Gedanken verschwanden.
Lissy sprach viel von der Zukunft, als hätten sie die Gegenwart schon hinter sich, eine größere Wohnung, drei Kinder, vielleicht vier. Seine Karriere bei der Polizei, die Erbschaften, die zu erwarten waren, ein Häuschen. Das schien so gewiss für sie, Tatsachen aus der Welt von morgen, sie lächelte die ganze Zeit. Manchmal kam eine Sopwith aus der Sonne geflogen, er feuerte und feuerte, bis er merkte, dass Lissy seine verkrampften Hände hielt. Schschsch, machte sie. Das gleiche sanfte Zischen half August beim Einschlafen.
Sie weinten beide am letzten Abend. August schlief, sie lagen ineinander verschlungen. Sie versprachen sich ein Wiedersehen zu Weihnachten, es war September. Er rechnete aus, wie viele Kampfeinsätze er bis dahin voraussichtlich würde fliegen müssen, aber die Zahl war zu hoch, um sie denken zu können. Er brach ab, sagte nichts zu Lissy. Aber weil er zitterte, wusste sie wahrscheinlich, was in seinem Kopf vorging. Das Wort »Angst«, das verbotenste von allen, rumorte in seinem Kopf, und er wollte es so gerne aussprechen, weil das vielleicht Linderung bringen konnte, aber das war undenkbar. Niemand sagte dieses Wort.
Sie schliefen nicht mehr miteinander, wie in fast allen Nächten davor. Sie waren wach, wenn August wach war, um zwei Uhr, dann wieder um halb fünf. Lissy stillte das Kind, Lahnstein betrachtete die Zufriedenheit der beiden und spielte mit dem Gedanken, hier zu bleiben, sich in den Bergen zu verstecken, bis aus der Gegenwart die Zukunft geworden war. Aber das würde ihm auch nicht das Leben bescheren, das Lissy sich ausmalte, sondern nur eine ewige Flucht, Gefängnis oder ein Peloton. Die beiden waren eingeschlafen, er lag auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, nahezu Vollmond, ein Plätschern vom See, vielleicht ein Fisch, der gesprungen war. Um halb sechs standen sie auf. Sie hatten in Salzburg eine Droschke bestellt, die sie abholte und zum Bahnhof fuhr. Dann standen sie neben dem Waggon, in den er gleich steigen würde, eine letzte Umarmung, ein Kuss auf die Stirn von August. Er stand am Fenster, winkte, winkte, bis sein Arm schmerzte. Sie winkte zurück, dann hielt sie August in die Luft. Das war das letzte Bild, das er von ihnen hatte, aber es tauchte nie in seinen Träumen auf.
Lahnstein erschrak, als die Tür aufsprang und Müller hereinkam, ebenfalls Kommissar, ihm untergeordnet.
Guten Morgen, rief Müller, laut, stramm, wie beim Militär.
Lahnstein drehte sich ihm zu, spielte den Hellwachen, aufgerissene Augen. Guten Morgen, sagte er matt.
Müller war klein, untersetzt, hatte eine klobige Nase, blaugraue Augen, einen weißen Kinnbart, weiße Haare, obwohl er Anfang dreißig war, etwas jünger als Lahnstein. Tannenberg, dann Verdun. Nach dem Krieg hatte er schnell Karriere gemacht. Bis Lahnstein eintraf, hatte er die Ermittlungen in diesem Fall geleitet, aber da es keine Spur gab und immer noch Jungs verschwanden, war er nur noch zweiter Mann hinter Lahnstein.
Müller zog seinen Mantel aus, schloss die Schublade von seinem Schreibtisch auf und holte seine Pistole raus. Er setzte sich, zog das Magazin raus, ließ alle Patronen auf den Schreibtisch klacken, steckte sie wieder ins Magazin.
Kann es sein, fragte Lahnstein, dass im Archiv die eine oder andere Akte fehlt?
Weiß nicht, habe noch keine vermisst, sagte Müller.
Da ist mindestens eine Lücke, und sie scheint mir noch nicht alt zu sein.
Sie haben das Archiv durchsucht? Warum?
Ich habe mich gestern dort noch einmal umgetan. Ich möchte nichts übersehen.
Müller zuckte mit den Achseln. Ich war ewig nicht im Archiv, sagte er. Lasse mir die Akten immer bringen.
Da war ein leerer Aktenordner, sagte Lahnstein.
Wird nicht lange dauern, bis er voll ist. In diesen Zeiten.
Aber warum stellt man einen leeren Aktenordner ins Regal?
Keine Ahnung. Sagen Sie’s mir?
Um zu vertuschen, dass man einen anderen Aktenordner rausgenommen hat.
Es klopfte an der Tür. Lahnstein zuckte zusammen. Müller sah es, lächelte.
Vielleicht die verschwundene Akte, sagte er. Dann zur Tür, scharf: Herein.
Lahnstein starrte die Tür an.
Ein Beamter, hinter ihm ein Ehepaar. Nummer elf?, dachte er, zugleich resigniert und hoffnungsfroh. Er mochte diese Nummerierung nicht, aber seine Kollegen sprachen von den Jungs ständig in Nummern, und das zog allmählich in seine Gedanken ein.
Die Herrschaften wollen eine Vermisstenanzeige machen, sagte der Beamte.
Ein Junge?, fragte Müller.
Unser Adolf, sagte die Frau.
Sie war Ende dreißig, schätzte Lahnstein, aber seit dem Krieg und den Jahren des Hungers und der Spanischen Grippe verschätzte er sich meistens im Alter der Menschen, vor allem der einfachen Menschen. Die Frau trug einen löchrigen Mantel über einem langen Kleid, der Mann einen groben, abgewetzten Anzug aus schwarzem Stoff mit hellen Strichen und Punkten. Späne, ein Zimmermann. Schwere Schuhe, auch an den Füßen der Frau. Sie waren beide dünn, ausgemergelt, der Mann überragte seine Frau um einen Kopf und etwas mehr. Sein Gesicht war breit, ihres klein. Angst in den Augen. Die Frau hatte einen Beutel dabei.
Lahnstein wies den Beamten an, zwei Stühle vor seinen Schreibtisch zu stellen, und forderte die beiden auf, sich zu setzen. Müller kam um seinen Schreibtisch herum und lehnte sich vorne gegen die Kante. Lahnstein legte einen Block vor sich auf den Schreibtisch, nahm einen Stift.
Ihre Namen, bitte.
Hannappel, Jakop.
Rheinischer Akzent.
Aus Köln?
Düsseldorf.
Marie.
Auch Hannappel?
Ich bin seine Frau.
Zu ihm: Sie sind Zimmermann?
Ja.
Wie alt ist Ihr Sohn?
Fünfzehn, sagte der Mann.
Am 28. April 1908 geboren, sagte die Frau. Aber ganz kurz nach Mitternacht, nur eine oder zwei Minuten.
Seit wann vermissen Sie ihn?
Seit einer Woche haben wir nichts von ihm gehört. Sonst kam jeden zweiten Tag ein Brief. Das Letzte, was er geschickt hat, war ein Wurstpaket, zum Martinstag.
Warum ein Wurstpaket?
Achselzucken.
Ihr Sohn hat Ihnen ein Wurstpaket geschickt? Oder jemand anderes?
Der Adolf, sagte die Frau, das war seine Schrift.
Sie schluchzte.
Wir haben nicht viel, sagte der Mann.
Er wollte uns noch etwas Gutes tun, sagte die Frau.
Was, fragte Lahnstein, war in dem Wurstpaket?
Wurst, sagte der Mann.
Müller grinste. Diese Worte würden ihren Weg durchs Präsidium machen, das war klar. Die Wurstfrage.
Ich weiß, dass Wurst in einem Wurstpaket ist, sagte Lahnstein. Ich meinte, was für Wurst, welche Sorten?
Leberwurst, Fleischwurst, Blutwurst, sagte die Frau.
Ist die Wurst in irgendeiner Weise verdächtig?
Nein, sie schmeckt gut, sagte der Mann.
Sie haben schon davon gegessen?
Von der Blutwurst.
Verstehe.
Die Leberwurst haben wir dabei, sagte die Frau. Wir wissen ja nicht, wie lange das hier dauert auf dem Revier.
Wir haben uns einen halben Laib Brot gekauft, sagte der Mann, beim Bäcker Döbbert.
Lahnstein lehnte sich zurück. In Ordnung, sagte er, beginnen wir von vorne. Erzählen Sie uns von Ihrem Jungen.
Anfang des Jahres hatte er eine Bauchfelltuberkulose, sagte die Frau.
Er war eine Weile in der Heilstätte Watersloh, im Lippischen, ergänzte der Mann.
Aber er ist wieder gesund, sagte die Frau. Wenn er noch lebt.
Sie schluchzte wieder.
Hat er eine Arbeitsstelle?, fragte Lahnstein.
Im Oktober hat er eine Lehre beim Oberschweizer Rudolf Dehne auf dem Gut der Witwe Sürmann in Linsborn bei Lippstadt angefangen, sagte der Mann. Adolf soll Stallknecht nach Schweizer Art werden.
Warum nicht Zimmermann?
Er hatte eine Lehre als Zimmermann angefangen, sagte der Mann traurig. Aber nach der Bauchfelltuberkulose hat man gesagt, Zimmermann sei zu schwer für den Jungen, er solle lieber auf dem Land bleiben und einen leichteren Beruf ergreifen.
Er ist ein guter Junge, sagte die Mutter, fleißig, ordentlich. Und gut zu seinen Eltern.
Deshalb hat er ja das Wurstpaket geschickt, sagte Müller aus dem Hintergrund. Lahnstein sah ihn nicht an, fürchtete den höhnischen Blick.
Können wir, fragte Lahnstein, ein Stück von der Leberwurst haben?
Der Mann und die Frau musterten ihn verblüfft.
Von unserer Leberwurst?, fragte die Frau.
Nur eine dünne Scheibe.
Die Frau sah ihren Mann an.
Wir wollen die Wurst nicht essen, sagte Lahnstein, wir wollen sie überprüfen lassen.
Sie ist gut, sagte der Mann.
Daran habe ich keine Zweifel. Trotzdem, bitte.
Die Frau kramte im Beutel, holte ein fettiges Papier heraus, aus dem sie einen Ring Leberwurst wickelte. Der Mann zog ein kurzes Messer aus einer Tasche am Hosenbein. Die Frau betrachtete den Schreibtisch und wusste nicht, wo sie die Wurst ablegen sollte. Lahnstein schob eine Kladde zur Seite. Die Frau breitete das Papier aus und legte den Ring genau in die Mitte. Der Mann stand auf und schnitt die Wurst am unteren Scheitelpunkt des Rings entzwei. Dann markierte er mit dem Messer eine dicke Scheibe und sah Lahnstein fragend an.
Die Hälfte reicht, sagte Lahnstein.
Der Mann säbelte ein schmales Stück ab, reichte es Lahnstein.
Legen Sie es bitte wieder auf das Papier, sagte Lahnstein.
Die Frau riss eine Ecke ab, legte das Stück darauf, packte den großen Rest der Wurst in das übrig gebliebene Papier und verstaute es in ihrem Beutel.
Brot auch?, fragte sie.
Brot nicht, sagte Lahnstein.
Sie setzte sich wieder. Müller grinste die ganze Zeit.
Kommissar Wurst, dachte Lahnstein, das wird mein Spitzname sein.
Gut, sagte er, machen wir weiter. Ihr Sohn lernt also Schweizer auf dem Gut der Witwe … er schaute auf seine Notizen … Sürmann.
Da ist er nicht mehr, sagte der Vater.
Er hat doch erst im Oktober dort angefangen.
Aber die Witwe Sürmann will ihn nicht mehr.
Warum nicht?
Der Mann sah seine Frau an.
Die Witwe Sürmann sagt, er ist ein lieber Junge, aber …
Aber was?
Stille. Der Geruch von Leberwurst.
Er hatte eine Pistole, sagte der Vater.
Eine Pistole?
Pistolen haben nur Kommunisten, sagt die Witwe Sürmann, warf die Frau ein.
Wussten Sie, dass Ihr Sohn eine Pistole hat?, fragte Lahnstein.
Wir haben nie eine Pistole gesehen, sagte die Frau.
Vielleicht stimmt auch nicht, was die Witwe Sürmann sagt, warf der Mann ein.
Obwohl sie eine gute und tüchtige Frau ist, sagte die Frau. Ihr Mann ist im Krieg geblieben.
Und Ihr Adolf, ist der wirklich Kommunist?
Der Mann sah ihn ratlos an.
Rote Fahnen?
In seinem Zimmer? Nein.
Bücher von Karl Marx?
Ein fragender Blick von beiden.
Kann es sein, dass sich Ihr Junge nach Russland abgesetzt hat, in die Sowjetunion?, fragte Müller. Zu den anderen Kommunisten.
Warum sollte er das tun?
Um sich Befehle für den Aufstand zu holen.
Welchen Aufstand?
Sie schauten beide noch ängstlicher.
Schon gut, sagte Lahnstein. Wir müssen einfach jede Möglichkeit in Betracht ziehen.
Es sind so viele Jungs verschwunden, sagte die Frau, wir haben Angst um unseren Sohn. Werden Sie ihn finden? Hier in Hannover war er zuletzt.
Woher wissen Sie das?
Er sollte ins Schweizerbüro von Wenger in der Ballhofstraße und nach einer guten Stellung fragen.
Ist er dort angekommen?
Nein.
Also wissen Sie auch nicht, ob er in Hannover angekommen ist.
Stimmt, das wissen wir nicht, sagte die Frau.
Ist Ihnen in letzter Zeit irgendwas an Ihrem Sohn aufgefallen?, fragte Lahnstein.
Nichts, sagte die Frau, wie immer.
Nichts, sagte der Mann.
Ich muss Sie noch etwas fragen, sagte Lahnstein. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Es ist eine Art Routinefrage. Ich möchte Sie keineswegs beleidigen.
Müller zog eine Augenbraue hoch. Die Hannappels setzten sich aufrecht hin, als erwarteten sie die Prüfungsfrage eines strengen Lehrers. Aufmerksamer, unterwürfiger Blick.
Hat der Adolf eine Freundin?
Ach so, sagte die Frau erleichtert. Nein, dafür ist er zu jung, und er ist anständig.
Hat er einen … Freund?
Natürlich, sagte der Vater, Erwin, Kurt und noch ein paar andere. Der Adolf ist beliebt.
Was ich meine, ist, sagte Lahnstein vorsichtig, hat er den Erwin oder den Kurt … lieb?
Ich denke schon, sagte die Frau.
Lahnstein sah zu Boden, als er fragte: Heißt das auch, dass man sich vielleicht mal … geküsst hat?
Er hörte nichts, keine Antwort. Er hob seinen Blick, sah in fragende Augen. Müller machte ihm ein Zeichen, er solle aufhören.
Geküsst, die Jungs?, fragte die Mutter.
Sie reden von einer Schweinerei?, fragte der Vater drohend. Er stand auf, die Frau auch.
Beruhigen Sie sich, sagte Müller und trat vor. Mein Kollege meint es nicht so. Wir müssen immer in alle Richtungen ermitteln, und jetzt wissen wir ja, dass bei Ihrem Adolf nichts in diesem Sinne vorliegt. Das ist uns sofort klar geworden. Können Sie uns Ihren Sohn noch beschreiben? Dann dürfen Sie auch schon gehen.
Wir haben ein Foto dabei, sagte die Frau. Sie zog es aus dem Beutel und reichte es an Müller weiter.
Sehr gut, sagte Müller. Wissen Sie, was Ihr Sohn zuletzt getragen hat?
Er hatte so schöne Breecheshosen, sagte die Mutter, braune Breecheshosen, von denen konnte er sich gar nicht trennen, und Stiefel aus Boxcalf, einen Sweater in Blau, Hosenträger. Er hat seine Reisetruhe mitgenommen.
Die hat er selbst gezimmert, sagte der Vater, als er bei mir in der Werkstatt gearbeitet hat. Er war … er ist so begabt. Ein Jammer, dass er nicht Zimmermann werden kann.
Die Wasserwaage hat er auch mitgenommen, sagte die Mutter.
Vielleicht will er doch noch Zimmermann werden, sagte der Vater. Vielleicht ist er deshalb abgehauen, mit seiner Wasserwaage, damit er noch Zimmermann werden kann, obwohl ihm gesagt wurde, er könne es nicht.
Wegen der Bauchfelltuberkulose, sagte die Frau. Erst im September kam er aus der Heilanstalt.
Vielleicht ist er in Amerika, sagte der Mann. Da brauchen sie Zimmerleute.
Vielen Dank, sagte Müller und reichte beiden die Hand. Dem Beamten hier können Sie draußen noch Ihre Adresse geben. Wir melden uns bei Ihnen.
Werden Sie ihn finden?
Ich bin zuversichtlich. Sie haben so genaue Angaben gemacht.
Lahnstein stand auf, reichte der Frau zum Abschied die Hand. Sie sah ihn an wie einen Sünder. Der Mann drehte sich abrupt um und eilte zur Tür, ohne Lahnstein eines Blickes zu würdigen.
Wusste gar nicht, dass Sie so wild auf Leberwurst sind, sagte Müller, als sie weg waren.
Sie sind ja witzig.
Danke. Aber was wollen Sie mit der Wurst?
Schackwitz soll sie überprüfen.
Meinen Sie, der Junge wollte seine Eltern vergiften? Die haben doch die Blutwurst ganz gut vertragen.
Ich habe das Gerücht gehört, Menschenfleisch sei im Umlauf.
Müller sah ihn verblüfft an, dann lachte er, lachte schallend.
Lahnstein öffnete wütend die Kladde, die auf seinem Schreibtisch lag, starrte hinein.
Entschuldigung, prustete Müller, aber ich hätte nicht geglaubt, dass Sie auf diesen Unsinn reinfallen.
Sie haben es also auch gehört?
Ich höre es schon lange, mindestens seit dem letzten Kriegsjahr, als das Fleisch knapp wurde. Und danach noch viel häufiger. Das Fleisch von Rindern und Schweinen, hieß es da, bekämen die Franzosen und Briten, die Deutschen müssten Menschenfleisch essen. Blödsinn.
Ich glaube es ja auch nicht, sagte Lahnstein etwas kleinlaut, aber Schackwitz soll sich die Leberwurst trotzdem mal anschauen. Darf ich das Foto sehen?
Er sah einen Jungen, der ernst und müde schaute, breites Gesicht, ein Vaterkind, das von der Kamera verunsichert schien, auf der Suche nach einem passenden Blick abgelichtet wurde; ein Gesicht im Übergang von einem Blick zum nächsten, die Augen nicht ganz geöffnet, der Mund schief.
Die Pistole ist interessant, sagte er, und dass er Kommunist gewesen sein soll.
Interessant, ja, aber kann ein Kind Kommunist sein?
Ein Kind konnte ein Kommunist sein, auf jeden Fall ein Kind von fünfzehn Jahren. Lahnstein hatte sie Steine werfen gesehen, vor dreieinhalb Jahren beim Bürgerkrieg im Ruhrgebiet, er hatte sie mit Gewehren gesehen. Er hatte einen Jungen sterben sehen, bei einer Demonstration erschossen, die rote Fahne in der Hand.
Vielleicht ist es eine Reaktion auf den Putsch in München, sagte Lahnstein.
Aber die anderen Jungs sind vor dem Putschversuch verschwunden.
Ich weiß, sagte Lahnstein. Aber wir wissen nicht, ob es immer derselbe Täter war. Wir wissen nicht einmal, ob hinter jedem Vermissten eine Tat steckt. Aber hier, bei Adolf Hannappel, haben wir einen Hinweis, eine Spur. Vielleicht war er Kommunist, und der Junge hatte eine Pistole. Politik und Gewalt wachsen ja langsam zusammen in diesem Land. Wissen Sie, wie viele Nationalsozialisten es in Hannover gibt?
Ein paar Hundert vielleicht.
Sie sind nicht zufällig einer von denen, wenn ich fragen darf?
Durchaus nicht.
Lahnstein glaubte das. Zwar war Müller sicher kein Demokrat. Aber er hielt ihn eher für einen Monarchisten.
Immerhin, sagte Müller, ist das ein Anhaltspunkt.
Sie stimmen mir zu in meiner These?
Sie hat etwas für sich.
Das ist das erste Mal, dass Sie mir nicht widersprechen, sagte Lahnstein.
Er war guter Dinge, er hatte einen Hinweis, der in die Richtung ging, über die er schon länger nachdachte. Hundertfünfundsiebzig lag nahe, aber dieser Verdacht hatte bislang nirgends hingeführt. Konnte es nicht sein, dass diese Mordserie, wenn es eine war, mit den neuen Zeiten zu tun hatte, mit dem Krieg und seinen Folgen? Sie hatten vier Jahre ihres Lebens auf einem gigantischen Schlachthof zugebracht, sie hatten die tägliche Menschenschlachtung gesehen und hatten täglich selbst geschlachtet. Was waren elf Morde gegen eine Salve aus einem Maschinengewehr, gegen einen Befehl, der ein Trommelfeuer mit Granaten auslöste, gegen Bomben, die von einem Luftschiff abgeworfen wurden? In diesem Land lebten Millionen geübter Massenmörder. Er musste den finden, der einfach weitergemacht hatte, der nicht rauskam aus der täglichen Übung von vier Jahren.
Sein Problem war ja, dachte er bitter, dass er nicht einer von den Massenmördern war, dass er nur zwei Abschüsse hatte nachweisen können, einen Doppelsitzer, einen Einsitzer, machte drei Tote, wenn sie den Absturz nicht überlebt hatten. Damit hatte es Lahnstein schwer. Man konnte nicht zu viel getötet haben, nur zu wenig.
Da so viele Männer Soldaten gewesen waren, reichte es nicht, Soldat gewesen zu sein, um auf seine Liste der Verdächtigen zu kommen. Die wäre endlos gewesen. Lahnstein hatte sich daher gleich nach Antritt seines Dienstes in Hannover die Berichte über die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse angeschaut, der Männer, die in Belgien Zivilisten niedergemetzelt oder anderswo ohne Befehl Gefangene exekutiert hatten. Er suchte nach Hannoveranern, fand aber keinen, der seinen Vorstellungen entsprach.
Politik war auch ein mögliches Motiv. Eine brutalisierte Politik als Folge des Krieges. Die Revolution, die Konterrevolution, die Morde, Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Landauer, Erzberger, Rathenau, der Putschversuch in München.
Sind nicht fast alle Verschwundenen Arbeiter oder Handwerker?, fragte er Müller.
Ja.
Vielleicht waren sie alle Kommunisten.
In den Akten findet sich dazu nichts. Aber das muss nichts heißen.
Diese Hitlerleute sind die größten Feinde der Kommunisten, nicht wahr?
Glaube schon.
Rufen Sie mir alle verfügbaren Männer zusammen, in einer Viertelstunde in unserem Büro.
Natürlich.
Und erkundigen Sie sich doch bitte mal nach der verschwundenen Akte.
Fünf Polizisten versammelten sich in Lahnsteins Büro.
Warum nur fünf, fragte er.
Versailles, sagte Müller.
Wenn es an Männern fehlte, und ständig fehlte es an Männern, gab hier jeder dem Friedensvertrag die Schuld. Die Alliierten hatten den Deutschen Obergrenzen für Militär und Polizei gesetzt, weil sie davon ausgingen, dass aus einem bewaffneten Polizisten rasch ein Soldat werden könne. Es konnte aber auch sein, dass Müller das Wort Versailles als Ausflucht benutzte. Lahnstein durchschaute das Präsidium noch nicht, und Müller zeigte wenig Interesse, ihn aufzuklären.
Lahnstein schnorrte eine Zigarette bei Müller und erklärte seinen Männern den Fall Adolf Hannappel und den Verdacht, er könnte von Hitlers Leuten ermordet oder entführt worden sein.
Das sind doch nur ein paar Spinner, sagte Kleinitz.
Egal, sagte Lahnstein. Er verteilte die Aufgaben, das Gespräch mit der Witwe Sürmann würde er selbst führen.
Nächste Woche will die NSDAP in Hannover demonstrieren, sagte ein Mann, dessen Namen sich Lahnstein noch nicht gemerkt hatte.
Warum?, fragte er.
Wegen der Sache in München. Weil Hitler in Untersuchungshaft ist.
Wir gehen alle hin, sagte Lahnstein. Dann entließ er die Leute.
Am Abend stand er kurz vor der Tabakhandlung, hatte die Hand schon an der Türklinke, aber dann zog er sie zurück und kaufte sich fünf Zigaretten bei einem der Jungs auf der Straße.
Geh jetzt nach Hause, sagte er zu dem Jungen, es ist schon dunkel.
Er wachte auf, es war sieben Uhr am Abend. Warum hatte er so lange geschlafen, er wollte sich nur kurz hinlegen, ruhen, ausruhen. Das Laken war klamm, hatte er geschwitzt? Nein, der Herbst begann, und dann wurde es nie trocken in seinem Zimmer, der Regen, der nahe Fluss. Es war dunkel, er hatte Lust rauszugehen, Lust auf Gesellschaft, das »Café Kröpcke«, später der Bahnhof, vielleicht auch nicht. Er musste aufräumen, saubermachen, da waren noch Blutflecken auf den Dielen, das Zimmer war einfach nicht geeignet für solche Arbeit, er wollte sich nach einer neuen Bleibe umsehen, aber diese war billig, und so gut lief das Geschäft nicht. Die Preise fielen.
Einen gekachelten Raum bräuchte er, wie in einer richtigen Fleischerei. Dann würde einmal durchwischen genügen. Die Bohlen dagegen musste er ewig schrubben, und in den Ritzen blieb das Blut haften, da kam er nicht rein. Aufstehen? Er blieb liegen, ein wenig noch. Der Kleiderhandel machte ihm neuerdings ebenfalls Sorgen. Die Nachfrage nach gebrauchter Kleidung sank, in den Läden lag mehr neue Ware. Den Leuten ging es besser, ein bisschen nur, aber in seinem Geschäft merkte man das sofort. Er schlug die Decke zurück, stand auf, ging zum hinteren Fenster, schaute hinaus. Die Lampen der Häuser gegenüber, Viertelmond. Genug Licht, um zu sehen, aber zu wenig, um erkannt zu werden.
Er füllte einen Eimer mit Wasser, gab Pulver hinzu, kniete sich auf den Boden, wischte, wischte. Schnelle, kraftvolle Bewegungen, Routine. Dörchen würde morgen kommen, um sauber zu machen, aber das Blut sollte sie nicht sehen. Sie hatte ihn schon einmal verpfiffen. Nun gut, er konnte das verzeihen, ihre Dummheit hatte keine Folgen gehabt. Menschenfleisch? Was für eine blöde Frage. Was für ein dämlicher Polizist. Pferdefleisch, hatte er gesagt, die Leute sind gierig nach Pferdefleisch, er habe da Quellen. Ob der Polizist nicht auch mal Pferdefleisch … ja, wollte er.
Der Boden war sauber, soweit das möglich war, ein paar Flecken blieben immer. Er zog die Schuhe an, öffnete die Tür des kleinen Verschlags, holte den Eimer raus, deckte ihn mit einem Handtuch ab, setzte seinen speckigen Hut auf und verließ seine Wohnung. Schneller Gang, gebeugter Kopf. Ein Arbeitsmensch, wie so viele. Er eilte die Häuserzeile entlang bis zum Ende, wo der kleine Park lag, mit Zugang zur Leine. Tagsüber spielten hier die Kinder, manchmal sah er ein Liebespaar, aber diese Leute waren zu beschäftigt, um sich für einen Mann mit Eimer zu interessieren. Er ging zum Ufer, lauschte kurz dem Gurgeln des Wassers, zog das Handtuch zurück und warf Knochen in die Leine, mit trägen Bewegungen, als würde er Enten füttern. Als der Eimer leer war, kniete er sich hin, wusch ihn aus, bis kein Blut mehr zu sehen war. Seine Hände wurden kalt von dem kalten Wasser. Dann ging er zufrieden nach Hause, sich frisch machen, sich umziehen. Der Abend konnte beginnen.