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Buch

Nach dem Tod ihres Onkels Josef hat Mimi Reventlow Laichingen verlassen und ihre Arbeit als Wanderfotografin wiederaufgenommen. Sie ist nicht mehr allein unterwegs, denn der Gastwirtsohn Anton hat sich Mimi angeschlossen. Gemeinsam bereisen die beiden das Land und wollen nach der dörflichen Enge Laichingens endlich großstädtischen Trubel erleben. Während ihres Aufenthalts in Berlin gelingt es Anton, einen florierenden Postkartenhandel aufzubauen – Mimi dagegen hat immer öfter Schwierigkeiten, eine Gastanstellung zu finden. Doch anstatt der Vergangenheit nachzutrauern möchte Mimi lieber die Welt von morgen mitgestalten! So wagt sie es, sich neu zu erfinden und dennoch treu zu bleiben. Auf ihrem Weg begegnen ihr auch alte Bekannte, wie Bernadette, die von der großen Liebe träumt. Was beide Frauen noch nicht wissen: Ihnen steht bald die größte Herausforderung ihres Lebens bevor …

Autorin

Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über zwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt und schreibt abwechselnd im Süden Deutschlands und in Südfrankreich.

Mehr Informationen zur Autorin und ihren Büchern finden Sie auf ihrer Homepage www.durst-benning.de oder in der App von Petra Durst-Benning.


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Band 3

Roman

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Der Abdruck des Zitats von Henri Cartier-Bresson
mit freundlicher Genehmigung der
Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris.

© 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins Photography, Shutterstock.com (orientaly; Jan Martin Will; fokke baarssen), kemai/photocase.de und Dietrich Krieger (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Münsingen-6359.jpg), »Münsingen-6359«, Covercollage von punchdesign, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode

Die Bilder im Anhang stammen aus dem
Privatarchiv von Petra Durst-Benning

JF · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22948-1
V004

www.blanvalet.de

»Das Handwerk hängt stark von den Beziehungen ab, die man mit den Menschen herstellen kann.
Ein Wort kann alles verderben, alle verkrampfen und machen dicht.«

Henri Cartier-Bresson (1908–2004)

1. Kapitel

Im Hochschwarzwald, 3. Januar 1912

»Bitte ein Stück nach links, wir wollen doch den Skilift auch aufs Bild bekommen. Sehr gut, bitte nicht mehr bewegen!« Die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, verschwand Mimi Reventlow unter dem Schwarztuch ihrer Kamera. »Und jetzt bitte lächeln, die Herren!«

Es war ein herrlicher Wintertag. Die Luft war glasklar, die verschneiten Berghöhen des Hochschwarzwalds glitzerten im Sonnenlicht, und die Holzschindeln des malerisch auf einer Hochebene gelegenen Hotels Tonihof glänzten wie der Tannenhonig, den es bei jedem Frühstück gab. Die Gruppe Skifahrer – Frankfurter Geschäftsleute mittleren Alters –, die Mimi vor der Linse hatte, war nach etlichen rasanten Talabfahrten und zwei Runden Obstler bestens aufgelegt. Statt nur zu lächeln, wie Mimi sie gebeten hatte, machten sie Faxen wie Lausbuben!

Wenn es nur immer so leicht wäre, die Leute aus der Reserve zu locken, dachte die Fotografin und genoss den Moment. Schon war das »Klick« ihrer Kamera zu hören. Anschließend verstaute sie die Glasplatte in der dazugehörigen Hülle, dann tauchte sie unter dem Schwarztuch auf und sagte freundlich: »Vielen Dank, meine Herren! Ich gebe die Glasplatten heute noch dem örtlichen Fotografen zum Entwickeln, so dass Sie Ihre Fotografien in drei Tagen an der Hotelrezeption abholen und dort auch bezahlen können – so habe ich es mit Hotelchef Herrn Wimmer abgesprochen. Verraten Sie mir bitte noch, wie viele Abzüge ich für Sie machen soll?«

Jeder der Herren wollte gleich zwei. »Dürfen wir Sie auf einen Kaffee einladen, gnädige Frau?«, fragte einer der Skifahrer dann forsch.

»Oder gar auf ein Glas Sekt?«, fügte ein zweiter hinzu. »Es kommt selten vor, dass man eine Wanderfotografin trifft. Vielleicht würden Sie uns die Ehre erweisen, ein wenig aus Ihrem Leben zu erzählen?«

»Heute ist mein letzter Tag hier, ich muss schauen, dass ich mit meiner Arbeit fertig werde«, sagte Mimi mit gespieltem Bedauern. Wenn sie jeder Einladung folgen würde, die sie im Laufe eines Tages bekam, verbrächte sie die Zeit nur noch mit Essen und Trinken!

*

Wie Mimi Reventlow in ihrem Element war!, dachte Anton Schaufler lächelnd, der die Szene durch eins der vielen Restaurantfenster beobachtet hatte. Und wie sich die Leute um sie scharten, und das vom ersten Tag an! Kein Wunder – mit ihren kastanienbraunen Haaren, ihren vor Lebensfreude funkelnden Augen und dem klaren Teint war die stets elegant gekleidete Wanderfotografin äußerst attraktiv. Und als hätte das nicht gereicht, verfügte Mimi zudem über eine Ausstrahlung, die die Menschen unwillkürlich in ihren Bann zog, dachte Anton bewundernd.

Seit Anfang Dezember waren sie nun schon auf Einladung des Hotelwirts in diesem Hotel. Die Fotografin wohnte luxuriös in einem großen Gästezimmer mit Blick ins Tal, er selbst teilte sich ein Hinterzimmer mit einem der Köche, einem netten Kerl, mit dem er gut auskam. Zufrieden mit sich und seiner neuen Welt deckte Anton weiter die Tische fürs Abendessen ein – die Gabeln auf die linke Seite, die Messer und Löffel nach rechts. Wenn seine Mutter sehen würde, wie versiert er für jeden Gang das jeweilige Besteck platzierte, würde sie Augen machen, dachte er. Doch so schnell der Gedanke gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er weinte seinem Heimatort Laichingen und der Arbeit im elterlichen Gasthof keine Träne nach!

Als Mimi Reventlow Laichingen Ende November plötzlich verlassen hatte, hatte er sich ihr angeschlossen. Da er kein eigenes Ziel vor Augen gehabt hatte, war es ihm sehr recht gewesen, dass sie ihm erlaubte, sie hierher in den Schwarzwald zu begleiten.

Es war ein großer Auftrag: In der ersten Woche hatte Mimi Reventlow nur Aufnahmen vom Hotel gemacht, danach hatte sie den Weihnachtsbaum und die Gäste in Szene gesetzt und die große Weihnachtsfeier fotografisch dokumentiert. Zwischen den Jahren hatte sie dann mit den Skifahrer-Fotografien begonnen. Zum Jahreswechsel baute sie eine kleine Kulisse auf und machte Bilder mit lauter fröhlich dreinschauenden Menschen. Jeder Gast wollte von Mimi Reventlow abgelichtet werden, mehr als einmal war es dabei fast zu kleinen Streitereien darüber gekommen, wer wann an der Reihe war.

Dass Mimi Reventlow eine ganz besondere Frau war, hatte Anton schon bei ihrer ersten Begegnung erkannt, damals, als sie im vergangenen Jahr in seinem Heimatort auf der Schwäbischen Alb eintraf, um nach ihrem kranken Onkel zu sehen. Als sie dann auch noch seinem besten Freund Alexander zu einem Platz an der Stuttgarter Kunstschule verholfen hatte, war seine Bewunderung für sie noch weiter gewachsen. Auch bei den anderen Bewohnern von Laichingen war die Fotografin beliebt gewesen, aber die Wertschätzung, die man ihr hier entgegenbrachte, war doch etwas ganz anderes. Ob vom Hotelier Antonius Wimmer oder von den Gästen – Mimi wurde hofiert wie eine Berühmtheit. Und sie schien es sichtlich zu genießen …

Hier zu sein war wirklich ein Genuss, dachte Anton beschwingt, und sein Blick schweifte durch das Hotelrestaurant, in dem er seit ihrer Ankunft kellnerte. Die weiß gedeckten Tische, die schweren Kerzenständer aus echtem Silber, das Kristall, in dem Wein und Wasser ausgeschenkt wurden, die riesigen Servierplatten aus blütenweißem Porzellan – und hier roch es nicht nach altem Fett und Fleischbrühe, hier wehte der Duft der großen weiten Welt.

»Na, junger Mann – Sie verlieren sich wohl in Tagträumen!«

Anton zuckte zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass Antonius Wimmer in den Gastraum getreten war.

»Ich habe nur kurz die schöne Atmosphäre genossen«, sagte Anton verlegen. Seine Mutter hätte ihm ordentlich zugesetzt, wenn sie ihn beim Nichtstun erwischt hätte, ging es ihm durch den Sinn. In ihren Augen war er sowieso ein Faulpelz.

Antonius Wimmer hingegen schaute Anton wohlwollend an. »Also sind Sie nicht nur äußerst fleißig und zuverlässig, sondern es gefällt Ihnen hier oben auf dem Berg?«

»Sehr gut sogar«, sagte Anton. »Die Arbeit ist das reinste Vergnügen.« Nicht wie die Schinderei im Gasthof Ochsen zu Hause. Hier musste er keine schweren Bierfässer in den Keller hieven, der Boden wurde von einer Magd geputzt, das Geschirr von einer anderen gespült. Die Gäste mochten ihn und seine schlagfertige Art, und so bekam er von fast jedem ein gutes Trinkgeld zugesteckt.

»Es macht Spaß, ständig neue Gäste kennenzulernen«, fügte er hinzu. Von weit her kamen die Leute in den Schwarzwald, manche blieben für eine Woche im Hotel, andere nur für eine Brotzeit. Kaum betrat eine Gruppe Skifahrer oder Schneeschuhwanderer das Haus, hielt Anton seine Augen offen. Er sah täglich neue Gesichter, nur das eine war nicht dabei …

Der Hotelier klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Dass Sie uns im Weihnachtsgeschäft ausgeholfen haben, war ein wahrer Segen! Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten – wer rechnet schon damit, dass sich der Chefkellner beim Adventskegeln den Arm bricht?« Der Hotelier zuckte in gespielter Verzweiflung mit den Schultern.

Des einen Leid, des andern Freud, dachte Anton. Da war er wohl ausnahmsweise mal zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. »Ich freue mich, wenn ich ein wenig helfen konnte«, sagte er bescheiden.

»Ein wenig helfen – ohne Sie wären wir verloren gewesen! Und die Gäste mögen Sie, ich habe viele lobende Worte gehört, Herr Schaufler.«

Herr Schaufler – noch immer war Anton irritiert, wenn ihn jemand so ansprach. Mit seiner großen Statur, seinen breiten Schultern und seiner selbstbewussten Miene wirkte er zwar älter als neunzehn Jahre, dennoch hatte ihn bis zu seiner Abreise aus Laichingen noch nie jemand mit »Sie« angesprochen. Daheim war er immer nur der vorlaute Gastwirtsohn gewesen – dass auch er gewisse Qualitäten hatte, hatte keiner erkannt. Keiner, außer seinem Freund Alexander und Mimi Reventlow …

Einen Moment lang war Anton so in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht mitbekommen hatte, was der Hotelier sagte. Nur bei seinen letzten Worten horchte er auf.

»… so frag ich Sie jetzt frei heraus: Wollen Sie nicht bleiben und den Posten des Serveur Chef übernehmen?«

*

»Kannst du uns bitte erklären, was du dir dabei gedacht hast?« Mit unbeweglicher Miene und nur mühsam unterdrückter Wut zeigte Wilhelm Hahnemann, Direktor der Stuttgarter Kunstschule, auf die Staffelei neben sich.

Alexander stand mit gesenktem Kopf da. Er brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, um welches Bild es ging. Mehr noch, er fühlte das Aquarellgemälde – jeden Pinselstrich, jedes bisschen Farbe, das er auf die Leinwand aufgebracht hatte!

»Hat’s dir jetzt auch noch die Sprache verschlagen angesichts deiner unsäglichen Blasphemie?«, fuhr Gottlob Steinbeiß, der künstlerische Hauptlehrer der Kunstschule, ihn an, und sein Kaiser-Wilhelm-Bart bebte indigniert.

»Meine Herren, ich bitte Sie«, sagte Mylo, ebenfalls Lehrer der Kunstschule. »Alexander Schubert weiß doch noch nicht einmal, was unter dem Begriff Blasphemie zu verstehen ist. Er hat seine künstlerische Freiheit ausgelebt, mehr nicht!«

Alexander warf dem Kunstlehrer, der hauptberuflich Architekt war und den alle nur Mylo nannten, einen dankbaren Blick zu. Er wusste zwar nicht, warum, aber vom ersten Tag an hatte der Architekt ihn unterstützt. Normalerweise wog Mylos Wort viel im Kollegium der Kunstschule, doch heute schien sein Einsatz für seinen Zögling vergeblich zu sein.

»Die künstlerische Freiheit kann mir in dem Moment gestohlen bleiben, wenn unsere Kunstschule im Mittelpunkt eines kirchlichen Skandals steht. Und nichts weniger hat diese … diese Schmiererei hier ausgelöst!«, fuhr der Schuldirektor auf. »Das Kreuz ist das wichtigste Symbol des Christentums, der vertikale Balken symbolisiert die Beziehung Gottes zu den Menschen – wie kann man nur darauf verfallen, dieses Symbol der Liebe in eisigem Blau zu malen? Und als wäre das noch nicht genug, schmilzt das Eis und sammelt sich in einer riesigen Lache unterhalb des Kreuzes! Selbst wenn diese Lache das Blut Christi darstellen …«

Alexander schaute zum ersten Mal, seit er ins Büro des Direktors gerufen worden war, auf und rief, bevor er sich besinnen konnte: »Das ist nicht das Blut Christi!«

O Gott, warum hielt er nicht einfach den Mund?, dachte er im selben Moment. Er machte die Sache nur noch schlimmer, falls das überhaupt möglich war.

»Hättest du dann die Freundlichkeit, mich darüber aufzuklären, was sich der Herr Künstler sonst dabei gedacht hat? Du musst verzeihen, wenn unsereiner nicht gleich darauf kommt, was verstehen wir schon von der Kunst?«, sagte der Schuldirektor mit unverhohlenem Spott.

»Das Kreuz steht für die Kälte der Kirche den Menschen gegenüber«, flüsterte Alexander.

Gottlob Steinbeiß gab einen schrillen Laut von sich.

»Der Webersohn aus Laichingen ist ein verkappter Kirchenkritiker! Wer hätte das gedacht?« Kopfschüttelnd schaute er von Alexander zu dem Gemälde und wieder zurück. »Undank ist der Welten Lohn, sage ich da nur. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich jemals ein Stipendiat einen derartigen Affront geleistet hat.«

»Die Kälte der Kirche, aha«, wiederholte Wilhelm Hahnemann, ohne auf den Einwurf des künstlerischen Hauptlehrers einzugehen. Der Blick, den er Alexander zuwarf, war vernichtend. »Darf ich dich daran erinnern, dass diese ach so kalte Kirche unserer Schule sehr nahesteht? So nahe, dass sie uns jährlich mit einer großzügigen Summe unterstützt, damit wir … Leuten wie dir die bestmögliche Ausbildung bieten können?« Noch nie hatte sich das Wort »Leute« in Alexanders Ohren mehr wie ein Schimpfwort angehört.

Er biss sich auf die Unterlippe und rang um Worte, die ihn hätten entlasten können – vergeblich.

Sie hatten sich eines bekannten Symbols annehmen und es auf ungewöhnliche Art auf die Leinwand bringen sollen – diese Aufgabe hatte Gottlob Steinbeiß ihnen zwei Wochen vor Weihnachten gestellt. Die Schule wollte die Aquarellgemälde an einen Wohltätigkeitsverein weitergeben, der wiederum eine weihnachtliche Tombola veranstaltete, deren Erlös einem Kinderheim zugutekam.

Während seine Schulkameraden ein Herz, einen Stern oder die Sonne als Symbol gewählt hatten, war ihm spontan das Kreuz eingefallen. Und genauso spontan hatte er daran denken müssen, wie der Laichinger Pfarrer seiner Familie nach dem Tod seines Vaters selbst die kleinste Hilfe verwehrt hatte. Am Ende hatten alle im Dorf – die Nachbarn, Mimi Reventlow, sein Freund Anton – zusammengeholfen, um die Familie über die Runden zu bringen und ihm, Alexander, zu ermöglichen, das Stipendium an der Stuttgarter Kunstschule anzunehmen. Alle, außer dem Gottesmann … Mit diesem Gedanken im Hinterkopf hatte er sich an die Staffelei gestellt, danach war jeder Pinselstrich nur so aus ihm herausgeflossen. Zugegeben, ein bisschen verwegen war ihm das eisige Blau als Farbe für ein Kreuz auch vorgekommen, aber nie hätte er gedacht, dass er deswegen einen solchen Ärger bekommen würde! Gottlob Steinbeiß, in Gedanken wahrscheinlich schon in den wohlverdienten Weihnachtsferien, hatte die kleinen Aquarelle eingesammelt und, ohne sie vorher einer näheren Betrachtung zu unterziehen, an die Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins weitergegeben. Und die Dame hatte, glücklich über die vielen Gaben für ihre Tombola, sämtliche Bilder aufgestellt, wo sie am nächsten Tag die spendenfreudigen Gönner des Kinderheims zu Gesicht bekamen.

Wer am Ende sein eisiges Kreuz derart moniert hatte, wusste Alexander nicht, aber eins wusste er: Dieser Eklat hier bedeutete das Ende. Kunststudium adieu, und das nach nur drei Monaten. Wie er die Sache seiner Mutter, die wie eine Löwin gekämpft hatte, um ihm diese Chance zu ermöglichen, beibringen sollte, war ihm schleierhaft. Und was sollte er nur seinem Freund Anton im nächsten Brief schreiben? Anton hielt so große Stücke auf ihn …

Er wollte Mylo gerade einen letzten verzweifelten Blick zuwerfen, als der Kunstlehrer sich an seine Kollegen wandte. »Meine Herren, wir sollten das neue Jahr nicht mit vorschnellen Beschlüssen beginnen, immerhin geht es hier um den Lebensentwurf eines jungen Menschen. Lassen Sie uns nochmal in Ruhe konferieren, ehe wir Alexander unsere Entscheidung bekannt geben.«

Bevor Alexander wusste, wie ihm geschah, schob Mylo ihn sanft, aber bestimmt in Richtung Tür. »Ich tue für dich, was ich kann«, flüsterte er, und sein Atem verfing sich warm in Alexanders Haar.

2. Kapitel

Es war der vierte Januar 1912, und wieder einmal war der Tag der Abreise gekommen. Mimi schaute nachdenklich aus dem Fenster des Speisesaals. Über Nacht hatte es geschneit, der frische Schnee, noch unbefleckt vom Ruß der Kamine, glitzerte jungfräulich weiß. Von den neu angereisten Gästen wusste sie, dass unten im Tal ebenfalls viel Schnee lag. Würde womöglich ihr Zug nach Würzburg gar nicht fahren? Und wenn schon, dann blieb sie eben ein paar Tage in Freiburg! So schön es hier im Tonihof auch war, so konnte sie es doch kaum erwarten, wieder weiterzukommen – zumal mit dem Wissen, dass in Würzburg ein besonders interessanter Auftrag auf sie wartete.

Wie hieß es so schön? Neues Jahr, neues Glück! Lächelnd trank Mimi einen Schluck Kaffee. Sie war und blieb nun einmal eine Wanderfotografin. Von wegen Wurzeln schlagen! Ihr Zuhause fand sie in sich, ihre Wurzeln wollten nirgendwo anwachsen, auch in Laichingen nicht, obwohl sie das eine Zeitlang geglaubt hatte.

Wie jeden Morgen hatte sie sich eine der Tageszeitungen, die am Eingang des Speisesaals für die Gäste auslagen, mit an den Tisch genommen. Den heißen Kaffee genießend blätterte sie die Freiburger Zeitung durch, während sie auf Anton wartete. Der Wirt hatte sie gestern Abend gefragt, ob sie nicht an ihrem letzten Tag gemeinsam frühstücken wollten. Ein Frühstück lang könne er Anton gewiss entbehren, hatte Herr Wimmer noch lächelnd hinzugefügt. Was für ein netter Mann!, dachte Mimi nicht zum ersten Mal. Sie schlug gedankenverloren eine Seite um. Im nächsten Moment setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Düstere Zustände verbergen sich hinter der blütenweißen Kulisse der berühmten Laichinger Leinenweberei, stand in großen, fettgedruckten Lettern über einem fast seitenlangen Artikel. Unterhalb der drei Textspalten waren drei ihrer Fotografien abgedruckt. Wie um alles in der Welt kamen sie in die Freiburger Zeitung?

Die Fotografien gehörten zu einer Serie, die sie bei ihrem ersten Besuch in Herrmann Gehringers Weberei gemacht hatte, heimlich, ohne sein Wissen. Mimi erinnerte sich noch genau – sie hatte einen Termin bei dem Unternehmer gehabt, da sie den Großauftrag, den er ihr in Aussicht gestellt hatte, besprechen wollten. Doch in seinem Büro hatte sie Gehringer nicht angetroffen. Unsicher, ob sie dort auf ihn warten oder ihn suchen sollte, war sie schließlich durch die Gänge gelaufen und just in dem Moment in der Weberei angekommen, als einer der älteren Weber einen Unfall gehabt hatte. Das Schiffchen seines Webstuhls war aus der Halterung gesprungen und dem Mann direkt ins Auge geschossen. Fast wahnsinnig vor Schmerz war er auf dem Boden zusammengesackt, hatte beide Hände auf das tränende Auge gepresst … Während Hannes Merkle sich um den Mann gekümmert hatte, hatte sie – bis ins Mark erschüttert – die sichere Distanz gesucht, die ihr der Blick durch die Linse bescherte. Ohne darüber nachzudenken hatte sie fotografisch alles dokumentiert: den verletzten Weber, aber auch die eng stehenden Webstühle, die Staubflusen, die in der Luft tanzten, die müden Gesichter … Bis heute konnte sie nicht genau sagen, warum sie das getan hatte, es war instinktiv geschehen. Als sie die Fotografien entwickelt hatte, war sie über deren Grausamkeit und das Düstere so erschrocken, dass sie sie eilig in die Schublade vom Küchentisch gestopft und nicht mehr herausgeholt hatte. Kritische Fotografien waren unbestritten sehr wichtig, aber sie wollte den Menschen Schönheit schenken, dank ihrer Fotografien sollten sie ihren oft sehr anstrengenden Alltag für einen Moment vergessen können!

Erst kurz bevor sie Laichingen verließ, hatte sie sich an die Bilder erinnert und sie Johann bei ihrem letzten Gespräch wütend und enttäuscht in die Hand gedrückt. Sie sollten ihm als Gedankenstütze dienen, hatte sie zornig gesagt, damit er vor lauter Liebesgeschichten nicht seine eigentliche Aufgabe – den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen – vergaß.

Und nun las sie hier, dass es in Laichingen tatsächlich zu einem Arbeitskampf gekommen war. Und dass Johann ihre Fotografien für seine Zwecke verwendet hatte.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Leinenweberei sind Laichinger Weber in den Ausstand getreten. Angeführt von Gewerkschafter Johann Merkle kämpfen sie für bessere Arbeitsbedingungen, für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz und für eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit. Die Forderungen der Weber sind offenbar nicht unbegründet, zeigen uns doch die vorliegenden Fotografien auf sehr drastische Weise, wie schlecht die Arbeitsbedingungen der Weber zu sein scheinen …

Die vorliegenden Fotografien … Mit klopfendem Herzen suchte Mimi den Artikel nach ihrem Namen ab, doch sie wurde weder unter den Fotografien noch am Ende des Artikels genannt. Während sie noch überlegte, ob sie das gut oder schlecht fand, sah sie, dass Anton sich ihrem Tisch näherte. Wie die weiblichen Gäste ihm mehr oder weniger unverhohlen nachstarrten! Aber war es denn ein Wunder, so breitschultrig und gut aussehend, wie ihr junger Begleiter war?, dachte Mimi schmunzelnd, einen Moment lang aus ihren Gedanken gerissen.

Mit einem Plumps ließ er sich ihr gegenüber nieder. »Guten Morgen! Na, gut geschlafen in der letzten Nacht? Sie sind etwas blass um die Nase, wenn ich das sagen darf.«

Wortlos reichte sie ihm die Zeitung. Während er mit hochgezogenen Brauen den Artikel las, führte sie mit zitternder Hand ihre Kaffeetasse an den Mund. Doch die aromatische Würze war verflogen, der Kaffee schmeckte nur noch bitter.

»Sieh einmal an, hat unser Gewerkschafter Johann Merkle doch noch einen Aufstand auf die Beine gestellt«, sagte Anton, nachdem er zum Ende gekommen war.

Obwohl er Johanns Namen ironisch betonte, klopfte Mimis Herz eine Spur schneller, wie immer, wenn die Sprache auf ihn kam.

Anton tippte auf die Fotografien. »Wenn ich mich richtig erinnere, waren Sie an dem Tag des Unfalls in der Fabrik. Ich schätze mal, das sind dann Ihre Fotografien, nicht wahr?«

Mimi nickte stumm.

»Und wieso wird nirgendwo Ihr Name genannt? Wahrscheinlich hat der alte Haderlump Merkle gegenüber den Zeitungsleuten noch behauptet, die Fotos selbst geschossen zu haben!« Anton schnaubte. »Aber wer weiß, wofür es gut ist. Als Werbung kann man diese düsteren Bilder nicht gerade betrachten, womöglich wären sie mit Ihrem Namen versehen sogar geschäftsschädigend. Sie wollen den Menschen schließlich Schönheit schenken, nicht wahr?«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«, fragte Mimi heftig. »In deinem Heimatdorf herrscht der Ausnahmezustand, Gehringers Leute haben es gewagt, in einen Streik zu treten! Das ist ganz schön mutig. Hier geht es um die Menschen, mit denen du aufgewachsen bist!«

Anton nahm sich ungerührt ein Brötchen und schnitt es auf. »Na und? Natürlich finde ich es gut, dass die Weber sich nicht mehr alles gefallen lassen. Aber dass mir vor lauter Mitgefühl die Tränen kommen, kann ich nicht behaupten. Jeder ist schließlich seines eigenen Glückes Schmied!«

Während er sein Brötchen butterte, schwieg Mimi nachdenklich. Monatelang war sie Johanns Vertraute gewesen, er hatte sie in all seine Gedanken und Pläne eingeweiht. In ihrer Verliebtheit hatte sie allerdings nicht realisiert, dass es ihm nicht um sie als Frau gegangen war – oder zumindest nicht ernsthaft. Er hatte den intellektuellen Austausch mit ihr geschätzt, mehr nicht. Sie jedoch hatte an die große Liebe geglaubt … Wie naiv und dumm sie gewesen war.

»Was meinst du – soll ich nach Laichingen fahren? Vielleicht könnten die Menschen ein wenig Unterstützung von außen brauchen?«, sagte sie dennoch nach einem langen Moment des Schweigens.

Anton schaute sie entgeistert an. »Haben Sie etwa vergessen, wie Johann Sie abserviert hat? Und wie Ihre Freundin Eveline Sie hintergangen hat? Wie schamlos sie, als frisch gebackene Witwe obendrein, hinter Ihrem Rücken etwas mit Johann angefangen hat! Die Laichinger wussten Sie doch gar nicht zu schätzen, wie können Sie da nur auf den Gedanken kommen, den Leuten irgendetwas schuldig zu sein?«

Mimi runzelte die Stirn. Die Leute wussten sie nicht zu schätzen? Das mochte für den einen oder anderen zutreffen, aber sie hatte durchaus auch sehr intensive, zu Herzen gehende Erlebnisse in Laichingen gehabt. Wenn sie nur an ihre hilfsbereite Nachbarin Luise dachte! Oder an die gemeinschaftliche Hilfe für Evelines Sohn Alexander, um ihm den Besuch der Stuttgarter Kunstschule zu ermöglichen …

Anton schien ihre innere Zerrissenheit zu spüren. Stirnrunzelnd tippte er auf den Zeitungsartikel. »Ihre Fotografien sorgen für so viel Aufmerksamkeit, dass Gehringer wahrscheinlich am Ende gar nicht anders kann, als auf die Forderungen seiner Arbeiter einzugehen. So gesehen haben Sie die Leute mehr als genug unterstützt.« Mimi biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht hast du recht. War nur so eine Idee … Ehrlich gesagt, will ich gar nicht zurück nach Laichingen. Ich will reisen! Ich will als Gastfotografin in schönen Ateliers arbeiten, ich will den einen oder anderen Markt besuchen …« Resolut faltete sie die Zeitung zusammen und legte sie weg. Anton hatte recht – jeder war seines eigenen Glückes Schmied! Lächelnd hielt sie ihm den Brotkorb hin. »Nimm doch noch eins!«

Doch statt eins der frischen Brötchen zu ergreifen, schaute der Gastwirtsohn sie an.

»Herr Wimmer hat mir Arbeit angeboten. Er will mich als erste Servicekraft anstellen.« Er wies mit dem Kopf über ihre Schulter in Richtung Küche, aus der Antonius Wimmers Stimme zu hören war, der mit einem Lieferanten sprach.

Augenblicklich hellte sich Mimis Miene auf. »Das ist ja wunderbar! Gratulation! Aber wenn ich ehrlich bin, wundert es mich nicht – so versiert, wie du hier den Laden geschmissen hast.« Wie gut sich alles fügte, dachte sie frohgemut. Mit zurückgekehrtem Appetit griff sie nach einem Brötchen. »Anton auf dem Tonihof – das passt irgendwie.«

»Wer sagt denn, dass ich hierbleibe? Ich habe für den Rest meines Lebens genug gekellnert, jetzt möchte ich die Welt kennenlernen! Und …« – er biss sich auf die Unterlippe – »ich möchte Christel suchen.«

Wie gequält er auf einmal aussah! »Das kann ich gut verstehen«, sagte Mimi leise. »Auch ich muss oft an Christel denken. Nicht zu wissen, was aus ihr geworden ist, ist unerträglich.«

Christel Merkle war Antons Freundin gewesen, seine große Liebe. Doch von einem Tag auf den andern war sie spurlos verschwunden. Tage-, nein wochenlang hatten Suchtrupps das ganze Dorf und die Umgebung nach Christel durchkämmt – vergeblich. War sie aus Laichingen weggelaufen? Hatte sie einen tödlichen Unfall gehabt? War sie gar entführt worden? Auf diese quälenden Fragen gab es keine Antworten.

Antons Miene verdüsterte sich einen Moment lang. Doch als er zu sprechen anhob, klang er wieder ganz normal. »Alexander will ich auch in Stuttgart besuchen, schon aus diesem Grund kann ich nicht im Schwarzwald bleiben. Es ist nun schon Wochen her, dass er etwas von sich hat hören lassen, nicht mal zu Weihnachten hat er geschrieben! Das gefällt mir nicht. Ich muss wissen, ob es ihm gut geht.«

Mimi schwieg betroffen. Tief drinnen hatte Anton die Menschen, die seinem Herzen nahstanden, keinesfalls vergessen. Und ihr war vorhin nichts anderes eingefallen, als ihn wegen seiner vermeintlich kühlen Reaktion auf den Weberaufstand so anzublaffen!

»Und deshalb, liebe Frau Reventlow, wollte ich Sie fragen, ob ich nicht weiter mit Ihnen reisen kann. Wir zwei sind ein gutes Gespann, finden Sie nicht?«

Mimi, schlagartig aus ihren Gedanken gerissen, schaute ihn entgeistert an. »Wie stellst du dir das vor? Nicht überall wird sich so eine gute Chance zum Arbeiten für dich ergeben wie hier. Und ich kann keinesfalls für zwei das Geld erwirtschaften.«

»Wo denken Sie hin, nie und nimmer würde ich das wollen!«, erwiderte Anton entsetzt. »Das Gegenteil wäre der Fall, ich würde Ihnen sogar helfen.«

»Bisher habe ich alles ganz gut allein geschafft. Und einen männlichen Beschützer brauche ich auch nicht«, sagte Mimi ein wenig kratzbürstig. Eigentlich schade, dachte sie im selben Moment. Es hatte Spaß gemacht, mit Anton unterwegs zu sein. Obwohl sie bei ihrem Aufbruch alles andere als frohen Mutes gewesen war, hatten sie dennoch viel zu lachen gehabt. Anton hatte es sich nie nehmen lassen, das ganze Gepäck zu tragen, und als in Rottenburg kein Fremdenzimmer zu bekommen war, weil die Diözese gerade einen größeren Kongress abhielt, hatte Anton in einem der Nachbarorte zwei Kammern aufgetrieben. Schon in Laichingen, als sie ihren Onkel gepflegt hatte, war er mehr als einmal ihr Retter in der Not gewesen, dachte sie jetzt.

»So, wie Sie sich in den letzten Wochen jeden Ihrer Verehrer vom Leib gehalten haben, besteht für mich kein Zweifel, dass Sie sehr gut allein zurechtkommen. Nein, dafür brauchen Sie mich wirklich nicht«, sagte Anton mit einem verschmitzten Grinsen. »Ich habe eine ganz andere Idee …«

»Aha«, erwiderte sie spröde und lehnte sich instinktiv ein wenig zurück. Es hatte ihr noch nie gefallen, wenn andere über sie verfügen wollten.

Anton, bemüht, die Distanz zwischen ihnen wieder zu verringern, beugte sich ihr über den Frühstückstisch entgegen. »Wissen Sie, was mir unheimlich viel Spaß machen würde?«

Mimi schüttelte den Kopf.

»Ich würde gern Markthändler werden!«

»Aber dafür brauchst du mich doch nicht«, sagte sie stirnrunzelnd. Dass Anton einen guten Verkäufer abgeben würde, daran zweifelte sie nicht. Er war fleißig und scheute auch harte Arbeit nicht, und, was genauso wichtig war: Er konnte gut mit Menschen umgehen, seine forsche, sympathische Art kam an.

»Jetzt hören Sie mir doch erst mal zu«, sagte er. »Also, ich habe mir das so gedacht: Ich reise mit Ihnen immer dahin, wo Sie in ein Fotoatelier, in ein Hotel oder von einem Bürgermeister eingeladen werden. Im Vorfeld Ihres Auftrags machen Sie jedoch privat ein paar schöne Aufnahmen des Ortes. Sie haben den Blick fürs Außergewöhnliche! Und dass Sie eine Meisterin darin sind, alles und jeden ins rechte Licht zu setzen, habe ich inzwischen zu Genüge mitbekommen.«

Wie konnte ein so junger Mann ein solcher Charmeur sein?, dachte Mimi schmunzelnd. Noch immer war ihr nicht klar, worauf Anton eigentlich hinauswollte. Auffordernd nickte sie ihm zu. »Und?«

Anton lächelte. Er schien sichtlich zu genießen, dass er sie wie einen Fisch an der Angel hatte. Doch im nächsten Moment erlöste er sie. »Um es kurz zu machen – ich würde gern von Ihren Fotografien Postkarten drucken lassen und diese dann auf den Märkten verkaufen! Warum sollen nur die ansässigen Touristengeschäfte und Hotels mit den schönen Ansichten ihres Ortes den großen Reibach machen? Das können die noch lange genug, wenn wir wieder weg sind. Märkte gibt es zu jeder Zeit und fast überall, es kann höchstens sein, dass ich mal ein paar Dörfer weiter reisen muss als Sie. Ein oder zwei Postkarten kann sich jeder leisten! Und wenn ich daran denke, wie die Leute daheim Ihnen Ihre ›Laichinger Ansichten‹ aus den Händen gerissen haben, lässt mich das auf ein gutes Geschäft hoffen. Den Umsatz teilen wir uns dann nach Abzug meiner Kosten, das würde Ihnen ein gutes Zubrot sichern. Und sollte mein Plan aus irgendwelchen Gründen doch nicht aufgehen oder einer von uns beiden keine Lust mehr darauf haben, können wir uns immer noch trennen. Aber ich bin sehr zuversichtlich!«

Mimi war sprachlos. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit einem so ausgeklügelten Plan. Wo war der Haken an der Geschichte?, fragte sie sich und fand doch keinen.

Während sie noch überlegte, was sie Anton antworten sollte, sprang er auf und rannte zu der Theke, von der er in den letzten Wochen so viele Teller mit Speisen abgeholt und an die Tische der Gäste gebracht hatte. Doch als er nun zurückkam, hatte er kein Wiener Schnitzel und auch keine Suppe dabei, sondern zwei Gläser Sekt.

Fröhlich reichte er Mimi eins davon, schaute sie an und sagte: »Liebe Mimi, was meinen Sie – sollen wir es wagen?«

Einen Moment lang fühlte Mimi sich um sieben Jahre zurückversetzt. Damals in Esslingen, als sie von Heinrich einen Heiratsantrag bekommen hatte, hatte dieser sie genauso eindringlich angeschaut. Doch während sie einst gezögert hatte und am Ende sogar davongerannt war, ohne eine Antwort zu geben, sagte sie nun: »Ja!« Und das kleine Wort kam aus ihrem Bauch und ihrem Herzen zugleich.

Anton hob sein Glas und prostete ihr mit einem erleichterten Strahlen zu. »Auf uns! Auf das neue Jahr! Es wird bestimmt wunderbar.«

Lachend stieß Mimi mit ihm an.

Anton räusperte sich. »Da wäre nur noch eine Kleinigkeit.«

»Ja?«, sagte Mimi erwartungsvoll.

»Könnten Sie mir vielleicht ein wenig Geld leihen, als Startkapital sozusagen?«