Cover

Das Buch

Dreißig Jahre nach dem Tod ihrer Mutter bricht für die Tierärztin Kris Barlow erneut die Welt zusammen: Ihr Mann stirbt bei einem Autounfall. Geschockt beschließt Kris, sich zusammen mit ihrer kleinen Tochter Sadie in das alte Ferienhaus ihrer Familie am Lost Lake, nahe Pacington, zurückzuziehen. Doch der Ort hat sich verändert, die Einwohner sind Fremden gegenüber misstrauisch geworden, denn im Laufe der letzten Jahre verschwanden mehrere Mädchen spurlos. Zunächst schenkt Kris den Warnungen der Leute keine Beachtung, aber dann ereignen sich seltsame Dinge in ihrem Haus. Als auch Sadie beginnt, sich zunehmend merkwürdiger – und unheimlicher – zu verhalten, wird Kris klar, dass sie sich den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss, wenn sie das Leben ihrer Tochter retten will …

Der Autor

Scott Thomas hat an der University of Kansas Englisch und Film studiert. Er ist Co-Creator und Produzent von Disney Channel’s Best Friends Whenever und Disney XD’s Randy Cunningham: 9th Grade Ninja und hat Fernsehfilme und Teleplays für verschiedene Netzwerke wie MTV und VH1 geschrieben. Scott Thomas lebt mit seiner Familie in Sherman Oaks, Kalifornien. Sein Debütroman Kill Creek ist im Heyne Verlag erschienen.

SCOTT THOMAS

VIOLET

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Kristof Kurz und Stefanie Adam

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

VIOLET

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Deutsche Erstausgabe 07/2021

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2019 by Scott Thomas

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,
unter Verwendung einer Illustration von Lauren Harms

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-24677-8
V001

www.heyne.de

Für Kim

Für Aubrey und Cleo

Und für meinen Vater

»Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern.«

– Mengzi

»Sorrow’s child sits by the water

Sorrow’s child your arms enfold her

Sorrow’s child you’re loathe to befriend her

Sorrow’s child but in sorrow surrender

And just when it seems as though

All your tears were at an end

Sorrow’s child lifts up her hand

And she brings it down again«

– Nick Cave & the Bad Seeds,
»Sorrow’s Child«

PROLOG

UNTER DEM FLUSS

Sie wusste so gut wie nichts über die Geschichte dieser Stadt.

Sie wusste nicht, dass diese Stadt einst kaum mehr als eine Wunde in den mit Wilder Mohrenhirse, Bisamdisteln und Seidenpflanzen bewachsenen Gypsum Hills gewesen war. Zu jener Zeit wand sich der Verdigris River wie eine schlammige braune Schlange durch das Tal, und seine Ufer waren mit hohem, dichtem Unkraut bewachsen. Die Kiowa nannten die Gegend p’oiye tsape t’on, was »verstecktes Wasser« bedeutet, da sich der Fluss einem Betrachter auf den steilen Hügeln ringsum durch keine Spiegelung des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche verriet. Und es gab auch keinen Grund, in das undurchdringliche Dickicht hinabzusteigen, denn dort lockten weder jagdbares Wild noch essbare Pflanzen.

Die Stadt war plötzlich da, eine Ansammlung einfacher Hütten entlang einer unbefestigten Straße, die man mitten durch die Wildnis geschlagen hatte. An einem Ende des Tals öffneten sich die Gypsum Hills wie steinerne Vorhänge gerade so weit, dass die Straße durch den Spalt passte. Am anderen Ende verlief der Weg entlang des sich um die Felsen windenden Flusslaufs und bog dann abrupt – gerade so, als wolle er die Flucht aus dem seltsamen Tal ergreifen – nach Norden ab, schnurstracks in die Weite der Prärie von Kansas.

Sie wusste nicht, dass der Name der Stadt, Pacington, eine Verfälschung der längst vergessenen Kiowa-Bezeichnung dieser Gegend darstellte. Als die ersten Geschäfte entlang der Center Street eröffneten, waren die amerikanischen Ureinwohner von Southeast Kansas schon lange nach Oklahoma »umgesiedelt« worden. Als immer mehr weiße Siedler in das Flusstal kamen, verschwand die Erinnerung an die Menschen, die vor ihnen hier gelebt hatten. Und schließlich verleibte sich die Stadt Pacington auch das Ufer des Verdigris mit seinem wild wuchernden Dickicht ein.

Sie konnte sich noch vage an die Erzählungen ihres Vaters erinnern: Eines Tages war ein Ingenieurstrupp vom United States Army Corps of Engineers gekommen, um vor den Toren der Stadt einen Stausee anzulegen, der das Ackerland entlang des Flusses vor Überschwemmungen schützen sollte. Am zweiten Tag der Arbeiten brachen die Männer zu einem Hohlraum unterhalb des Flussbetts durch, aus dem Wasser schoss, das vor Äonen dort unter den Erdschichten begraben worden war. Dieses Wasser vermischte sich mit dem trägen Strom des Verdigris und ließ den Fluss über die Ufer treten, sodass er das Land bis tief in die umgebenden Wälder hinein überschwemmte. In nur wenigen Minuten entstand ein See, der sich so schnell füllte, dass den Arbeitern kaum Zeit blieb, sich und ihre Maschinen in Sicherheit zu bringen. Zwei Männer starben. Sie wurden hinunter in den uralten Schlund am Grund des Sees gezogen, der so tief war, dass er auch einen fünfzehn Meter hohen Kran mit Leichtigkeit verschlang. Der Kran konnte geborgen werden, aber die Leichen der Männer blieben verschwunden. Manche glaubten, dass sie dort im dunklen Abgrund unterhalb des Sees immer weiter in die grenzenlosen Tiefen der Erde hinabsanken.

Die unglücklichen Besitzer der Grundstücke entlang der Lower Basin Road bekamen eine angemessene staatliche Entschädigung. Nur noch die Spitze eines einzigen Hausdaches ragte weiterhin aus den Fluten des Sees und erinnerte sie an ihren Verlust. Für den geplanten Stausee fand man weiter südlich, in der Nähe der Stadt Oologah in Oklahoma, einen besseren Platz. Der Ingenieurstrupp zog mitsamt seinem verletzten Stolz ab, der zufällig entstandene See blieb.

An nur einem einzigen Tag war aus einer Stadt am Fluss eine Stadt am See geworden. Und für eine Weile schien dieses fehlgeschlagene Regierungsprojekt Pacington sogar eine Glückssträhne zu bescheren. Das Wasser des bald als »Lost Lake« bekannten Sees neben den roten Gypsum Hills war außergewöhnlich sauber und glasklar. Pacington wurde zu einem beliebten Naherholungsort für alle, die der brütenden Sommerhitze in Southeast Kansas und dem nördlichen Oklahoma entkommen wollten. Pacington war der ideale Ort, um Ruhe und Frieden zu finden.

Das klare Wasser des Sees bildete an seinem Zu- und Ablauf einen beeindruckenden Kontrast zum Braungrün des Verdigris River. Dieses Phänomen ließ sich eigentlich leicht erklären: Der Grund des Sees bestand aus einem Krater aus Granitgestein, das heller war als der Boden des schlammigen Verdigris. Dennoch hielten viele den Lost Lake für ein Naturwunder, einige sogar für etwas Übernatürliches.

Sie hatte die glitzernden Wellen des Sees zum ersten Mal 1982 im Alter von fünf Jahren gesehen. Damals genoss Pacington schon seit über zwei Jahrzehnten einen Ruf als malerischer Erholungsort. In dem Pacington ihrer Erinnerung schlief man morgens aus und ging nachmittags wandern, angeln oder rudern. Abends tauchte der Sonnenuntergang den Himmel über den Hügeln in ein fantastisches Rosa, und ihr Vater grillte Forellenbarsche über einem Haufen glühender Kohlen. Nachts konnte sie den Wald riechen und in einen sich unendlich ausbreitenden Sternenhimmel blicken. In dem Pacington ihrer Erinnerung, wo Seen plötzlich aus dem Untergrund aufstiegen, schien ihr nichts unmöglich. Pacington war ein Ort der Schöpfung.

Doch gab es vieles, was sie nicht wusste. Sie wusste nicht, dass unter der sonnengebräunten Haut ihrer Mutter etwas Dunkles, Böses wuchs. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern schon vor einem Jahr davon erfahren hatten und dies der Grund für den Kauf des Sommerhauses an den idyllischen Ufern des Lost Lake gewesen war. Sie wusste nicht, dass ihre Mutter während der folgenden Sommer immer kränker wurde und sie jeder Tag hier dem Ende näher brachte. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern sich jeden Abend, nachdem sie sie ins Bett gebracht hatten, weinend in den Armen lagen. Oder dass sie sich eines Nachts aus dem Haus schlichen, um sich am Seeufer zu lieben.

Sie wusste nichts von den unaussprechlichen Dingen, die geschehen waren, nachdem sie Pacington verlassen hatte. Nichts von dem Schatten, der über die Stadt fiel, nichts von dem Schmerz und der Angst, die sich wie stachelige, giftige Ranken durch den kleinen Ort wanden.

Und vielleicht war das auch gut so. Vielleicht war es besser, sein Leben in glücklicher Ahnungslosigkeit zu verbringen.

Doch das bedeutete nicht, dass es jene unaussprechlichen Dinge nicht gab. Sie lauerten im Verborgenen und suchten wie jenes unterirdische Wasser nach einem Weg an die Oberfläche.

ERSTER TEIL

THERE IS A LIGHT THAT NEVER GOES OUT

1

Der graue Streifen der Straße durchschnitt die Schwärze der Nacht. Jenseits der Scheinwerferkegel erhellte nur das spärliche Mondlicht die Landschaft. Sie stellte sich vor, wie die Straße ohne Vorwarnung endete und sie mit dem Auto in eine endlose Leere stürzte, immer tiefer, bis ihre Schreie in der Dunkelheit verhallten.

Eine dumme, kindische Vorstellung, aber das Leben, das sie so krampfhaft zusammenzuhalten versucht hatte, lag nun endgültig in Scherben. Und so fuhr sie weiter, den Blick immer auf den Punkt gerichtet, an dem die Scheinwerferkegel endeten und die Welt nur noch aus Schatten bestand.

Kris Barlow betrachtete sich im Rückspiegel und hatte das Gefühl, von einer Fremden angestarrt zu werden. Das sanfte Licht der Armaturenbeleuchtung ließ ihre leichten Krähenfüße tiefer erscheinen, und ihr eigentlich makelloser weißer Teint war unter den vielen Sommersprossen kaum zu erkennen. Hätte ihre Mutter sie in ihrer Kindheit doch bloß so nachdrücklich dazu angehalten, ihre Haut mit Sonnencreme zu schützen, wie sie es bei ihrer eigenen Tochter tat. Aber das waren andere Zeiten gewesen, heute gängige Begriffe wie »Lichtschutzfaktor« oder »Sonnentyp« hatten damals noch gar nicht existiert. Sie erinnerte sich an die seltsame Genugtuung, die sie beim Abpulen von möglichst großen Fetzen durchsichtiger, toter Haut empfunden hatte. Einmal war es ihr gelungen, ein Stück so groß wie ihre Handfläche unversehrt abzulösen. Sie hatte es vorsichtig an ihre rechte Wange gehalten, sich damit im Badezimmerspiegel betrachtet und sich wie eine Eidechse gefühlt, unter deren abgestoßener alter Haut die neue zum Vorschein kam.

Kris starrte ihr Gesicht im Rückspiegel an. Wann war sie zu dieser Person geworden? Wenn sie nach der Lebensspanne ihres Vaters ging, der mit zweiundachtzig Jahren gestorben war, hatte sie ihre Lebenshälfte erreicht. Wenn sie nach ihrer Mutter ging, war sie demnächst fällig.

Auf dem Rücksitz bewegte sich etwas.

Kris drehte den Rückspiegel so, dass sie Sadies blasse, gegen das Seitenfenster gelehnte Gestalt sehen konnte. Der Sicherheitsgurt hielt sie aufrecht, ihr Kopf hing schlaff herab, und das Kinn war auf ihre Brust gesunken. Rote Locken fielen über ihre geschlossenen Augen. Auf dem Sitz neben ihr lagen ein Laptop und ein iPad, beides hatte sie seit der Abreise nicht angerührt.

Das bin ich – vor ungefähr tausend Jahren. Kris sah ihren Vater vor sich, wie er am Steuer saß, die Hände sorgfältig in der vorschriftsmäßigen Viertel-vor-drei-Stellung am Lenkrad, während ihre Mutter im schwachen Licht einer Taschenlampe las.

Damals waren sie immer erst aufgebrochen, wenn ihr Vater von der Arbeit kam. Die Fahrt dauerte keine zwei Stunden, es machte also nichts, erst gegen sieben oder acht Uhr abends von ihrem Zuhause in Blantonville loszufahren. Wenn sie hörte, wie ihr Vater die Wohnungstür aufschloss, sprang die kleine Krissy von ihrem Sitzsack vor dem Fernseher im Wohnzimmer auf und rannte los, um ihn zu umarmen. Ihr Vater stand dann noch im Anzug vor ihr, die Hosen mit perfekt gebügelten Bundfalten, dazu ein glatter, brauner Ledergürtel, ein gestärktes Hemd und eine breite, gestreifte Krawatte. Als Kind hatte Kris nie so ganz verstanden, womit ihr Vater ihren Lebensunterhalt verdiente.

»Ich verkaufe Versicherungen«, hatte er ihr mehr als einmal erklärt. »Das ist ungefähr so, als wenn man jemandem verspricht, dass man für ihn da ist, wenn etwas schiefgeht.«

Heute kannte sie die Wahrheit: Versicherungen bedeuteten stundenlange Telefonate und stapelweise Papierkram. Sie bedeuteten, dass man sich mit einem Unternehmen auseinandersetzen musste, das immerwährend auf der Suche nach jedem noch so kleinen Schlupfloch war, um nicht zahlen zu müssen, was es einem einmal versprochen hatte. Es bedeutete monate-, manchmal jahrelanges Warten, bevor man sein Geld sah – falls man überhaupt jemals etwas bekam.

Kris kannte Menschen, die für einen da waren, wenn mal etwas schiefging. Menschen, die für Versicherungen arbeiteten, gehörten nicht dazu.

Nicht, dass sie diese Hilfe in Anspruch hatte nehmen wollen. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Nachbarn mit noch warmen Auflaufformen in den Händen bei ihr klingelten – gerade so, als ob Kartoffelgratin einen geliebten Menschen wieder auferstehen lassen könnte. Sie hatte auch nicht gewollt, dass die Eltern von Sadies Mitschülern kamen, Menschen, die sich heimlich an der Zerstörung des Glücks anderer erfreuten, weil ihnen ihr eigenes mickriges Leben dann weniger elend vorkam. Und auch nicht, dass ihre Verwandten kamen. Jene Verwandten, die ihren Mann auf ein Podest gestellt und ihr eingeredet hatten, dass sie nicht gut genug für ihn sei.

Keiner von ihnen war dabei gewesen, als die Polizei sie mitten in der Nacht angerufen hatte. Keiner hatte die kalte Panik erlebt, die sich breitmacht, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben gerade durch einen einzigen Anruf auf dem Handy in tausend Scherben zerbrochen ist.

Sie hatte all das erleben müssen. Sie war von der unheimlichen Sterilität im Lake County Coroner’s Office in Black Ridge in Colorado empfangen worden. Der Empfangsbereich sah aus wie die Rezeption eines Motels. Eine Plastikpflanze, deren verknitterte Blätter mit Staub bedeckt waren, stand in der Ecke neben einem Holzstuhl, der fehl am Platz wirkte und aus dessen Sitzkissen an den Ecken bereits die weiße Füllung hervorquoll. Auf dem Beistelltisch lag eine Sammlung x-beliebiger Mode- und Outdoormagazine – als ob irgendwer, der hierherkam, um einen Toten zu identifizieren, Lust hatte, eine sechs Monate alte Ausgabe von Guns & Ammo durchzublättern. Die Wände waren im Laufe der Zeit vergilbt, als hätten der medizinische Gestank der Einbalsamierungschemikalien und die Angst, die die Besucher dieser Räumlichkeiten verströmten, ihre Spuren darauf hinterlassen.

Das ist das Wartezimmer, dachte sie. Die Vorhölle.

Niemand hatte sie in Empfang genommen. Nicht der Beamte, der sie um drei Uhr morgens angerufen hatte, als Jonah eigentlich schnarchend neben ihr hätte liegen sollen. Auch nicht der Mitarbeiter, der die Tür zum Leichenschauhaus für sie unverschlossen gelassen hatte. Das einzige Geräusch war das leise Rasseln der Klimaanlage. Aus einem angrenzenden Raum drang der aufdringliche Geruch von Chemikalien und rohem Fleisch.

Kris blinzelte und sah wieder den Highway vor sich.

Sie hörte das eintönige Summen der Reifen auf dem Asphalt, Hunderte Meilen rauer, unebener Straßenoberfläche, die winzige Stückchen Gummi von den Reifen abpellten, wie sonnenverbrannte, tote Haut.

Einen Musiksender zu suchen hatte wenig Sinn. Nachts und mitten in der Prärie würde sie nur die Wahl zwischen weißem Rauschen und den Hasstiraden irgendwelcher Höllenprediger haben.

Sie tastete sich am Ladekabel bis zu ihrem Handy entlang. Ihr Finger ruhte einen Moment auf dem Homebutton, während sie mit dem Gedanken spielte, sich irgendetwas auf Spotify oder Audible anzuhören, um die Stille zu vertreiben.

Hinter ihr wimmerte Sadie leise im Schlaf.

Kris sah kurz über die Schulter zu ihr. Sadie hatte sich bewegt, ihre Augen waren jedoch noch immer geschlossen, der Kopf hing nach unten, und die roten Locken fielen über ihr Gesicht.

Kris ließ das Telefon aus ihrer Hand gleiten.

Weck sie bloß nicht auf. Lass sie schlafen. In ein paar Stunden sind wir da.

In weiter Entfernung sah sie die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs, zwei stecknadelgroße, schwebende Lichter, wie die eines Tieres, das in der Nacht herumschlich.

Ein Waschbär.

Oder ein Fuchs.

Fox.

So hatte er geheißen.

Howard Fox.

Der Name prangte in schwungvoller Schreibschrift in großen Buchstaben mitten auf einem sehr offiziell aussehenden Schriftstück mit Goldprägung und einem dicken, schimmernden blauen Rand:

DIE VEREINIGUNG DER GERICHTSMEDIZINER VON COLORADO BESTÄTIGT HIERMIT, DASS

HOWARD FOX

DIE BEFÄHIGUNG ZUR LEICHENSCHAU ERWORBEN HAT

Die Formulierung ließ sie schaudern. »Leichenschau«.

Als sich plötzlich eine Tür öffnete, fuhr sie erst erschrocken hoch, dann erstarrte sie.

Wie die Körper im Nebenraum. Wie Jonahs Körper.

Ein unauffälliger, leicht dicklicher Mann mit einer runden Drahtgestellbrille stand in der Tür. Vermutlich begrüßte er jeden seiner verzweifelten, völlig neben sich stehenden Besucher gewohnheitsmäßig mit diesem mitfühlenden leichten Lächeln.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Howard Fox. Seine Stimme klang seltsam dünn, als ob er beständig kurz davor stünde, zu niesen. »Ich hatte noch gar nicht mit Ihnen gerechnet. Ich dachte, Sie kämen von weiter weg – sonst hätte ich Sie natürlich in Empfang genommen.«

»Ich wohne …« Kris versagte die Stimme. Sie schluckte und setzte neu an. »Ich wohne hier in der Stadt. Ich kenne dieses Gebäude von außen, aber drinnen war ich noch nie …«

»Dazu hatten Sie ja auch gar keinen Grund«, antwortete Howard und runzelte dabei mechanisch die Augenbrauen in dem Versuch, sie mitleidig anzuschauen. »Bitte, folgen Sie mir, wenn Sie bereit sind.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand wieder in der geöffneten Tür. Vielleicht wusste er, dass es besser war, Kris keine Wahl zu lassen – sie wäre wie angewurzelt stehen geblieben und nicht imstande gewesen, auch nur einen Fuß in diesen Raum zu setzen.

Sie wäre nicht imstande gewesen, Jonah anzusehen.

Nein, nicht Jonah. Das Ding, das einmal Jonah gewesen war. Die entstellte Hülle, die er zurückgelassen hatte.

Stattdessen ging sie einen Schritt vorwärts, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Und dann noch einen. Und noch einen.

Kalte Luft strömte ihr entgegen, sie zitterte und spürte, wie sich an ihrem ganzen Körper Gänsehaut ausbreitete.

Howard stand zu ihrer Linken und wartete, bis sie ein paar Schritte in den Raum hineingegangen war. Dann schloss er die Tür mit einem dumpfen Geräusch, das leise von den harten, kalten Oberflächen widerhallte. Dies war kein Ort für die Lebenden. Hier wurden Körper seziert, Brustkörbe aufgebrochen und Organe gewogen wie Gemüse im Supermarkt.

Auf Metallregalen waren Plastikbehältnisse mit Instrumenten in neonblauen und -gelben Flüssigkeiten aufgereiht. Entlang der anderen Wände standen Schränke aus glänzendem Edelstahl. Eine riesige LED-Leuchte hing an einem Klapparm von der Decke wie das starre, kalte Auge einer fremdartigen Kreatur und warf einen grellen Lichtkegel auf das schwarze Plastiktuch, unter dem vage eine menschliche Form erkennbar war.

»Ich weiß, das ist nicht leicht.« Howard stellte sich hinter sie.

Kris zuckte zusammen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie nicht alleine war.

»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen …«

»Ich will ihn sehen«, schnitt ihm Kris das Wort ab.

»Sind Sie sicher?«

»Ich möchte nicht lange darüber nachdenken, sondern es einfach hinter mich bringen.«

Howard nickte. »Natürlich.«

Die Gummisohlen von Howards strahlend weißen Nikes quietschten auf dem blitzsauberen Fliesenboden, als er zum Seziertisch hinüberging. Er griff mit beiden Händen nach dem Plastiktuch. Kris sah, wie sich die Härchen auf seinen Fingerknöcheln wie in einer sanften Brise leicht bewegten. Irgendwo in der Nähe war das Surren eines Abzugs zu hören, der die Luft wieder aus dem Raum hinaus in den vermutlich bereits vom ersten Morgenrot leicht violett gefärbten Himmel blies.

Aber die Welt außerhalb dieses kalten, sterilen Raums lag für Kris gerade in unerreichbarer Ferne.

Howard zog das Plastiktuch weg, trat einen großen Schritt zur Seite und faltete die Hände vor dem Körper.

»Wann immer Sie bereit sind.«

Kris’ Beine hatten sich schon in Bewegung gesetzt, als ihr Verstand begriff und sie aufzuhalten versuchte. Warte …

Sie machte ein paar Schritte, noch bevor ihr Hirn etwas dagegen unternehmen konnte. Dann hatte sie den Seziertisch erreicht und stieß mit der Hüfte dagegen.

Es dauerte einen Moment, bis ihr Verstand die Form, die sie vor sich sah, einordnen konnte. Alle vertrauten Merkmale eines Gesichts fehlten. Dort, wo normalerweise die Wangenknochen waren, klaffte ein tiefer Krater, der sich quer über die Stelle zog, an der sich eigentlich die Nase befinden sollte. Etwas hatte das ganze Gesicht eingedrückt.

Das Lenkrad.

»Der Airbag wurde nicht ausgelöst«, erklärte Howard, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wissen Sie, Sie könnten vermutlich den Autohersteller verklagen, falls Sie …« Er brach ab. Vielleicht war ihm gerade klar geworden, dass dies nicht der richtige Moment war, um mögliche Schadensersatzforderungen zu erörtern.

Jonahs Mund unterhalb der zerschmetterten Nase war geschlossen, trotzdem konnte sie die obere Zahnreihe sehen. Einen Sekundenbruchteil lang war ihr Verstand nicht in der Lage, diese beiden sich gegenseitig ausschließenden Bilder, die sie gleichzeitig wahrnahm, zu einem einzigen brauchbaren zu vereinen.

Dann wurde ihr klar, was sie sah. Durch den Aufprall waren Jonahs Zähne nach oben geknickt und durch die Haut über seiner Oberlippe gedrungen, sodass sie nun in einem senkrechten Winkel vom Gesicht abstanden. Er sah aus, als ob er seinen eigenen Mund aß.

Eine Spur aus dickem, dunklem Blut lief an der Seite des Gesichts bis zum Seziertisch hinunter. Kris’ Blick folgte der Linie wie einem Fluss auf einer Landkarte, vorbei an einem zerfetzten Stück Fleisch, das mit etwas Fantasie als Ohr erkennbar war, bis hin zu seiner Quelle: einem nassen, verfilzten Klumpen aus braunem Haar oberhalb der Schläfe.

Im Neonlicht funkelten Diamanten in seinem seegrasähnlichen Haar.

Keine Diamanten. Glas.

Winzige, runde Scherben des Sicherheitsglases, die in seiner Kopfhaut steckten.

Die gesamte rechte Kopfhälfte war plattgedrückt wie bei einer Zeichentrickfigur, der man mit der Pfanne eins übergebraten hatte. Der ehemals robuste Schädel war nur noch blutiger Matsch. Sie hätte ihre Finger in die rote Pampe hineinbohren und bis zur schwammigen grauen Hirnmasse graben können.

Die ersten Anzeichen des Alterns waren bei Jonah bereits zu sehen gewesen. Sein ehemals durchtrainierter Körper war an einigen Stellen schlaff geworden, sein Gesicht vom Alkohol aufgedunsen, und wenn er sich eine Woche lang nicht rasierte, hatten sich silberne Fäden in seinem braunen Stoppelbart gebildet. Aber sie hatte in ihm immer noch den Mann wiedererkannt, in den sie sich vor so vielen Jahren verliebt hatte.

Verliebt hatte, dachte Kris.

Immer noch liebte, schaltete sich eine andere Stimme ein, die einer zaghaften, naiven und gelegentlich auch hoffnungsvollen Kris gehörte.

Hasste, fiel ihr eine dritte Kris ins Wort, deren Stimme aus den tiefsten, schwärzesten Ecken ihrer Gedanken drang.

Sie betrachtete das entstellte Gesicht ihres toten Ehemannes. Ein Auge war blau und zugeschwollen wie das eines Schwergewichtsboxers in der zwölften Runde, das andere stand offen und starrte nach oben, als ob sich ihm dort ein tieferes Wissen offenbart hatte, das nur die Sterbenden erkennen konnten. War es Liebe, die sie davon abhielt, sich angewidert abzuwenden? Oder hatte ein primitiver Überlebensinstinkt die Kontrolle übernommen? Oder war sie wie ein Gaffer auf dem Highway, der extra langsam fuhr, um sich einen besonders schlimmen Unfall anzusehen und sich dann in perverser Erleichterung zu denken: Nicht ich. Noch nicht.

Mit zusammengepresstem Kiefer beugte sie sich über Jonahs malträtierten Leichnam. Ihre rechte Hand begann zu zittern, schnell griff sie mit der linken nach dem Handgelenk, um sie zu stabilisieren, aber das Zittern breitete sich bereits den Arm hinauf bis zu den Schultern aus. Dann bebte ihr ganzer Körper, sie atmete scharf und stoßweise. Sie zwang ihren Mund ganz nah an das baumelnde, zerfetzte Stück Fleisch, das einmal Jonahs Ohr gewesen war.

»Du Arschloch«, flüsterte sie, während wieder Tränen über ihr Gesicht rannen. »Du dummes, egoistisches Arschloch. Das werde ich dir nie verzeihen. Niemals.«

Ein Geräusch wie von einer Explosion oder von einem Schrotflintenschuss holte Kris abrupt in die Gegenwart zurück.

Der Jeep brach scharf nach links auf die Gegenspur aus.

Sadie wachte auf und verlieh ihrer Verwirrung mit einem Schrei Ausdruck – seit dem Tod ihres Vaters hatte sie kaum gesprochen –, der wie der Laut eines Tieres klang. Die Angst in Sadies Stimme ließ Kris schaudern.

Instinktiv umfasste Kris das Lenkrad mit beiden Händen und bremste scharf.

Der Jeep geriet ins Schleudern.

In Sadies schrillen Schrei mischte sich ein anderes Kreischen, das Kris zunächst nicht zuordnen konnte.

Die Reifen. Das Kreischen wurde von den Reifen verursacht, die keinen richtigen Halt auf dem Asphalt fanden.

Sie riss das Lenkrad herum, und der Jeep bewegte sich zurück auf die richtige Spur, aber im gleichen Augenblick merkte sie, dass sie nun zu weit nach rechts gelenkt hatte. Das Auto brach in einem scharfen Winkel aus. Hinter dem Seitenstreifen sah sie einen Stacheldrahtzaun, der einen Acker begrenzte.

Zwei Dinge wurden ihr in diesem Augenblick klar: Dass sich das blasse Rund des Mondes auf der Windschutzscheibe spiegelte und dass der Jeep im Begriff stand, nach links zu kippen wie ein Tier mit einem lahmen Bein.

»Festhalten!«, hörte sie sich in Richtung ihrer Tochter auf dem Rücksitz schreien. Kris drehte das Lenkrad wieder nach links, gerade so weit, um das Auto daran zu hindern, über den Seitenstreifen hinaus in den flachen Straßengraben zu schießen, der neben dem Zaun verlief. Gleichzeitig nahm sie den Fuß von der Bremse und wartete, bis sie den Jeep wieder unter Kontrolle hatte, bevor sie den Fuß erneut auf das Pedal setzte.

Bremsen. Fuß weg. Bremsen. Fuß weg. Bremsen.

Das Auto wurde langsamer.

Dann hörte sie ein neues Geräusch, das unverwechselbare Flapp-flapp-flapp eines kaputten Reifens auf trockenem Boden.

Kris bremste noch einmal scharf, und der Jeep kam schlingernd zum Stehen. Staub wirbelte um sie herum und trieb im Licht der beiden Scheinwerfer durch die Luft.

Sie sah über die Schulter zu ihrer Tochter. Sadies Augen waren weit vor Schreck, aber sie war still und weinte nicht.

Sie versucht, stark zu sein. Für mich.

»Wir haben nur einen Platten. Alles in Ordnung«, versuchte Kris sie zu beruhigen. »Im Kofferraum liegt ein Notrad. Ich werde den Reifen wechseln. Es ist alles in Ordnung, Sadie. Alles wird gut, versprochen.«

Kris wollte die Autotür öffnen, als etwas hinten an ihrem Oberteil zog.

Sadie hatte sich in ihrem Sitz nach vorne gelehnt und die Hand nach vorne gestreckt, um ihre Mutter zurückzuhalten.

»Alles in Ordnung. Es dauert nicht lange. Ich bin nicht weit weg.«

Sadies Hand erschlaffte gerade genug, damit Kris das T-Shirt aus ihrem Griff winden konnte.

Kris öffnete die Tür und stieg aus.

Kühler Wind wehte über die Prärie und strich über ihren Körper. Kris wischte sich ein paar kastanienbraune Locken aus dem Gesicht und schob sie hinters Ohr. Sie betrachtete den kaputten Vorderreifen, dessen Felge auf dem platten Gummi ruhte. Ein Stück schwarzes Reifenprofil baumelte oben an dem zerstörten Reifen wie Haut von einer offenen Wunde.

Wie Jonahs Ohr.

Ihre Beine zitterten, dann ihre Körpermitte bis hin zu den Schultern. Dann bebte ihr ganzer Körper.

Sie schloss die Augen und sog den Geruch von Kansas tief durch die Nase ein: den intensiven Duft des grünen Weizens und der staubigen Erde des Randstreifens. Auch der scharfe Gestank des verbrannten Gummis lag noch in der Luft.

Es ist nur ein kaputter Reifen.

Ihr Körper beruhigte sich. Sie öffnete die Augen.

Der Mond war hinter einer dicken Wolkenschicht verschwunden, und selbst die Sterne schienen vom schwarzen Nachthimmel verschluckt worden zu sein. Der Boden unter ihren Füßen hatte sich aufgelöst. Sie schwebte über einem Abgrund.

Kris Barlow fixierte die Stelle, an der die Autoscheinwerfer ihren Kampf mit der Finsternis verloren und ihr Licht von der Nacht verschluckt wurde. Sie musste einfach daran glauben, dass es dort in dem Nichts hinter der Scheinwerferkegeln eine Straße gab. Diese Straße war wichtig.

Denn sie konnte nicht einfach umkehren.

Noch nicht.

Noch nicht.