Cover

ANDREA VON TREUENFELD

LEBEN MIT AUSCHWITZ

MOMENTE DER GESCHICHTE UND ERFAHRUNGEN DER DRITTEN GENERATION

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: Holocaust-Mahnmal, Berlin; Foto: © Marco Scisetti – shutterstock.com

ISBN 978-3-641-25947-1
V001

www.gtvh.de

FÜR ANTONIA

Inhalt

Vorwort oder »Der Sänger von Auschwitz«

Einführung

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz

Vanity Katz

Rebecca de Vries

1945-1959

Hinrichtung Rudolf Höß

»Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau«

Primo Levi: »Ist das ein Mensch?«

Krakauer Auschwitz-Prozess

»Internationales Auschwitz Komitee (IAK)«

Daniel Neumann

Barbara Bišický-Ehrlich

1960-1969

Erster Frankfurter Auschwitz-Prozess

Zweiter Frankfurter Auschwitz-Prozess

Dritter Frankfurter Auschwitz-Prozess

Daniel Langbein

Judith, Cornelia, Andreas Faessler

1970-1979

Seligsprechung des Paters Maximilian Kolbe

Auffinden der Leiche Josef Mengeles

Gedenkstätte als Weltkulturerbe

Oliver Umlauf

Alexander Nachama

1980-1989

Auschwitz-Album der Lilly Zelmanovic

Claude Lanzmann: »Shoah«

»Internationale Jugendbegegnungsstätte Oświęcim/Auschwitz (IJBS)«

»March of the Living«

Art Spiegelman: »Maus«

Tatjana Schmidt

Leroy Schwarz

1990-1999

Strafbarkeit der »Auschwitzlüge«

Steven Spielberg: »Shoah Foundation«

»Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«

Nicolas Endlicher

Jenny Claus

2000-2009

Abweisung der Irving-Klage

Fotograf von Auschwitz

Das »Höcker-Album«

Original-Baupläne von Auschwitz

Das Schild »Arbeit macht frei«

Selina Zehden

Rebekka Goldstein

2010-2019

»to Bremembered«

»Erinnerungsort Topf & Söhne«

Lüneburger Auschwitz-Prozess

Detmolder Auschwitz-Prozess

»… was Auschwitz war«

Glossar

Literatur

Vorwort oder »Der Sänger von Auschwitz«

In ihrem Buch widmet sich Andrea von Treuenfeld einem bedeutenden Thema, der Frage nämlich, was Enkelinnen und Enkel von Überlebenden der Nazi-Verfolgungen von den Erfahrungen ihrer Großeltern wissen und welche Bedeutung dieses Wissen in ihrem heutigen Leben in der Bundesrepublik Deutschland für sie hat. Es ist der Autorin gelungen, eine Reihe von Menschen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Familienhintergründen für ihr Vorhaben zu gewinnen, sodass hier jene zu Wort kommen, deren Vorfahren als politische Gegner des Nationalsozialismus, als Roma und Sinti oder als Juden verfolgt wurden. Unter den Vorfahren mancher Interviewter gab es allerdings auch überzeugte Nazis bzw. Nazi-Mitläufer, was speziell diese Familiengeschichten interessant macht. Aus eigener Forschungserfahrung weiß ich, wie schwierig es ist, Menschen zu finden, die dazu bereit sind, ihre persönliche Geschichte durch solche Gespräche öffentlich zu machen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Jüdinnen oder Juden in diesem Land.

Die in diesem Band versammelten Interviews sind »vor Halle« geführt worden. Ist es doch zu befürchten, dass der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle am Yom Kippur dieses Jahres, dem Versöhnungstag, eine Zäsur im post-nationalsozialistischen deutsch-jüdischen Verhältnis darstellen wird. Wohl nur aufgrund eines fast wundersam erscheinenden Schlosses der Synagogentür, das den Schüssen des Täters standhielt, wurde ein Massaker verhindert. Ich vermute, dass viele der in der Synagoge eingesperrten Jüdinnen und Juden Bilder vor Augen hatten, die der Erinnerung an die Shoah entstammen, wie Nazi-Täter Synagogen anzündeten, in die sie ihre Opfer hineingetrieben und eingesperrt hatten.

Es waren »nur« zwei Menschen, die bei diesem Anschlag den Tod fanden, weil der Mörder wie unter Zwang morden musste: Über das Nicht-Gelingen seines eigentlichen Vorhabens war er derart verärgert, dass er ein zufälliges Opfer, das im Moment des Geschehens seinen Weg passierte, und einen Mann, der sich in einem Döner-Laden befand, hinrichtete – ein Vorgehen, das die Morde des sogenannten nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) fortführt.

Würden sich die gleichen Personen, wenn man sie heute – »nach Halle« – befragte, in Bezug auf ihr Lebensgefühl im heutigen Deutschland anders äußern als zuvor?

Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches werden mit den Schrecken der Nazi-Verfolgungen konfrontiert, wie sie sich in den unterschiedlichen Familien zugetragen haben und auf je spezifische Weise an die Dritte Generation tradiert wurden. Dass diese Tradierung nicht vornehmlich über die Sprache und das Sprechen, sondern vor allem auch nonverbal im Beziehungsleben erfolgt, ist Ausgangspunkt des von uns am Sigmund-Freud-Institut entwickelten psychoanalytischen Konzepts des Szenischen Erinnerns der Shoah (vgl. Grünberg und Markert 2016). Hier kommt man mit den Abgründen der menschlichen Existenz in Berührung, »wohin die Sprache nicht reicht« – wie es Hans Keilson (1984) formuliert hat. Der mit diesen Fragen beschäftigte Psychoanalytiker, der mit diesem Modell und dem, was man Übertragung nennt, arbeitet, muss diese Dimension in den Beiträgen der Protagonisten dieses Buches vermissen. Wichtige Aspekte dessen, was sich während der Aufzeichnungen zwischen und in den Beteiligten, den Befragten und der Interviewerin, zugetragen hat, bleiben somit unerkannt. Wie wurde die Autorin als Interviewerin erlebt? Welche Affekte, Gedanken und Fantasien haben die Schilderungen in der Autorin selbst ausgelöst? Auf welche Weise haben die Gespräche sie mit ihrer eigenen Familiengeschichte während des Nationalsozialismus konfrontiert?

Dies muss jedoch kein grundlegender Mangel sein. Denn, indem die Autorin sich auf diesem Wege als »Medium« nicht öffentlich macht, schafft sie für Leserinnen und Leser einen Wahrnehmungs- und Erlebnisraum, der es diesen ermöglicht, gewissermaßen auf analytische Weise ein tieferes unbewusstes Erleben in der Übertragung an sich und in sich selbst wahrzunehmen. Die Leerstelle wäre demnach ein Gewinn, der offen gelassene Leerraum eine Möglichkeit, ihn mit eigenen Fantasien und Bildern zu ergänzen und zu spezifizieren. Damit gliche diese Vorgehensweise der Autorin der Traumdeutungsmethode Fritz Morgenthalers (1986), demzufolge der Traumbericht bei Hörenden/Lesenden des Traums sich Adressaten schafft, die nun mit dem Träumer anhand seines Traumes eine gemeinsame Szene erzeugen, in der Träumer und Traumhörende gemeinsam repräsentiert sind. Die von Andrea von Treuenfelds Interviews angeregten LeserInnen finden sich damit in dieser gemeinsamen Konstruktion wieder. Sie können sich nun fragen, wer bin ich und wer hätte ich sein können – eine neue Methode der Selbstaufklärung.

Eine solche »Szene«, die sich entsprechend unseres Konzepts des Szenischen Erinnerns der Shoah in mir hergestellt hat, möchte ich im Folgenden kurz exemplarisch skizzieren. Das in diesem Buch abgedruckte Gespräch mit dem Enkel des Berliner Kantors Estrongo Nachama hat mich in besonderer Weise mit dem Traumatischen in Berührung gebracht. Er war der einzige Überlebende seiner Familie aus dem griechischen Saloniki. Alle anderen wurden von den Nazis ermordet. In dem Interview ist zu erfahren, dass er sich im Konzentrationslager Auschwitz gemeldet hatte, als ein Handwerker gesucht wurde. Wegen seiner handwerklichen Geschicklichkeit und in der Hoffnung auf zusätzliche Nahrungsrationen meinte er, die gestellte Anforderung wohl erfüllen zu können. Für seine Notlüge wurde Nachama empfindlich bestraft. Die Folter bestand darin, ihn an den Füßen aufzuhängen und auf diese einzuschlagen, sodass er infolge der Misshandlungen nie wieder in der Lage sein sollte, längere Zeit ohne Schmerzen zu gehen.

Gerettet hat ihn offenbar seine wundervolle Gesangsstimme. Die Nazi-Schergen ließen ihn zu ihrer Unterhaltung in Auschwitz singen. So konnte er weiteren Selektionen entgehen. Er blieb am Leben. Nach der Befreiung habe ihn jemand in Berlin wiedererkannt: »Bist du nicht ›Der Sänger von Auschwitz‹?«, sei er gefragt worden. Und so wurde Nachama am Ende zu dem bekannten Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Nachamas Verfolgungsgeschichte war mir vor dem Lesen des Gespräches in diesem Band nicht geläufig. Ihn jedoch kannte ich von CDs und von Auftritten im Fernsehen. Und einmal bin ich ihm wohl Anfang der 90er-Jahre persönlich begegnet, bei einer Veranstaltung in Berlin, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Sehr genau erinnere ich hingegen das Folgende:

Ich sehe, wie sich Estrongo Nachama sehr unbeholfen in Richtung zum Sitzplatz in meiner Nähe bewegt. Er ist übergewichtig. Unsere Blicke treffen sich. Er lächelt mir mit einer Wärme zu, die ich noch heute zu spüren meine. Dann kaufe ich eine CD mit Gebetsgesängen von ihm, die ich bis zum heutigen Tage gern höre. Mit seiner Stimme, mit seinem eigentümlichen Gang, mit seiner freundlichen Ausstrahlung und Wärme seines Blickes hat er mir – ohne Worte – etwas von dem erlittenen Leid vermittelt, aber auch, dass er an Traditionen festhält und vor allem »trotzdem Ja zum Leben sagt« (vgl. Viktor Frankl 1987). Ist Estrongo Nachama »Der Sänger von Auschwitz« geblieben?

Mir selbst fehlen angemessene Worte zu beschreiben, welch’ tiefe Verbindung ich zu ihm entwickelt habe. Wie sehr sie mich aber prägte und mein Beziehungsverhalten beeinflusste, hat mir meine schwerst behinderte Tochter vermittelt. Sie liebt Nachamas Kiddusch nach Louis Lewandowski. Auf einer Autofahrt zu meinen Eltern, die Überlebende der Shoah waren, »musste« ich das gleiche Stück immer wieder für sie spielen: über vierhundert Kilometer, immer und immer wieder.

Dr. Kurt Grünberg

Literatur

Frankl, V.E. (1987): … trotzdem ja zum Leben sagen: ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München.

Grünberg, K. / Markert, F. (2016): Child Survivors – Geraubte Kindheit. Szenisches Erinnern der Shoah bei Überlebenden, die als Kinder oder Jugendliche Opfer der Nazi-Verfolgung waren, Psyche, 70 (5), 411-440.

Keilson, H. (1984): Wohin die Sprache nicht reicht, Psyche 38, 915-926.

Morgenthaler, F. (1986): Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung, hg. v. Paul Parin, Frankfurt am Main / New York.

Einführung

»Verbrechen an der Menschheit verjähren nicht«, hat Angela Merkel anlässlich des 70. Gedenktages der Befreiung von Auschwitz gesagt. »Wir haben die immerwährende Verantwortung, das Wissen über die Gräueltaten von damals weiterzugeben und das Erinnern wachzuhalten.«

Diese Sätze sind heute aktueller denn je. Gegen das Vergessen muss die Geschichte des größten Konzentrations- und Vernichtungslagers, das innerhalb weniger Jahre der größte Friedhof der Welt wurde, immer wieder neu erzählt werden. Dazu gehört auch, wie dieser Ort in den Jahrzehnten nach seiner Befreiung am 27. Januar 1945 wahrgenommen, das Geschehene aufgearbeitet wurde.

Aber so wichtig diese Fakten – die Momente der Geschichte – sind, sie können nur im Zusammenhang mit den Geschichten jener Menschen stehen, die Auschwitz erlebt haben, überlebt haben. Denn nur sie konnten Zeugnis ablegen von der Brutalität des Erlittenen und dem Ausmaß des Genozids. Den Verlusten in der eigenen Familie setzten sie die Gründung neuer Familien entgegen – und gaben die aus der Zeit der Verfolgung, Demütigung und Todesangst resultierenden Traumata an ihre Nachkommen weiter. Doch anders als die Zweite Generation, die der Kinder, die noch sehr viel stärker geschützt werden sollte und umgekehrt auch die verletzten Eltern schützen wollte und deshalb das Schweigen der Überlebenden akzeptierte, stellte die Dritte Generation Fragen. Und bekam (meistens) Antworten.

Inwieweit hat die Tatsache, dass der Großvater, die Großmutter Auschwitz-Überlebende sind, die eigene Geschichte geprägt, habe ich deshalb Enkelinnen und Enkel gefragt und dabei möglichst wenig Einfluss auf den Gesprächsverlauf genommen, denn es sind ihre Narrative und die ihrer Familie. Auschwitz ist definitiv ein Teil der Biografie dieser Menschen, denen ich dafür danke, dass sie mich in unseren Gesprächen an ihrem Leben teilhaben ließen.

Danken möchte ich auch Dr. Kurt Grünberg, der sich als Psychoanalytiker in seiner Praxis und als Mitarbeiter des Siegmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main mit der Tradierung der Traumata der Überlebenden der Shoah an die nachfolgenden Generationen beschäftigt und sein Wissen in das von ihm verfasste Vorwort dieses Buches hat einfließen lassen.

So wie das auf dem Cover des Buches abgebildete Stelenfeld in Berlin das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« darstellt, ist Auschwitz das Synonym für die Shoah (»Brandopfer«), wie Juden es benennen. Doch Auschwitz ist auch das Synonym für den Porajmos (»Verschlingen«), wie Sinti und Roma den Mord an ihrem Volk bezeichnen, ebenso natürlich auch für die Qualen und den gewaltsamen Tod von Kommunisten, Kriegsgefangenen, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und anderen Verfolgten. Auschwitz als bekanntestes KZ ist aber auch das Synonym für unzählige andere Orte des Leidens und des Sterbens. Sobibor, Treblinka, Majdanek, Chelmno auf polnischem Boden, Bergen-Belsen, Dachau, Ravensbrück, Buchenwald auf deutschem Gebiet – um nur einige zu nennen.

Viele Großeltern der von mir befragten Enkelinnen und Enkel haben nicht nur Auschwitz aushalten müssen, sondern auch weitere KZs. Deshalb ist dieses Buch stellvertretend geschrieben für alle anderen Lager und für alle anderen Leidenswege unter der NS-Herrschaft. Gewidmet ist es all jenen, die diesem »Verbrechen an der Menschheit« zum Opfer fielen.

Andrea von Treuenfeld

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz

Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Drei Tage später nahmen deutsche Truppen die im Süden des Landes gelegene Stadt Oświęcim ein und gaben ihr wieder den Namen, den sie bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts getragen hatte: Auschwitz.

Drei Kilometer von ihrem Zentrum entfernt war bereits zwei Jahrzehnte zuvor ein Lager für Saisonarbeiter entstanden. Heinrich Himmler*, auf der Suche nach einem geeigneten Gelände für ein weiteres Konzentrationslager, entscheidet sich für dieses Areal, trotz der zerfallenen Häuser und Holzbaracken. Mit seiner Anbindung an die Bahnstrecke Wien-Krakau und der abgeschotteten Lage entspricht es genau den Vorstellungen des Reichsführers SS, und am 27. April 1940 befiehlt er die dortige Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach mehreren kleinen Lagern, darunter auch Oranienburg (März 1933) und Esterwegen (Sommer 1933), die meist nach wenigen Monaten wieder aufgelöst wurden, sowie Dachau (März 1933), Sachsenhausen (Juli 1936), Buchenwald (Juli 1937), Flossenbürg (Mai 1938), Mauthausen (August 1938), Neuengamme (Dezember 1938), Ravensbrück (April 1939), Stutthof (September 1939) wird es das größte von den Nationalsozialisten errichtete Lager dieser Art werden: gedacht, zumindest anfangs, für die Festsetzung sogenannter »unerwünschter Elemente«.

Der Posten des Standortkommandanten fällt Rudolf Höß* zu, der schon in Dachau und in Sachsenhausen an exponierter Stelle seinen Dienst versehen hat. Angeblich ist es seine Idee, über dem Lagertor den zynischen Spruch »Arbeit macht frei« anbringen zu lassen, eine Inschrift, die schon in einigen anderen Lagern über den Eingang montiert wurde.

Am 20. Mai 1940 kommen die ersten Deportierten: dreißig deutsche sogenannte »Kriminelle«, unter ihnen Bruno Brodniewicz, der nicht nur der erste Lagerälteste wird, sondern auch die Nummer 1 erhält – und wegen seiner Grausamkeit anderen Inhaftierten gegenüber den Beinamen »Der schwarze Tod«. Im Juni trifft ein Transport mit 728 politischen Gefangenen ein, durchweg Polen, wie auch die Häftlinge der nachfolgenden Transporte. Sie alle sind dazu bestimmt, in Zwangsarbeit den Auf- und Ausbau des Lagers voranzutreiben.

Denn das KL Auschwitz, wie es offiziell heißt, wächst schnell. Angelegt wird es zunächst auf 10.000 Gegner des NS-Regimes. Neben dem Häftlingslager, in NS-Sprache »Schutzhaftlager«, entstehen Werkstätten und Landwirtschaft, Wirtschaftsgebäude und Siedlungen für die Wachmannschaften und ihre Familien. Bereits Ende des Jahres umfasst das sogenannte »SS-Interessengebiet« vierzig Quadratkilometer, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen.

Am 1. März 1941 besucht Heinrich Himmler erstmals Auschwitz und befiehlt Rudolf Höß den weiteren Ausbau: Die Zahl der aufzunehmenden Inhaftierten soll sich verdreifachen. Nicht sicher ist, ob bei dieser Gelegenheit oder erst später der Befehl an den Kommandanten ergeht, ein weiteres Lager zu errichten. Im Herbst desselben Jahres wird jedenfalls das nahe gelegene Dorf Brzezinka, zu Deutsch Birkenau, zerstört. Auf seinem Boden entsteht nach dem Stammlager Auschwitz I das KL Auschwitz II – ein gigantisches, von sowjetischen Zwangsarbeitern in großer Eile errichtetes Barackenlager.

Für seine Architektur ist ausgerechnet ein Schüler des von den Nationalsozialisten verbotenen Bauhaus verantwortlich. Der Österreicher Fritz Ertl, Mitglied der NSDAP und der SS, setzt sein in Dessau erlangtes Wissen in Auschwitz-Birkenau um und entwirft neben gemauerten Baracken auch fensterlose Holzställe, karg und funktional, in die bis zu 750 Menschen einquartiert werden. Unter ständigem Hunger und primitivsten Bedingungen – auf den dreistöckigen Holzpritschen teilen sich mehrere Häftlinge einen Schlafplatz, Waschmöglichkeiten und Latrinen sind anfangs nicht vorhanden, Läuse und Ratten vermehren sich ungehemmt, Epidemien sind die Folge – wird hier das vom Berliner Reichssicherheitshauptamt beabsichtigte massenhafte Sterben zur Normalität.

Unter der Leitung des Chefs des RSHA, Reinhard Heydrich*, beschließen am 20. Januar 1942 auf der später so bezeichneten »Wannsee-Konferenz« fünfzehn hochrangige Mitglieder der NSDAP und der SS die »Endlösung der Judenfrage«: Synonym für die geplante Deportation und Vernichtung der elf Millionen europäischen Juden.

Ab Frühjahr 1942 treffen dann auch die ersten Massentransporte in Auschwitz ein. Bei der Selektion als »arbeitsfähig« aussortierte Menschen werden nicht sofort getötet, sondern registriert. Nachdem ihnen – wie auch jenen, die direkt nach ihrer Ankunft umgebracht werden – das Gepäck schon bei dem Heraustreiben aus den Viehwaggons, in denen sie tagelang, manchmal auch wochenlang unterwegs waren, von den SS-Wachmannschaften genommen wird, müssen sie sich ausziehen und duschen, desinfizieren und am ganzen Körper rasieren lassen. Ihre eigene Kleidung wird ausgetauscht gegen die blaugrau-gestreifte der Häftlinge, Schuhe sind ab jetzt sommers wie winters klobige Holzpantinen.

Ab Mitte 1942 wird Juden und ein halbes Jahr später auch allen anderen Deportierten – davon verschont bleiben nur die sogenannten »Reichsdeutschen« – eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert. Eine Schikane, die in keinem anderen KZ praktiziert wird. Selbst im Lager geborene Babys und Kleinkinder werden, sofern man sie nicht sofort tötet, dieser schmerzhaften Prozedur unterzogen. Weil ihr Unterarm zu klein ist, kennzeichnet man sie auf dem Oberschenkel.

Zur weiteren Kennzeichnung oder Unterscheidung werden farbige Dreiecke, »Winkel«, ausgegeben, die mit der Spitze nach unten auf Brusthöhe aufgenäht werden müssen. Gelb steht für Juden, rot für politische Gefangene, grün für Kriminelle, schwarz für »Asoziale«, zu denen zeitweise auch Sinti und Roma zählen, lila für Zeugen Jehovas, im Nazi-Jargon Bibelforscher genannt, rosa für Homosexuelle. Zusätzlich gibt ein Buchstabe Auskunft über das Herkunftsland.

In der Hierarchie der sogenannten »Häftlingsselbstverwaltung« sind es meist die »Grünen«, die, von der SS bestimmt und somit zu ihren direkten Handlangern gemacht, als Lagerälteste das Sagen haben und Privilegien wie einen eigenen Schlafraum, größere Essensmengen und bessere Kleidung genießen. Ihnen unterstellt sind die Blockältesten und denen die Stubenältesten. Arbeiten innerhalb und außerhalb des Lagers beaufsichtigen Kapos*.

Der Lager-Alltag ist in erster Linie ein Überlebenskampf. Morgens und abends oftmals stundenlang auf dem Appellplatz stehen, in Kolonnen zur Arbeit in Kiesgruben oder Werkhöfen marschieren, bis zur totalen Erschöpfung und auch bei gefährlichen Tätigkeiten ohne jeglichen Schutz viele Stunden körperliche Arbeiten leisten, auf dem Rückweg die Toten des Tages zurückschleppen, zu essen gibt es dünne Wassersuppe und wenig, meist schon verschimmeltes Brot. Begehrt sind die Schichten in der Näherei, in der Verwaltung, in der Küche sowieso und in »Kanada« – von den Häftlingen so genannt, weil es in ihren Vorstellungen das Land des Luxus und des Überflusses ist. Tatsächlich findet sich in diesem riesigen Depot alles, was die Häftlinge nicht haben: Kleidung, Wertsachen und Lebensmittel, gestohlen den Menschen, die längst »durch den Kamin gegangen sind«, wie es in der Lagersprache heißt. Ungeachtet des Verbots aus Berlin bedient sich die SS hier, allen voran Rudolf Höß, der auf diese Weise auch seine in der Villa neben dem KZ-Gelände wohnende Familie versorgt. Die meisten dieser Güter werden jedoch ins Reich geschickt. Ebenso wie das zu Barren gegossene Gold der herausgebrochenen Zähne der Leichen und die Tonnen Haare, die als Füllmaterial für Matratzen verwendet werden.

Bestrafungen für willkürlich beanstandete »Vergehen« der Häftlinge sind vielfältig und eine grausamer als die andere. Prügel, Folter, Strafexerzieren, was eine stundenlange Tortur von Kniebeugen, Rennen oder Kriechen bedeutet, Versetzung in die Strafkompanie, in der die Häftlinge bei schwerster Arbeit und unter Schlägen meist zu Tode geschunden werden. Oder aber auch Arrest in Block 11. Der sogenannte »Todesblock« ist eine der Backstein-Baracken im Stammlager, in dessen Keller das Gefängnis, der »Bunker«, untergebracht ist. Tausende von Häftlingen, die die Dunkel- oder Stehzellen sowie die Misshandlungen durch die Wachmannschaften noch überstehen, werden anschließend vor der »Schwarzen Wand« erschossen, die Block 10 und Block 11 verbindet. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers wird es die Stelle sein, an der man auch Jahrzehnte später immer wieder Kränze niederlegt.

In diesem Kellergefängnis sterben Ende 1941 bei einem »Probeeinsatz« des Insektizides Zyklon B etwa 850 Inhaftierte, die meisten von ihnen sowjetische Kriegsgefangene. Das Blausäuregas, das anfangs tatsächlich zur Schädlingsbekämpfung verwendet wird, wirkt schon in geringen Mengen tödlich. Um das Morden effektiver zu gestalten – die Mehrheit der deportierten Menschen, etwa achtzig Prozent, wird bei den Selektionen als »nicht arbeitsfähig« eingestuft und geht den direkten Weg in den Tod –, werden die Vergasungen in das nun abgedichtete Krematorium (später Krematorium I) verlegt, wo die Leichen anschließend eingeäschert werden.

In Auschwitz-Birkenau dienen erst das »rote Haus« mit einem Fassungsvermögen von 800 Personen, dann auch das »weiße Haus« mit einem Volumen von 1200 Personen als provisorische Gaskammern. Die darin Ermordeten werden in Massengräber geworfen oder verbrannt. Im Sommer 1943 ersetzt man diese ehemaligen Bauernhöfe durch die vier neugebauten großen Krematorien (II-V). Sie sind ausgestattet mit je einem Entkleidungsraum, einer Gaskammer und hochmodernen, von der Erfurter Firma »Topf & Söhne« (siehe Seite 238) entwickelten Öfen zur Leichenverbrennung. Insgesamt, so deren Berechnung, sind sie ausgelegt für die Einäscherung von täglich mehr als 4.500 Getöteten.

Für diese Arbeit teilt die SS sogenannte »Sonderkommandos« ein, deren Größe proportional zu der Anzahl der ankommenden Menschen steigt. Es sind meist jüdische Lagerinsassen, denen die Aufgabe des Vergasens und des Beseitigens der Leichen zufällt. Als unmittelbare Zeugen des systematischen Mordens sind sie streng isoliert untergebracht und werden nach einigen Wochen, spätestens Monaten, erschossen und durch ein neues »Sonderkommando« ersetzt.

Auschwitz-Birkenau wird ständig erweitert, die Zahl der Züge mit den Viehwaggons steigt. Im Sommer 1942 wird das erste Frauenlager errichtet. Im Dezember desselben Jahres unterzeichnet Heinrich Himmler den »Auschwitz-Erlass«, der die Deportation der europäischen Sinti und Roma besiegelt. Im Februar 1943 trifft der erste Transport ein und wird in einem weiteren abgetrennten Bereich, dem »Zigeunerlager« oder »Zigeunerfamilienlager«, untergebracht. Die Lebensbedingungen der insgesamt 23.000 hier zusammengepferchten Menschen sind dermaßen schlecht, dass viele von ihnen sehr schnell an Typhus sterben oder verhungern. Im Mai 1944 kommt der Befehl zur »Liquidierung« des Lagers, so die offizielle Wortwahl. Doch am Abend des 2. August 1944 stoßen die Wachmannschaften, die die Verbliebenen in die Gaskammern treiben sollen, auf heftigen Widerstand. Die Eingesperrten, unter ihnen viele Kinder, wehren sich trotz ihres geschwächten Zustands. Gegen die Brutalität der SS-Männer haben sie allerdings keine Chance: Noch in der Nacht werden die letzten 4.000 Sinti und Roma ermordet.

Im September 1943 wird ein zweites Familienlager installiert: das der 17.500 aus Theresienstadt überstellten Juden. Im März und Juli des Folgejahres werden die meisten von ihnen vergast, 3.000 noch »arbeitsfähige« in andere KZs verschickt.

Im Sommer 1944 erreicht das Massenmorden einen unfassbaren Höhepunkt. Von den 437.402 in Ungarn festgesetzten Juden wird der größte Teil nach Auschwitz-Birkenau gebracht, zwischen dem 15. Mai und dem 18. Juli rollt Zug um Zug in das Lager. Bei der Selektion an der eigens für diese Transporte erbauten »Judenrampe« werden 320.000 Menschen sofort in die wenige Gehminuten entfernten Gaskammern gezwungen. Die Krematorien sind überlastet, Leichen werden zeitweise auch in Gruben verbrannt. Die »Sonderkommandos« arbeiten an manchen Tagen im 24-Stunden-Schichtdienst.

Ab 1942 wird der Arbeitseinsatz von Häftlingen in der Rüstungsindustrie verstärkt. Bereits zu Beginn des Jahres 1941 beschließt der in Frankfurt am Main ansässige Chemiekonzern IG Farben den Bau einer Fabrik zur Herstellung von Buna, ein synthetisches Gummi für die Kriegswirtschaft. Die Wahl fällt auf ein Gelände unweit des Stammlagers, und die SS lässt sich die zur Verfügung gestellten Arbeitskräfte für den Aufbau der Anlage gut bezahlen. Als der Bedarf an Zwangsarbeitern steigt und sich der Weg vom und zum Lager als zeitaufwändig und somit unrentabel erweist, entsteht ein neues Lager: das KL Auschwitz III oder auch Auschwitz-Monowitz. Zum ersten Mal ist ein privates Unternehmen der Betreiber eines Konzentrationslagers, das sich allerdings bezüglich der Bewachung, Abschottung und katastrophalen Unterkunfts- und Versorgungsbedingungen in nichts von den beiden benachbarten KZs unterscheidet. Neben Auschwitz-Monowitz entstehen kleinere Außenlager. Bis Kriegsende wächst ihre Zahl auf vierzig, die anfangs dem Kommandanten des Stammlagers unterstehen.

Im November 1943 wird jedoch jedes der drei Auschwitz-Lager eigenständig und Rudolf Höß abgezogen. Seinen Posten übernimmt für ein halbes Jahr Arthur Liebehenschel*, der seinerseits im November 1944 von Richard Baer* abgelöst wird, der dann zusätzlich die Leitung Birkenaus übernimmt, das von Friedrich Hartjenstein* und ab Mai 1944 von Josef Kramer* geführt wird. Kommandant von Monowitz und dessen Nebenlagern ist bis zu der Auflösung Heinrich Schwarz*.

Als die Rote Armee Richtung Westen vorrückt, beginnt im Sommer 1944 in Auschwitz die erste Phase der Räumung. Baumaterial sowie Waren aus den Vorratslagern werden ins »Altreich« transportiert und ein Teil der Häftlinge auf die Konzentrationslager in dessen Gebiet verteilt: Buchenwald und Groß-Rosen, aber auch Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Ravensbrück und Neuengamme im Norden sowie Flossenbürg, Dachau, Mauthausen und Natzweiler im Süden. Mit Beginn des Winters 1944 wird in Auschwitz-Birkenau das Vergasen eingestellt. Die SS beginnt, die Spuren der industrialisierten Menschenvernichtung zu verwischen, lässt Verbrennungsöfen abbauen, Massengräber einebnen und belastende Dokumente in Flammen aufgehen.

Am 17. Januar 1945 setzt die euphemistisch als »Evakuierung« bezeichnete zweite Phase der Räumung ein. Um einerseits keine Zeugen zu hinterlassen und diese andererseits als Arbeitskräfte in den noch bestehenden Lagern weiterhin auszunutzen, werden aus Auschwitz I, II und III sowie allen Nebenlagern völlig ausgemergelte und in Lumpen gehüllte Häftlinge in Bewegung gesetzt. Schätzungen gehen von 58.000 Menschen aus, die sich in Gruppen und bei eisigen Temperaturen auf den Weg machen müssen. Tausende von ihnen sterben noch auf diesen Todesmärschen an Entkräftung und durch Genickschuss der sie begleitenden SS.

Am Morgen des 27. Januar 1945 erreichen sowjetische Truppen Auschwitz-Monowitz, am Nachmittag weitere Rotarmisten das Stammlager und kurz darauf Auschwitz-Birkenau. In allen drei Konzentrationslagern stoßen sie auf unzählige Leichen. Und auf insgesamt etwa 7.000 Überlebende, darunter 500 Kinder, apathisch die meisten. Viele von ihnen sterben noch in den nächsten Tagen.

Das Stammlager von Auschwitz ist für 30.000 Häftlinge konzipiert, das sich ständig erweiternde Auschwitz-Birkenau für 200.000 und Auschwitz-Monowitz für 10.000. Von den 1,3 Millionen Menschen, die in diese Konzentrationslager verschleppt werden, sterben dort 1,1 Millionen: 900.000 nicht registrierte, die in den Selektionen für den sofortigen Tod durch Gas bestimmt werden; 200.000, die Hunger, medizinische Experimente, insbesondere die des Josef Mengele*, Krankheiten, Folter und Hinrichtungen nicht überleben. Eine Million der Getöteten sind Juden.

Für die wenigen Geretteten richten sowjetische Soldaten mithilfe des Polnischen Roten Kreuzes in den Blöcken und Baracken Krankenstationen ein.

Aus Auschwitz wird wieder Oświęcim.

Vanity Katz

Schihe Katz

Vanity Katz

Geboren am 5. Februar 2002 in Frankfurt am Main

Abiturientin in Frankfurt am Main

Enkelin der Ides und des Schihe Katz

Ides Katz

Geboren als Ides Steinmetz vermutlich am 14. Dezember 1932 in Absche (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

1939 Zwangsumsiedlung in das Ghetto in Solotwyno (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

Deportation nach Auschwitz

27. Januar 1945 Befreiung in Auschwitz durch sowjetische Truppen

1945 Rückkehr nach Solotwyno

Mai 1972 Emigration nach Frankfurt am Main

Gestorben am 10. Juli 2017 in Frankfurt am Main

Schihe Katz

Geboren vermutlich am 20. Dezember 1927 in Solotwyno (Tschechoslowakei, heute Ukraine)

1939 Zwangsumsiedlung in das Ghetto in Solotwyno

1940 Deportation nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Mauthausen, Auschwitz

27. Januar 1945 Befreiung in Auschwitz durch sowjetische Truppen

1945 Rückkehr nach Solotwyno

Mai 1972 Emigration nach Frankfurt am Main

Gestorben am 19. März 2014 in Frankfurtam Main