Buch
Malek Wutkowski ist auf der Flucht: vor seiner Vergangenheit, den fanatischen Anhängern von Kanzler Kehlis und nun auch vor den Rebellen, denen er sich im Kampf gegen das Regime angeschlossen hatte. Nach dem Angriff auf die Gardedirektion 21 will Malek seinen Bruder Dominik, den Konfessor Nummer Elf, einen der ranghöchsten Männer des Regimes, auf seine Seite ziehen. Doch dazu muss er die gefährliche Lifewatch vom Handgelenk seines Bruders entfernen – ein sicheres Todesurteil für Dominik. Denn in jeder Lifewatch steckt ein Mechanismus, der ihren Träger tötet, sollte man versuchen, die Uhr zu entfernen. Doch Malek glaubt, eine Lösung zu kennen – und eine Möglichkeit, um die Macht der gedankenverändernden Nanos zu brechen und die Bevölkerung zu befreien. Vorausgesetzt, er bleibt am Leben …
Copyright © 2019 by Timo Leibig
Erstmals erschienen unter dem Titel
»Nanos – Sie kämpfen für die Freiheit«
Dieses Werk wurde vermittelt
durch die
Literarische Agentur Michael Gaeb
© 2019 by Penhaligon in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Hanka Leo
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: plainpicture/Mark Owen
BL · Herstellung: dm
Satz: Uhl+Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24091-2
V002
Für meine Nichte Cora.
Bleib, wie du bist – starke Frauen kann es nicht genug geben.
Deutschland 2028. Die Bevölkerung ist hörig. Dank Nanoteilchen in Lebensmitteln und im Trinkwasser glauben die Menschen alles, was ihnen die Regierungspartei weismacht.
An deren Spitze steht Johann Kehlis. Mit seiner Lebensmittelfirma JK’s wurde der Lebensmittelchemiker reich, bevor er zusammen mit dem Nanoforscher Carl Oskar Fossey und dessen Firma SmartBrain die Nanos entwickelte, mit denen er die Bevölkerung manipuliert. Seit einigen Jahren ist Kehlis Bundeskanzler, vergöttert und gewählt mit absoluter Mehrheit. Mithilfe der Garde und seinen Konfessoren – einer Spezialeinheit emotionsloser Soldaten – sorgt er für Ordnung und die Einhaltung seiner Gesetze.
Das muss er, denn einige wenige Bürger sind »free«, also resistent gegen die manipulativen Nanos, und bedeuten eine Gefahr für das System. Die meisten werden zwar von aufmerksamen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gebeichtet, also denunziert, und daraufhin von Konfessoren in Gardedirektionen gebracht, aber ein kleiner Teil kann sich der Staatsgewalt entziehen und sammelt sich im Untergrund zu einer Rebellion.
Zu dieser stößt der entflohene Häftling Malek Wutkowski. Zu dreißig Jahren Haft verurteilt, floh er mit seinem Mentor und Freund Tymon Kròl nach acht Jahren Haft aus der JVA Grauach. Tymon starb bei der Flucht.
Vor ihrer Inhaftierung bildeten Malek und Tymon zusammen mit Maleks Bruder Dominik das kriminelle Kròl-Wutkowski-Trio. Unterstützt wurden sie von Tymons Schwester Maria.
Um die soll sich Malek nun kümmern – das Versprechen ringt ihm Tymon kurz vor seinem Tod ab. Ein schwieriges Unterfangen, da Maria nach Maleks und Tymons Inhaftierung untertauchte. Malek sieht die Chance, sie mithilfe der Rebellion aufzuspüren. Dafür stellt er sich in deren Dienst.
Die Rebellenführung – auch Das Quartett genannt –, bestehend aus dem Datenbaron Vitus Wendland, der ehemaligen Bundeswehrmajorin Barbara Sterling, dem Arzt Jörg Imholz und dem Unternehmensberater Sean, plant die Entführung des Nanoforschers Carl Oskar Fossey. Man verspricht sich, mit dessen Hilfe eine Möglichkeit zu finden, Kehlis’ Nanosystem zu unterwandern, gar zu zerstören. Malek Wutkowski scheint aufgrund seiner kriminellen Expertise genau der Richtige für die heikle Fossey-Entführung zu sein.
Und er ist der Richtige. Zusammen mit Jannah Sterling, der Tochter der Majorin, und Hendrik Thämert gelingt es ihm, den Forscher zu entführen. Im Gegenzug erhält er Informationen über Marias Aufenthaltsort, den die Rebellen ausfindig machen konnten: Berlin.
Dort erwartet Malek eine unschöne Überraschung: Der ranghohe Regierungsbeamte Konfessor Nummer Elf hat Marias fünfjährigen Sohn Paul in seine Gewalt gebracht. Er will sie dazu bringen, ihren alten Weggefährten Malek auszuliefern. Malek kann Maria überzeugen, nicht auf den Deal einzugehen, sondern mit ihm eine Befreiungsaktion zu wagen – wie in alten Zeiten. Zu zweit dringen sie gewaltsam in die Gardedirektion 21 ein, um Paul zu befreien.
Der Plan misslingt, denn Konfessor Nummer Elf entpuppt sich als niemand anders als Maleks tot geglaubter Bruder Dominik, der mit einer solchen Aktion gerechnet hat. Er lässt Malek und Maria inhaftieren – bis Jannah Sterling zusammen mit einer Rebellentruppe aufkreuzt und die drei befreit. Bei der Flucht erschießt Dominik Wutkowski Maria, bevor Jannah ihn mit einem Schuss in die Schulter außer Gefecht setzen kann.
Nun will Malek Wutkowski nicht zurück zu den Rebellen. Entsetzt davon, dass sein Bruder lebt und im Dienste des Regimes steht, fasst er einen Plan: Er wird Dominik befreien und ihm die Lifewatch abnehmen. Und so setzt er sich von der Rebellion ab, denn er glaubt, allein mehr zu erreichen.
TEIL 1
Observation
Kapitel 1
Südbayern, Justizvollzugsanstalt Kronthal
Erik »Der Fuchs« Krenkel hatte es sich zur Mission gemacht, die JVA Kronthal in einen Hort erstklassiger Alkoholika zu verwandeln. Fast jeder Insasse wusste zwar, dass man Früchte, Wasser und Hefe miteinander mischen und einige Tage bei Wärme lagern musste, um eine natürliche Gärung in Gang zu setzen und in der Folge Alkohol zu erzeugen, doch gab es im Knast keine Hefe. Einfallsreich war man trotzdem, und Brotreste schafften Abhilfe. Entsprechend mundete der Aufgesetzte wie Wein mit Kotzgeschmack.
Nicht so mit Eriks selbst gemachter Hefe, die liebevoll Fuchsspritz genannt wurde. Er zwackte nichtgeschwefelte Rosinen aus dem Frühstücksmüsli ab, besorgte sich Honig aus dem Knastladen und setzte beides zusammen mit Leitungswasser in ausgekochten Müllbeuteln oder Mineralwasserflaschen an; auf einen Liter Wasser kamen zwei Teelöffel Honig und acht gehäufte Esslöffel Rosinen. Nach zwei Tagen bildeten sich kleine Bläschen an der Oberfläche, die Flüssigkeit trübte sich ein, nach vier bis fünf Tagen schwammen die Rosinen auf und voilà – fertig war die Flüssighefe. Sie roch angenehm weinig und katapultierte den Aufgesetzten der Häftlinge in andere geschmackliche Sphären.
Erik verkaufte oder tauschte seinen Fuchsspritz in Portionen von einhundert Millilitern, abgefüllt in ausgewaschenen Kaltgetränkeflaschen, was für einen Liter ordentlichen Aufgesetzten reichte. Entsprechend mangelte es ihm an wenig; er hatte genug Zigaretten, löslichen Kaffee und Pornoheftchen und blieb außerdem von der meisten Knastscheiße verschont. Auch wollte keiner den einzigen inhaftierten Apotheker verprellen, der im Tausch für andere Waren den ein oder anderen medizinischen Ratschlag parat hatte. Erik »dem Fuchs« Krenkel vertraute man mehr als dem Anstaltsarzt.
Auch der frische Hefeansatz roch einwandfrei und sah gut aus. Die meisten Rosinen schwammen oben, nur ein paar Bläschen waren noch zu sehen. Morgen würde er fertig sein. Der gesamte Liter war bereits restlos vorbestellt.
Erik schraubte die Mineralwasserflasche zu und klemmte sie – eingeschlagen in ein Handtuch – zwischen Matratze und Bettgestell des Stockbetts. Er legte sich hin, verschränkte die Arme hinterm Kopf. An der Decke über ihm hing wie in den letzten achthundertsiebzehn Nächten das allabendliche gerippte Lichttrapez, das von der Fassadenbeleuchtung durchs vergitterte Fenster geworfen wurde.
Der Anblick langweilte ihn. Der ganze Aufenthalt in der JVA langweilte ihn. Die ersten Wochen, in denen er sich akklimatisiert und seine Position in der Gefangenenhierarchie bestimmt hatte, waren schnell verflogen, aber seitdem … Ihm fehlte eine Herausforderung und ein ebenbürtiger Gesprächspartner. Und am allermeisten langweilte ihn sein Dilemma. Die Vernunft gebot ihm, eine weitere Straftat zu begehen, die seine Haftentlassung in knapp zwei Jahren um weitere ein, zwei oder drei nach hinten verschieben würde, doch sein Bauch riet zu einem eleganten Ausbruch. So schwer würde es nicht sein.
Erik bemerkte, wie er mit den Zähnen knirschte, und öffnete den Mund, um seine verkrampfte Kiefermuskulatur zu entspannen. Dabei entwich ihm ein langer Atemzug.
Hätte er damals nur seinen Mund gehalten, dann wäre er vermutlich längst draußen, aber nein, so war er für dreizehn Tage in die Gardedirektion 4 eingerückt, gebracht vom Konfessor mit der Nummer acht auf der Armbanduhr, und danach weiter in die JVA Kronthal. Raus aus der JVA Grauach, raus aus der Wäscherei, weg von seinen Kumpels Malek und Tymon, mit denen er eingesessen hatte, und rein in den Irrsinn.
Nur dreizehn Tage.
Bei der Erinnerung zitterten seine Hände. Zum Glück war es nur ein kurzes Gastspiel gewesen – seiner Lügerei sei Dank. Mephistopheles war sicher stolz auf ihn.
Erik rieb sich über das Gesicht. Er wusste, dass er das Dilemma heute nicht lösen würde. Er wollte nicht mehr dorthin, in keine Gardedirektion und in die Hände von Wahnsinnigen, auf keinen Fall, aber er wollte auch nicht in einer Gefängniszelle an Langeweile sterben. Bald, Anfang März, wurde er 43 Jahre alt, 86 hatte er sich vorgenommen – wie sein Großvater Heinz. Vielleicht sollte er seine Lebenserwartung nach oben korrigieren, einfach um nicht in ein paar Tagen über den Zenit hinwegzugleiten. Aufs Ende zuzumarschieren fühlte sich nicht erbaulich an.
Ein Geräusch erfüllte die neun Quadratmeter messende Zelle, ließ Erik die Stirn runzeln. Auch das war nicht erbaulich. Die Beengtheit war ertragbar, auch die Überbelegung – nicht aber der Schlafplatz in der oberen Etage des Stockbetts. Sein Zellengenosse Noah Johansson hatte einfach keinen Darm mit Charme.
Gleich noch einmal stieg das Geräusch eines Abwinds zu Erik empor. Ihm reichte es. Er holte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus dem Spalt zwischen Matratze und Bettgestell. Mit den oberen Schneidezähnen und der Unterlippe zog er sich eine Kippe heraus. Tabakgeruch erfüllte seine Nase, bevor es von unten her nach faulen Eiern stank.
Das Feuerzeug ratschte, der Tabak knisterte, und Erik sagte: »Du solltest dir mal Probiotika beschaffen.«
Johansson schnaubte. Sein Lattenrost knarrte.
»Mal im Ernst, Noah, deine Fürze stinken, als wedle jemand mit toten Fischen vor meinem Gesicht herum. Sei froh, dass ich nicht etepetete bin. Wenn du mit dem schlauen Jonny oder dem Romanello in einer Zelle hocken würdest, hätten sie dir schon längst den Hintern zugenäht.«
»Erik.«
Die Zigarettenspitze erglühte. Eine Rauchwolke stieg auf. »Ja?«
»Halt einfach die Klappe.«
»Nur, wenn du deinen Arsch hältst.«
Johansson gab nichts darauf, was Erik auch nicht erwartet hatte. Der ein Meter vierundneunzig große, zweiundneunzig Kilogramm schwere Hüne mit dem blonden Militärhaarschnitt und den traurigen blauen Augen besaß eine enorm hohe Toleranzgrenze, was an seiner Ausbildung zum Polizeibeamten und seiner jahrelangen Tätigkeit in einem Spezialeinsatzkommando liegen mochte. Er war nur ein einziges Mal in seinem Leben ausgerastet, als er den Nachbarn dabei erwischte, wie er seiner fünfjährigen Tochter den Schwanz in den Mund steckte. Der Nachbar war an seinem eigenen Penis erstickt.
Jetzt waren nur Johanssons harte Atemzüge zu hören; er litt wieder an Magenschmerzen. So wie seine Abwinde stanken, musste er innerlich halb verrottet sein, aber Erik würde sich hüten, ein ernsthaftes Wort darüber zu verlieren. Irgendein Zusammenhang bestand zwischen Magenbeschwerden und diesen Beichten, und er war insgeheim froh, dass es ihm selbst nicht so schlecht ging. Er hatte nur ein ertragbares Völlegefühl. Blieb die Frage, wie lange noch. Immer häufiger hörte er von diffusen Magenbeschwerden innerhalb der JVA, erlebte wenig später eine Beichte und sah, wie der Betroffene von der Garde oder einem Konfessor weggebracht wurde. Ob bei ihm auch irgendwann die Magenbeschwerden einsetzten? Auch er war kein Anhänger Kehlis’.
Egal. Erik würde sich nicht beschweren wie damals in Grauach. Noch einmal dreizehn Tage in einer Gardedirektion würde er nicht überstehen. Außerdem hatte er noch Wünsche und Pläne – im Gegensatz zu vielen anderen Inhaftierten. Proportional zur Haftdauer schienen bei den meisten die Wünsche abzunehmen. Am Ende blieben simple Verlangen übrig: das eigene Kind auf die Stirn küssen, die Ehefrau in den Arm nehmen, keine Schmerzen mehr haben.
Erik wollte hingegen noch an Australiens Küste mit Haien tauchen, in Japan Kugelfisch essen (und überleben), wieder eine Stammkneipe besitzen, sich ein Haus am See kaufen, sich darin eine Minibar mit einem sechzig Jahre alten Single Malt Whisky der Marke Springbank 1919 einrichten, Kubanische in die Holzbox darüber stecken, ein Hochbeet mit Erdbeeren bepflanzen und eine Klobrille aus transparentem Kunststoff mit integriertem Stacheldraht im Gästeklo montieren.
Es wurde heiß an seinen Fingern. Erik nahm einen letzten Zug von der Zigarette, drückte den Stummel in einer zum Aschenbecher umfunktionierten Wurstdose der Marke JK’s aus und behielt den Rauch lange in den Lungen, um möglichst viel Nikotin aufzunehmen. Als er den blauen Dunst gen Zellendecke blies, zog sich ein grüner Lichtstrahl mitten durch den Raum, um über der Zellentür in einem grellen Punkt zu enden.
Erik glotzte den Laser an. Der Strahl erlosch, ging wieder an, brannte eine Sekunde, erlosch, ging wieder für eine Sekunde an und erlosch.
Erik blickte auf die dunkle Wand, dann war er wieder da, der grüne Punkt – für eine Sekunde, nur um zweimal kurz zu blinken und wieder für eine Sekunde zu leuchten.
Lang, kurz, kurz, lang. Ein Code.
Tatsächlich folgte eine weitere Sequenz: Kurz, kurz, lang, kurz. Pause.
Lang, lang, lang. Pause.
Lang, kurz, kurz, lang.
Eriks Herzschlag begann zu rasen. Das war der internationale Morsecode!
»Scheiße!« Er fingerte abermals nach den Zigaretten, steckte sich eine zweite an, um den Strahl mithilfe des Rauchs besser sichtbar zu machen. Wie war das Morse-Alphabet gegangen? Er hatte es in der siebten oder achten Klasse des Gymnasiums in Informatik gelernt, nicht unbedingt sein Lieblingsfach. Wer konnte schon ahnen, dass man so einen Mist dreißig Jahre später im wahren Leben brauchen würde?
Lang, lang, lang fiel ihm als Erstes wieder ein, weil es Bestandteil des wichtigsten Codes war, den wohl jeder kannte. Es stand für den Buchstaben O, der Mittelteil des Notrufs SOS.
Dann kam auch die Codefolge lang, kurz, kurz, lang in sein Gedächtnis zurück, weil sie symmetrisch angelegt war. Sie stand für den Buchstaben X.
Die letzte Codefolge, mit der die Nachricht gestartet hatte, erriet er mehr, als dass er sie wusste, aber es konnte nur ein Buchstabe sein: F.
FOX.
Erik beugte sich aus dem Stockbett zum Fenster, stützte sich mit einem Arm auf eine Querstrebe der inneren Vergitterung, verbrannte sich beinahe an der Glut der Zigarette und spähte hinaus in die Nacht. Er sah das Altgewohnte: eine verlassene Straße – momentan mit gefrorenen Schneehaufen alle paar Meter –, die Baustelle schräg gegenüber und dahinter die schwarzen Umrisse des Stadtparks, bis ihn der Laser ins Auge traf und blendete. Er riss den Kopf zur Seite.
Kurz, kurz, lang, kurz.
Die Nachricht begann sich zu wiederholen.
Wer wollte ihn da erreichen? Und warum? Suchte jemand nach seiner Zelle, um … ja, um was? Ihm Informationen zukommen zu lassen? Ihn rauszuholen? Ihn zu ermorden? Alles war möglich, doch Letzteres eher unwahrscheinlich. Wenn jemand den Fuchs tot sehen wollte, bräuchte derjenige nur einen Häftling wie den Romanello bestechen; und es wäre nicht mal teuer. Der würde sogar seine Mutter für ’ne Dose Pulverkaffee erdrosseln.
Eriks Finger tasteten zum dritten Mal nach dem Feuerzeug. Er würde eine Antwort absetzen. Selbst wenn nichts dabei rumkam, war es ein willkommener Zeitvertreib.
Er hielt das Feuerzeug ins Fenster zwischen die Gitterstäbe, ließ die Flamme erblühen – und gleich wieder erlöschen. Das war Schwachsinn. Ein starker Laserstrahl reichte kilometerweit, wer sah aus so einer Entfernung ein mickriges Flämmchen? Mit einem Zielfernrohr vielleicht? Erik verzog das Gesicht. Möglich, aber es gab auch Laserpointer ohne Zielfernrohr. Er brauchte eine besser sichtbare Antwort.
Johansson lag auf der Seite mit dem Gesicht zur Wand, die Haare schweißnass, als Erik aus dem Stockbett kletterte. Mit einem Satz war er an ihrem gemeinsamen Tisch an der gegenüberliegenden Wand. Darauf stand eine Leselampe mit beweglichem Reflektorschirm. Erik richtete ihn aufs Fenster und schaltete das Licht an. Was sollte er morsen? Eine Bestätigung natürlich, ein simples Ja. Nur wie ging ein J? Er erinnerte sich nicht.
Sein Zeigefinger verharrte auf dem Schalter der Lampe. Er musste etwas tun. Das Licht brennen zu lassen war keine Option, das sagte dem Sender rein gar nichts, verwirrte ihn eher. Erik! Tu was! Sein Hirn gehorchte und lieferte die Erinnerung an zwei weitere Buchstaben: seine Initialen. Das E war der einfachste Code: Kurz, das K war länger: lang, kurz, lang.
Er begann sofort, die beiden Buchstaben mit der Nachttischlampe zu morsen. Knacknack.
Währenddessen rührte sich Johanssons massiger Rücken, aber der ehemalige Polizist drehte sich nicht um. Zur Wand hin fragte er: »Erik?«
Der Schalter der Schreibtischlampe knackte und knackte und knackte. Knack … knack, Knacknack, Knack … knack. »Ja.«
»Was wird das?«
»Nichts.« Knacknack. Pause. Knack … knack, Knacknack, Knack … knack.
»Nichts?«
»Nur so was wie ’n epileptischer Anfall. Gleich vorbei.« Knacknack. Pause. Knack … knack, Knacknack.
»Erik.« Das Wort kam gefährlich leise, zwischen Zähnen hindurchgepresst.
»Ja.« Knack …
»Wenn du nicht sofort aufhörst, dann …«
Knack. »Schon fertig.« Dreimal hatte er seine Initialen gesendet, was reichen sollte. Er sank gegen die Stuhllehne, blickte hoch zur Decke. Die zweite Zigarette war bis zum Filter abgebrannt, die Glut auf den Schreibtisch gefallen und zu Asche erstarrt.
Komm schon!, forderte Erik. Antworte!
Nichts geschah. Der Laserstrahl zeigte sich nicht mehr.
Erik schluckte hart. Bleib ruhig! Wer auch immer dir gemorst hat, hat sicher deine Antwort erhalten und verstanden, dass du es bist. Nur, wer war dort draußen? Wer wollte den Fuchs kontaktieren? Und wozu?
Erik wischte sich Schweiß von der Stirn, betrachtete einen Moment lang Noah Johanssons breiten Rücken. Der Hüne hatte sich wieder entspannt und offenbar von der eingegangenen Botschaft nichts mitbekommen. Gut. Erik kletterte zurück aufs Bett, um von dort ein weiteres Mal aus dem Fenster zu spähen.
Direkt vor dem Gebäude – einem Ende des achtzehnten Jahrhunderts errichteten dreigeschossigen Sandsteinquaderbau mit Walmdach – lag die von kniehohen Hecken begrenzte Rasenfläche. Von dort aus warfen drei Fassadenscheinwerfer das Licht herauf in den ersten Stock. Um nicht geblendet zu werden, schirmte Erik mit der Hand sein Gesicht ab. Hinter der schneebedeckten Rasenfläche verlief parallel zum JVA-Gelände die Fauststraße. Nicht ein Auto war darauf unterwegs, nur am gegenüberliegenden Straßenrand parkten hinter einer Absperrung einige Baustellenfahrzeuge im Lichtschein zweier Laternen. Das von Mutterboden befreite Eckgrundstück dahinter glich einem Krater, von Schnee- und Erdwällen begrenzt. Angeblich wurde dort ein JK’s-Supermarkt errichtet. Ein gewaltiger Radlader stand wie ein Räumfahrzeug inmitten des Lochs. Von dort war der Laser nicht gekommen, der Winkel stimmte nicht. Er musste von noch weiter hinten, aus Richtung des Wohngebiets, gesendet worden sein.
Erik kniff die Augen zusammen, versuchte, in der Nacht Gestalten auszumachen, doch die Dunkelheit blieb nichts als Dunkelheit. Nur auf der gut einhundert Meter entfernten Hauptstraße, auf die man von der kreuzenden Martinstraße gelangte, huschten auf vier Fahrbahnen Pkws vorbei.
Er atmete tief durch. Welchen Sinn hatte es, ihn als Empfänger einer Botschaft zu adressieren, ohne einen Inhalt zu übermitteln? War dem Sender etwas dazwischengekommen? Musste er warten, bevor er weitersenden konnte?
Abermals ließ Erik seinen Blick über Fauststraße, Kreuzung Martinstraße und das Baustellengelände schweifen, bevor er sich zurück aufs Bett legte, um die Wand über der Zellentür zu fixieren. Sie war grau und trist, nicht tapeziert und bar jeder Verzierung. Der Putz war unregelmäßig aufgetragen.
Kein grüner Punkt erschien.
Er hielt es im Bett nicht aus, schwang die Beine über die Kante, ließ sich hinabgleiten und schlüpfte in seine Turnschuhe, um in der Zelle auf und ab zu gehen, immer die Wand über der Tür im Blick. Der Fuchs marschierte häufig, um zu grübeln.
Nach der zweiten Runde knarrte wieder Johanssons Matratze. Sein Gesicht glänzte wächsern, die Augen lagen in dunklen Höhlen. »Muss das sein?«
Erik sah nur kurz zu seinem Zellengenossen. Er kannte diesen Blick eines Leidenden, der einfach nur seine Ruhe haben wollte. »Mein Bein ist eingeschlafen«, log er. »Ich leg mich gleich wieder hin.«
Johansson ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken, musterte die Unterseite von Eriks Bett. Seine Hände drückten ungeniert auf seinem Unterbauch herum, bis er erneut furzte und erleichtert seufzte. »Warum beichtest du mich eigentlich nicht?«
»Soll ich?«, fragte Erik ohne innezuhalten. »Zweifelst du an deinem Platz im System? Zweifelst du am System selbst?«
Johanssons Lachversuch endete in einem Keuchen. Sein Magen gluckerte laut. »Ich weiß, wo mein Platz ist«, presste er hervor, »aber weißt du das auch?«
»Selbstverständlich.«
»Und warum pochst du dann nicht gegen diese verdammte Tür und schreist nach einem Wärter? Warum leide ich noch?«
»Weil du dich nie negativ gegenüber unserem Herren geäußert hast.«
»Und die Magenschmerzen? Die Fürze? Die riecht man sogar in der Knastschlosserei!«
Erik blieb ruhig, erklärte mit seiner Apothekerstimme: »Die können verschiedene Ursachen haben: Fäulnisflora, Candida albicans, Lebensmittelunverträglichkeit, Gallensteine. Alle vier Möglichkeiten sind bei unserer Ernährungsversorgung hochwahrscheinlich. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Aber das glaubst du doch selbst nicht!«
Nein, das glaubte er selbst nicht, aber Ahnung hatte er auch keine. Er seufzte. »Soll ich dir ’nen Strick knüpfen?« Er sah wieder hoch zur Wand über der Zellentür, an der immer noch kein Laser zu sehen war. Scheiße.
Johanssons Stimme war leise. »Vielleicht wäre es das Beste.«
Erik drehte sich nun doch zu seinem Zellengenossen um. Der lag wieder in Embryonalstellung mit dem Gesicht zur Wand, eine Hand schützend um seinen Bauch geschlungen. Vielleicht sollte ich ihn wirklich zum Schweigen bringen, bevor er mir gefährlich wird. Aber Erik Krenkel war kein Mörder, und beichten wollte er auch nicht, nicht jetzt, wo er eine Laser-Morse-Botschaft in seine Zelle erhalten hatte. Da brauchte er kein Aufsehen, keinen neuen Zellengenossen, keinen Gardisten oder gar einen Konfessor, der ihm Fragen über Noah Johanssons Abwinde stellte.
Erik wollte wieder aufs Stockbett klettern, als sich wie der klagende Ruf einer Frau Sirenengeheul im Gebäude erhob. Es fuhr ihm durch Mark und Bein. Der Feueralarm.
Um 23.41 Uhr ging auch in der Einsatzzentrale der Berufsfeuerwehr Kronthal der Alarm los. Die Wachleute der Justizvollzugsanstalt meldeten per Telefon extrem starke Rauchentwicklung am Hauptgebäude, Verdacht auf Großbrand. Alarmstufe B4 wurde ausgerufen, Garde und Notarzt wurden verständigt. Die ersten Einsatzkräfte saßen wenige Minuten später in ihren Fahrzeugen. Da bei einem Brand in einer Justizvollzugsanstalt besondere Sicherheitsmaßnahmen samt Evakuierungsvorschriften griffen, wurden zur Verstärkung die freiwilligen Wehren der umliegenden Gemeinden angefordert. Insgesamt rückten elf Fahrzeuge und fast siebzig Kameraden aus.
Sie sammelten sich vor dem Gefängnis an der Kreuzung Martin- und Fauststraße, direkt vor der Baustelle. Im ganzen Straßenzug und um die JVA herum erschwerte Qualm die Sicht. Die seit zwei Tagen anhaltende Inversionswetterlage ermöglichte es dem Rauch nicht, nach oben abzuziehen. Mit jeder Minute wurde es nebliger.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die JVA-Beamten schon mit der Räumung des Haftbereichs begonnen und brachten die Gefangenen vor den möglicherweise giftigen Dämpfen in Sicherheit.
Überall in der JVA donnerten Häftlinge mit Fäusten gegen Zellentüren, schrien, was los sei, dass es brenne, dass man sie rauslassen solle, dass die Wärter verdammte Arschlöcher seien, die sie einfach im Feuer verrecken ließen. Die Wärter brüllten dagegen, beruhigten, schimpften, fluchten, schwere Schlüsselbunde klimperten, Stiefelsohlen pochten, Sicherheitsschleusen knackten, und über allem hing das klagende Heulen der Sirene.
Auch Erik stand an der Zellentür, musterte das taubengrau lackierte Metall, während sich seine Hände schlossen und öffneten. Klopfen war sinnlos. Es gab im Falle eines Brandes einen Evakuierungsplan; man würde sie in einer vorgegebenen Reihenfolge aus den Zellen holen und aus dem vom Feuer betroffenen Trakt in einen sicheren Bereich bringen. Nur wohin, wenn das einzige Gebäude brannte? In den Innenhof, in dem sonst der Hofgang stattfand?
Auf dem Bett hatte sich Johansson aufgerichtet und musterte ihn aus glasigen Augen, als Erik zu ihrem gemeinsamen Schrank trat. »Hat das was mit deinem epileptischen Anfall zu tun?«, fragte Johansson.
Erik sparte sich eine Antwort, zog seine Trainingsjacke hervor und schlüpfte hinein. Der Zipper surrte nach oben. Die von Johansson warf er ihm zu.
»Was wird das?«
»Vermutlich Hofgang. Ich würd Schuhe anziehen. Ist verdammt frisch draußen.« Erik kramte nach seiner Wollmütze der Marke Knastmasche, die von Insassen Kronthals unter Aufsicht gehäkelt und ihm gegen eine Flasche Fuchsspritz vermacht worden war. Der Wollstoff dämpfte den Lärm.
Die Stimmen und das Klimpern eines Schlüsselbunds hörte er trotzdem. Beides näherte sich, es folgte das Knacken des Zellenschlosses. Die Tür schwang auf. Die Wachmänner Kaimann und Gosig standen im Türrahmen, beide blass mit gehetzten Blicken. An ihren Gürteln hingen Funkgeräte, die knackten und kratzige Worte ausspuckten.
»Krenkel! Johansson!« Gosig schwenkte zwei Handschellen. »Raus! Beeilung! Beeilung! Und keine Faxen machen!«
Erik trat über die Schwelle, hielt Gosig folgsam die Hände hin. Die Handschelle schnappte zu. Dann war Johansson an der Reihe. Er hatte sich tatsächlich noch schnell Turnschuhe angezogen, die Schnürsenkel hingen ungebunden auf den Boden. Um seine Handgelenke schlossen sich ebenfalls Handschellen.
Flankiert von den Wärtern ging es Richtung Treppenhaus. Auch aus anderen Zellen wurden Häftlinge geholt und jeweils von zwei Wachmännern begleitet, alles lief korrekt nach Vorschrift.
Auch wenn er innerlich nervös wurde, lief Erik ruhig den Flur entlang, von dessen Wänden ihre Schritte zurückhallten. Je mehr Häftlinge aus den Zellen geholt wurden, desto mehr nahm der Lärm ab, bis auf die Sirene.
Auf dem Weg nach unten ins Erdgeschoss passierten sie eine Reihe Schleusen und Gittertore, und Kaimann sperrte immer eines vor ihnen auf und hinter ihnen wieder zu, auch wenn nur zehn Meter nach ihnen das nächste Paar hinausgeführt wurde. Ständig zeigte er seinen Ausweis an einer Kontrolle einem wartenden Beamten, als würde nicht gerade das Gebäude abfackeln.
Die letzte vergitterte Tür öffnete sich. Eisige Luft wallte ihnen entgegen, geschwängert mit Rauch und dem Geruch von Verbranntem. Fast wie an Silvester oder im Stadion. Die Stacheldrahtrollen auf den Mauern blitzten von Blaulichtern, selbst die neblige Luft schien zu glühen. Weitere Sirenen waren zu hören, Motoren brummten, Dieselgeneratoren ratterten – die Feuerwehr war vermutlich eingetroffen.
Ein weiterer Beamter der JVA wartete neben dem Ausgang und bestätigte Eriks Vermutung, indem er zu Kaimann sagte: »Die zwei müssen noch zum Sammelpunkt H3, dann fehlt von euch nur noch Zelle einhundertzwei. Beeilt euch! Die Feuerwehr will zum Löschen sicherheitshalber den Saft abdrehen.«
Kaimann nickte nur und deutete auf den hinteren Bereich des Hofs. Ein gutes Dutzend Gefangener wartete zwischen Tischtennisplatte und Klimmzugstange, bewacht von drei Wachleuten. Ähnliche Sammelpunkte gab es auch in den anderen Ecken des Innenhofs. Erik schätzte, dass bereits knapp 70 der 106 Inhaftierten in die Kälte gebracht worden waren.
Als sie sich zu den Männern gesellten, blickte Erik hoch zum Gebäude. An mehreren Stellen stieg zäher Qualm vom Walmdach auf, suchte sich jedoch sofort den Weg nach unten. Erik verzog das Gesicht. Inversionswetterlage. Das konnte ja heiter werden. Oder war das gerade ideal?
Neugierig sah er sich um. Hinter der Mauer, die sich direkt ans Gefängnisgebäude anschloss, lag die Fauststraße. Dort gingen grelle Strahler an, ausgerichtet aufs Dach. Feuerwehrleute brüllten Befehle. Weitere Gefangene wurden herausgeführt. Noch mehr Sirenen heulten mit ihren Brüdern und Schwestern.
Curtis Romanello trat neben Erik. »Endlich mal was los, wa?« Begeisterung blitzte in den Augen des Mittdreißigers, der wegen räuberischer Erpressung und schwerer Körperverletzung zu acht Jahren verurteilt worden war.
Erik zuckte nur mit den Schultern, versuchte, sich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren.
Offenbar wurden die letzten zwei Häftlinge herausgeführt, begleitet von Kaimann und Gosig. Ein dritter Wachmann verriegelte den Eingang und plärrte in sein Funkgerät, dass alle Insassen evakuiert seien. Einige Sekunden später erlosch die Beleuchtung des Hauptgebäudes, die Fenster wurden dunkel. Die Strahlen der Scheinwerfer und Blaulichter draußen auf der Straße schnitten schärfer durch die immer dichter werdende Luft. Einige Gefangene grölten vor Begeisterung, schlugen ihre Handschellen lautstark gegeneinander.
Erik wollte lieber die Hände in den Taschen seiner Trainingsjacke vergraben, was wegen der Handschellen nicht ging, also ließ er sie sinken. Sein Atem hing als grauer Dunst vor seinem Gesicht.
Plötzlich röhrte etwas. Entsetzensschreie folgten, ließen alle zur Außenmauer blicken. Zwei Lichtkegel näherten sich, angeschnitten von der oberen Mauerkante. Metall kreischte. Leute brüllten. Etwas splitterte. Dann erzitterte der Boden.
Erik suchte Halt an der Klimmzugstange, und das keinen Moment zu spät. Der Boden bebte abermals, es röhrte noch lauter, dann rumste es so ohrenbetäubend, als wäre Gottes Faust gegen die Mauer gesaust – und tatsächlich: Die Gefängnismauer mit den Stacheldrahtrollen obenauf neigte sich nach innen, weiter, weiter und weiter … und kippte. Mauersteine gaben nach, es knirschte, Mörtel platzte in alle Richtungen davon, und mehrere Tonnen Stein krachten in den Innenhof. Eine Staubwolke walzte Erik entgegen. Im letzten Moment drehte er ihr den Rücken zu, umklammerte das Metall des Sportgeräts und schloss die Augen. Wie Sandpapier schmirgelten Staub und Mörtel über seine Wangen, nahmen ihm den Atem, fanden den Weg in seine Augen.
Das Röhren kam näher. Jemand schrie vor Schmerz. Der Boden vibrierte heftiger.
Erik spuckte aus, keuchte, blinzelte. Ein gewaltiger Radlader walzte sich über die Mauerreste und quer über den Innenhof, das Schaufelmaul mit den handtellergroßen Zähnen weit aufgerissen. Staub wallte um das Ungetüm, einzelne Mauerbrocken fielen wie Krümel aus dem Schlund. Ein Wärter verschwand kreischend unter einem der Räder.
Erik riss sich von dem Anblick los, richtete seine Aufmerksamkeit auf die umgekippte Mauer. Die Freiheit war knapp sieben Meter breit, eingehüllt in wallenden Rauch. Feuerwehrfrauen und -männer standen auf der Straße, nur als Schemen zu erkennen, und verfolgten ungläubig die Amokfahrt des Radladers. Andere rannten bereits in den Innenhof, darunter Sanitäter und Gardisten, um Verletzten zu helfen und die Gefangenen an der Flucht zu hindern.
Erik stolperte auf die Freiheit zu, genauso wie etliche Mithäftlinge. Zum Glück hatte er Schuhe angezogen. Lose Backsteine und Mörtelbrocken wollten ihn zu Fall bringen. Einer heruntergerissenen Stacheldrahtrolle wich er aus. Ein Feuerwehrmann in Vollmontur, Atemmaske und heruntergeklapptem Visier eilte auf ihn zu. Erik wollte ihm ausweichen, doch der Kerl war unglaublich schnell. Seine behandschuhten Hände griffen nach ihm, packten ihn, doch statt ihn aufzuhalten, zerrten sie ihn weiter, legten ihm dabei eine Feuerwehrjacke um die Schultern. Aus einem Ausrüstungsrucksack zog der Kerl eine weitere Atemmaske, drückte sie Erik übers Gesicht. Das Visier war völlig mit Ruß verschmiert, sodass Erik nur noch schlierenhaft die Umgebung erkennen konnte. Viel musste er aber auch nicht sehen. Er spürte, wie der Feuerwehrmann ihm steife Handschuhe mit Unterarmschutz überstreifte, die die Handschellen verbargen, dann stützte er ihn, zischte etwas, das Erik wegen des Lärms nicht verstand, und brachte ihn aus dem Innenhof. Gemeinsam wankten sie an den versammelten Feuerwehrleuten vorbei, stiegen über Löschwasserschläuche, wichen Fahrzeugen, Strahlern und Gardisten aus. In Eriks Kopf pochte es – die Sirenen, der Lärm, die Schreie.
Ein Notarzt wollte ihnen helfen, doch sein Retter winkte ab, deutete auf den Gehsteig. Man ließ von ihnen ab, und unbehelligt erreichten sie erst die andere Straßenseite, dann die Kreuzung zur Martinstraße und dort einen geparkten schwarzen Mittelklassewagen. Die Blinker leuchteten auf. Sein Begleiter öffnete die Beifahrertür, drückte ihn in den Sitz, umrundete die Motorhaube und sank hinters Steuer. Die Atemmaske riss er sich vom Gesicht, warf sie achtlos auf die Rücksitzbank, genauso wie den Helm. Zum Vorschein kam ein bärtiges Gesicht, darüber feuchte Haare.
Der Wagen fuhr an, noch bevor Erik die Beifahrertür zugezogen hatte.
Die nächste Kreuzung war wenige Sekunden später heran. Der Pkw bog rechts ab, nahm die lang gezogene Auffahrt zur Hauptstraße mit der vorgegebenen Geschwindigkeit und reihte sich in den Verkehr ein. Auf der Gegenfahrbahn blitzten Blaulichter, und mehrere Gardefahrzeuge bogen von der Hauptstraße ab, um vermutlich die JVA anzusteuern.
Der Bärtige hinterm Steuer blieb ruhig. Er setzte den Blinker, wechselte auf die linke Spur und beschleunigte. Im Licht der vorbeihuschenden Straßenlaternen glänzte an seinem Handgelenk unter der Feuerwehrmontur eine silberne Armbanduhr.
Erik betrachte den falschen Feuerwehrmann, das verstrubbelte Haar, den sauber gestutzten Vollbart und die dünne silbrige Narbe parallel zur Nase. Er nahm sich selbst die Atemmaske ab. »Hätt ich mir denken können.« Er lachte, bekam Staub in den Rachen, hustete, dann schüttelte er den Kopf. »Ein Radlader. Wie kreativ!«
Ein grimmiges Lächeln huschte über das Gesicht des Fahrers.
»Und erst die Rauchbomben«, fuhr Erik fort. »Und der Laser-Morse-Code. Wie dämlich war der bitte? Ohne Inhalt.«
»Du warst vorgewarnt.«
»Super! Du hättest ruhig ’ne ganze Botschaft schicken können. Ich hätt sie schon entziffert. Ich bin nicht umsonst der Fuchs.«
»Das nächste Mal vielleicht.« Malek Wutkowski grinste, nahm die Rechte vom Lenkrad und hielt sie Erik hin.
Der schlug mit seinen gefesselten Händen ein. »Schön, dich zu sehen!«