Hans Magnus Enzensberger
Gedichte
1950-2020
Suhrkamp
Utopia
Geburtsanzeige
Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer
Blindlings
An alle Fernsprechteilnehmer
Schaum
Wortbildungslehre
Küchenzettel
Notizbuch
Mund
Rädelsführer
Bibliographie
Middle Class Blues
Weiterung
Die Verschwundenen
Leuchtfeuer
Flechtenkunde
Trigonometrischer Punkt
Mehrere Elstern
Windgriff
Schattenbild
Schattenreich
Das leere Haus
Über die Schwierigkeiten der Umerziehung
Poetik-Vorlesung
Vorschlag zur Strafrechtsreform
Lied von denen auf die alles zutrifft und die alles schon wissen
Die Scheiße
Die Macht der Gewohnheit
Hommage à Gödel
Das Blumenfest
Einführung in die Handelskorrespondenz
Das Einverständnis
Die Männer mit den hellen Hüten
Giovanni de' Dondi (1318-1389)
Niccolò Machiavelli (1469-1527)
Jacques de Vaucanson (1709-1782)
Michail Aleksandrovič Bakunin (1814-1876)
Ernesto Guevara de la Serna (1928-1967)
Apokalypse. Umbrisch, etwa 1490
Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert
Die Ruhe auf der Flucht. Flämisch, 1521
Innere Sicherheit
Verlustanzeige
Der Aufschub
Schwacher Trost
Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen
Erkenntnistheoretisches Modell
Erkennungsdienstliche Behandlung
Andenken
Der Angestellte
Die Dreiunddreißigjährige
Die Scheidung
Stadtrundfahrt
Das Falsche
Kurze Geschichte der Bourgeoisie
Finnischer Tango
Früher
Nicht Zutreffendes streichen
Gemeinschaftskunde
Die Kleider
Ein Traum
Kein Anschluß unter dieser Nummer
Der Fliegende Robert
Die Furie
Konsistenz
Chinesische Akrobaten
Zur Frage der Bedürfnisse
Alte Revolution
Verschwundene Arbeit
Der Eisenwarenladen
Zum Ewigen Frieden
Ein Hase im Rechenzentrum
Vorgänger
Kiosk
Der Krieg, wie
Privilegierte Tatbestände
Der blecherne Teller
Altes Europa
Audiosignal vom 15. Mai 1912 Störpegel 〉8 μW, Störabstand 〉22 db
Schöner Sonntag
Auch eine Offenbarung
Der Neue Mensch
Altes Medium
Für Karajan und andere
Die Visite
Empfänger unbekannt – Retour à l'expéditeur
Optimistisches Liedchen
Kriegserklärung
Ein schwarzer Tag
Zahlungsmittel
Prästabilierte Disharmonie
Leichter als Luft
Aesculus hippocastanum
Leisere Töne
Alte Heimat
Unpolitische Vorlieben
Curriculum vitae
Ghasele zum Abschied
Eine zarte Regung
Woran ich es fehlen lasse
Abschiedsgruß an die Astronauten
Letzte Leerung
Die Große Göttin
Unterlassungssünden
Andenken an den prägnanten Moment
U-Bahn Wittenbergplatz
Die Vorzüge meiner Frau
Profane Offenbarung
Vor dem Techno und danach
Kindersoldaten
Interferenz
Sterne
Allerhand Ärger
Kleiner Abgesang auf die Mobilität
Haustier
Die Knöpfe
Ein erdfarbenes Liedchen
Creditur
Die Geschichte der Wolken
Gleichgewichtsstörung Hendrick Avercamp (Amsterdam 1585-Kampen 1634)
Unter der Hirnschale
Wo sich Pilatus die Hände wusch
Holiday Inn Blues
Haar
Rätsel
Probleme
Leviathan
Zur Erinnerung an Professor Kurzweil (1926-)
Eine Altersfrage
Schwere Koffer
Das waren Zeiten
Ein Berliner Empfang
Die Zerknirschung
Vor dem Rücktritt
Mehr oder weniger
Gäste
Nürnberg 1935
Die Seife
Blauwärts
Intimität
Reparaturen
Eventuell
Imagepflege
Anteilnahme
In der Fußgängerzone
Der Kranführer
Ohne mich, oder Die Lust am performativen Widerspruch
Chardin
Der Triumph war seine Sache nicht
Copyrightangaben
Alphabetisches Verzeichnis der Gedichttitel
Der Tag steigt auf mit großer Kraft
schlägt durch die Wolken seine Klauen
Der Milchmann trommelt auf seinen Kannen
Sonaten: himmelan steigen die Bräutigame
auf Rolltreppen: wild mit großer Kraft
werden schwarze und weiße Hüte geschwenkt.
Die Bienen streiken. Durch die Wolken
radschlagen die Prokuristen,
aus den Dachluken zwitschern Päpste.
Ergriffenheit herrscht und Spott
und Jubel. Segelschiffe
werden aus Bilanzen gefaltet.
Der Kanzler schussert mit einem Strolch
um den Geheimfonds. Die Liebe
wird polizeilich gestattet,
ausgerufen wird eine Amnestie
für die Sager der Wahrheit.
Die Bäcker schenken Semmeln
den Musikanten. Die Schmiede
beschlagen mit Eisernen Kreuzen
die Esel. Wie eine Meuterei
bricht das Glück, wie ein Löwe aus.
Die Wucherer, mit Apfelblüten
und mit Radieschen beworfen,
versteinern. Zu Kies geschlagen,
zieren sie Wasserspiele und Gärten.
Überall steigen Ballone auf,
die Lustflotte steht unter Dampf:
Steigt ein, ihr Milchmänner,
Bräutigame und Strolche!
Macht los! mit großer Kraft
steigt auf |
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der Tag. |
Wenn dieses Bündel auf die Welt geworfen wird
die Windeln sind noch nicht einmal gesäumt
der Pfarrer nimmt das Trinkgeld eh ers tauft
doch seine Träume sind längst ausgeträumt
es ist verraten und verkauft
wenn es die Zange noch am Schädel packt
verzehrt der Arzt bereits das Huhn das es bezahlt
der Händler zieht die Tratte und es trieft
von Tinte und von Blut der Stempel prahlt
es ist verzettelt und verbrieft
wenn es im süßlichen Gestank der Klinik plärrt
beziffern die Strategen schon den Tag
der Musterung des Mords der Scharlatan
drückt seinen Daumen unter den Vertrag
es ist versichert und vertan
noch wiegt es wenig häßlich rot und zart
wieviel es netto abwirft welcher Richtsatz gilt
was man es lehrt und was man ihm verbirgt
die Zukunft ist vergriffen und gedrillt
es ist verworfen und verwirkt
wenn es mit krummer Hand die Luft noch fremd begreift
steht fest was es bezahlt für Milch und Telefon
der Gastarif wenn es im grauen Bett erstickt
und für das Weib das es dann wäscht der Lohn
es ist verbucht verhängt verstrickt
wenn nicht das Bündel das da jault und greint
die Grube überhäuft den Groll vertreibt
was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft
mit unerhörter Schrift die schiere Zeit beschreibt
ist es verraten und verkauft.
Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?
Was verlangt ihr vom Schakal,
daß er sich häute, vom Wolf? Soll
er sich selber ziehen die Zähne?
Was gefällt euch nicht
an Politruks und an Päpsten,
was guckt ihr blöd aus der Wäsche
auf den verlogenen Bildschirm?
Wer näht denn dem General
den Blutstreif an seine Hose? Wer
zerlegt vor dem Wucherer den Kapaun?
Wer hängt sich stolz das Blechkreuz
vor den knurrenden Nabel? Wer
nimmt das Trinkgeld, den Silberling,
den Schweigepfennig? Es gibt
viel Bestohlene, wenig Diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
steckt die Abzeichen an, wer
lechzt nach der Lüge?
Seht in den Spiegel: feig,
scheuend die Mühsal der Wahrheit,
dem Lernen abgeneigt, das Denken
überantwortend den Wölfen,
der Nasenring euer teuerster Schmuck,
keine Täuschung zu dumm, kein Trost
zu billig, jede Erpressung
ist für euch noch zu milde.
Ihr Lämmer, Schwestern sind,
mit euch verglichen, die Krähen:
ihr blendet einer den andern.
Brüderlichkeit herrscht
unter den Wölfen:
sie gehn in Rudeln.
Gelobt sein die Räuber: ihr,
einladend zur Vergewaltigung,
werft euch aufs faule Bett
des Gehorsams. Winselnd noch
lügt ihr. Zerrissen
wollt ihr werden. Ihr
ändert die Welt nicht.
Siegreich sein
wird die Sache der Sehenden
Die Einäugigen
haben sie in die Hand genommen
die Macht ergriffen
und den Blinden zum König gemacht
An der abgeriegelten Grenze stehn
blindekuhspielende Polizisten
Zuweilen erhaschen sie einen Augenarzt
nach dem gefahndet wird
wegen staatsgefährdender Umtriebe
Sämtliche leitende Herren tragen
ein schwarzes Pflästerchen
über dem rechten Aug
Auf den Fundämtern schimmeln
abgeliefert von Blindenhunden
herrenlose Lupen und Brillen
Strebsame junge Astronomen
lassen sich Glasaugen einsetzen
Weitblickende Eltern
unterrichten ihre Kinder beizeiten
in der fortschrittlichen Kunst des Schielens
Der Feind schwärzt Borwasser ein
für die Bindehaut seiner Agenten
Anständige Bürger aber trauen
mit Rücksicht auf die Verhältnisse
ihren Augen nicht
streuen sich Pfeffer und Salz ins Gesicht
betasten weinend die Sehenswürdigkeiten
und erlernen die Blindenschrift
Der König soll kürzlich erklärt haben
er blicke voll Zuversicht in die Zukunft
Etwas, das keine Farbe hat, etwas,
das nach nichts riecht, etwas Zähes,
trieft aus den Verstärkerämtern,
setzt sich fest in die Nähte der Zeit
und der Schuhe, etwas Gedunsenes,
kommt aus den Kokereien, bläht
wie eine fahle Brise die Dividenden
und die blutigen Segel der Hospitäler,
mischt sich klebrig in das Getuschel
um Professuren und Primgelder, rinnt,
etwas Zähes, davon der Salm stirbt,
in die Flüsse, und sickert, farblos,
und tötet den Butt auf den Bänken.
Die Minderzahl hat die Mehrheit,
die Toten sind überstimmt.
In den Staatsdruckereien
rüstet das tückische Blei auf,
die Ministerien mauscheln, nach Phlox
und erloschenen Resolutionen riecht
der August. Das Plenum ist leer.
An den Himmel darüber schreibt
die Radarspinne ihr zähes Netz.
Die Tanker auf ihren Helligen
wissen es schon, eh der Lotse kommt,
und der Embryo weiß es dunkel
in seinem warmen, zuckenden Sarg:
Es ist etwas in der Luft, klebrig
und zäh, etwas, das keine Farbe hat
(nur die jungen Aktien spüren es nicht):
Gegen uns geht es, gegen den Seestern
und das Getreide. Und wir essen davon
und verleiben uns ein etwas Zähes,
und schlafen im blühenden Boom,
im Fünfjahresplan, arglos
schlafend im brennenden Hemd,
wie Geiseln umzingelt von einem zähen,
farblosen, einem gedunsenen Schlund.