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Endnoten

1 Dieses Zeichen findet sich in allen Terma-Texten; es ist ein Symbol, das sie versiegeln und schützen soll. Es steht in allen diesen Texten anstelle des gewöhnlichen tibetischen Satzzeichens – einer kurzen vertikalen Linie. Da die deutsche Zeichensetzung komplizierter ist, stehen die Terma-Zeichen in der Übersetzung nur am Ende eines Textabschnittes oder Verses.

2 Das Ausschleudern des Bewusstseins (Tibetisch: ’pho-ba) ist ein Teil der Übung des Reinen Landes und einer der Sechs Yogas des Nāropā. Mit seiner Hilfe lernt der Yogin, wie er sein Bewusstsein durch die Schädeldecke hinauf in ein vorgestelltes Bild schießen kann, welches er bei seinem Tode in den Dharmakāya-Bereich zu lenken vermag. Ausführliche Beschreibungen dieser Übung finden sich in: Herbert Guenther: »The Life and Teaching of Nāropā« (Oxford) und in: Garma C. C. Chang: »Esoteric Teachings of the Tibetan Tantra« (Aurora Press).

3 Dharma-Brüder sind die Schüler desselben Guru.

4 Die Drei Juwelen sind: der Buddha oder das Erleuchtungsprinzip; das Dharma, die Lehre von der Erleuchtung; und die Sangha, die Gemeinde, welche das Dharma übt.

5 Die Stellung von Gautama Buddha bei seinem Tod: ausgestreckt auf der rechten Seite liegend, mit der rechten Hand unter dem Kopf.

6 Das Große Symbol (Tibetisch: phyag-rgya-chen-po, Sanskrit: Mahāmudrā) ist eine tantrische Meditationsübung, in der die Gesamtheit der Erfahrung in die Gottheit und das Mandala umgewandelt wird. In diesem Zustand entsteht die Große Glückseligkeit (Mahāsukha) aus der Einswerdung des männlichen und des weiblichen Aspekts der Übung – der angemessenen Mittel oder Barmherzigkeit und der Erkenntnis oder Leere (upāya und prajˆnā). Es ist unmittelbare Wahrnehmung der Heiligkeit und Lebendigkeit des Lebens.

7 Samantabhadra und Samantabhadrī (Tibetisch: kun-tu-bzang-po und kun-tu-bzang-mo) symbolisieren die Untrennbarkeit von Erbarmen und Erkenntnis, den beiden Koeffizienten der Erleuchtung. Als Verkörperung des Dharmakāya sind sie der Ursprung der fünf Buddha-Familien, welche aus ihnen ausstrahlen und auf der Sambhogakāya-Ebene erscheinen. In diesem Sinne ist Samantabhadra in der Nyingma-Tradition als der Ādibuddha oder Urbuddha bekannt. Samantabhadra ist auch der Name eines Bodhisattvas, der am dritten Tag des Bardo erscheint.

8 Diese Übungen sind zwei sich ergänzende Meditationspraktiken im tantrischen Yoga. Bei der Übung Bildlicher Vorstellung (Tibetisch: bskyedrim, Sanskrit: utpattikrama) stellt sich der Yogin die Gottheiten bildlich vor und identifiziert sich mit ihnen; in der Vollkommenen Übung (Tibetisch: rdzogs-rim, Sanskrit: sampannakrama) ist alles in Leere und Formlosigkeit aufgelöst.

9 Der Yidam ist eine bestimmte Gottheit, die das inhärente erleuchtete Wesen des Schülers repräsentiert. Der Guru wählt ihn für den Schüler aus, je nach dessen Charaktereigenschaften und der Übung, mit der er arbeitet. Es heißt, Avalokiteśvara, der Herr des Großen Erbarmens sei für jedermann geeignet, sodass ein »gewöhnlicher Mensch«, der keinen besonderen Yidam erhalten hat, über ihn meditieren sollte.

10 Die zehn Stufen in der Entwicklung eines Bodhisattva.

11 Im Tibetischen werden drei Begriffe angeführt: gdung, ring-bsrel und sku-gzugs, oder Sanskrit: Śarīram. All dies sind gleichartige Rückstände, die nach der Verbrennung eines hochentwickelten Yogin oder Siddha zurückbleiben. Sie ähneln glänzenden runden Steinen von weißer oder grünlicher Farbe, werden als Reliquien aufbewahrt und oft kurz vor dem Tod eingenommen.

12 Zum Großen Symbol siehe Anm. 6. Die Große Vollendung (Tibetisch: rdzogs-pa-chen-po, Sanskrit: Mahāsampanna) ist ein Zustand der Meditation, der dem Atiyoga oder Mahā-ati entspricht. Er dringt sogar über die scheinbar höchste Vision des Großen Symbols hinaus vor in eine weitere Erfahrung von Offenheit und Formlosigkeit. Diese Übung wurde von Vimalamitra, einem Zeitgenossen des Padmasambhava, gelehrt und in der Nyingma-Tradition weiterentwickelt. Die beiden Übungen, das Große Symbol und die Große Vollendung wurden von Rangjung-Dorje, dem dritten Karmapa, zusammengefasst.

13 Die »Befreiung durch Tragen« (Tibetisch: Btags-grol) ist eine weitere der sechs Bardo-Unterweisungen des Padmasambhava. Es ist ein kurzer Text, der zum großen Teil aus Mantras besteht; er wird dem Leichnam als Amulett umgehängt.

14 Der Glorreiche Große Buddha-Heruka ist eine Kombination des Buddha-Heruka und des Großen Heruka, welcher, wie im Kommentar beschrieben, der Ursprung der Herukas der fünf Familien ist. Auf Gemälden (Thankas) der rasenden Gottheiten erscheint der Große Heruka im Zentrum, entsprechend Samantabhadra im Mandala der friedlichen Gottheiten, und Buddha-Heruka ist unter ihm platziert.

15 Die Gaurīs (gaurī bedeutet »weiß«) sind eine Gruppe von acht Göttinnen, die alle zusammen nach der ersten von ihnen benannt sind, die tatsächlich die einzige weiße ist. Im tibetischen Text des Bardo Thödol sind ihre Sanskritnamen beibehalten, jedoch die meisten in entstellter Form und in jedem Blockdruck mit kleinen Abweichungen (so nennt Evans-Wentz sie zum Beispiel die Keurimas). Sie erscheinen in vielen anderen tantrischen Texten, aber zwei der Namen, die hier auftauchen, findet man nicht in der üblichen Aufstellung: Pramohā und Śmaśānī. Pramohā oder Pramo heißt »Blender« und entspricht wahrscheinlich Dombi, dem Weib niederer Kaste, welches in der tantrischen Dichtung ein Symbol der Leidenschaft ist. Śmaśān ī ist der Sanskritname, der sich noch am ehesten aus der tibetischen Form Śmeśānī herleiten lässt; Śmaśānī, »sie, die auf dem Friedhof wohnt« entspricht dem »Asketen« oder »Bergbewohner« Śavarī. Es ist nicht möglich, diese Göttinnen nur nach ihren Beschreibungen zu identifiziere, da diese in den verschiedenen Texten voneinander abweichen. Die Piśācīs (Tibetisch: phramen-ma) sind fleischfressende Gottheiten mit Vogel- und Tierköpfen. Ihr Name bedeutet »gestreift« oder »bunt gescheckt«, was sich auf die verschiedenen Farben auf ihren Körpern bezieht. Die Yogins nennt man auch »Mächtige Herrin« (Tibetisch ’dbang-phyug-ma, Sanskrit: Īśˉvarī). Die meisten von ihnen waren ursprünglich Hindu-Gottheiten, die in den Buddhismus aufgenommen wurden. Im Text sind ihre Namen alle ins Tibetische übersetzt, aber hier werden die Sanskritnamen mit Übersetzung gegeben, da viele in dieser Form allgemein bekannt sind.

16 Das sechssilbige Mantra des Avalokiteśvara: om ma.nipadme hūm.

17 Der Vajra-Sitz ist der Sitz, auf dem Gautama Buddha saß, als er bei Bodhgayā Erleuchtung erlangte.

18 Die Zufluchts-Formel, mit der man sich zum Buddha-Pfad bekennt: Ich nehme Zuflucht zum Buddha. Ich nehme Zuflucht zum Dharma. Ich nehme Zuflucht zur Sangha

Francesca Fremantle, Chögyam Trungpa (Hrsg.)

Das

Totenbuch

der

Tibeter

Neuausgabe des Standardwerks

Aus dem Englischen von Stephan Schumacher

Diederichs

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Tibetian Book of the Dead

The Great Liberation Through Hearing In The Bardo

bei Shambala Publications, Inc., Berkeley/Kalifornien

© Francesca Fremantle und Chögyam Trungpa

© der deutschsprachigen Ausgabe Heinrich Hugendubel Verlag,

Kreuzlingen/München 2008

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2020 Diederichs Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © shutterstock / Zzvet, © shutterstock / pupsy

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-26085-9
V001

www.diederichs-verlag.de

Seiner Heiligkeit, dem XVI. Gyalwa Karmapa
Rangjung Rigpi Dorje gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Kommentar von Chögyam Trungpa, Rinpoche

Die große Befreiung durch Hören im Bardo

Inspirations-Gebete

Inspirationsgebet in Anrufung der Buddhas und Bodhisattvas um Errettung Die Hauptverse der sechs Bardos Inspirationsgebet zur Errettung von der ­gefährlichen Gratwanderung des Bardo Das Bardo-Gebet, das vor Furcht schützt

Anhang

Aussprache der Sanskritwörter Glossarium der Sanskritwörter Abbildungsverzeichnis Register

Vorwort

Das Bardo Thödol (Tibetisch: bar-do ’i-thos-grol) ist ein Text aus einer Gruppe von Unterweisungen über sechs Arten der Befreiung: Befreiung durch Hören, Befreiung durch Tragen, Befreiung durch Sehen, Befreiung durch Erinnern, Befreiung durch Schmecken und Befreiung durch Berühren. Diese Unterweisungen wurden von Padmasambhava verfasst und von seiner Frau, Yeshe Tsogyal, zusammen mit dem Sādhana der beiden Mandalas der zweiundvierzig friedlichen und der achtundfünfzig rasenden Gottheiten aufgezeichnet.

Padmasambhava vergrub diese Texte bei den Gampo-Hügeln in Zentraltibet, in denen später der große Lehrer Gampopa sein Kloster gründete. Viele andere Texte und heilige Geräte wurden gleichermaßen an verschiedenen Orten in ganz Tibet vergraben und sind deshalb als Terma, »verborgene Schätze«, bekannt. Padmasambhava gab an seine fünfundzwanzig Hauptschüler die Kraft weiter, diese Termas aufzufinden. Die Bardo-Texte wurden später von Karma-Lingpa, einer Inkarnation eines dieser Schüler, wiedergefunden.

Befreiung heißt in diesem Fall, dass wer immer mit dieser Lehre in Berührung kommt – und sei es auch nur in der Form des Zweifels oder auch mit unvoreingenommenem Geist –, durch die in diesen Schätzen enthaltene Macht der Überlieferung einen plötzlichen Schimmer der Erleuchtung erfährt.

Karma-Lingpa kam aus der Nyingma-Tradition, seine Schüler jedoch gehörten alle zur Kagyü-Tradition. Er gab die erste Überlieferung der sechs Befreiungslehren an Dödül-Dorje, den dreizehnten Karmapa, der sie wiederum an Gyurme-Tenphel, den achten Trungpa weitergab. Diese Überlieferung blieb in den Surmang-Klöstern der Trungpa-Linie lebendig, von wo aus sie sich wieder zurück in die Nyingma-Tradition ausbreitete.

Der Schüler dieser Lehre übt das Sādhana und studiert die Texte, um mit den beiden Mandalas als Teil seiner eigenen Erfahrung ganz vertraut zu werden.

Ich erhielt diese Überlieferung im Alter von acht Jahren und wurde von meinen Erziehern, die mich auch im Umgang mit sterbenden Menschen anleiteten, im Sinne dieser Lehre geschult. Das bedeutet, dass ich von jener Zeit an etwa viermal in der Woche sterbende oder tote Menschen besuchte. Solch unablässige Begegnung mit dem Vorgang des Sterbens, vor allem dem der eigenen besten Freunde und Verwandten, wird für die Schüler dieser Tradition als äußerst wichtig angesehen. Auf diese Weise bleibt die Vorstellung der Vergänglichkeit keine philosophische Ansicht, sondern wird zur lebendigen Erfahrung.

Dieses Buch ist ein weiterer Versuch, diese Lehre den Schülern im Westen zugänglich zu machen. Ich hoffe, dass in naher Zukunft auch das Sādhana übersetzt werden kann, damit diese Tradition in ihrer Gesamtheit fortgesetzt werden möge.

Chögyam Trungpa, Rinpoche

Einleitung

Es hat sich ergeben, dass diese im Rumtek-Kloster in Sikkim geschrieben wird. Vom Kloster blickt man über das Tal nach Gangtok, wo vor einem halben Jahrhundert die erste englische Version des Bardo Thödol von Kazi Dawa-Samdup übersetzt und von W. Y. Evans-Wentz herausgegeben wurde. Eine weitere Verbindung stellt die Tatsache dar, dass diese neue Übersetzung (die englische Originalausgabe) als Teil einer Schriftenreihe erscheint, die Herrn Evans-Wentz gewidmet ist.

Die Arbeit von Kazi Dawa-Samdup und W. Y. Evans-Wentz ist so bekannt und löste ein solch großes Interesse am Buddhismus aus, dass man fragen mag, ob eine neue Fassung überhaupt nötig sei. Einen Teil der Antwort gibt Evans-Wentz in seiner eigenen, die ›den Pionier-Charakter der Arbeit‹ betont. Seit jener Zeit, besonders nach der Flucht vieler der höchsten Lamas aus Tibet, ist das Ausmaß der Information über den tibetischen Buddhismus und das Interesse daran beträchtlich gewachsen. Er ist nicht mehr nur Thema akademischer Studien, sondern eine lebendige Tradition, die nun im Westen Wurzeln schlägt. So wird eine neue Auffassung der Übersetzungsarbeit möglich, die der praktischen Anwendung des Textes und der Vermittlung seines vitalen und unmittelbaren Charakters besonderes Gewicht beimisst.

Im Sommer 1971 hielt Chögyam Trungpa, Rinpoche, in der ›Tail of the Tiger Contemplative Community‹ in Vermont ein Seminar mit dem Titel Das Totenbuch der Tibeter, welches in diesem Band als Kommentar zum Totenbuch enthalten ist. Während des Seminars benutzte er einen tibetischen Text, während die Zuhörerschaft ihm anhand der Evans-Wentz-Ausgabe folgte. Da immer wieder Fragen zur Übersetzung und zum Stil des Ausdrucks auftauchten, wurde beschlossen, eine neue Version zu erarbeiten. Als Grundlage für diese Übersetzung wurden die von E. Kalsang herausgegebene tibetische Ausgabe (Varanasi, 1969) sowie drei Blockdrucke benutzt. Ein paar geringfügige Auslassungen und Irrtümer wurden im Rückgriff auf die Blockdrucke korrigiert, doch weisen die vier Texte keinerlei Abweichungen in den wesentlichen Punkten auf. So ist es doch recht überraschend, hier beträchtliche Widersprüche zur früheren Übersetzung zu finden. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, sollen einige der besonders auffallenden Punkte erwähnt werden.

Kazi Dawa-Samdup hat in der Übersetzung des Öfteren den Wortlaut des Originals verändert, da er ihn als fehlerhaft ansah. In den Anmerkungen führt der Herausgeber die benutzten tibetischen Texte an – ein Manuskript und einen Blockdruck – und fügt oft hinzu, der Übersetzer habe gewisse Irrtümer korrigiert. Mit den meisten dieser Veränderungen wurde offenbar angestrebt, das System der Entsprechungen von Gottheiten, symbolischen Farben usf. mit den Systemen, die sich in anderen Texten finden, in Übereinstimmung zu bringen. (Die von Francesca Freemantle an dieser Stelle angeführten Unstimmigkeiten in der englischen Ausgabe der Version von W. Y. Evans-Wentz, Oxford University Press, 1960, wurden von Lama Anagarika Govinda in der von ihm neu bearbeiteten deutschen Ausgabe z. T. im Text berichtigt, oder aber in den Fußnoten angemerkt. Anm. d. Übs.)

In der buddhistischen Ikonografie findet sich jedoch keine absolute Übereinstimmung. Offensichtliche Unregelmäßigkeiten, wie in diesen Fällen, sind häufig, und es gibt immer einen Grund dafür. In allen Fällen stimmen unsere vier Texte mit dem Blockdruck von Evans-Wentz, in den meisten Fällen auch mit seinem Manuskript überein, sodass diese Übereinstimmung mit großer Wahrscheinlichkeit auf die korrekte Fassung des Textes hindeutet.

Andere Unterschiede der beiden Übersetzungen bestehen in der Behandlung der spezifisch buddhistischen Terminologie. Die ursprünglichen Schriften des Buddhismus sind in Sanskrit oder Pāli (das sich aus dem Sanskrit herleitet) geschrieben und wurden seit etwa dem siebenten Jahrhundert ins Tibetische übersetzt. Zu jener Zeit war die tibetische Sprache noch von keinem hoch entwickelten Denksystem beeinflusst, weshalb das buddhistische System ohne allzu große Schwierigkeiten übernommen werden konnte. Tatsächlich wurde sogar zur Übermittlung der buddhistischen Lehren eine neue philosophische Sprache geschaffen. Diese Texte in eine europäische Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts zu übersetzen, stellt jedoch eine völlig andere Situation dar. Das westliche Denken hat sich in ganz anderen Bahnen als das östliche entwickelt. Wählt man also ein Wort aus dem Vokabular der europäischen Philosophie oder Religion, so wird es unvermeidlich alle möglichen Assoziationen und Implikationen enthalten, die den zugrunde liegenden buddhistischen Vorstellungen durchaus fremd sein mögen. Umgekehrt mag der volle Bedeutungsspielraum eines Sanskritwortes sich nicht durch ein einziges Wort einer westlichen Sprache wiedergeben lassen. In solchen Fällen würde das entsprechende Wort im Englischen oder Deutschen genauso vieler Erklärung bedürfen wie das Original, während das Sanskritwort jedoch den Vorteil hat, von möglicherweise irreführenden Assoziationen im Denken des Lesers frei zu sein.

Gewisse Ausdrücke sind deshalb in Sanskrit, ihrer ursprünglichen Sprache wiedergegeben, obwohl das Bardo Thödol in tibetischer Sprache geschrieben wurde. Ebenso sind die Namen der Gottheiten in Sanskrit gegeben, da sie in dieser Form bekannter sind und in anderen Texten leichter wiedererkannt werden können. Dieser Vorgehensweise folgten oft auch die tibetischen Übersetzer, im Falle des Totenbuches jedoch nicht durchgängig.

Es mag inkonsequent erscheinen, dass zwei tibetische Wörter verwendet werden, so ›Bardo‹ selbst und das Wort ›Yidam‹. Ein Grund ist, dass diese Wörter am einfachsten zu gebrauchen sind, und dass sie zum anderen der am Buddhismus interessierten Leserschaft vertraut sind. Die mögliche Übersetzung von Bardo als ›Zwischenzustand‹ wirkt in häufiger Wiederholung unschön, genauso wie das Sanskrit-Wort ›Antarābhāva‹, das zudem ein ungewöhnlicher Ausdruck ist, da diese Lehre mehr in Tibet als in Indien beheimatet ist. Yidam hat im tibetischen Buddhismus ganz andere Implikationen als das Sanskritwort Istadevatā, welches die ›auserwählte Gottheit‹ im Hinduismus bezeichnet. Man hat Yidam als ›Schutzgottheit‹ übersetzt (ein Ausdruck, der eher der Beschreibung der Dharmapālas vorbehalten sein sollte) oder auch als ›betreuende Gottheit‹, aber alle diese Ausdrücke erwecken den Anschein, dass es sich dabei um äußere Wesenheiten handelt, die als persönliche Beschützer oder Helfer wirken, während die wahre Bedeutung von Yidam ganz innerlich und psychologisch ist. Der Yidam ist ein Ausdruck des eigenen fundamentalen Wesens, das in einer göttlichen Form vorgestellt wird, damit man sich darauf beziehen und seine ganze latente Kraft ausdrücken kann.

Es ist auffällig, dass einige der Wörter, die am besten geeignet sind, die Lehren des Buddhismus auszudrücken, Bestandteile der Sprache der modernen Psychologie sind. Die Einstellungen mancher Schulen der westlichen Psychologie kommen dem Buddhismus oft näher als die der westlichen Philosophie und Religion.

Die Vorstellung der Sünde zum Beispiel wird unvermeidlich mit der Erbsünde in Verbindung gebracht, mit Schuld und Sühne, die in den meisten östlichen Lehren keinen Platz haben. Der Buddhismus sucht stattdessen nach der letzten Ursache von Sünde und Leid und entdeckt, dass es der Glaube an ein Selbst oder Ich als Zentrum der Existenz ist. Dieser Glaube wird nicht von einem eingeborenen Übel verursacht, sondern ist Folge der Unbewusstheit, des Unwissens um das wahre Wesen des Seins. Da wir die Gesamtheit des Lebens von diesem falsch zentrierten Gesichtspunkt her erleben, können wir die Welt nicht erkennen, wie sie wirklich ist. Dies ist gemeint, wenn gesagt wird, die Welt sei unwirklich. Das Heilmittel ist, die Illusion zu durchschauen, die Leere – das Nichtvorhandensein dessen, was unwahr ist – zu erkennen. Untrennbar von der Leere ist das Licht – das Vorhandensein dessen, was wirklich ist –, der Urgrund, in dem das Spiel des Lebens stattfindet.

Begriffe wie Konditionierung, neurotische Gedankenstrukturen und unbewusste Einflüsse scheinen in diesem Buch angebrachter als konventionelle religiöse Begriffe. Im Kommentar werden Wörter wie Neurose und Paranoia gebraucht, nicht um pathologische Umstände, sondern um die natürlichen Folgen dieses zugrunde liegenden Geisteszustandes zu beschreiben. ›Projektionen‹ stehen für unsere Art, die Dinge zu sehen, nämlich gefärbt von unseren Einstellungen. Im Haupttext wird damit ein tibetisches Wort (snang) übersetzt, das grundsätzlich ›Licht‹ oder ›Erscheinung‹ bedeutet, sowohl innerlich als auch äußerlich, und das Kazi Dawa-Samdup mit ›Gedankenform‹ oder ›Vision‹ übersetzt. ›Projektion‹ überwindet diese Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven.

Ein ganz kurzer Abriss der für dieses Buch bedeutsamen buddhistischen Psychologie mag als Grundlage für die ausführlichen Erklärungen im Kommentar von Nutzen sein. Die Entwicklung des egozentrischen Zustandes des Seins wird im System der fünf Skandhas analysiert. Skandha ist wörtlich ein Haufen oder eine Gruppe, aber seine Bedeutung ist besser wiedergegeben mit ›psychologische Komponente‹.

Die erste Komponente ist Form (Rūpa), der Anfang von Individualität und getrennter Existenz und die Aufspaltung der Erfahrung in Subjekt und Objekt. Jetzt gibt es ein primitives ›Ich‹, das sich einer äußeren Welt bewusst ist. Sobald dies eintritt, reagiert das Ich auf seine Umgebung: dies ist die zweite Stufe, Empfindung (Vedanā). Es ist noch nicht voll entwickeltes Gefühl, nur instinktive Zuneigung, Abneigung oder Indifferenz. Es wird jedoch sofort komplexer, indem sich nämlich die zentralisierte Wesenheit nicht nur durch passives, sondern durch aktives Reagieren selbst behauptet. Das ist die dritte Stufe, Wahrnehmung (Samjˆnā) im eigentlichen Sinne, wenn das Ich sich eines Reizes bewusst ist und automatisch darauf reagiert. Die vierte Komponente ist Geistesregung (Samskāra), welche die intellektuelle und emotionale Aktivität der Interpretation umfasst, die auf die Wahrnehmung folgt. Sie setzt die Dinge zusammen und baut die Strukturen der Persönlichkeit und des Karma auf. Und schließlich gibt es das Bewusstsein (Vijˆnāna), welches alle Sinneswahrnehmungen und den Geist zusammenfasst. Das Ich ist nun ein ganz für sich bestehendes vollständiges Universum geworden; anstatt die Welt direkt wahrzunehmen, wie sie ist, projiziert es seine eigenen Bilder um sich herum.

Die fundamentale Lehre dieses Buches ist die Erkenntnis der eigenen Projektionen und die Auflösung der Empfindung eines Ich im Licht der Wirklichkeit. Sobald dies geschehen ist, verkehren sich die fünf psychologischen Komponenten des verblendeten oder unerleuchteten Geisteszustandes in Faktoren der Erleuchtung. Sie werden in ihre transzendentalen oder geläuterten Formen umgewandelt, die während der ersten fünf Tage des ›Bardo der Dharmatā‹ erscheinen.

Während dieser visionären Erfahrungen erscheinen auch die sechs Daseinsbereiche. Es sind dies die sechs Hauptzustände des verblendeten Geistes; im Kommentar sind sie ausführlich beschrieben. Jeder dieser Zustände erscheint zusammen mit seiner Alternative, der Möglichkeit, jene besondere Besessenheit aufzugeben, vom Festhalten an der Sicherheit einer zentralisierten Wesenheit abzulassen und stattdessen in die entsprechende Manifestation der Weisheit aufzugehen.

Im südlichen Teil des Mandalas, der auf der linken Seite abgebildet wird, findet sich Ratnasambhava, der Herrscher der Ratna-Familie. Ratna bedeutet Juwel, besonders das wunscherfüllende Juwel, das die Befriedigung jeden Verlangens garantiert. Das entsprechende Gift ist Stolz, der aus dem Besitz aller erdenklichen Reichtümer entsteht. Sein Gegenmittel ist die Weisheit der Gleichheit und des Gleichmuts.

Oben, im Westen, kommt Amitābha, dessen Familie die Padma- oder Lotus-Familie ist. Er symbolisiert Leidenschaft und Verlangen, die hungrig nach allen Dingen greifen. Die Weisheit, welche diesem Gift entspricht, ist Unterscheidung, aus der die Zurückhaltung und Losgelöstheit kommen, mit denen Leidenschaft in Mitleid umgewandelt wird.

Schließlich haben wir auf der rechten, nördlichen Seite Amoghasiddhi aus der Karma-Familie. Karma heißt hier Handeln und wird von einem Schwert oder einem Doppel-Vajra symbolisiert. Neid ist das mit Karma verbundene Gift; er entsteht aus dem unersättlichen Ehrgeiz, der diese Art von Handeln treibt. Der erleuchtete Aspekt ist die Allesvollendende Weisheit.

Die fünf Tathāgatas besitzen viele andere Attribute, welche im Kommentar beschrieben und erläutert werden. Sie sind jeweils auch von ihrem weiblichen Aspekt und von Bodhisattva-Emanationen begleitet.

Während die Buddhas die transzendentalen Eigenschaften der Erleuchtung verkörpern, welche jenseits des Lebensstromes existieren, ist das Bodhisattva-Prinzip das einer aktiven Anteilnahme zum Wohle aller Lebewesen. Man könnte die Bodhisattvas als die Aktivitäten der fünf Weisheiten verstehen. Die weibliche Energie stellt das fruchtbare Element, welches die Weisheiten vervollständigt und ihre völlige Manifestation ermöglicht. Diese und alle anderen Gottheiten, welche in diesem Buch auftauchen, könnte man als Ausdrucksformen der Welt im Lichte der Wirklichkeit beschreiben. Sie verkörpern die verschiedenen Energie-Manifestationen, welche wir als Gesamtheit unserer physischen, mentalen und emotionalen Existenz erfahren. Obwohl wir unser Leben normalerweise nicht in der Form von Energien wahrnehmen, sind uns ihre Wirkungen jedoch allezeit gewärtig. In seinem Kommentar übersetzt Trungpa Rinpoche sie in eine Sprache, die wir leichter erkennen können – Emotionen, Eigenschaften, Umwelt, Lebensweisen, Handlungen und Ereignisse.

So spricht dieses Buch, obwohl es angeblich für die Toten geschrieben ist, in Wirklichkeit vom Leben. Der Buddha selbst diskutierte nie, was nach dem Tode geschehe, da solche Fragen für die Suche nach der Wirklichkeit hier und jetzt keinen Nutzen hätten. Die Doktrin der Reinkarnation jedoch, der sechs Arten der Existenz und des dazwischen liegenden Bardo-Zustandes, bezieht sich sehr wohl auf dieses Leben, ob sie nun genauso nach dem Tode zutreffen oder nicht. Es wird oft betont, man lese das Bardo Thödol einem Toten zu dem Zweck vor, ihn an das zu erinnern, was er während seines Lebens praktiziert hat. Dieses ›Totenbuch‹ kann uns zeigen, wie wir leben sollten.

Francesca Fremantle