DANKSAGUNG
Wir waren Fremde. Und doch durften wir zu Gast im Leben
von 22 Männern sein, denen der nahende Tod sehr präsent war.
Krankheitsbedingt war ihr Alltag beschwerlich und gekennzeichnet
von Verlust, Schwäche, Unsicherheit und Abhängigkeit.
Für sie gilt: Schwach ist stark! Sie waren mutig bereit,
sich zu zeigen, authentisch über ihr Leben und Sterben zu berichten
und so der Öffentlichkeit ihre Geschichte anzuvertrauen.
All diesen Männern gebührt großer Dank, denn ohne sie
würde es dieses Buch nicht geben!
Ein besonderer Dank geht auch an die Hellstiftung,
die das Projekt von Anfang an mit großem Interesse und finanzieller
Zuwendung gefördert hat. Dieses Engagement hat ebenfalls
ganz wesentlich zum Entstehen dieses Buches beigetragen.
Unser Dank gilt auch dem Förderverein ambulante Palliativarbeit
Hamburg e.V. (FAPH). Dieser hat die oftmals weiten Fahrtwege
zu den Interviewpartnern großzügig unterstützt und so
zur Verwirklichung des Projektes ebenfalls beigetragen.
Und nicht zuletzt soll die freundliche Unterstützung
vom Hamburger Hospiz e.V. dankenswert erwähnt werden, da
der Hospizverein das Projekt von Anfang an unterstützt hat und uns
zudem bei der Suche nach Gesprächspartnern hilfreich zur Seite
stand. Seit Jahren setzt sich der Hamburger Hospiz e.V. dafür ein,
Männer im größeren Maße für die Hospizidee zu gewinnen.
Sterben ist Leben. Das gilt auch für die zehn Männer,
die in diesem Buch zu Wort kommen.
Sie eint, dass sie sich als Männer in Todesnähe erleben und interessiert sind, an diesem Buchprojekt teilzunehmen. Die Unergründlichkeit des nahenden Todes heißt für sie dementsprechend, nicht zu verstummen und in eine lähmende Passivität zu verfallen, sich den Umständen nicht auszuliefern oder sich nicht von der Angst vor dem Ungewissen ohnmächtig überschwemmen zu lassen. Vielmehr möchten sie sich mitteilen und davon berichten, was für sie jetzt bedeutungsvoll ist. Manch einer freut sich zudem über unser Interesse, auch darüber, nach seinem Tod die eigenen Gedanken und Erlebnisse veröffentlicht zu wissen und somit zu hinterlassen.
So individuell diese Männer sind, so individuell sind auch die Einblicke, die sie uns gestatten. In diesem Buch lernen wir Männer kennen, die mal dankbar, mal traurig, zuweilen auch wütend und nachdenklich ihr Leben und Sterben annehmen.
Sie äußern sich offen, persönlich und mutig. Das macht es spannend, diese Gespräche zu lesen, denn die Männer greifen im Erzählen nicht auf fremde Weisheiten oder Allgemeinplätze zurück, auch dozieren sie nicht aus »klugen Fachbüchern«. Vielmehr befinden sie sich in einem unsicheren und fortwährenden Such- und Findungsprozess: Wie werde ich den aktuellen Tag, die nahe
Zukunft und letztlich den Abschied gestalten und bewältigen? Dabei sind viele kleine Schritte zu erkunden und zu gehen. Langfristige Überlegungen hingegen werden eher mit einer gewissen Vorsicht vorgetragen. Sie sind Männer in Todesnähe. Es ist ihnen heute unmöglich zu wissen, was sie in den kommenden Stunden, Tagen, Monaten, die vielleicht Not oder Getragensein mit sich bringen, wollen werden. Der eigene Tod erlaubt weder eine Generalprobe noch einen Reset, nur wenig erscheint vorhersagbar. Diese Männer müssen große Herausforderungen bewältigen, für viele von ihnen gilt es zudem, mit äußerst dramatischen Umständen zurechtzukommen. Und dennoch gelingt nahezu allen ein erfülltes Leben im Abschied. Wie kommt das?
Die meisten erleben etwas, das sie durch diese Zeit trägt und ihrem Leben – auch unter den aktuellen Umständen – Sinn verleiht. Sie finden Halt in Liebeserfahrungen, nicht nur zu nahen Angehörigen und Freunden, sondern auch zu dem, was sie beruflich oder ehrenamtlich geschaffen haben und hinterlassen werden, sowie in einer Wirklichkeit, in der sie Gott erfahren. Auch durch die Einsicht, dass »wir alle sterben werden«, und durch die innere Bezugnahme auf die bereits »Vorausgegangenen« gelingt ein persönlicher Reifungsprozess, der in die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit mündet. Dabei eröffnet sich die Erfahrung von Sinn, Zuversicht und Halt auch denen, die planen, ihrem Leben durch eigene Hand ein Ende zu setzen.
Ist all das nicht erstaunlich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Todes? Doch unsere Gesprächspartner sind nicht repräsentativ. Sie haben die Chance, ihre Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen und ihren letzten Lebensabschnitt passend zum eigenen Leben zu gestalten. Dafür ist es hilfreich, dass sie auf Verständnis in ihrem sozialen Umfeld treffen und oftmals in ihrem Suchprozess – »Was ist jetzt für mich richtig?« – von Angehörigen und auch Hospizmitarbeitern respektvoll unterstützt und gefördert werden. Zudem profitieren sie entweder von einer palliativen1 Versorgung oder können auf ihre medizinische Behandlung Einfluss nehmen, da sie selbst »vom Fach« oder so gut situiert sind, um nicht befürchten zu müssen, im letzten Abschnitt ihres Lebens handlungsunfähig leiden zu müssen.
Sind die Eindrücke, die Sie in den folgenden Kapiteln über männliches Leben im Sterben gewinnen können, also übertragbar auf alle Männer in Todesnähe, sofern Liebe, Selbstbestimmung und palliative Versorgung den Abschied vom Leben begleiten? Mit diesem Buch bemühen wir uns weder um stringente Wissenschaftlichkeit noch erheben wir den Anspruch auf Vollständigkeit. Auch haben wir keine zu verallgemeinernden Wahrheiten anzubieten. Wir haben vielmehr versucht, persönliche Geschichten zu sammeln, um ein erstes Bild zu liefern – einen Anfang, mehr nicht.
Dennoch seien in diesem Zusammenhang ein paar nachdenkliche Fragen erlaubt. Welche Eindrücke hätten wir in Gesprächen mit sterbenden Männern gewonnen, in deren Leben die Liebe nicht vorkommt, zum Beispiel weil sie mitmenschlich verwaist leben und sterben? (Einen Eindruck davon erlaubt die Geschichte von Friedhelm Wassmer) Was wäre uns erzählt worden, wenn der Alltag unserer Gesprächspartner überdies von anhaltenden, quälenden, also völlig unzureichend gelinderten Beschwerden wie starken Schmerzen oder Übelkeit geprägt gewesen wäre? Und in welcher Weise hätten sich uns Männer mitgeteilt, die weitestgehend abhängig und fremdbestimmt in institutionellen Strukturen wie Krankenhäusern leben und sterben? Während 60 % der Menschen in Deutschland ihr Lebensende zu Hause verbringen möchten, sterben weiterhin 75 % im Krankenhaus oder in Pflegeheimen! Besonders dramatisch werden diese Zahlen, wenn man bedenkt, dass jeder Fünfte im Krankenhaus und jeder Dritte im Pflegeheim allein stirbt!2 Genau diese Männer aber hätten wir nicht erreichen können.
Die uns vorliegenden Schilderungen sind sehr persönlich, und die Erzählenden möchten Ihnen, liebe Leserin und Leser, keine Rezepte für die Endlichkeit Ihres Lebens anbieten. Doch Sie erhalten dafür ein noch kostbareres Geschenk: Sie können sich persönlich berühren lassen und in Resonanz gehen. Was löst die Begegnung mit diesen Herren in mir aus? Was klingt in mir nach und formt Gefühle und Gedanken? Welche Fragen tauchen auf und bleiben im inneren Zwiegespräch noch eine Zeit lang erhalten? Lassen Sie sich auch von der Offenheit und dem Mut dieser Männer beeindrucken. Vielleicht motiviert es Sie ja auch, sich selbst Ihrer Endlichkeit und den damit verbundenen Wünschen, Sorgen und Hoffnungen zuzuwenden und sich mitzuteilen. All das kann Ihnen gelingen, wenn Sie dieses Buch als Mensch lesen, der eines Tages ebenfalls sterben wird. Lesen Sie dieses Buch jedoch ausschließlich mit professionellem Blick, beispielsweise eines Sozialarbeiters, Theologen oder Therapeuten, wird Ihnen diese persönliche Bereicherung verschlossen bleiben.
Das Buchprojekt lag in der Hand einer Diplom-Psychologin, die sich seit 30 Jahren Schwerst- und tödlich Kranken sowie deren Angehörigen beruflich und ehrenamtlich zuwendet, und eines Diplom-Biologen, der sich seit vielen Jahren mit dem Mann-Sein und männlichen Trauerprozessen befasst. Liegt es da nicht nahe, die Aussagen der Männer tiefenpsychologisch zu deuten, einzuordnen und zu bewerten?
Ganz bewusst haben wir darauf jedoch verzichtet! Vielmehr wollten auch wir uns berühren und mitnehmen lassen, uns behutsam als Gäste im Leben der anderen bewegen. Zudem meinen wir, dass die Aussagen der Männer für sich selbst sprechen und unserer Ergänzung nicht bedürfen. Jedes Gespräch leiten wir mit einer Verdichtung, also einer pointierten Zusammenfassung, ein und aus. Dabei ging es uns darum, wesentliche Aspekte deutlicher in Erscheinung treten zu lassen und Ihnen die Möglichkeit zu geben, tiefer in die Lebenswirklichkeit der Männer eintauchen zu können. Allerdings steht es Ihnen natürlich auch frei, sich ein davon unabhängiges Bild zu machen, indem Sie nur die Gespräche lesen.
Im Gespräch selbst haben wir weitestgehend auf vorgefertigte oder standardisierte Fragen verzichtet. Auch das mag überraschen, denn so bleibt manch berechtigter Wissensdurst unbefriedigt. Doch wir wollten uns von den Männern im Gespräch führen lassen. Mit diesem Vorgehen bleibt unser Gesprächspartner Experte in eigener Sache, zudem kann er darauf vertrauen, dass seine persönlichen Grenzen im Gespräch gewahrt bleiben. Er gibt das Tempo vor und ihm bleiben Fragen erspart, die ihn überfordern und aus seinem Gleichgewicht bringen könnten.
Unsere Gesprächspartner sind frei, die Gesprächsthemen so zu wählen, wie es ihre momentane Kraft und Bereitschaft erlaubt. So erzählt manch einer »nur« eine knappe Stunde, während andere bis zu drei Stunden berichten. Und indem sie die Themen und die Dauer vorgeben, gewähren sie uns einen unverfälschten Einblick: Was macht diese Männer aus und bewegt sie wirklich, was wollen und können sie uns anvertrauen?
Die Gespräche sind durch den jeweiligen Gesprächspartner – im Wesentlichen also durch Martin Kreuels und seine partnerschaftliche Herangehensweise – geprägt. Wenngleich beruflich als Wissenschaftler sozialisiert, bringt er sich im Buchprojekt als Mann mit all seinen Lebenserfahrungen und Einstellungen ein. Martin Kreuels erlaubt so, dass er ebenfalls sichtbar und im positiven Wortsinn angreifbar ist. Hier predigt also keiner Wasser, der Wein trinkt. Seiner Authentizität aber ist es zu verdanken, dass die Begegnungen und damit die Gespräche unverfälscht und frei fließen.
Martin Kreuels hat die aufgezeichneten Gespräche akribisch abgeschrieben. Sie ahnen es vielleicht: Wir mussten die Fülle des Gesagten der besseren Lesbarkeit wegen ziemlich radikal kürzen! Die Ihnen vorliegenden Gespräche enthalten maximal die Hälfte des ursprünglich gesagten Textes. Die Kürzungen und Verdichtungen habe ich (Angela Reschke) vorgenommen und dabei darauf geachtet, die Wortwahl der Gesprächspartner möglichst genau zu übernehmen. Wenngleich ich mich mit größtem Respekt und sehr vorsichtig durch die Texte bewegt habe, um den Männern gerecht zu werden, so kann ich dennoch nicht ausschließen, dass mein Blick das Ergebnis beeinflusst hat. Zudem konnten wir nur in einigen Fällen unsere Gesprächspartner noch um eine Durchsicht und ggf. Korrektur bitten, genauso wie auch klärende Nachfragen (in aller Regel) nicht mehr möglich waren.
Den von uns befragten Männern waren die Unvollkommenheiten dieser Umstände bewusst. Trotzdem haben sie sich sehr persönlich anvertraut und uns intime Einblicke in ihr Leben und Sterben gewährt. Umso mehr gebühren ihnen unser Dank sowie große Anerkennung und Respekt! Schauen wir also auf das, was uns diese Männer erzählen, wertfrei und achtsam. Diese Augenhöhe gebührt jedem Menschen, doch ganz besonders denen, die sich nun Ihrer Betrachtung ohne weitere Einflussmöglichkeiten anvertrauen.
EINE BUCHIDEE WIRD GEBOREN
Mit seinem Vortrag »Männer trauern anders!« und der dazugehörigen Fotoausstellung berichtete Martin Kreuels 2015 im Hamburger Hospiz e. V.3 von seiner Arbeit.4
Das Interesse der (weiblichen) Hospizbewegung war riesengroß, ebenso wie die Resonanz der Zuhörerinnen ausgesprochen positiv war.5 Viele von ihnen hatten zuvor vergeblich versucht, einen Zugang zur Trauerreaktion ihres Partners, Vaters, Bruders oder Freundes zu finden. Diese waren (scheinbar) verstummt: Sie hatten sich intensiv ihrer Arbeit zugewandt, waren überraschend schnell eine neue Partnerschaft eingegangen oder fokussierten ihr wortarmes noch verbleibendes Leben auf ausschweifende Lusterfahrungen. Ein gemeinsam durchlebter Trauerprozess aber mit dem Austausch von Gefühlen und Gedanken wäre für die Zuhörerinnen tröstlich gewesen. Die (aus Sicht der Frauen) befremdlichen Reaktionen hingegen verstärkten die schon erlittene Verlusterfahrung um den zusätzlichen Verlust des mittrauernden Mannes im Trauerprozess. Nun fanden die Zuhörerinnen endlich Erklärungsansätze für beredtes Schweigen, konnten Verständnis für männliche Trauerprozesse aufbauen und gewannen so die verloren geglaubte Nähe zum männlichen Bezugspartner wieder.
Auf dieser Veranstaltung fragte ich Martin Kreuels, ob er an einem Gemeinschaftsprojekt mit mir, das den Titel »Männer in Todesnähe«6 tragen sollte, interessiert sei. Mich überraschte die emotional aufgeladene, große Resonanz auf seine Arbeit nämlich nicht, vielmehr begriff ich, dass das Potenzial seines Werkes bei Weitem noch nicht ausgeschöpft sei.
Ich7 engagiere mich seit 1993 für die Hospizidee und den Hamburger Hospiz e.V. und machte folgende Beobachtungen: Sobald der Tod in der Öffentlichkeit persönlich und dialogisch thematisiert wird, tauchen Männer deutlich seltener auf als Frauen. Und immer wenn es gilt, sich als Mitmensch Sterbenden aktiv zuzuwenden oder sich mit einer eigenen Betroffenheit anzuvertrauen, sind Männer deutlich in der Minderheit.
Schon lange bewegte mich daher die Frage, warum Männer die Themen Sterben, Tod und Trauer in der Hospizbewegung8 nicht besetzen und dieses Feld weitestgehend Frauen überlassen. Tod und Mann – da schien etwas nicht zu stimmen.
Also wollte ich wissensdurstig und aufrührerisch meine weiblich sozialisierte Nase in diesen Umstand hineinstecken und herausfinden, was für Männer an diesen Themen so anrüchig war.
Ich hatte den Wunsch, gemeinsam mit Martin Kreuels ein Buch von Männern für Männer zu realisieren. Gleichzeitig ging ich davon aus, dass Frauen – so wie ich – ihre eigene Sichtweise um die von Männern erweitern wollen.
DER WEG ZUM BUCHPROJEKT
Am Anfang stand bei uns nicht das Wort, sondern die Frage, wohin unser Buch führen sollte, denn es sollte sich keinesfalls als Sprachrohr für Männer verstehen! Auch wollten wir keinen Männerratgeber herausbringen, der verkündet, wie gutes Leben im Sterben gelingt.
Vielmehr suchten wir eine Methode im Sinne der Hospizbewegung, die es auch vermag, Hospiz selbst zu erreichen. Hospiz ist Haltung. Hospizler*innen setzen sich dafür ein, dass geschützte Freiräume entstehen, in denen Menschen am Lebensende und in der Trauer ihren Weg erkunden und verwirklichen können. So entschieden wir uns dafür, bewusst erlebte und intensiv durchlebte Erfahrungen von Männern in Todesnähe sowohl Männern als auch Frauen zugängig zu machen.
Männern wollten wir ermöglichen, von anderen Männern zu lernen. Der Abgleich mit der jeweiligen Schlüsselfigur sollte Selbsterkennungsprozesse anstoßen: Die Leser sollten sich ermutigt und angeregt fühlen, selbstbewusst, selbstbestimmt und (wo gewünscht oder erforderlich) offen zu ihren Gefühlen, Wünschen und Herangehensweisen zu stehen.
Der weiblichen Leserschaft hingegen sollten die Sterbe- und Lebenserfahrungen fremder Männer die Gelegenheit bieten, das Sterben eines geliebten oder nahen Mannes, auch das Sterben von Männern in der Hospizbegleitung, vor dem Hintergrund dieser Geschichten neu zu verstehen, zu reflektieren und (wo das noch nicht geschehen ist) anzunehmen.
Doch ist unser Buchprojekt »Männer in Todesnähe« wirklich geeignet, frischen Wind für mehr Vielfalt in der Sterbebegleitung zu säen, Männern den Rücken (bzw. die Seele) zu stärken, wenn der Tod ans eigene Leben anklopft, und Frauen Einblicke zu ermöglichen, die neue Perspektiven auf männliches Erleben eröffnen? Diese Fragen, liebe Leserin und lieber Leser, müssen Sie beantworten.
Auch die Tatsache, dass ich die weibliche Co-Autorin eines Männerbuches sein würde, wirft einige Fragen auf. Bin ich als Frau überhaupt legitimiert, der männlichen Zurückhaltung in Sachen Sterben, Trauer und Tod etwas Unfertiges zu unterstellen, das überwunden werden möchte? Wäre es nicht angemessener, den Rat von Friedhelm Wassmer anzunehmen: »Lasst doch die Männer in ihrem Turm!«9? Schlicht: Verfolge ich den richtigen Ansatz und bin ich die richtige Autorin für dieses Buchprojekt?
Gerade die letzte Frage ist ebenso verzwickt wie berechtigt. Ihre Antwort aber leitet dazu über, was mich angetrieben hat, Martin Kreuels für diese Projektidee zu gewinnen: Natürlich braucht ein solches Thema nicht eine Solistin und Hebamme, sondern die Teamarbeit mit einem versierten Entbindungspfleger in Sachen »Mann-Sein«. Einem Mann, der im Zusammensein mit anderen Männern bereit ist, sich persönlich auf diese einzulassen, der Impulse aufgreift und mit unerschrockenem Pioniergeist mutig Neues erprobt – also einen Buchautor wie Martin Kreuels. Ich wiederum brenne für die Hospizbewegung, engagiere mich dafür, mitmenschliche Solidarität für Sterbende, Hochbetagte und Trauernde in der Gesellschaft zu vertiefen und entsprechende Entwicklungen anzustoßen. In diesem Buch fließen unsere Expertisen und Erfahrungshintergründe zusammen. Sie laden ein, sich persönlich als Mann oder Frau berühren zu lassen und sich einzubringen: in persönlicher Mitteilung, im bewussten wertfreien Zuhören sowie in der Bürgerbewegung Hospiz.
Die Männer, die am Ende ihres Lebens Interesse hatten, an diesem Buchprojekt mitzuwirken, sind natürlich die wichtigsten Wegbereiter, ohne die dieses Buch nie zustande gekommen wäre! Mehr als zwei Jahre lang waren wir in der ganzen Bundesrepublik auf der Suche nach ihnen. Schließlich führten wir mit 22 von ihnen persönliche Gespräche.
Dass der Weg so lang und mühsam würde, überhaupt erst einmal interessierte Männer zu finden, überraschte Martin Kreuels nicht. Schon für sein Buchprojekt »Männer trauern anders« war er gut zwei Jahre lang kreuz und quer durch die Bundesrepublik (und sogar darüber hinaus) gefahren, um betroffene Männer zu finden, die ihre Trauererfahrungen, zunächst über inszenierte Fotografien, später über Texte, mitteilen wollten.
Ich war jedoch beeindruckt von der notwendigen Kraftanstrengung! Immerhin ist Martin Kreuels aufgrund seiner Vorträge und Bücher sowie aus Fernsehsendungen recht bekannt, und außerdem konnte ich ja auch regelmäßig meine Kolleg*innen im Hamburger Hospiz auf das Projekt ansprechen. Auch die Presse griff das Thema gut auf! Und natürlich warben wir mithilfe von Flyern und an Messeständen. Schließlich stellten wir es jedem unserer Interviewpartner frei, sich nicht fotografieren zu lassen und anonym zu bleiben.
In dem nun vorliegenden Buch veröffentlichen wir »nur« zehn Gespräche. Bei der Auswahl haben wir auf Vielfalt, zum Beispiel aufgrund des Alters und der Diagnose sowie auch des sozialen Status, geachtet – und natürlich auch darauf, welchen Umfang ein solches Buch verkraften kann.
Als Leser*in lernen Sie nun Männer mit markanten Lebensgeschichten und beachtlichen Lebensleistungen kennen, und zwar nicht nur in Bezug auf berufliche Erfolge, sondern auch basierend auf mutigen Entscheidungen, motiviert durch Liebe und Freiheit und in beeindruckender Weise Mühsal und Hingabe an Mitmenschen und Ideen nicht scheuend.
Alle Männer haben ihre Interviews zur Veröffentlichung freigegeben. Dennoch haben wir uns für die Anonymisierung nahezu aller Gesprächspartner entschieden. Wir wollten die Privatsphäre der Angehörigen und anderer Menschen, die in den Gesprächen erwähnt werden, schützen.
LASS DOCH DIE MÄNNER IN IHREM TURM?10
Die dringende Notwendigkeit, die Hospizarbeit um den männlichen Blick und Bedarf zu erweitern, ist so offensichtlich wie die scheinbare11 Paradoxie und Diskrepanz, dass Männer durchaus zur Stelle sind, wenn es gilt, leitende Positionen in entsprechenden Einrichtungen zu besetzen!
Führen wir uns exemplarisch ein paar Zahlen vor Augen: Im Hamburger Hospiz e. V. sind nur 18 % der Teilnehmer in Trauergruppen männlich, unsere Beratungen werden weit überwiegend von Frauen in Anspruch genommen (Verhältnis ca. 3 : 7), und unter unseren Vortragsbesucher*innen finden sich gerade mal 11,5 % Männer.12 Bundesweit kommen auf einen ehrenamtlichen Hospizler sechs ehrenamtliche Hospizlerinnen. Noch extremer stellt sich die Situation im Hauptamt dar, wo das Verhältnis von Frauen zu Männern (außerhalb der Leitungsebene) 9 : 1 ist! 13
In der Bürgerbewegung Hospiz, die sich fortwährend um ehrenamtlichen Nachwuchs kümmern muss, waren bundesweit 2018 etwa 100.000 Menschen aktiv. Das ist eine beeindruckende Zahl! Allerdings ist der Wunsch nach mitmenschlicher, also ehrenamtlicher, Hospizbegleitung deutlich verbreiteter als das Angebot. 21 % der 2018 Befragten möchten, dass enge Angehörige in der letzten Zeit von ehrenamtlichen Hospizler*innen begleitet werden. Dies erfüllt sich nur bei 6 %.14
Bei der Gewinnung neuer Hospizbürger*innen15 sollte es darum gehen, mehr Vielfalt durch eine ausgewogene Geschlechterverteilung anzustreben. Zum einen kann auf diese Weise endlich ungenutztes männliches Potenzial zugunsten all derer ausgeschöpft werden, die vereinsamt und unnötig leidvoll ihr Leben beschließen müssen.16 Zum anderen kann Hospizarbeit durch stärkere männliche Präsenz zu neuen Impulsen und erweiterten Konzepten verholfen werden, die eine auf Männerinteressen ausgerichtete Hospizarbeit ermöglichen, sodass das Ehrenamt Hospiz für Männer attraktiver wird. Gleiches gilt aber auch für die Nachfrage von Begleitungs- und Beratungsangeboten durch sterbende und trauernde Männer. Treffen diese auf männliche Begleiter, so ist ihnen der Erfahrungshintergrund »Mann-Sein« gemeinsam. Zudem dürfen sie dann eine »Redeerlaubnis« unterstellen: »Mann spricht persönlich über den Tod.«
Es muss allerdings auch festgestellt werden: Mit der bestehenden homogenen Mitarbeiterstruktur und den von Frauen geprägten Konzepten hat die Hospizbewegung in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Aufschwung erzielt!17 Zunehmend erfolgreich entwachsen die Themen Trauer, Sterben und Tod ihrem tabuisierten Bereich und verankern sich im Kleinen, also im Alltag der Bürgerinnen und Bürger, wie im Großen, also im Bewusstsein der Gesellschaft. Die Endlichkeit des Lebens wird nicht nur salonfähig, vielmehr beginnt sich die Haltung der Hospizbewegung auch in Institutionen wie Pflegeheimen und Krankenhäusern (wenn auch oft noch sehr langsam) zu verwurzeln. Und nicht zuletzt hat die Hospizbewegung den Aufbau und Bestand zahlreicher ambulanter Hospizdienste, Beratungsstellen und vergleichbarer Einrichtungen ermöglicht! Die große Anerkennung, welche die Hospizbewegung erfährt, ist zweifelsohne gerechtfertigt, und ihre außerordentlichen Erfolge sind überwiegend dem Engagement von Frauen zuzuschreiben! Kommt es dann nicht einem unberechenbaren Wagnis gleich, den Grundsatz »never change a running system« außer Acht zu lassen? Und vielleicht muss sogar die Frage erlaubt sein, ob es nicht gerade weibliche Tugenden sind, die Hospizarbeit in den letzten Jahrzehnten so erfolgreich haben werden lassen…
»Gleich zu gleich gesellt sich gern!« Das ist es, was letztlich dafür spricht, äußerst Erfolgreiches mit einem liebevoll selbstkritischen Blick zu betrachten und der Erneuerung die Tür zu öffnen. Insbesondere Frauen mittleren bis höheren Alters mit einem höheren sozioökonomischen Status fühlen sich bisher angesprochen, ehrenamtlich bei der Begleitung Sterbender mitzuwirken. Dieser persönliche Hintergrund findet sich weit überwiegend auch in der Gruppe der hauptamtlichen Hospizkoordinator*innen,18 die maßgeblich die Hospizarbeit prägen. Sie werben u. a. fürs Ehrenamt, wählen Bewerber*innen aus und führen die Interessenten durch den Kurs für die qualifizierte Vorbereitung in der Sterbe- und Trauerbegleitung. Blickwinkel und Herangehensweisen, die in einer homogenen Gruppe weitergegeben werden und sich darin selbst bestätigen, bestärken sich jedoch. Solche Gruppen werden dann anfällig für blinde Flecke sowie dafür, diese unbeabsichtigt aufrechtzuerhalten und zu verfestigen. Zudem laufen homogene Gruppen längerfristig Gefahr, ihre vitalen, auch innovativen Kräfte auszubremsen.
Darüber hinaus macht nur die Heterogenität der Hospizbewegung diese zu einer echten Bürgerbewegung. Schließlich ist der Anspruch, »für alle da, erreichbar und attraktiv zu sein«, untrennbar mit der Hospizidee verbunden, sodass Männer mit ihren Besonderheiten in der Sterbe- und Trauerbegleitung genauso dringend gebraucht werden wie Frauen!
Und nicht zuletzt haben auch Männer ein ureigenes Interesse daran, dass die Hospizbewegung weiter wächst, denn sie werden eines Tages ebenfalls zu denen gehören, die Abschied vom Leben oder von einem geliebten Menschen nehmen müssen. Dann aber wird die Verwirklichung ihrer Selbstbestimmung und Lebensqualität im Wesentlichen davon abhängen, ob ihnen Angebote und Mitmenschen zur Seite stehen, die sie auf einem selbstbestimmten Weg begleiten und unterstützen.
Unser Fazit:
Es gibt ein grundsätzliches Interesse daran, dass sich mehr Männer aktiv und persönlich dem Thema der Endlichkeit zuwenden. Noch sitzen viele von ihnen unerreichbar in ihrem Turm. Doch vielleicht hat nur noch niemand laut genug gerufen: »Mann, Mann, lass dein Haar herunter!« Oder in Ermangelung dessen: »Mann, Mann, lass deine Strickleiter herunter!«
All diese Überlegungen sprechen dafür,
dieses sowie viele weitere Projekte und Aktionen mit
Signalwirkung zu starten:
»MÄNNER, RAUS AUS DEM TURM!«
1) Palliative Care beschreibt die auf Linderung belastender Symptome ausgerichtete medizinische, pflegerische oder psychosoziale Versorgung von unheilbar Erkrankten. Palliative Care rückt zunehmend in den Vordergrund, wenn eine heilende Medizin nicht mehr Erfolg versprechend ist.
2) Allensbacher Archiv, lfD-Umfrage 11058, Juli 2016.
3) S. www.hamburger-hospiz.de
4) Im Jahr zuvor war sein Buch »Männer trauern anders« erschienen.
5) Im ausgebuchten Vortrag saßen 60 Frauen und drei Männer,
6) Der Arbeitstitel lautete zunächst »Männer im Abschied«.
7) Unter Abschied-begleiten.de finden Sie meinen Werdegang.
8) Die Hospizidee wird im Wesentlichen vom Engagement der Bürger*innen getragen. Die Bewegung setzt sich dafür ein, dass Sterbende, Angehörige und Trauernde wertfrei begleitet und versorgt werden. Dabei stehen die Achtung der Selbstbestimmung sowie die Linderung von Leid im Mittelpunkt.
9) Gespräch Seite S. 21.
10) Zitat aus Gespräch Seite 21.
11) Scheinbar deshalb, weil Sterbebegleitung eng mit dem Aushalten von Ohnmacht verbunden ist, während Leitungsaufgaben Macht, Einfluss und Gestaltungsfreiraum beinhalten.
12) Hamburger Hospiz e. V., 2016–2018.
13) DHPV Verbundstudie »Ehrenamtlichkeit und bürgerschaftliches Engagement in der Hospizarbeit-Merkmale, Entwicklungen und Zukunftsperspektiven«, 12. 7. 2018.
14) Allensbacher Archiv, lfD-Umfrage 11082, Feb. 2018.
15) Gemeint sind ehrenamtliche Hospizler*innen.
16) Denken wir an die vereinsamten Pflegebedürftigen und Hochbetagten, die aufgrund von‚ Einschränkungen keine Chance haben, aktiv am gesellschaftlichen Miteinander teilzuhaben, und die bisher von der Hospizbewegung noch nicht in dem Maße erreicht werden wie andere Gruppen, z. B. Menschen mit einer tödlichen Krebserkrankung. Diese Gruppe ist im stationären Hamburger Hospiz mit bis zu 95 % vertreten.
17) Dhpv.de/service_zahlen-fakten.html.
18) Laut einer quantitativen Onlinebefragung vom Deutschen Hospiz- und PalliativVerband e. V. von 1.217 ambulanten Hospizdiensten im Zeitraum vom 12.4. bis 21. 5. 2018 sind nur rund 10 % der Hospizkoordinator*innen jünger als 46 Jahre! Sie verfügen über Abitur oder Fachhochschulreife (56,6 %) oder mittlere Reife (39,4 %).
SITUATION
FRIEDHELM WASSMER ist an Krebs erkrankt und lebt seit einigen Wochen im Hospiz. Der ehemalige Starfotograf ist 74 Jahre alt und finanziell »eine arme Sau«, weil er »nicht aufgepasst« hat. Der geschiedene »absolute Einzelgänger« ist kinderlos und alleinstehend. Kontakt hat er zu »seinem besten Freund«, einem ehemaligen Kollegen, der ihn regelmäßig besucht und sich um Erledigungen kümmert. Daneben meldet sich »ab und an« eine ehemalige Mitarbeiterin, die er bewundert, weil sie mit »über 60 […] noch immer« engagiert wird.
GESPRÄCHSVERLAUF
Es ist das erste Gespräch für das Buchprojekt, und wir führen es gemeinsam. Dabei tastet uns Friedhelm Wassmer kritisch ab, hebt Schwachstellen hervor und will uns damit kompromittieren.
Besonders der Anfang ist für uns herausfordernd. Zwar findet Friedhelm Wassmer seine Mitwirkung am Buchprojekt »nicht uninteressant«, doch er zweifelt an unserer Kompetenz und der Sinnhaftigkeit. »Leute wie« uns hat er »früher immer erst umerziehen müssen«. Später nennt er unser Vorgehen »Kasperkram«. Schließlich resümiert er, dass ihm »das Gespräch eigentlich nix […] bringt« und dass er uns mit seiner Teilnahme »einen Gefallen« täte.
Doch seine ablehnende Haltung ist ambivalent. Als es so aussieht, als wolle er das Gespräch beenden, räumt er unsicher ein: »Ja, ich weiß auch nicht, nun gut…« Und er fordert uns auf: »Oder wenn Ihnen was einfällt, können Sie ja auch noch nachstoßen. Warum nicht?«
Unser anhaltendes Interesse, ihm in seiner ganzen Person näherzukommen, weist er zurück, da er als Mensch »völlig uninteressant« sei. Zudem kommentiert er: »So eine Fledermaus wie mich kriegt ihr so leicht nicht.« Auch appelliert er an uns, »die Männer im Turm zu lassen«. Dementgegen möchte er uns seine Fotos zeigen, weil da »jeder Idiot eine Empfindung zu hat«.
Über weite Strecken berichtet er sachlich-rational. Dies ändert sich, als er über seine Katze spricht und mit den Tränen kämpft. An dieser Stelle beendet er das eineinhalbstündige Gespräch.
INTERVIEW
Friedhelm Wassmer: So, Sie haben sich das [Buchprojekt; Anm. d. Autoren] hier ausgedacht.
Dr. Martin Kreuels: Die Frage ist, ob Sie Lust haben, an dem Projekt »Männer im Abschied«19 teilzunehmen…
Ja, ist nicht uninteressant. Aber wie haben Sie das Projekt gebaut? Ich hab so ein Gefühl… Also, Leute wie Sie hab ich früher immer erst umerziehen müssen. In meinem Studio wollten ganz viele Leute Assistent sein. Und die kamen auch von irgendwelchen Hochschulen und waren echt nicht zu gebrauchen… Und ja, wahrscheinlich ist mir Ihr Anliegen zu theoretisch.
»Theorie«? Hospizmitarbeiter*innen möchten mehr darüber erfahren, was Männer am Lebensende denken.
Aber ist das so spannend? Die Mitarbeiter kommen doch gut zurecht.
Die Hospizmitarbeiter*innen möchten Männer »besser« begleiten.
Sie wollen herausfinden, wie.
Ja, o.k.… Aber wenn die Leute nicht zu schwer krank sind, können sie ja mal den Mund aufmachen. Normalerweise ist es doch so, wenn ich irgendwo bin und es mir zusagt oder weniger zusagt, kann ich irgendwie vorsichtig darauf einwirken, dass es gebessert wird.
Ich höre, dass Männer Bedürfnisse durch ihr Verhalten ausdrücken, sich weniger sprachlich artikulieren.
Gut, dann sind sie wahrscheinlich zu doof.
Angela Reschke: Männer wollen verstanden werden, auch von Frauen. Und Frauen wollen verstehen, wie Männer etwas erleben und was sie wollen.
Wir können aber nicht davon ausgehen, dass Frauen das Primäre sind. Wenn, dann sind wir gleichwertig. Jeder hat seine Stärken, und jedes Geschlecht hat so seine Bereiche, in denen sie besser zu gebrauchen sind. Aber ich weiß gar nicht, wo das Problem ist. Man kann doch miteinander reden. Das ist doch ganz einfach, denke ich.
Dr. Martin Kreuels: Ich glaube, dass Reden und Verstehen letztendlich nicht so einfach sind.
Ihr macht das ja richtig kompliziert, hab ich das Gefühl.
Wie machen wir es einfacher?
Da bin ich mir noch gar nicht so sicher. Ich hab in meinem Leben ja auch schon viele Interviews gemacht. Also, da gab es ein Ziel, wie man die Leute packen wollte. Und ich bin mir bei euch nicht so sicher, dass das Projekt bei euch zu Ende gedacht ist.
Das Ergebnis ist weitestgehend offen.
Bei mir ist das einfach: Wenn ich Bedürfnisse habe, dann formulier ich sie oder versuche, an die richtigen Stellen zu gehen, und sehe, wie weit ich komme.
Wie sehen Sie die Situation, in der Sie sich gerade befinden?
(überlegt) Ich hoffe, ganz sachlich. Also, ich habe mich mit vielen Dingen abgefunden oder mich eingefunden, und so lebe ich.
Das klingt sehr rational.
Ja, was soll ich denn machen. Ich bin jetzt nun mal schwer krank. Hab den Krebs. Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe… oder unter welchen Bedingungen… oder was noch auf mich zukommt. Und ich hab das Beste daraus gemacht. Hoffe ich. Weil ich mir selber nicht mehr helfen kann.
Eine Zeit lang habe ich mich selber versorgt. Das geht jetzt einfach über meine Kraft. So einfach ist das. Und aus dem Grund bin ich jetzt auch hier – unter anderem. Irgendwann kam von der Klinik der Vorschlag mit der Hospizgeschichte… kannte das ja alles gar nicht… Normale Bürger sind ja fast gar nicht über die Hospize informiert… Weil ihr hier Öffentlichkeitsarbeit macht, kommt manches jetzt in Bewegung… zum Glück. Aber ansonsten… jetzt weiß ich nicht, was ich euch erzählen soll…
Das ist eine sachliche, nüchterne Entscheidung, hierhin zu gehen.
Ja.
Wie sieht es bei Ihnen drinnen aus?
Es ist… ein Schnitt in meinem Leben. Ich bin ja nun mal leidenschaftlicher Knipser und hab auch viel Erfolg gehabt. Aber ich habe jetzt aufgehört zu fotografieren… bewusst… obwohl ich es sehr gut kann… und vielen Kollegen mit Sicherheit… tja… sagen wir mal… Dinge vorleben könnte, da gucken die dumm aus der Wäsche. Die würden sagen… tja, da wären wir nie drauf gekommen, so zu arbeiten, so zu sehen, so zu denken. Nur ich habe mir ganz bewusst gesagt, ich höre jetzt wirklich auf zu fotografieren… das ist eine Epoche in meinem Leben, die ist vorbei. So ist die Lage, aber mit meinem Krebs, mit meiner Krankheit habe ich mich arrangiert.
Fotografieren war ein Teil von Ihnen?
Ja (wirft die Hände hoch). Was heißt ein Teil? Es war alles! Was heißt hier ein Teil? Ich habe dafür gelebt! Ja, und jetzt weiß ich nicht, wie ich hier so… ja, also… ich versuche, so durchzukommen… fertig. Ich kann euch da keine schönen Dinge erzählen.
Es geht ja nicht um schön…
Worum denn? Dass es bei mir juckt oder schnakt oder sonst was, weil ich jetzt so krank bin?
Wenn Sie an das Ende denken, was löst das bei Ihnen aus?
Ich bin froh, wenn es so weit ist, weil ich alles erledigt habe. Ich hab im Grunde so viel erlebt und gesehen und auch gemacht, ich kann da nicht mehr obendrauf arbeiten. Da ist jetzt einfach Schluss.
War es ein vollständiges Leben? War alles drin, was Sie sich gewünscht haben?
Ja, wirklich alles. Echt. Ich hab Erfolg gehabt ohne Ende. Hab die ganze Welt gesehen… ich hab viele Leute kennengelernt… Prominente fotografiert und auch Nichtprominente… Es war prall, es waren zwei Leben. Was soll ich dazu sagen? Ich bin offensichtlich eine ganz andere Liga, ohne jetzt ein Angeber zu sein. Das ist so. Meine Kollegen sind so F. C. Gundlach und solche Leute. Wobei ich von dem gar nicht so furchtbar viel halte. Er ist jemand, der sich in Ohlsdorf ein Mausoleum baut…
Jaja, ich kenn ihn ganz gut, auch weil ich ihn vertreten habe, als er sehr krank war. Aber es ist niemals eine Freundschaft daraus geworden. Ist so ein komischer Typ, ein bisschen eigen, auch ganz kalt, zum Teil… Während ich ganz anders mit den Models arbeite. Ich fasse die Models auch mal an oder so. Sie fühlen sich dabei aber nicht unwohl. Aber gut, ich bin ja auch etwas jünger und er ein bisschen älter. Aber so in dieser Richtung läuft das, was ich mache oder gemacht habe.
Ich hatte einen Herzcrash. Da habe ich irgendwann das Studio zugemacht. Und das ist ja auch jetzt schon 15 Jahre her. Ich bin ja auch schon lange krank.
Angela Reschke: Wenn Sie zwei Fotos machen würden, eins von der Fülle, die Sie beschrieben haben, und eins für Ihr jetziges Leben, welche Motive würden Sie wählen?
Gar keine. Da bin ich nicht aufgerufen, für meinen jetzigen Zustand irgendein Foto zu machen. Es ist auch gar kein richtiger Zustand. Es ist im Grunde… (überlegt) ihr macht euch da so richtig Kummer drum. Da gibt es andere Leute, die dann leiden und die dann so… irgendwie… und das ist alles noch nicht da bei mir.
… und wie würde das auf einem Foto aussehen?
Gar nicht. Weil das eigentlich nicht relevant ist. Es beschäftigt mich eigentlich nicht so sehr. Ich hab mich da eingefunden in die Sache, glaube ich. Außerdem kann ich es ja im Grunde nicht vorhersehen, was noch auf mich zukommt. Ich kann jetzt vom Sessel kippen. Das ist mir bewusst. Das kann passieren. Ich bin schon ein paarmal einfach hingefallen und hatte keine Macht über mich. Damit muss ich leben.
Und wenn Sie auf die Fülle des Lebens zurückschauen, wie würde das Foto aussehen?
Och, für das Lebensgefühl, damals… das kann ein Hintern von irgendeinem Mädchen sein. Doch… ja… da fällt mir gerade eins ein.
Erzählen Sie!
Kann ich Ihnen sogar zeigen. Hab sie da. Müssen wir nur suchen gehen. Müssen wir 600 Fotos schnell durchgucken.
(steht auf, um sein Handy mit den gespeicherten Bildern zu holen)
Das sagt viel mehr über mich als der ganze andere Kasperkram. Was ist jetzt hier? (Das Handy funktioniert nicht.) Hat sich der Akku entladen, weil er so lange gelegen hat? Er will nicht. Das ist nicht zu fassen. Das hab ich ja noch nie gehabt.
Was war das denn für ein Mädchen?
Die zog eigentlich nur die Bluse aus. Warum geht denn meine Maschine hier jetzt nicht? Das ist mir jetzt viel wichtiger. Er geht nicht an und er geht nicht aus. Hilft nix. Er will sich euch nicht zeigen.
Angela Reschke + Dr. Martin Kreuels: (lachen)
Er will sich euch einfach nicht zeigen. Das ist total neu. Geht nicht (drückt verschiedene Knöpfe am Handy). Nee, schade. Technik! Ich kann es nur während unseres Gesprächs aufladen… hier ist eine Steckdose.
Aber vielleicht ist es auch schön, wenn Sie das Foto aus der Erinnerung beschreiben?
Ja, es ist ein schönes Foto…
Was würde ich sehen, wenn ich es anguckte?
Ja, einmal das Mädchen von hinten, die auf der Straße einfach nur so läuft. Mit dem Schwung vom Hintern, und die Arme schwingen zur anderen Seite. Es ist ein Ablauf, so ein Laufen, ein Catwalk. Dann ist es angeschnitten bis zur Kniekehle. Eine Straßenszene. Und da läuft die. Mehr nicht.
Bewegung, Vitalität…
Richtig… und das Frau-Sein. Und noch ein Studiofoto. Eine Asiatin zieht sich aus. Die zieht einfach die Bluse hoch und macht einen ganz glücklichen Gesichtsausdruck. Oder ein Foto… zwei junge Leute… wo sie ihm im Arm liegt und ganz glücklich guckt. Nein, nein, das sind schon Fotos, wo jeder Idiot eine Empfindung zu hat. Ich bin völlig uninteressant, interessant sind vielleicht meine Bilder.
Sie haben Geborgenheit ausgedrückt und Glück…
… so was kann man nicht delegieren. Es ist der Moment, ein Schnappschuss. Die Frau ist ganz egal, das ist ein ganz normales Mädchen. Ich kenn die ja gar nicht. Man sieht das und ist schnell genug, um das einzufangen, und wählt den richtigen Ausschnitt… So ist das.
Wie haben Sie erkannt, was vor Ihnen ist?
Fotografie ist in der Hauptsache Kopf… logisch. Wenn du nix gelesen hast und nix erlebt hast und nichts gegessen und getrunken, kriegst du auch kein gutes Bild hin. Ja, man muss das irgendwie empfinden können, einen Sender dafür haben. Haben aber nicht viele. Die Leute haben da gar keinen Sinn für. Entweder man hat es oder…
Sie sind »emotionaler Ästhet«. Wie war Ihr Weg dorthin?
Kann ich nicht sagen. Das ist eben so… Angefangen zu fotografieren habe ich mit 14 oder so, als Hobby. Mein Stiefvater hatte das Hobby Fotografieren. Dann hat er mir zum Geburtstag eine Kamera geschenkt, und ich hab ein bisschen fotografiert und hatte später bessere Fotos gemacht, und er hat sich schwarzgeärgert. (alle lachen)
Aber so ging das dann weiter. Es wäre ja auch zwecklos, seine Gabe so zu verschenken.
Es ist eine Unsitte geworden, dass für Fotografie nichts kalkuliert wird. Fotografie ist seit Jahren gar nichts mehr wert. Ich habe ja mein Geld immer gekriegt. Ich hab da ja nicht mitgemacht. Nee, ich sag es ja, ich bin eine ganz andere Liga.