Das Buch
Schon früh entdeckte Stephanie Shirley ihre Begabung für Mathematik und Informatik. Da sie in der männlich dominierten Berufswelt der Sechzigerjahre keinerlei Aufstiegschancen bekam, gründete sie 1962 eine eigene Softwarefirma. Doch niemand erklärte sich bereit, mit einer Frau zu arbeiten. Erst als sie begann, ihre Briefe mit »Steve« zu unterschreiben, erhielt sie Aufträge. Shirley durchlief daraufhin eine bahnbrechende Karriere und ermöglichte einer ganzen Generation von Frauen enorme, bis dahin nicht dagewesene berufliche Möglichkeiten. Heute zählt sie zu den erfolgreichsten Unternehmerinnen Englands.
In ihrem Debüt Ein unmögliches Leben erzählt Stephanie Shirley ihre eindrucksvolle Geschichte. Sie bietet Einblicke in ihre bewegende Kindheit als jüdischer Flüchtling, ihre Flucht von Wien nach England und teilt die Sorgen um ihren autistischen Sohn Giles. Shirleys Lebensweg war steinig, doch es gelang ihr, sich den Männern zu widersetzen und ihre eigenen Regeln aufzustellen – sie ist auch und besonders heute ein Vorbild für alle Frauen und eine beispiellose Inspiration in Sachen weiblicher Selbstermächtigung, Widerstandskraft und Solidarität.
Die Autorin
Dame Stephanie Shirley ist eine britische Geschäftsfrau, IT-Pionierin und Philanthropin. Sie gründete in den Sechzigern die Softwarefirma »Freelance Programmers«. Den größten Teil ihres Lebens widmete sie der Autismusforschung und den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Shirley zählt zu den 100 mächtigsten Frauen Großbritanniens.
Dame Stephanie Shirley
mit Richard Askwith
Ein unmögliches Leben
Die außergewöhnliche Geschichte
einer Frau, die die Regeln der Männer brach und
ihren eigenen Weg ging
Übersetzt von
Albrecht Schreiber
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
Let It Go. My Extraordinary Story bei Penguin Books Ltd., London.
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Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2014, 2019 Originalausgabe by Dame Stephanie Shirley
Copyright © 2019 Vorwort by Baroness Martha Lane Fox
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, in Anlehnung an die Gestaltung der englischen Originalausgabe und unter Verwendung eines Fotos von © Philip Sinden
Fotos im Innenteil: © Dame Stephanie Shirley
Lektorat: René Stein
MP • Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-25749-1
V002
www.goldmann-verlag.de
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Inhalt
Vorwort
1. Eine merkwürdige Reise
2. Meine verlorene Welt
3. England, mein England
4. Die Scherben aufsammeln
5. Schwere Zeiten
6. Die gläserne Decke
7. Auf zu neuen Ufern
8. Startschwierigkeiten
9. Der »verlorene« Sohn
10. Kampf ums Überleben
11. Der Zusammenbruch
12. Auszeit
13. Gemeinsame Basis
14. Fehler, Fallen und Visionen
15. Gesprengte Ketten
16. Große Pläne
17. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
18. Eine zweite Kindheit
19. Steve wer?
20. Neuanfang
21. Die bitterste Pille
22. Leben nach dem Tod
23. Zurück im Leben
24. Haben oder Geben
25. Loslassen
Bildteil
Vorwort
»Du kannst nicht sein, was du nicht siehst« lautet ein Zitat, auf das ich in Diskussionen über die komplexen Fragen der Gleichstellung im schnell wachsenden Technologiesektor oft zurückgreife. Wie können Mädchen sich für eine Karriere in diesem Bereich entscheiden, wenn es in Unternehmen keine Chancen für sie zu geben scheint? Wie können Frauen sich für eine Stelle in diesem Sektor bewerben oder anfangen, technologieorientierte Unternehmen zu gründen, wenn die Welt so gar nicht danach aussieht?
Nun, wenn wir in die richtige Richtung schauen würden, würden wir Dame Stephanie Shirley erblicken, die Frau, die wir uns alle zum Vorbild nehmen sollten.
Ich schätze mich glücklich, Dame Stephanie Shirley meine Freundin nennen zu dürfen. Zum ersten Mal sind wir uns vor über zehn Jahren begegnet, als wir auf der gleichen Konferenz eine Rede hielten. Mit der ihr eigenen Freundlichkeit hat sie mich dann an ihrer Londoner Lieblingsadresse, der Royal Society of Medicine, zum Mittagessen eingeladen.
Und ein Essen mit Steve, wie sie sich selbst nennt, ist ein Vergnügen. Einen Menschen mit so viel Esprit, Kraft und Scharfsinn trifft man selten. Ich weiß, dass sie es nicht mag, wenn man davon spricht, aber sie hat eine Energie, als wäre sie erst halb so alt. Wir unterhalten uns immer ganz unkompliziert über alles Mögliche, kommen aber doch häufig darauf zurück, uns über unsere Erfahrungen als Unternehmerinnen auszutauschen.
Ich war zu einer Zeit Mitbegründerin von lastminute.com, als man in Europa noch daran zweifelte, dass das Internet überleben, geschweige denn eine Erfolgsgeschichte werden würde. Wir mussten Investoren, Lieferanten und natürlich auch Kunden davon überzeugen, dass die Eingabe von Kreditkartendaten auf einer Website sicher wäre und tatsächlich sogar praktischen Nutzen haben könnte. Doch diese Herausforderungen waren geradezu ein Kinderspiel, verglichen mit jenen, die Steve dreißig Jahre vorher zu bewältigen hatte.
Es ist kaum zu glauben, dass Steve zu einer Zeit, in der Frauen am Arbeitsplatz noch nicht einmal nach dem Gesetz gleichberechtigt waren, ausschließlich Frauen beschäftigte, die alle von zu Hause aus an komplexen Projekten des öffentlichen Sektors arbeiteten, wie an der Programmierung der Blackbox für die Concorde. Es handelte sich dabei also mitnichten um flauschig federleichte Aufträge, sondern um solche, die von Regierungsbehörden stammten und oftmals die nationale Sicherheit tangierten.
Mir scheint, dass die Menschheit auf Steves kreativem Weg, erfolgreiche, vielfältig ausgerichtete Unternehmen aufzubauen, eher rückwärtsgegangen sind, zumindest aber nicht vorangekommen sind. Steve hat schon vor Jahrzehnten die Richtung vorgegeben, und ich glaube, wir sollten unbedingt ihrem Beispiel folgen, wenn wir möglichst resiliente und robuste, leistungsfähige und zukunftsorientierte Unternehmen schaffen wollen.
Aber es ist nicht allein ihr außergewöhnlicher Erfolg als Tech-Unternehmerin, der Steve so bemerkenswert macht. Sie ist nicht nur ein Vorbild dafür, wie man ein Unternehmen aufbaut, sondern auch, wie man sein Leben meistern kann.
Steves philanthropisches Engagement ist genauso außergewöhnlich wie ihr kommerzieller Erfolg. Sie hat mir gezeigt, dass sich der öffentliche und der private Bereich durchaus verbinden lassen und dass der Aufbau einer Organisation, die sich gemeinnützigen Zielen verschreibt, genauso unternehmerisches Geschick verlangt wie der Aufbau eines profitorientierten Unternehmens.
Steves geliebter, bereits verstorbener Sohn Giles hatte eine Form von Autismus, die eine Betreuung rund um die Uhr verlangte. Und Steve hat nicht nur für diese Pflege gesorgt, sondern sie hat sich trotz der persönlich so extrem belastenden Situation über die bestmögliche Betreuung von Kindern wie Giles Gedanken gemacht und Prior‘s Court gegründet, eine Schule und ein Heim für autistische Kinder. Ich habe mir die Schule, die wunderschön eingebettet in der englischen Hügellandschaft liegt, angesehen, und mir fielen sofort die Kunstgegenstände auf, die überall auf dem Gelände errichtet worden waren. Mit ihrem Einfühlungsvermögen erkannte Steve, dass es oft die Kunst ist, zu der solche Kinder am einfachsten und schnellsten eine Beziehung herstellen können. Obwohl es nirgendwo auf der Welt eine bessere Einrichtung für diese Kinder gibt, war Steve bei unserem Besuch trotzdem noch nicht gänzlich zufrieden und immer auf der Suche nach Verbesserungen. Ihre neueste Idee war, eine Bäckerei einzurichten, damit die Gemeinschaft Brot backen und verkaufen könnte – und tatsächlich, ein Jahr nach unserem Besuch wurde die Bäckerei eingeweiht.
Ihre Geschichte zeigt uns nicht nur, wie man in einer männerdominierten Wirtschaft als Frau bestehen kann, sondern vielmehr noch, wie man seinem Leben zu jeder Zeit einen Sinn geben kann. Zu oft und besonders in einem Umfeld von Start-ups und Technologieunternehmen wird Gründern, die marktbeherrschende oder hoch bewertete Firmen aufbauen, geradezu Heldenstatus verliehen. Steve schaffte das auch, aber sie tat noch viel mehr und viel Bedeutenderes.
Ich wünsche mir, dass die bemerkenswerten Memoiren dieser tapferen und brillanten Frau für Sie genauso eine Quelle der Inspiration darstellen wie für mich. Sie zeigen uns, was wir alles sein sollten. Lasst uns einfach darauf achten, dass wir die Augen offen halten.
Baroness Martha Lane Fox
1.
Eine merkwürdige Reise
Meine erste Erinnerung an England ist die Ankunft am Bahnhof Liverpool Street. Es war ein grauer Tag im Juli, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ich weiß nicht mehr, ob es geregnet hat und wie spät es war, als ich aus dem Zug gestolpert und auf dem Bahnsteig gelandet bin. Ich erinnere mich nur an Schatten, an große gusseiserne Säulen, an lange Gänge und an meine Füße, die wehtaten.
Ich war fünf Jahre alt und zusammen mit meiner neun Jahre alten Schwester vor mehr als zwei Tagen in Wien zu dieser trostlosen, tränenreichen Fahrt aufgebrochen. Wir kannten kaum ein halbes Dutzend englische Wörter, und ich zumindest hatte nur eine sehr vage Ahnung davon, wohin die Reise gehen sollte und warum.
Wir zählten etwa tausend Kinder, alle jüdisch – abgesehen von zwei (!) jungen Frauen, die auf alle aufpassen sollten – und fast alle verstört. Um den Hals hatte man uns nummerierte Karten gehängt, als wären wir Fundsachen, was wir ja irgendwie auch waren.
Zweieinhalb Tage vorher hatten wir unseren Eltern (bei mir war es nur meine Mutter) Lebewohl sagen müssen, und die meisten von uns sahen sie nie wieder. Wir gehörten zu den letzten – und ich war fast das jüngste – von etwa zehntausend Flüchtlingskindern, die Hitlers Terror zwischen Hoffnung und Verzweiflung mithilfe dieses großen Glücksspiels namens Kindertransport entkommen konnten. Millionen von Juden in Deutschland und Österreich (und später in der Tschechoslowakei und in Polen) hatten sich lange Zeit gesträubt und das Undenkbare nicht glauben können: dass die zivilisierte Nation, in der ihr Leben verwurzelt war, in tödliche Barbarei verfallen war. Viele fügten sich in ihr Schicksal und beschlossen, auszuharren und darauf zu hoffen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Andere wiederum schätzten die Situation richtigerweise so ein, dass Bleiben so viel hieß, als würde man das Todesurteil für seine Familie unterzeichnen. Aber die übrige Welt hatte ihre Grenzen für Flüchtlinge weitgehend geschlossen. Als sich dann im Vereinigten Königreich besorgte Gruppen zur Kindertransportbewegung Movement for the Care of Children from Germany zusammenschlossen (die später Refugee Children‘s Movement genannt wurde) und offiziell die Erlaubnis bekamen, bis zu zehntausend jüdische Kinder als Flüchtlinge ins Land zu holen, entschlossen sich einige Familien, die keinen anderen Ausweg mehr wussten, ihre Kinder nach Großbritannien in eine Pflegefamilie zu schicken. Meine Familie gehörte zu ihnen.
Im Rückblick und die behütete Sicherheit von heute als Selbstverständlichkeit betrachtend, kann man sich kaum mehr die seelischen Qualen vorstellen, die diese Eltern erdulden mussten. Ihnen wurde ein Übermaß an Vertrauensvorschuss und Vorstellungskraft abverlangt – Vertrauen auf die Freundlichkeit noch nie gesehener Fremder und eine Vorstellung davon, wozu der Nationalsozialismus letztendlich fähig wäre. Die Zweifel und die Verzweiflung müssen unerträglich gewesen sein.
Für uns Kinder war es einfacher. Das Leben, so wie wir es bisher kennengelernt hatten, war schon wieder zu Ende, kaum dass es begonnen hatte.
Längst nicht alle von uns hatten das volle Ausmaß des Schrecklichen erfasst, denn es schien ja so, als ob unsere Familien sich aus freien Stücken aufgelöst hätten. Ich vermute, dass sich meistens nicht einmal die Eltern der nackten Wahrheit gestellt, geschweige denn mit ihren Kindern unmissverständlich darüber gesprochen hatten. Aber die Abschiedsszenen auf dem Bahnsteig in Wien waren herzzerreißend. Es gab zu viele wehklagende Erwachsene und weinende Kinder, als dass die um Tapferkeit ringenden Gesichter noch hätten Hoffnung machen können. Vielleicht war noch das ein oder andere Kind unter uns, das tatsächlich glaubte, dass wir nur zu einem aufregenden Abenteuer aufbrachen. Aber es war schwer, die Wahrheit zu ignorieren, die aus den Augen der Erwachsenen sprach.
Vielleicht hätte ich für die Schmerzen in meinem Fuß dankbar sein sollen. Die meisten meiner Leidensgenossen hatten nichts, das sie von ihrem Schmerz ablenken konnte, in die Fremde weggeschickt worden zu sein. Aber mir war zu elendig zumute, um noch Mitgefühl mit jemand anderem zu verspüren. Ein paar Tage vorher hatte ich mir den großen Zeh aufgeschürft, und jetzt hatte sich die Wunde entzündet. Der dumpfe, pochende Schmerz wurde von Stunde zu Stunde quälender. Vielleicht trat deshalb der Trennungsschmerz in den Hintergrund, oder vielleicht ist in meinem Gedächtnis all die ganze Unbill miteinander verschmolzen.
Nach so vielen Jahren ist es schwer zu sagen, was wirkliche Erinnerungen an die Reise sind und was Vorstellung. War der Himmel wirklich grau? Oder habe ich einfach zu viele Schwarz-Weiß-Fotos vom Kindertransport gesehen? Ging ein Junge während der vielen ungeplanten Stopps tatsächlich immer wieder hinaus, um sich zu übergeben? Oder habe ich das nur geträumt?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass manche Kinder auf dem Boden geschlafen haben und andere auf den langen Holzbänken entlang der Wagenseiten; es gab breite Streifen aus Wellpappe, die als Matratzen dienten. Wahrscheinlich habe auch ich geschlafen, erinnern kann ich mich aber nicht mehr daran. Ich nehme an, dass unsere Eltern uns Butterbrote für die Reise mitgegeben haben; aber auch hier kann ich mich irren.
Dass wir von unseren Eltern Geschenke mitbekommen haben, weiß ich aber noch genau. Bei mir waren es zwei winzige Spielzeughunde, die mit einer Minileine zusammengebunden waren. Die Päckchen durfte man aber erst aufmachen, wenn sich der Zug in Bewegung setzte – sodass wir es kaum erwarten konnten, bis es losging. Ich weiß auch noch, dass ich auf der Reise meine Lieblingspuppe fast ununterbrochen verzweifelt umklammert hielt.
Ich erinnere mich an zahlreiche Stopps und an Schaffner in Uniform, die für gelegentliche, angsteinflößende Unterbrechungen sorgten. Ich habe noch den kalten, öligen Geruch des Meeres in der Nase – eine ganz neue Erfahrung, als wir schließlich am Ärmelkanal angekommen waren (vermutlich in Hoek van Holland); und ich erinnere mich vage an eine ekelhafte Überfahrt in einer Kabine, die sich unter Deck befand. Ich bin mir sicher, dass auf der Zugfahrt ab einem bestimmten Zeitpunkt Kinder in den oberen Gepäckablagen geschlafen haben – obwohl die Szenen in meiner Vorstellung überhaupt nicht mit dem Inneren der Waggons übereinstimmen, das ich später auf Archivfotos gesehen habe. Und ich glaube auch nicht, dass mein Eindruck ganz falsch ist, dass es während dieser zweieinhalb Reisetage kaum mal einen Augenblick gab, in dem wir nicht durch das Schluchzen und Jammern der anderen an unser Elend erinnert wurden.
Doch wie verhält es sich mit meinem Gefühl, dass auf dem Bahnsteig völlige Stille herrschte, als wir endlich am Bahnhof Liverpool Street angekommen waren? Es scheint irgendwie unwahrscheinlich zu sein, und vielleicht habe ich meine betäubten Gefühle auf die Vergangenheit projiziert. Wie auch immer, in meiner Vorstellung hat es sich so abgespielt: Wir sind auf dem Bahnsteig gelandet, sprachlos, mit weit aufgerissenen Augen, als würden wir träumen. Die meisten von uns trugen Hüte und Mäntel. Da wir nur so viel Gepäck mitnehmen durften, wie wir auch tragen konnten, hatten unsere Eltern unsere kleinen Koffer prallvoll gepackt und uns sicherheitshalber ein paar zusätzliche Kleidungsstücke übergeworfen – voller Sorge, dass wir in der seltsamen neuen Welt, in die sie uns verbannten, frieren könnten oder nicht genug zum Anziehen hätten. Unsere Mäntel trugen noch immer die gelben Sterne, die wir in Österreich hatten annähen müssen.
Langsam und lautlos bewegte sich der Strom der erschöpften, verwirrten und verweinten Gesichter den Bahnsteig hinunter. Meine Schwester Renate und ich fanden uns in einer gähnend großen Halle wieder, in der wir nach einem kurzen Anwesenheitsappell auf unsere neuen Familien warteten. An einer Wand stapelten sich mit Stroh gefüllte Säcke, und in der Luft lag der süßliche Geruch von ungewaschenen Kindern.
Niemand von uns hatte eine Ahnung davon, was ihn erwartete. Das Refugee Children‘s Movement – kurz RCM – hatte einfach in verschiedenen britischen Zeitungen um Familien geworben, die bereit dazu wären, ein oder zwei Flüchtlingskinder aufzunehmen, und Renate und ich wussten außer dem Namen nichts über das Ehepaar, das sich freiwillig gemeldet hatte, um sich um uns zu kümmern. Ab und zu ließen Erwachsene um uns herum beiläufig eine Bemerkung fallen, oder es gab irgendwelche Ankündigungen, aber mit der seltsamen Sprache hier konnten wir nichts anfangen. Unser Vater hatte uns zwar auf den letzten Drücker eine Handvoll englischer Ausdrücke eingetrichtert, aber das waren skurrile und zufällige Begriffe wie »Scheibenwischer« und »Dauerbrandofen«. Ich konnte nicht einmal fragen, wo die Toiletten sind, geschweige denn verstehen, wenn Fremde uns zu erklären versuchten, was mit uns passieren würde.
Der Nachmittag zog sich dahin. Renate und ich saßen auf einem Strohsack an der Wand und sahen zu, wie immer mehr Kinder, normalerweise einzeln oder zu zweit, weggeführt wurden. Nie schien eines zu protestieren, wenn es sich seinen neuen Eltern gegenübersah. Vielleicht waren die Kinder zu müde und verängstigt dafür. Oder vielleicht habe ich das einfach nicht mitbekommen, weil ich schon genug mit meinem eigenen Elend zu tun hatte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dasaßen. Irgendwann wurden Renate und ich schließlich doch aufgerufen. Ein ernst dreinblickender, dunkel gekleideter Mann mittleren Alters mit barscher Stimme führte uns nach draußen. Die Straßen waren anders als in Wien seltsam und schmutzig. Ein großer roter Morris parkte in der Nähe. Auf dem Beifahrersitz wartete eine Dame in mittleren Jahren und mit viel Make-up im Gesicht.
Wir stiegen ein und fuhren in unser neues Leben.
Diese Fahrt, die sich über mehrere Stunden hinzog, hätte kaum schlimmer sein können. Wir waren müde, hungrig und traumatisiert.
Da Guy und Ruby Smith – so hießen unsere neuen Eltern – kein Deutsch sprachen, konnten wir uns nicht unterhalten. Mein Kummer kannte keine Grenzen, als mir allmählich aufging, dass mir irgendwie meine innig geliebte Puppe abhandengekommen war. Man hat mir später erzählt, ich hätte mir während der ganzen Reise die Seele aus dem Leib geheult.
War es wirklich der Verlust der Puppe, der mich so traurig machte? Oder verkörperte sie nur all das, was wir verloren hatten? Ich kann es nicht sagen, all das ist so lange her. Doch eines weiß ich sicher: Dies war nicht wirklich ein Ende, auch wenn es den Anschein hatte. Es war ein Anfang. Es war der Augenblick, in dem mein Leben im Grunde genommen begann.
Seit diesem furchtbaren Tag sind Jahrzehnte vergangen. Und ich habe seitdem mehr getan, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich bin zu ungeahntem Reichtum gekommen – und habe das meiste davon wieder hergegeben. Ich habe ein globales Firmenimperium aufgebaut sowie Schulen und Institute gegründet, ich habe mit Staatsoberhäuptern gespeist und mich mit einigen der brillantesten Köpfe unserer Zeit ausgetauscht. Ich war an bahnbrechenden Errungenschaften beteiligt, egal ob auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem, medizinischem oder philanthropischem Gebiet.
Ich habe, wie ich hoffe, viele Hundert Leben, vielleicht sogar mehr, zum Besseren verändert. Ich bin eine Berühmtheit geworden, habe gewissen Einfluss und befinde mich in der glücklichen Lage, nicht nur mein Leben mehr oder weniger so gestalten zu können, wie ich mag, sondern auch für die Nation etwas bewegen zu können.
Mit einem Wort, ich habe wirklich außerordentliches Glück gehabt.
Neben Erfolgen habe ich auch Fehlschläge und Enttäuschungen erlebt, aber niemals habe ich zwei lebensnotwendige Einstellungen aus dem Blick verloren – die ich selbst nach all den Jahren bis zu meiner Ankunft in England als verängstigtes, weinendes Flüchtlingskind zurückverfolgen kann.
Die erste ist die Überzeugung, dass es selbst in den schwärzesten Momenten der Verzweiflung noch Hoffnung gibt, wenn man den Mut findet, ihr auch zu folgen. Manchmal ist das Schlimmste auch gar nicht so überwältigend schlimm, wie wir befürchten, und mit der richtigen Einstellung kann auch aus den schrecklichsten Schicksalsschlägen etwas Gutes entstehen.
Damit übereinstimmend verdankt sich meine zweite große Einstellung dem Umstand, dass ich nicht das Opfer von Engstirnigkeit und Grausamkeit wurde, als meine Eltern mich wegschicken mussten und ich scheinbar alles verloren hatte, sondern die unverdiente Großzügigkeit vieler Menschen erfahren durfte: der jüdischen und christlichen Aktivisten, die den Kindertransport organisierten, der Quäker, die das Projekt am Laufen hielten, als das Geld auszugehen drohte, der ganz gewöhnlichen Leute, die sich um die verschiedenen lästigen bürokratischen Hürden kümmerten, der katholischen Nonnen, die zu meiner Erziehung beitrugen, und des unauffälligen, nominell anglikanischen Paares mittleren Alters, das mich aufgenommen hat.
Ohne dass ich richtig verstanden hätte, was um mich herum vor sich ging und warum, hatte eine große Anzahl wohlmeinender Menschen es auf sich genommen, mein Leben zu retten. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich diese Tatsache und deren Tragweite erfasst hatte. Doch sobald dies geschehen war, reifte tief in meinem Herzen ein Entschluss heran: Ich musste dafür sorgen, dass mein Leben es wert war, gerettet zu werden.
Das ist mir bestimmt nicht immer gelungen, aber ich habe die ein oder andere Lektion darüber gelernt, wie man Dinge verwirklichen kann, wie man mit Rückschlägen umgeht und wie sich auch die unwahrscheinlichsten Träume verwirklichen lassen.
Ich möchte nun davon erzählen, was mein Leben geprägt hat, weil ich glaube, dass es sich lohnt, Sie an diesen Lektionen – die das Leben mir erteilt hat – teilhaben zu lassen.
Gewöhnlich war dieses Leben jedenfalls nicht.
2.
Meine verlorene Welt
Nichts deutete ursprünglich darauf hin, dass mein Leben besonders spannend werden sollte. In Dortmund wurde ich in eine geachtete und wohlhabende Familie hineingeboren. Wir wohnten zu viert in einem hübschen Stadthaus in einem schicken Viertel und hatten zwei Hausangestellte. Renate ging mit den Kindern anderer wohlsituierter Familien aus dem Großbürgertum zur Schule.
Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, wäre ich wohl nie aus dieser Welt der Annehmlichkeiten herausgekommen. Ich hätte einen anständigen, beruflich etablierten Mann geheiratet, die Kinder großgezogen und wohl nie einen richtigen Beruf ergriffen. Doch kurz vor meiner Geburt zogen dunkle Wolken auf, die meinem komfortablen Leben im Schoße der westfälischen Bourgeoisie schnell ein Ende bereiteten, sodass ich mich heute kaum noch daran erinnern kann.
Meine Mutter war schön, wenn auch etwas kühl. Sie war als jüngere Tochter einer wohlhabenden, nichtjüdischen Familie im österreichischen Krems aufgewachsen und auf ein Leben als bürgerliche Ehefrau vorbereitet worden. Bis auf ein wenig Schneiderhandwerk, das sie eher als Hobby denn als ernsthafte Arbeit betrieb, hatte sie nie gearbeitet. Stattdessen machte sie viel Tamtam um ihre äußere Erscheinung. Sie war immer makellos gepflegt, und wir genauso. Doch irgendwie wirkte sie meist unzufrieden, so als ob sie sich das Leben schon etwas anders vorgestellt hätte.
Mein Vater, der ein hohes Richteramt bekleidete, war ein brillanter, aber eher distanzierter Mann. Ich glaube, er war ziemlich genial – aber vielleicht auch ein bisschen autistisch. Er war Sohn eines Kaffee-Importeurs, spielte außerordentlich gut Geige, sprach sieben Sprachen und hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Er konnte Bahnfahrpläne auswendig hersagen, was er gelegentlich auch tat, ohne jedoch damit Begeisterungsstürme zu wecken.
Aber er war auch charmant und durch und durch integer. Seine unbeirrbare Prinzipientreue war etwas weltfremd und manchmal sogar fast unmenschlich. Ich kann mich noch sehr lebhaft an einen Familienausflug in ländlicher Umgebung erinnern, vermutlich in einem der beliebten Dortmunder Parks, wo ich – ich war ja noch ganz jung – auf die zugegeben nicht gerade glänzende Idee kam, einen Käfer zu zertreten, und mein Vater völlig aus der Haut fuhr. »Wie würde es dir denn gefallen, wenn man auf dir herumstampfen würde?«, schrie er mich an. Dafür, dass ich noch so klein war, war seine Wut schon ziemlich groß. Doch um was es ihm ging, habe ich bereits in dem Moment begriffen.
Ich erinnere mich auch daran, dass er gelegentlich mit heftigen Brechanfällen zu kämpfen hatte. Später erfuhr ich, dass sie mit einem furchtbaren Aspekt seiner Arbeit zu tun hatten: Alle Richter in Deutschland mussten damals der Hinrichtung der Personen beiwohnen, die sie zum Tode verurteilt hatten. Ich kann nicht mehr sagen, ob diese Beschwerden vor oder nach solchen Ereignissen (die glücklicherweise selten vorkamen) auftraten. Jedenfalls ist diese Reaktion ein Beweis dafür, dass ihn diese Verantwortung sehr belastete.
Vermutlich hat er auch gedacht, dass er mit seiner Unbestechlichkeit dem Übel des Nazismus die Stirn bieten könnte. Doch die Wucht des Bösen war zu gewaltig. Er wurde 1930, kurz nach seinem 30. Geburtstag, Richter und galt als aufsteigender Stern innerhalb seines Berufsstandes. Aber zu der Zeit, als ich auf die Welt kam, am 16. September 1933, fing man an, ihm alle Karrieretüren vor der Nase zuzuschlagen. Das lag nicht nur daran, dass er Jude war, sondern auch an seiner Verachtung für den Nationalsozialismus, aus der er keinen Hehl machte. Auf der Suche nach Arbeit und Sicherheit waren wir fortan gezwungen, ein ums andere Mal umzuziehen – zunächst von einer Stadt in die nächste und schließlich von einem Land in ein anderes. Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich bereits in sieben verschiedenen europäischen Ländern gelebt. Verschwommen erinnere ich mich noch an Deutschland, Italien und Ungarn sowie an Österreich, wo wir uns zuletzt in einem Außenbezirk von Wien niederließen.
Wir hatten dort ein schönes Zuhause – ein großes Stadthaus mit quadratischem Grundriss, das auf einer grünen Anhöhe im Vorort Perchtoldsdorf unweit vom Wienerwald stand – und mein Vater hatte eine Zeit lang Arbeit. Aber auch Österreich wurde bald von dem Virus der Nazi-Pest infiziert – mit dem »Anschluss« wurde das Land am 12. März 1938 dem Dritten Reich einverleibt – , und an meinem fünften Geburtstag wenige Wochen vor der Kristallnacht stand es für jeden, der sich hinzuschauen traute, wie ein Menetekel an der Wand: Die Juden in Mitteleuropa trieben auf eine Katastrophe zu.
Noch sehr deutlich erinnere ich mich daran, wie wir in Perchtoldsdorf immer meine Schwester von der Schule abholten. Dabei kamen wir an einer gewaltigen Steinmauer vorbei, die mir wie die Festung eines Riesen vorkam. Als ich dieser Stadt einige Jahre nach dem Krieg einen Besuch abstattete, wurden mir hinsichtlich meiner Erinnerung zwei Dinge klar: zum einen, dass die Mauer überhaupt nicht riesig war, und zum anderen (was viel wichtiger ist), dass wir meine Schwester aus einem bestimmten Grund abholten. Obwohl sie erst neun Jahre alt war, litt sie bereits unter antisemitischen Anfeindungen, die uns alle überwältigen sollten. Zum Glück hatte sie eine Lehrerin, die so nett war, sie immer etwas früher gehen zu lassen, damit sie – unter Begleitung – den Heimweg antreten konnte, ohne von den Mitschülern mit Steinen beworfen zu werden.
Ich nehme an, es war mein Vater mit seiner zutiefst rationalen Art, sich der unvorstellbaren Realität zu stellen, dass das bisher solide soziale Fundament, auf dem unser Leben ruhte, zusammengebrochen war, und dass uns nur noch die Wahl zwischen Flucht oder Tod blieb.
Inzwischen schrieb man das Jahr 1939, und ein Land nach dem anderen schloss seine Grenzen für Flüchtlinge. Aber wir hatten entfernte Verwandte in Amerika, und es schien möglich, dass wir dort mit ihrer Hilfe Zuflucht finden könnten. Doch die Zeit drängte, und meine Eltern wollten uns Kinder so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Und als sie dann von dem Kindertransport hörten, beschlossen sie, Renate und mich auf diese Weise außer Landes zu schaffen.
Ich war damals noch zu klein, um zu ahnen, was diese verzweifelte Entscheidung für sie bedeutet haben muss. Später würde ich mich deswegen schuldig fühlen – so wie ich mich wegen vieler Dinge schuldig fühlen sollte, die kaum meine Schuld gewesen sein können. Es waren jedenfalls dramatische Zeiten, und auch unsere Familie geriet aus dem Lot.
Meine Mutter hatte hohe Erwartungen an ihr Leben. Sie war hübsch und klug, hatte eine gute Ausbildung genossen und gut geheiratet: Mein Vater war nicht nur geistreich und attraktiv, als sie sich kennenlernten, sondern verfügte auch über Bildung und beste Beziehungen. Er hatte einen kultivierten Freundeskreis, dem später auch der berühmte Dirigent Georg Solti angehören sollte, und glänzende Karriereaussichten. Ich vermute, sie hing der Vorstellung von sich als Lebedame und Gastgeberin eines glanzvollen Salons nach, in dem gebildete Menschen miteinander musizieren und philosophische Gespräche führen konnten. Doch ihre Realität sah anders aus: Entwurzelt und verfolgt war sie an einen Ehemann gebunden, dessen Perspektive sich von Tag zu Tag verengte. Sie selbst war Nichtjüdin und gab meinem Vater die Schuld für ihr Schicksal. Tatsächlich war die Beziehung meiner Eltern schon in Schieflage geraten, als die Nazis noch gar nicht an der Macht waren. Mir wurde einmal sogar gesagt, dass ich »das Kind war, das die Ehe hätte retten sollen«. Wenn dem so war, dann habe ich in dieser Rolle ziemlich versagt. Ich bin vor allem von Kindermädchen aufgezogen worden und habe kaum Erinnerungen an eine Mutter, die mir liebevoll oder mütterlich zugetan gewesen wäre. Stattdessen sehe ich, wenn ich an meine frühe Kindheit denke, nur eine »Mutti« – wie wir damals sagten – vor mir, der ich nichts recht machen konnte.
Aber ich will nicht ungerecht sein. Vielleicht tut man gut daran, seine Eltern, die einem unerträglichen, von einer bösartigen Diktatur ausgeübten Druck ausgesetzt waren, mit mehr Nachsicht zu beurteilen, solange man eine solche Situation nicht am eigenen Leibe erfahren musste. Vielleicht würde ich mich, wenn wir zusammengeblieben wären, mit mehr Zuneigung an meine Eltern erinnern. Dass es anders kam, war nicht ihre Schuld, sondern spiegelt ganz im Gegenteil ihre Sorge um unser Wohlergehen wider.
Als die Entscheidung getroffen wurde, uns wegzuschicken, verkehrten die Kindertransportzüge seit etwa sechs Monaten. Das Geld ging langsam zur Neige. Und es war kompliziert. Formulare mussten ausgefüllt, Garantien abgegeben und Dokumente abgestempelt werden. Für irgendwelche Genehmigungen musste man sich zu den unmöglichsten Zeiten in lange Warteschlangen einreihen. Wir haben mehrere Wochen in einem Kinderheim verbracht, von dem ich nur noch weiß, dass es darin eine große Schaukel auf einem Treppenabsatz gab. Meine Mutter mühte sich derweil mit den Hürden ab, die die britische und nazi-deutsche Bürokratie bereithielt.
Daneben galt es für das kaum weniger dringende Problem eine Lösung zu finden, wie auch meine Eltern entkommen könnten – und dies möglichst so, dass die Familie danach wieder vereint wäre. Die Schwierigkeit bestand darin, einen Ort zu finden, der uns aufnehmen würde. Die Leute vom RCM hatten für Renate und mich eine Pflegefamilie in England gefunden, die bereit war, mit fünfzig Pfund dafür zu bürgen, dass wir dem Staat nicht auf der Tasche liegen würden. Aber angesichts von Millionen potenzieller Flüchtlinge, die in Europa Zuflucht vor den Nazis suchten und denen es quasi untersagt war, irgendwelche Wertsachen mitzunehmen, blieb den meisten keine andere Wahl, als trotz der drohenden Gefahr an Ort und Stelle auszuharren.
Renate und ich verließen Wien vier Monate vor Kriegsausbruch. Ein paar Wochen zuvor war mein Vater zu Fuß über die Berge in die Schweiz geflohen, wie die Familie von Trapp im Musical The Sound of Music. Die Gestapo hatte uns einige Tage davor einen Besuch abgestattet, und ihm muss klar geworden sein, dass seine Verhaftung unmittelbar bevorstand; aber möglicherweise dachte er auch, dass meine Mutter von dem Makel befreit wäre, mit einem Juden und Nazi-Gegner verheiratet zu sein, wenn er erst einmal nicht mehr da wäre.
Wenn dem so war, dann war es eine gute Strategie. Im Gegensatz zu den meisten Eltern, die ihre Kinder mit dem Kindertransport außer Landes brachten, überlebten die meinigen. Während Renate und ich uns abstrampelten, um in der fremden, neuen Welt Fuß zu fassen, organisierten unsere Eltern verzweifelt ihre eigene Ausreise nach England. Mein Vater kam sogar vor uns dort an (ich habe die merkwürdige Erinnerung, dass er tatsächlich kurz auftauchte, während wir am Bahnhof Liverpool Street abgeholt wurden), wurde aber bald als feindlicher Ausländer interniert und nach Australien verbracht, wo er bis 1941 blieb. Danach schloss er sich dem Pionierkorps des Vereinigten Königreichs und viel später der US Army in Deutschland an.
Meine Mutter konnte mit dem Zug entkommen, wohl deshalb, weil sie eine »ganz normale« Österreicherin mit gewöhnlicher Berechtigung für Reisen war. Ihr fiel es auch leichter als meinem Vater, sich anzupassen (gelegentlich hatte sie sogar ein Hakenkreuz getragen, um ja nicht aufzufallen). Dennoch wollte sie auf keinen Fall ohne ihre Familie zurückbleiben, auch wenn die Flucht für sie bedeutete, all ihre Besitztümer zurücklassen zu müssen. So war sie, als sie schließlich in England ankam, mittellos und obdachlos, arbeitslos und staatenlos. Es sollte sehr viel Zeit vergehen, bis wir wieder von ihr hörten.
Mittlerweile verblasste bei Renate und mir, die wir in einem kleinen Ort in den englischen Midlands lebten, die Erinnerung an die breiten Straßen der mitteleuropäischen Städte, in denen wir früher zu Hause waren. Stattdessen wuchsen wir in eine neue Kultur und eine neue Sprache hinein, um nicht zu sagen, in ein ganz und gar neues Leben.
Die frühe »prä-britische« Zeit kommt mir jetzt fast irreal vor, als würde sie zur Erinnerung eines anderen gehören. Mindestens einmal ist es mir als Erwachsener passiert, dass ich versehentlich auf einem amtlichen Formular den Juli 1939 als mein Geburtsdatum angegeben habe: ein Fehler, der mir völlig unbewusst unterlief, dessen Erklärung jedoch auf der Hand liegt.
Wenn ich heute auf mein in fast jeder Hinsicht außerordentlich erfülltes Leben zurückblicke, dann kann ich die Spur der meisten meiner späteren Leistungen bis zu dieser traumatischen Trennung zurückverfolgen. Aus ihr entspinnt sich der Faden meiner Geschichte, die ungleich spannender war als das mir ursprünglich zugedachte Drehbuch. Aber diese Trennung, die meinem ersten Leben ein abruptes Ende setzte, bescherte mir die tiefe Einsicht, dass die Dinge fast nie so solide sind, wie sie scheinen, dass das Morgen nicht immer dem Heute ähneln wird und dass eine fundamentale Veränderung, so angsteinflößend sie auch sein mag, nicht unbedingt eine Katastrophe sein muss.