Buch
Kraniche sind rätselhafte Vögel. Nur wenige wissen etwas über diese grazilen Tänzer der Lüfte. Der renommierte Naturforscher Bernhard Weßling nimmt uns mit auf spannende Expeditionen in ihre verborgene Welt und geht den Mythen um die Vögel des Glücks auf den Grund. Mithilfe einer eigens entwickelten Methode hat der Kranichexperte ihr Verhalten erforscht und Teile ihrer Sprache entschlüsselt. Eindrucksvoll bebildert und ganz nah an der Natur erzählt, legt er seine Erkenntnisse über ihre Anpassungs- und Problemlösungsfähigkeit, ihr Einfühlungsvermögen und ihren manchmal eigenwilligen Charakter dar. Seine Beobachtungen lassen uns tief in die Lebensweise und das Bewusstsein der Kraniche eintauchen und zeigen uns die erstaunlichen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier.
Ein verblüffendes Werk über Entdeckergeist, Demut und Achtung vor der Natur im Sinne eines Alexander von Humboldt.
Autor
BERNHARD WESSLING, Jahrgang 1951, ist promovierter Chemiker und erfolgreicher Unternehmer. Schon als Jugendlicher fühlte er sich von der Natur angezogen. Vor über 30 Jahren begann er im Duvenstedter und Hansdorfer Brook am Nordrand von Hamburg mit der Beobachtung von Kranichen und organisierte dort mehrere Jahre den Kranichschutz. Durch seine Forschungen gilt er längst als international gefragter Kranichexperte und war am bisher größten und komplexesten Auswilderungsprojekt der extrem bedrohten Schreikraniche in Nordamerika beteiligt.
Bernhard Weßling
DER RUF
DER
KRANICHE
Expeditionen in
eine geheimnisvolle Welt
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Originalausgabe März 2020
Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Fotos von © Bernhard Weßling
Lektorat: Judith Mark
MP | Herstellung: KW
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24914-4
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für George, ohne den
dieses Buch nicht einmal halb so interessant wäre;
für meine Enkel,
deren Nachfragen mich anregten, es zu schreiben;
für meine Lebensgefährtin,
die mich so sehr unterstützt.
Vorwort
KAPITEL 1: Wie alles anfing
KAPITEL 2: Kranichwissen kompakt: die Mythen und die Fakten
KAPITEL 3: Problemlösungen, Ballett-Balz und Fuchsalarm: Wie kommunizieren Kraniche miteinander?
KAPITEL 4: Ankunft im Brook nach Rückflug aus dem Winterquartier: Allein oder in Gruppen?
KAPITEL 5: Brutsaison: eine tragische Liebesgeschichte
KAPITEL 6: Kampfläufer, Seeadler und andere Brookbesucher: Was Kranichbewacher so alles erleben können
KAPITEL 7: In der Schule des Lebens
KAPITEL 8: Der Sprache der Kraniche auf der Spur: Sie rufen und erzählen so von ihrem Leben
KAPITEL 9: Aufbruch in die weite Welt: Asiatische und amerikanische Kranicharten rufen mich
KAPITEL 10: Forschungs-Abenteuer: Mandschurenkraniche belauschen bei minus 25 Grad und bewacht von Grenzsoldaten
KAPITEL 11: Das Abenteuer geht weiter: bei den wilden Schreikranichen
KAPITEL 12: Wir fliegen los: der schwere Weg zur Migrations-Flugschule
KAPITEL 13: Was können wir über Intelligenz, Zugverhalten, Kulturbildung, Werkzeuggebrauch und Selbstbewusstsein bei Kranichen lernen?
KAPITEL 14: Können Kraniche strategisch denken? Weitere erstaunliche Beobachtungen
KAPITEL 15: Kraniche sind Subjekte. Plädoyer für mehr Bescheidenheit und Respekt vor der Natur.
Anhang
Dank
Bildteil
Bildnachweis
Anmerkungen
Es war ein langer Weg aus dem engen und verschmutzten Ruhrgebiet, in dem ich aufwuchs und studierte, bis in den Duvenstedter Brook bei Hamburg, wo ich erstmals Kraniche sah. Noch länger und beschwerlicher war meine Expedition in die verborgene, rätselhafte Welt der Kraniche, ihr Leben und Denken.
Schon sehr früh kam ich mit den Themen Umweltverschmutzung und Bedrohung der Natur in Berührung. Als Kind erlebte ich oft, wie die saubere Wäsche der achtköpfigen Familie draußen im Garten hing und sich plötzlich eine Rußwolke aus den Schloten der nahe gelegenen Kokerei in Herne erhob und hässliche schwarze Flecken auf der Wäsche hinterließ. Als Jugendlicher liebte ich die späten Herbstabende, in denen der dichte Nebel die damals noch wenigen Autos zum Schritttempo zwang, während ich mit meinem Rad und zusätzlich angebrachten starken Lampen kräftige Lichtkegel in den Nebel zauberte, der in Wirklichkeit Smog war.
Als Chemiestudent im dritten Semester meldete ich mich 1971 auf einen Aushang, in dem Chemiker zur Analyse von illegal abgelagerten Fässern1 gesucht wurden. Diese enthielten zum großen Teil Cyanidverbindungen, zum kleineren Teil andere Stoffe, in einigen befand sich Schwefelsäure. Die Fässer waren in ein eigens ausgehobenes Loch gekippt worden, das sich nach und nach mit Wasser gefüllt hatte. Die Schwefelsäurefässer verrotteten zuerst, sodass dieser Tümpel inzwischen stark sauer war, was im Kontakt mit Cyanidsalzen zur Freisetzung von Blausäuregas führte. Um den Tümpel herum lagen und auf dem Wasser schwammen tote Tiere. Es war ein »Doomsday«-Szenario. Als Student ohne finanzielle Mittel benötigte ich dringend Geld für meinen Lebensunterhalt. Der schwere und gefährliche Job wurde gut bezahlt. So fand ich mich in den Semesterferien bei brütender Hitze in Vollatemschutzkleidung wieder. Ich analysierte wochenlang täglich, oftmals in hochgiftige Staubwolken eingehüllt, sechs bis acht Stunden lang verrottende Fässer darauf hin, ob sie Cyanide (»nach links auf den großen Fassberg«) oder andere, weniger giftige Abfallsalze enthielten (»nach rechts zu dem anderen Giftmüll«).
Es war drückend heiß. Aus allen Richtungen zogen bedrohliche Staubwolken über uns hinweg. Die notwendige Vollschutzkleidung und Gasmasken waren eigentlich unerträglich. Das verführte einige Arbeiter dazu, ohne Atemschutz zu arbeiten. Einer davon saß vor mir oben auf seinem Bagger. Ich sollte die Fässer, die er ausgrub, untersuchen. Seine Schaufel erfasste ein Fass mit Pulver, das verrottete Fass zerbrach, eine Staubwolke umhüllte mich und den Bagger, der Baggerfahrer brach vor meinen Augen oben auf dem Fahrersitz sofort tot zusammen. Ich alarmierte den Notarzt, der Arbeiter wurde schnellstens in die auf dem Gelände installierte mobile Notfallklinik gebracht, bekam innerhalb von Sekunden ein Gegenmittel gespritzt, wurde dadurch wiederbelebt und zusätzlich beatmet. Am nächsten Tag saß er wieder auf dem Bagger, nun aber mit Gasmaske und Vollschutzkleidung. Keiner der Arbeiter verweigerte von nun an die notwendigen Schutzmaßnahmen. Der wochenlange Studentenjob hat meine Haltung zum Umwelt- und später Naturschutz geprägt. Ein Jahr später, 1972, erschien der erste Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums, der unter uns Chemiestudenten heiß diskutiert wurde. Für mich wurde immer klarer: Wir müssen diesen Planeten und seine Ökosysteme mit viel mehr Respekt behandeln. Als Chemiker wollte ich durch Forschung meinen Beitrag dazu leisten.
Schon als etwa 14-jähriger Junge hatte ich mich intensiv mit Naturwissenschaften befasst, unter anderem mit Astronomie. Wenn ich durch mein mühsam erspartes Teleskop in den Weltraum schaute, empfand ich neben unstillbarer Neugierde und grenzenloser Ehrfurcht auch eine tiefsitzende Furcht vor der Unendlichkeit des Universums. Mich befiel daraufhin eine schwere Depression: Wir sind mit unserer Erde allein im lebensfeindlichen Weltraum, so empfand ich es, und ich selbst fühlte mich einsam, hatte in der Familie wenig Rückhalt und war ein Einzelgänger.
Als ich wieder einmal ziellos durch einen kleinen Wald in Herne stromerte, fand ich eine winzige, bläulich schimmernde Feder. Ich fand heraus, dass es eine Eichelhäherfeder war, und legte sie in ein kleines Kästchen. Bei weiteren Ausflügen sammelte ich immer mehr Federn, unter anderem sogar eine Adlerfeder. Ich befestigte sie auf einer weißen Pappe, die ich in meinem Zimmer an die Wand hängte; ich therapierte mich durch die Beschäftigung mit Vogelfedern und bei Aufenthalten in der Natur selbst und fand aus meinen Ängsten und meiner tiefen Niedergeschlagenheit heraus. Wald und Feld waren für mich Rückzugsorte geworden, in denen ich mich entspannen, über mich selbst und die Welt nachdenken konnte. Die Natur – als von Menschen geformte Landschaft gleichermaßen wie wilde, raue, schwer zugängliche und einsame Gegenden – ist seitdem regelmäßig Quelle der Entspannung und der Linderung von beruflichem und privatem Stress gewesen. (Um diesen Effekt festzustellen, scheint man heute aufwändige Forschung zu benötigen, aber immerhin bestätigen die neuesten Studien aus den USA und Japan meine Erfahrungen aus den letzten über fünf Jahrzehnten.)
Als junger Familienvater brachte ich meine Kinder von Anfang an mit der Natur in Kontakt. Insbesondere beobachteten wir Vögel und entdeckten dabei die Kraniche für uns. Zusammen mit meinen heranwachsenden Söhnen erkannte ich ihre Verletzlichkeit, und mir wurde bewusst, wie schwierig es ist, ihren Lebensraum zu schützen beziehungsweise wiederherzustellen, und dass Natur- und Artenschutz immer Hand in Hand mit Umweltschutz gehen muss. Ich beschloss, am Kranichschutzprogramm teilzunehmen, das ich später etwa fünf Jahre lang leiten sollte.
Bei meiner intensiven Beobachtung der Kraniche stellte ich fest, dass über das Leben und Verhalten dieser eindrucksvollen Vögel erschütternd wenig bekannt war. Mit ihrem rätselhaften Wesen weckten sie meine naturwissenschaftlich geschulte Neugierde und regten mich zum Forschen außerhalb meines angestammten Berufs an.
Es wird kaum einen anderen Ort auf der Welt geben, an dem freie und wilde Kraniche in so enger Nachbarschaft mit Menschen leben und brüten, wie den Duvenstedter und den Hansdorfer Brook. Beide befinden sich am Nordrand der Millionenstadt Hamburg, von deren Einwohnern jährlich Zehntausende das Naturschutzgebiet besuchen, wandern, sich erholen und die Natur beobachten. (Leider störte eine nicht zu vernachlässigende Minderheit der Besucher durch Picknicks, Ostereiersuchen und Fotografieren abseits der Wege, einige Male sogar mit Wilderei und Eierdiebstahl, das Naturschutzgebiet empfindlich. Das hat sich inzwischen aufgrund unserer beharrlichen Arbeit stark verbessert.)
Vielleicht waren Kranichbeobachter nirgendwo sonst so intensiv mit »ihren« Kranichen verbunden wie wir. Die Aufgabe der »Kranichbewacher«, wie wir uns selbst nannten und von den Besuchern genannt wurden, war es, Störungen zu verhindern. So »bewachten« wir eigentlich nicht die Kraniche, sondern die Besucher, zumindest diejenigen, die bewusst oder unbewusst zu Störern wurden.
Während der Brutzeit waren zumeist zwei Kranichbewacher jeweils für eine Woche täglich ganztägig im Brook. Viele von uns übernachteten dort sogar. Wir standen in aller Herrgottsfrühe auf und gingen erst nach dem »Waldschnepfenstrich« schlafen (so nennt man das Verhalten der Waldschnepfen, die in der Dämmerung am Waldrand oder über die Wiesen in ihrem Revier hinweg »streichen«).
Von Mitte Februar bis Mitte November sind die Kraniche »bei uns«. Bis Ende der 1990er Jahre waren es vier bis sechs Kranich-Brutpaare und jedes Jahr einige »Junggesellen«, die sich in unserem Gebiet herumtrieben. Anfang der 2000er-Jahre und um 2016 herum besetzten etwa ein Dutzend Kranichpaare je ein Revier. Im Jahre 2019 hielten sich neben einem Dutzend Revierpaaren und weiteren Reviere suchenden Paaren zeitweilig über 20 Jungkraniche, zum Teil als eine große Gruppe, im Brook auf. An einem Tag im Mai sah ich auf einer Wiese im Kern des Brooks 65 Kraniche. Die Reviere im engeren Sinn sind übrigens nicht größer als ca. einen halben Quadratkilometer und an manchen Stellen gut einzusehen (zum Vorteil der Kraniche aber größtenteils sehr unübersichtlich). Die Revierpaare verteidigen allerdings gegen andere Kraniche ein weit größeres Gebiet, die Reviere umfassen also eine Kernzone mit Brutplatz und Nahrungsaufnahmegebiet sowie eine Pufferzone.
So waren mir über Jahre hinweg – vielleicht einzigartig auf der Welt – nur wenige Minuten von meiner Wohnung und meinem Arbeitsplatz entfernt sehr viele Kranich-Beobachtungen unter Freilandbedingungen möglich. Im Sinne unserer Schutzaufgabe beobachteten wir die Tiere von weitem, von außerhalb der Fluchtdistanz, sodass die Beobachtung selbst nicht störend wirkte.
Ich führte keine Verhaltens-Experimente mit Kranichen durch, sondern beobachtete sie nur. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich »von Menschen unbeeinflusste Kraniche« beobachten und beschreiben kann. Die Menschen schränken durch Wanderwege, Straßen oder landwirtschaftliche Nutzflächen die Brut- und Nahrungsräume und die Beweglichkeit der Tiere ein. Diese haben ihr Verhalten angepasst, und so beobachtet man immer auch die Reaktionen der Vögel auf menschliche Einflüsse. Das Verhalten der Tiere in einer Kulturlandschaft wie dem Brook ist sicher nicht dasselbe wie in der Wildnis, in der weitgehend ungestörten sibirischen Tundra, der mittelschwedischen Wald- oder der finnischen Seenlandschaft, wenngleich inzwischen in unserem Naturschutzgebiet einige kleinere Stellen wieder ihrer natürlichen Entwicklung überlassen bleiben.
Genau dieser Umstand machte die Beobachtungen besonders reizvoll: Wie gehen Kraniche mit ihnen unbekannten Situationen um? Wie verhalten sie sich, wenn andere Tiere, vor allem aber Menschen ihr Brutgeschäft oder die Nahrungsaufnahme stören? Wer wie ich von Jugend an Spaß an der Naturbeobachtung hat, egal auf welchem Gebiet, wird früher oder später auf Merkwürdigkeiten stoßen. Mir fiel auf, dass »meine« Kraniche sich anders verhielten, als ich es erwartet hatte, nachdem ich meine Kenntnisse in Verhaltensforschung aufgefrischt oder mir neuere Artikel und Bücher über Kraniche besorgt hatte. Sie verhielten sich nicht stereotyp, nicht so, wie man es sich gemäß eines vererbten Verhaltensschemas vorstellt, sondern wie Persönlichkeiten mit eigenen Plänen und individuellen Charakterzügen.
Das hat mich nicht vollkommen überrascht. Immer wieder hatte ich darüber nachgedacht, wie eigentlich »Denken« vor sich geht, was die materielle Grundlage des Gedächtnisses ist, wie das Bewusstsein entsteht. Dabei fragte ich mich gelegentlich, ob Tiere wirklich so ganz anders denken als wir, und es würde mir völlig normal vorkommen, wenn man eines Tages feststellte, dass Tiere auf prinzipiell ähnliche Weise wie Menschen denken, lediglich – je nach Art – graduell verschieden von uns und voneinander. So lese ich immer wieder begierig Artikel oder Bücher, die über Forschungsergebnisse zur Denk-, Intelligenz- und Bewusstseinsleistung von Tieren berichten.
Ich hatte nicht erwartet, dass ich als Freizeit-Naturschützer jemals in die Lage kommen würde, zu dieser Thematik eigene systematische Beobachtungen beizutragen. Als ich dann aber anlässlich der Europäischen Kranichkonferenz (European Crane Conference) 1996 in Stralsund einige besonders bemerkenswerte Beobachtungen meiner ersten Jahre vortrug, befand sich George Archibald im Raum, der unter Kranichexperten in aller Welt berühmte Gründer der International Crane Foundation (ICF) und ihr Motor. Er motivierte mich, meine Studien zu vertiefen und zusätzlich international zu betreiben, mit anderen Kranicharten als dem bei uns beheimateten Grauen Kranich. So kam es, dass ich im Laufe der Zeit an zahlreichen internationalen Projekten aktiv teilnahm, neben meinem Beruf und dem Aufbau meines Unternehmens Kranichforschung betrieb und die Ergebnisse meiner Arbeit auf Konferenzen und in Fachpublikationen veröffentlichte.
Seit Mitte Mai 2018 kann es geschehen, dass meine Lebensgefährtin und ich morgens nach dem Aufwachen Kranichrufe hören. Wenn ich in meinem Arbeitszimmer unter dem Dach am Schreibtisch sitze, schaue ich während der Denkpausen in die Landschaft. Wir leben nun in unmittelbarer Nähe des Hansdorfer Brooks am Rande von Hamburg. Immer wieder fliegen Kraniche in nur 50 oder 150 Metern Entfernung vorbei. Noch öfter höre ich sie rufen. Kurz nachdem wir in das Haus an der Grenze des Brooks eingezogen waren, erzählte ich meinem damals neunjährigen Enkel die Geschichte von »Romeo und Julia«, dem Kranichpaar, das die Leser dieses Buches später noch näher kennenlernen werden. Ihr letzter Nistplatz liegt nur etwa 300 Meter Luftlinie von unserem Haus entfernt. Damals fasste ich den Entschluss, das vorliegende Buch zu schreiben.
Hier zeichne ich meine Expeditionen in die geheimnisvolle Welt der Kraniche nach. Ich schildere Erlebnisse und Beobachtungen, die es mir erlaubten, einige der Rätsel zu lösen, die diese schönen Vögel uns Menschen seit Jahrtausenden präsentieren. Dies führt uns zu Fragen über uns selbst und unser Bewusstsein: Wie rational, wie bewusst handeln wir Menschen, und wie verschieden ist dies vom Handeln und Denken der Tiere, hier speziell der Kraniche?
Von der Erkenntnis, dass diese Vögel anders sind, als bisher in den Lehrbüchern beschrieben, ist es kein weiter Weg, um zu sehen, dass wir viel umfassender über Naturschutz nachdenken, dass wir ganzheitlicher handeln müssen – basierend auf einem tiefen Respekt vor der Natur.
Seltsame trompetende Rufe erschallten von irgendwo aus dem direkt vor uns liegenden Moor heraus. Wir hatten so etwas noch nie gehört und keine Vorstellung davon, was das sein könnte, aber es interessierte uns brennend. Ihre Verursacher – es mussten wohl Vögel sein, aber was für welche? – konnten wir allerdings nicht ausfindig machen, denn sie waren hinter Büschen, Bäumen und Schilf verborgen. Meine damalige Frau und ich waren mit unseren beiden noch sehr kleinen Söhnen im Frühling 1982 wieder dabei, die neue Umgebung zu erkunden, denn wir waren erst wenige Monate zuvor nach Bargteheide gezogen. Das Naturschutzgebiet »Duvenstedter Brook« lag nicht weit von unserer neuen Wohnung entfernt im Norden von Hamburg, wir hatten es schon einige Male im Winter besucht, an diesem Tag aber erstmals im Frühjahr.
Wir fanden bald heraus, dass diese klaren und kräftigen, weit tragenden Rufe von Kranichen stammten, dem seit unwahrscheinlich langer Zeit ersten Paar, das gerade ein Jahr zuvor sein Revier im Duvenstedter Brook bezogen hatte. Mit hochgereckten Hälsen und aufgerichteten Schnäbeln trompeteten sie im Duett »oooo – i, i, i« mehrmals hintereinander, immer wieder – faszinierend.2 Atemberaubend schön war es, die Kraniche bei unseren immer zahlreicher werdenden Besuchen im Duvenstedter Brook zu beobachten: Sie tanzten umeinander herum, schwangen ihre Flügel, sprangen elegant und federnd hoch3, landeten ebenso tänzerisch und ließen bei ihrem Tanz kurze Laute hören. Manchmal beendeten sie einen Tanz mit einem Duettruf. Schon wenn sie nur über die Wiesen oder durch das Buschland schritten, so gemessen, selbstbewusst, ruhig hier und dort nach Futter suchend, aber auch in Vorbereitung oder anstelle eines Tanzes, konnten sie grazil umeinander herum schreiten, sich dabei anschauend, oder nebeneinander mit erhobenen Köpfen hergehen, sich einander präsentierend. Einfach wunderschön.
Wir waren bei weitem nicht die Einzigen, die sich von diesen Bildern gefangen nehmen ließen. Und nahezu jeder Mensch, der im Herbst oder Frühjahr schon ziehende Kraniche gesehen hat, ihre Flugrufe hören konnte – über Frankfurt, über dem Bergischen Land oder Kassel –, merkt auf und ruft: »Schau mal, da ziehen wieder die Kraniche!« Inzwischen reisen immer mehr Menschen im Herbst in die Vorpommersche Boddenlandschaft, um dort ein großartiges Naturereignis zu erleben: Zehntausende von Kranichen aus Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Polen und der Ukraine rasten hier für ein paar Tage oder Wochen, fliegen frühmorgens von den Schlafplätzen in den Uferzonen der Bodden auf die umliegenden Felder und Wiesen, um Futter zu suchen. Am späten Nachmittag oder frühen Abend kommen die Heerscharen zurück, fliegen, begleitet vom Rauschen ihrer Flügel und ihrer lauten Unterhaltung, zurück in die riesigen Schilflandschaften, um dort zu schlafen.
All dies konnte ich als Jugendlicher im Ruhrgebiet und als junger Mann nach meiner Promotion, als ich zuerst in Düsseldorf arbeitete, nicht erleben, denn dort gab es keine Kraniche. Sie flogen nicht über das Ruhrgebiet oder das Rheinland hinweg, und die Boddenlandschaft war nicht zugänglich, selbst wenn ich davon gewusst hätte, denn sie lag damals noch auf dem Gebiet der DDR.
Ein wichtiger Schritt auf meinem Weg zu den Kranichen war eine Entscheidung, die meine damalige Frau und ich trafen, als unser erster Sohn Bengt 1978 geboren war. Wir wollten mehr über die Natur wissen. Wir wollten, wenn wir später mit unseren Kindern spazieren gehen und wandern würden, von Anfang an nicht »Vogel« (geschweige denn »Piepmatz«), sondern »Schwarzdrossel«, »Kohlmeise« oder »Turmfalke« sagen, wenn wir etwas entdecken und den Kindern zeigen würden. So kauften wir ein Vogelbestimmungsbuch und studierten es.
Ebenso entscheidend war, dass ich 1981 eine neue Arbeitsstelle annahm und wir von Düsseldorf nach Bargteheide, einer Kleinstadt nordöstlich von Hamburg, zogen. Inzwischen war unser zweiter Sohn Børge geboren, und wir spazierten mit den Kindern im Buggy und auf den Schultern an fast jedem Wochenende in das nahe gelegene Naturschutzgebiet, den Duvenstedter Brook. Die Liebe zur Natur und zur Naturwissenschaft wollte ich unseren Kindern durch gemeinsames Beobachten und Erleben von Anfang an vermitteln.
Kurz nachdem wir die ersten Kraniche gehört und dann beobachtet hatten, lernten wir einige der Kranichschützer kennen. Der Deutsche Bund für Vogelschutz (DBV, heute: Naturschutzbund Deutschland, NABU) und der World Wide Fund For Nature (WWF) hatten ab 1982 den Kranichschutz in Hamburg aufgenommen. Es wurden Wege gesperrt, Besucher informiert und zur Rücksichtnahme bewegt, um die Brut jedenfalls nicht durch Menschen stören zu lassen. Das Konzept war schon nach kurzer Zeit erfolgreich.
Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich selbst wenige Jahre später das Schutzprogramm leiten würde. Mein Vorgänger führte mich ab Mitte der 80er Jahre an die Feinheiten der Kranich-Beobachtung heran und übergab mir schließlich, als er sich den Kranichen im Osten Deutschlands zuwandte und nach Mecklenburg zog, dieses Projekt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits reichlich Erfahrung gesammelt, kannte das Gebiet und die dort brütenden Kraniche bestens.
Erste Grübeleien über das Verhalten der Kraniche verursachte mir ein Paar, das 1994 sehr nahe an einem Wanderweg brütete. Dort lag ein schönes Wasserloch, das früher wohl ein Teich für die Fischzucht, nun aber versumpft war. Drumherum boten Büsche und Bäume eine schöne Tarnung. Und im Jahr zuvor schon hatte sich dieses Paar dort niedergelassen, Eier gelegt und bebrütet – bis sie von einem Eierdieb gestohlen wurden. Für uns ein Schock! Wie konnte dieser so gut versteckte, so schwer einsehbare und nahezu unzugängliche Brutplatz entdeckt und ausgeraubt werden?
In Deutschland (und sicher ebenso anderen Ländern) gibt es immer wieder illegale Entnahmen von Kranicheiern aus Gelegen. Während meiner Zeit als Kranichschutzverantwortlicher zählten wir drei solcher Fälle – trotz Kranichbewachung. Das Gelände ist unübersichtlich, nachts und in der Morgen- oder Abenddämmerung kann man sich gut verbergen.
Im Jahre 1997 wurde am Amtsgericht Kiel ein Vogelzüchter (der sein Geschäft mit staatlicher Genehmigung betrieb) unter anderem angeklagt, seine Zucht mit illegal beschafften Eiern zu betreiben. Er hielt 60 Kraniche, darunter drei ausländische Arten. Aufgefallen war er dadurch, dass seine Aufzuchtergebnisse bei Kranichen deutlich besser als die des Vogelparks Walsrode waren. Eine Genanalyse wies nach, dass die »Nachkommen« mit ihren »Eltern« nicht verwandt waren, was die Anklagebehörde zu dem Schluss kommen ließ, er habe die Eier aus wilden Gelegen erhalten. Während der Ermittlungen flog in Mecklenburg ein Schmugglerring auf, der Eier aus Kranichgelegen stahl und meist in die Benelux-Staaten verschickte. Bei einem einzigen dieser Transporte wurden über 40 Eier sichergestellt. In der Adresskartei des Schmugglerringes wurde auch der schleswig-holsteinische Züchter gefunden. All dies hat leider den Richter nicht überzeugt, der immer wieder fragte, ob ein Zeuge beim Eierdiebstahl oder bei der Übergabe der Eier an den Angeklagten dabei gewesen sei, was – natürlich – nicht der Fall war. Der Züchter wurde also nicht verurteilt, jedenfalls nicht wegen der Eier. Ohne Frage aber gibt es in Deutschland und Benelux Zuchtbetriebe, legale und möglicherweise illegale, die Kraniche aus wilden Gelegen züchten und verkaufen.
Es gibt auch nicht-kommerzielle Motive für den Diebstahl von Eiern aus den Gelegen wild lebender Vögel. 1999 flog ein Ring von Eiersammlern auf, dessen Mitglieder Eier tauschten wie andere Leute Briefmarken. Was diese Leute an Eiern zusammengetragen hatten, treibt Naturschützern Tränen in die Augen. Es wurden über 100 000 ausgeblasene Eier sichergestellt, darunter zahlreiche Kranicheier, sogar einige Eier des Schneekranichs, von dem es in der westlichen Population damals gerade noch zwölf Exemplare gab, heute nur noch eines.
Verhaftet wurden ganz seriöse Menschen (nicht wie beim Handel mit zu bebrütenden Eiern einige von Züchtern angeheuerte Arbeits- und Obdachlose aus Mecklenburg). Dem Hobby des Sammelns, Ausblasens und Tauschens von Eiern aller Vogelarten der Welt gingen angeblich ehrbare Zollbeamte, kaufmännische Angestellte und Erdkundelehrer nach. Der aufgeflogene Ring wird nur die Spitze des Ei(s)berges gewesen sein.
Zurück zu dem unvorsichtigen Kranichpaar. 1993 waren alle Versuche, sein Nest zu bewachen, erfolglos geblieben. Und ein Jahr später brütete das Paar an derselben Stelle erneut. Wir beratschlagten und verstärkten die Bewachung, suchten uns Plätze, von denen aus wir – ohne von Besuchern gesehen zu werden – das Brutgebiet überschauen konnten. Natürlich konnte es keine wirkliche Sicherheit geben. Der Dieb (falls er noch mehr Eier wollte) hätte sich die Zeiten für weitere Raubzüge aussuchen können. Wäre es besser, wenn wir die Eier selbst entnähmen und so das Paar vergrämten und hoffentlich zu einer Nachbrut an einem geeigneteren Platz bewegten?
Ich war strikt gegen ein solches Vorgehen. Die Kraniche hatten sich nun einmal in diesem Gebiet niedergelassen und mussten wohl oder übel mit den Menschen klarkommen. Wenn sie das hier – unter unserer Bewachung – nicht schafften, konnten wir auch nicht helfen. Es konnte nicht unsere Aufgabe sein, ständig einzugreifen, wenn ein Gelege ungünstig angelegt oder gefährdet war. Wir ließen die Kraniche also brüten. Wenigstens sollten es aber diesmal die Eierdiebe schwerer haben, schworen wir uns, und beobachteten die Umgebung dieses Nistplatzes besonders intensiv. Mein damals 16-jähriger älterer Sohn Bengt und ich nahmen uns vor, in der Dämmerung die Zugänge zum näheren Revierumfeld zu kontrollieren.
Wegen der nahe gelegenen Großstadt hat man bei bewölktem Himmel im Brook auch nachts eine gute Sicht. Einigermaßen dunkel ist nur eine wolkenlose Nacht bei Neumond, und in einer solchen Nacht bewachten mein Sohn und ich damals das Kranichnest.
Es war schon spät, eigentlich wollten wir gehen. Wir froren, es war still geworden. Bengt war von seinem Standort zu mir herübergekommen. Wir standen im Dunklen und lauschten. Das Erste, was wir mitbekamen, war kein Geräusch, sondern eine schemenhafte Bewegung über dem freien Acker am Rande des Brooks, der aber schon zum Naturschutzgebiet gehörte. »Da ist jemand!« Wir schlichen vorwärts und aus der Deckung des Knicks heraus, um die Gestalt sehen zu können, wenn sie aus der nächsten Senke herauskommen würde – wenn es denn eine war. Vielleicht war es ja auch nur ein großer Hund, und die Aufregung war umsonst?
Nein, es war kein großer Hund, es war eine komplett schwarz gekleidete Gestalt, die sich sogar das Gesicht vermummt hatte. Wir überlegten fieberhaft: Was machen wir? Warten, bis er zum Nest geht? Nein, womöglich würden wir ihn im Gestrüpp nicht mehr erkennen oder gar verlieren. Außerdem wollten wir keine Störung am Nest riskieren. Auch wenn dieser Vermummte kein Eierdieb war, war es in Ordnung, wenn wir ihn ansprachen, denn das Verlassen der Wege ist in diesem Gelände verboten, auch nachts.
Also entschieden wir uns dafür, der Gestalt entgegenzulaufen – Bengt außen, ich innen –, um ihr den Weg abzuschneiden. Nun sah der Vermummte uns, verschwand im Knick, versteckte einen Rucksack, wie wir schemenhaft zu erkennen meinten – und schon stand er auf dem Weg. »Halt, was machen Sie hier?«, rief ich ihn an. Wie ich jetzt sehen konnte, handelte es sich um einen etwa 15-jährigen Jungen. Er behauptete, sein eigenes Geländespiel zu spielen, wusste auch, dass er verbotswidrig vom Weg abgewichen war. Von einem Rucksack wollte er nichts wissen, er behauptete, keinen gehabt zu haben. Leider konnten wir in der Dunkelheit später nichts finden.
Ich blieb bei dem Jungen, während Bengt zur nächstgelegenen Telefonzelle lief – Mobiltelefone gab es noch nicht –, um die Polizei zu holen. Die allerdings kam nicht, und so holten wir schließlich den Flurwart. Ihm war es sichtlich unangenehm, er kannte den Jungen wohl. Das Ganze ging aus wie das Hornberger Schießen. Ob der Junge wirklich Eier stehlen wollte oder was sonst hinter seinem Verhalten steckte, haben wir nie herausbekommen. Jedenfalls wurden in jenem Jahr die Eier nicht gestohlen.
Das aber enthob mich keineswegs meiner Sorge um dieses Kranichpaar, denn Kraniche benötigen für eine erfolgreiche Brut drei Voraussetzungen: erstens eine ständig feuchte Stelle mit etwa knietiefem Wasser. Zweitens absolute Ungestörtheit, da sie bei jeder Störung das Nest oder die Jungen verlassen, sodass dann alle möglichen Räuber leichtes Spiel haben, vom Raben über das Wildschwein und den Fuchs bis zum Marder. Ohne Störungen durch Menschen kommen die Kraniche mit diesen räuberischen Nahrungssuchenden ganz gut klar. Drittens brauchen Kraniche für ihre Brut in der Nähe des Nestes eine übersichtliche Wiese oder Lichtung, auf der sie nach der Schlupf4 die Jungen ausführen und füttern können, bis diese flügge sind (was etwa drei Monate dauert). Bei diesem Kranichpaar sah es diesbezüglich nicht gut aus: Wasser war vorhanden. Für die Ungestörtheit sorgten wir, so gut wir konnten. Nur – wo war die Wiese oder die Lichtung? Hinter dem Brutplatz befand sich zwar eine ehemalige Weide, aber die war viel zu klein und viel zu nahe am Hauptweg, auf dem sich an sonnigen Sonntagen die Menschen zu Hunderten entlangschlängelten. Kein normaler Kranich würde dies aushalten.
Der Tag der Schlupf war gekommen. Ich hatte eine Stelle gefunden, von der aus wir mit guten Ferngläsern oder Fernrohr fast direkt in das Nest sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Niemals vorher oder nachher hatten wir die Möglichkeit, die beiden Küken so früh zu sehen. Wie klein sie waren, kuschelig eingehüllt in ihr hellbraunes »Fell« und schon ziemlich aufmerksam!
Normalerweise verlassen Kranicheltern mit ihren Jungen nach wenigen Tagen den Nestbereich und gehen auf die Nahrungswiese. Dabei werden die Ausflüge immer länger. Nachts gehen sie entweder wieder zum Nistplatz zurück oder suchen eine andere (wiederum ca. knietief feuchte) Stelle zum Übernachten. Beim Schlafen stehen sie im Wasser. Doch unsere Kraniche hier bewegten sich kaum vom Fleck. Sie blieben in ihrem kleinen Sumpf, oft weniger als 20 oder 30 Meter vom Nest entfernt, oder versteckten sich im angrenzenden Gebüsch. Das alles machte keinen guten Eindruck auf mich, und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie die Kraniche es anstellen würden, ihre Jungen groß (und flügge!) zu bekommen. Dann wurden die Jungen größer, und ich beobachtete, dass der Ort als Nahrungsquelle sehr gut gewählt war. Zwar bot er wenig Auslauf, aber reichlich proteinhaltige Nahrung: Die Alten fingen viele Fluginsekten und verfütterten diese an ihre Jungen.
Nur, wie sollte die Aufzucht weitergehen, wenn die Jungen den engeren Nistbereich verlassen würden? Wie wollten die Eltern ihnen zeigen, was gut und was weniger schmackhaft war, so ganz ohne offene Fütterungsfläche? Während im Süden der Brutplatz durch dichtes Buschwerk, eine Abbruchkante (der Brutplatz lag etwa zwei Meter tiefer) und eine schmale Wiese vom Haupteinfallsweg der Hamburger in den Duvenstedter Brook her uneinsehbar und unzugänglich war, erstreckten sich nach Osten, Norden und Westen nahezu undurchdringliche Waldstücke mit viel Unterholz, Büschen unter den Birken und Nadelbäumen. Wie traurig, dass Kraniche so sehr an den einmal genutzten Brutplatz gebunden und so gar nicht flexibel sind! So dachte ich damals, als ich die Kranichjungen langsam größer werden sah, weil die Alten wirklich geschickt die großen Insekten fingen. Aber wie sollten sich die Jungen weiterentwickeln, wenn sie wachsen und normalerweise immer größere Gebiete erwandern und kennenlernen?
Damals konnte ich noch nicht wissen, dass die Kranicheltern einen Plan hatten – dazu später mehr. Erst einmal treten wir einen Schritt zurück und schauen uns an, was wir Kranichbewacher, aber auch generell die Kranichexperten und Biologen seinerzeit über Kraniche wussten. Und wir blicken einige Jahrhunderte und Jahrtausende zurück, um uns anzusehen, was die Kraniche den Menschen früher bedeuteten.