Cover

Zum Buch

Das Lamar Valley im Yellowstone-Nationalpark ist ein Paradies für Wölfe – und das Mekka all jener, die sie beobachten und verstehen wollen. Nate Blakeslee porträtiert eine außergewöhnliche Fähe aus diesem Tal, die sich dank ihrer Schlauheit und Ausdauer, ihres Durchsetzungsvermögens und entbehrungsreichen Kämpfens für ihre Nachkommen zur legendären Leitwölfin entwickelte – »O-Six«, benannt nach ihrem Geburtsjahr 2006.

Eine minutiös recherchierte Betrachtung nicht nur des sagenhaften Wesens Wolf, sondern auch unserer Zerrissenheit angesichts dieses Tiers, das wie kaum ein anderes unsere Obsession von und Urängste vor der Wildheit der Natur hervorbringt.

Zum Autor

Nate Blakeslee studierte Amerikanistik an der University of Texas, bevor er sich einen Namen als investigativer Journalist machte. Sein erstes Buch Tulia, über Rassismus und Korruption in einer texanischen Kleinstadt, und diverse Reportagen, etwa über einen Missbrauchsskandal in einem Jugendgefängnis, brachten ihm zahlreiche Preise ein, sorgten für landesweite Schlagzeilen, Gerichtsverfahren und Rücktritte. Die Wölfin ist sein zweites Buch. Blakeslee lebt mit seiner Familie in Austin, Texas.

NATE BLAKESLEE

DIE

WÖLFIN

Die wahre Geschichte des

berühmtesten Raubtiers von Yellowstone

Aus dem Englischen

von Antoinette Gittinger

Originaltitel: American Wolf – A True Story of Survival and Obsession in the West Originalverlag: Crown, Penguin Random House LLC, New York

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Motto-Zitate aus Richard III. in: Shakespeares sämtliche dramatische Werke, übers. von Schlegel und Tieck, 6. Bd., Stuttgart 1889, S. 86

Margaret Atwood, Der blinde Mörder, München, 2000, S. 462

Copyright © 2017 by Nate Blakeslee

Copyright © 2020 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

Fotos Bildteil: © Jimmy Jones Photography

Umschlagabbildung: JimmyJonesPhotography.com

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16453-9
V001

www.blessing-verlag.de

Für Manny und June

Es wäre wunderbar, wenn wir nicht den Fährten der Politiker, der Gesetze, des Viehs, der Menschen, der Jäger und der Straßen folgen müssten. Es wäre wunderbar, wenn wir einfach in den dunklen Wäldern bleiben und uns auf die unbelastete Biologie konzentrieren könnten: Fußgrößen und Körpergewicht, Ernährung, Vielfalt und Verbreitung. Auch das wäre Fiktion.

Rick Bass, The Ninemile Wolves

»Das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung.

Ich kenne keins, und bin daher kein Tier.«

Richard III.

Weil alle Geschichten von Wölfen handeln. Jedenfalls alle, die was taugen. Alles andere ist sentimentales Geschwafel … Denk mal darüber nach. Man kann vor den Wölfen fliehen, man kann gegen die Wölfe kämpfen, man kann die Wölfe einfangen, man kann sie zähmen. Man kann den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden oder umgekehrt die anderen den Wölfen vorwerfen, damit die Wölfe sie und nicht einen selbst fressen. Man kann mit den Wölfen heulen. Man kann zum Wolf werden. Oder, am besten, man kann zum Anführer des Wolfsrudels werden. Andere anständige Geschichten gibt es nicht.

Margaret Atwood, Der blinde Mörder

Inhalt

Anmerkung des Autors

O-Six-Abstammungslinie

Karte des Lamar Valley

Prolog – 6. Dezember 2012

1  Die Rückkehr des Wolfs

2  Im Tal der Druids

3  Ein Star wird geboren

4  Killer

5  Der König von Currumpaw

6  Rebellen im Salbei

Bildteil

7  Iron Man

8  Rückkehr ins Lamar Valley

9  Verrat

10  Das Blutbad der Mollies

11  »Das Schlimmste, was ich Ihnen berichten könnte«

12  Ein guter Tag im Park

13  Genug ist genug

Epilog

Danksagung

Quellenverweise

Anmerkung des Autors

Jede Szene dieses Buchs, in der Wölfe beschrieben werden, basiert auf zeitgenössischen Beobachtungen. All dies hätte ich nicht ohne die großzügige Unterstützung von Laurie Lyman bewerkstelligen können. Sie lieh mir ihre Notizen – etwa 2 500 Seiten – über die Wölfe im Yellowstone-Nationalpark. Lauries tägliche Beobachtungen, ergänzt durch Notizen ihrer Freunde, brachten mir die Wölfe des Lamar-Canyon-Rudels näher, und auf ihnen basiert meine Erzählung des Lebens von O-Six und ihrer Familie.

Rick McIntyre gab mir liebenswürdigerweise Kopien seiner eigenen Notizen von Schlüsselmomenten im Leben des Rudels, die es mir, zusammen mit meinen Interviews mit anderen Beobachtern, ermöglichten, diese Szenen plastischer zu schildern.

Rick und Lauries Mitarbeit sollte nicht als Bestätigung der Vorstellungen – über Wölfe oder Menschen –, die auf diesen Seiten zu finden sind, gedeutet werden. Es sind meine eigenen.

Schließlich wurden die Namen und Erkennungsmerkmale zweier Personen geändert. In dieser Darstellung werden sie Steven und Wayne Turnbull genannt, um ihre Privatsphäre zu schützen.

O-Six-Abstammungslinie

Karte des Lamar Valley

Prolog

6. Dezember 2012

Der Jäger ließ seinen Pick-up am Ende der Schotterstraße stehen und stapfte durch den frisch gefallenen Dezemberschnee. Er war ein breitschultriger, scharfsichtiger Mann mittleren Alters, der ein braunes Carhartt-Sweatshirt trug und schwere Winterstiefel anhatte. Das Schneefeld vor ihm, blau getönt vom weichen Morgenlicht, war von Wolfsspuren durchzogen. Er folgte ihnen bis an den Rand eines offenen Felds. Dahinter, ungefähr eine Viertelmeile entfernt, erhob sich ein steiler, stark bewaldeter Berghang, und rechts davon zeichnete sich ein weiterer Gipfel ab, der die Morgensonne verdeckte.

Um den kräftigen Hals des Jägers hing an einer Schnur eine braune Plastikpfeife, geformt wie eine Schachfigur. Er setzte sie an die Lippen und blies ein paar Mal kurz hinein, wobei er mit dem Finger die kleine gerillte Trichteröffnung am Ende der Pfeife mehrmals zudeckte, um damit das Wimmern eines sterbenden Waldkaninchens nachzuahmen. Es ähnelte stark dem Weinen eines unter Koliken leidenden Babys, einem Geräusch, das er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Er wartete eine halbe Minute, sandte dann einen weiteren Ruf durch die dünne Bergluft. Dieser war zuerst schrill und herausfordernd, verklang dann aber als leises Wimmern.

Der Ruf musste authentisch klingen, was die meisten Menschen nicht begriffen. Es war sinnlos, wie in ein Kazoo hineinzublasen. Der Trick bestand darin, sich vorzustellen, wie es wäre, bei lebendigem Leib von einem Kojoten gefressen zu werden und das Entsetzen und die Schmerzen dieser Todesart zu erleben.

Und man musste Geduld aufbringen. Seit Wochen pirschte er sich an das Rudel heran, machte hier und da einen oder zwei Wölfe aus, gelangte aber nie in Schussweite. Er hatte in der Nacht zuvor allein mit seinen hohlen Händen und seiner Stimme ihr Heulen nachgeahmt und schließlich eine Antwort von ihnen erhalten. Sie waren ganz nah gewesen, so wie jetzt auch. Er wartete ab.

Sein Name war Steven Turnbull, und er kam aus dem Crandall-Tal mitten in den Absaroka Mountains, nordwestlich von Cody, Wyoming. Der Clarks Fork, ein Nebenfluss des Yellowstone River, floss im Westen durch einen engen Canyon, der sich am Ende in einen weiten, von Murray-Kiefern gesäumten Talkessel öffnete, in den der Crandall Creek von den Berghängen, die an den Yellowstone-Nationalpark grenzten, in Kaskaden herabstürzte. Der Crandall Creek war nach einem Goldgräber benannt, der im Frühjahr 1870 auf dem Weg zu einer vielversprechenden Goldmine in der Nähe des Quellgebiets des Clarks Fork von Indianern getötet wurde. Da die nächstgelegene Siedlung mindestens zwanzig Meilen entfernt war, wurden die Leichen von Marvin J. Crandall und seinem Partner erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden, als ein Suchtrupp am Ufer des Bachs auf ihre abgeschlagenen Köpfe stieß, angeblich aufgespießt auf die eigenen Spitzhacken der Männer.

Das Crandall-Tal war nach wie vor schwer zu erreichen, insbesondere im Winter. Es gab nur eine Straße, den zweispurigen Chief Joseph Highway. Im Sommer führte die kurvenreiche Straße durch eine malerische Landschaft von Cody durch den Shoshone National Forest bis Yellowstone – Luftlinie ungefähr dreißig Kilometer westlich des Flussbeckens – über eines der zerklüftetsten Gebiete der Northern Rockies. Im Winter kamen die Schneepflüge nicht weiter als bis zum Westrand von Crandall; für die Tour zum Yellowstone brauchte man ein Schneemobil.

Das Jahr über lebten nur rund fünfzig Menschen in dem Tal, züchteten Vieh oder betrieben eine der wenigen Touristen-Ranches oder einen Outfitter Store für Jagdbedarf. Ein einziger als Painter Outpost bekannter kleiner Laden bot Frühstück und Bier an, verpflegte im Winter hauptsächlich Schneemobilfahrer und Jäger mit Lebensmitteln und im Sommer die wenigen Yellowstone-Touristen, die wild entschlossen waren, die kaum befahrene Straße zum Park zu nehmen.

Kurz nach der Ankunft von Marvin Crandall und anderen Goldsuchern wurde Yellowstone zum Nationalpark ausgerufen – dem ersten der USA –, um seine Ressourcen vor dem Ansturm aus dem Westen zu schützen, der Ende des 19. Jahrhunderts über die Rocky Mountains hereinbrach. Tatsächlich aber ignorierten die Pelzhändler, die massenweise in den Park vordrangen, diese Schutzmaßnahme wie fast alles andere auch, was die Hauptstadt Washington vorgab. Heute wird Yellowstone, zumindest im Sommer, von Touristen überflutet. Turnbull hielt sich nur selten dort auf. Der Park war für Touristen gedacht – Crandall hingegen war, besonders im Winter, wenn ein Meter Schnee lag, das echte Wyoming.

Etwas für sich hatte der Yellowstone-Nationalpark allerdings, und das waren die Wapitis. Jeden Winter verließen gewaltige Herden den Park und zogen vom Hochland in das tiefer gelegene, weniger schneereiche Weideland. Einige folgten dem Lauf des Clarks Fork nach Osten und hinab ins Crandall-Tal, das monatelang als eine Art Highway für Hochwild fungierte. Turnbull hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Wapitis er im Lauf der Jahre in diesem Tal erlegt hatte.

Nach der Wiederansiedelung der Wölfe wurde alles anders. Einst waren die Hirsche jeden Winter in den Talkessel hinuntergewandert, in manchen Jahren an die tausend. Man konnte das Tier, das man schießen wollte, fast wie in einem Katalog auswählen. Jetzt konnte man von Glück sagen, wenn man über den Winter zweihundert entdeckte, und der Staat Wyoming hatte damit begonnen, die Zuteilung der Lizenzen für die Hirschjagd durch ein Losverfahren zu vergeben. Was übrig blieb, nahmen sich die Wölfe.

Im Lauf der letzten fünfzehn Jahre hatten sich die Wölfe ausgebreitet – weit über die Grenzen des Parks hinaus, in den Wildhüter der Regierung Mitte der 1990er-Jahre die ersten Rudel wiedereingeführt hatten. Wie die meisten Menschen, die er kannte, war Turnbull von Anfang an gegen den Plan gewesen und vertrat die Meinung, dass es nun viel zu viele Wölfe in Wyoming gab. Aber natürlich hatte ihn niemand nach seiner Meinung gefragt.

Genauso verhielt es sich mit den Grizzlys. Als Kind hatte er überall im Crandall seinen Schlafsack ausrollen und auf dem Boden schlafen können. Heute würde er das nicht mehr tun. Über die Jahrzehnte hatten die Schutzmaßnahmen aus Washington für Wälder voller Bären gesorgt – so viele, dass man sie nicht im Hinterland suchen musste, man sah sie von der Straße aus. Die Menschen sahen sie direkt vor ihren Blockhütten, wenn sie morgens auf die Terrasse traten. Zur Sicherheit trug Turnbull immer eine 44er Magnum bei sich, wenn er durch die Wälder streifte (sogar in der Jagdsaison, wenn man das eigentlich nicht sollte).

Die Grizzlys beanspruchten ebenfalls ihren Anteil am Wild, vor allem neu geborene Hirsche – doch weitaus weniger als die Wölfe. Die Wildhüter im Yellowstone-Nationalpark behaupteten, der Rückgang des Wildes sei in erster Linie auf die Trockenheit zurückzuführen, aber Turnbull glaubte ihnen nicht. Er hielt die Wölfe dafür verantwortlich. Er hatte die abgenagten Kadaver in den Wäldern mit eigenen Augen gesehen.

Turnbull war vor allem an der Hochwildjagd in Wyoming interessiert. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Rindfleisch im Laden gekauft hatte. Von Zeit zu Zeit besorgte er sich vielleicht etwas Rindertalg, um das magere Hirschfleisch zu saftigen Burgern zu verarbeiten. Aber Fleisch war für ihn gleichbedeutend mit Hirsch. Obwohl es in der Gegend schwierig war, an Laubholz zu kommen, fand er doch immer genug, um jeden Winter sein eigenes Dörrfleisch räuchern zu können. Mit einer guten Prise grob gemahlenem schwarzen Pfeffer und etwas Knoblauch gab es nichts Besseres. Er verpackte es in Beutel und schenkte es seinen Freunden, zumindest denen, die nicht selber schon Säcke davon besaßen.

Er war nicht nur wegen des Fleisches jeden Herbst in den Wäldern. Er liebte die Hirsche, und er liebte die Berge, in denen die Hirsche zu Hause waren. Er besaß ein Haus in einer kleinen Stadt, ungefähr eine Fahrstunde in östlicher Richtung. Doch die meiste Zeit verbrachte er in seiner Blockhütte im Crandall. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit allen möglichen Jobs in der Umgebung: Im Sommer strich er Hütten an, die er im Winter als Hauswart verwaltete, er hackte Feuerholz und verrichtete alle möglichen Handwerkerarbeiten.

Als er fünf war, hatte sein Großvater ihn zum ersten Mal in das Hinterland von Cody zur Hasen- und Entenjagd mitgenommen. Als Teenager ging er mit dem alten .30-40 Krag-Gewehr seiner Mutter, das die Army vor dem Ersten Weltkrieg verwendet hatte, auf die Jagd. Er wusste nicht genau, wie alt das Gewehr wirklich war; sein Großvater mütterlicherseits hatte es als Hochzeitsgeschenk bekommen und es dann seiner Tochter geschenkt, als diese heiratete. Es war nur bis zu einer Weite von etwa neunzig Metern zuverlässig, und die Mündungsgeschwindigkeit war so gering, dass man praktisch zuschauen konnte, wie die Kugel aus dem Gewehrlauf kam. Turnbulls Schwester hatte ihn nach dem Tod der Eltern um das Gewehr gebeten, und er hatte nichts dagegen gehabt, denn er besaß inzwischen ein sehr viel besseres, das er jedoch selten benutzte. Er war jetzt hauptsächlich mit Pfeil und Bogen unterwegs, mit denen er Elche, Schwarzbären, achthundert Pfund schwere Wapitibullen – jede Art von Großwild, das sich in diesen Bergen herumtrieb – erlegte.

Er liebte die Eleganz des Bogens, der Waffe, die die Indianer jahrhundertelang zur Wapitijagd in diesen Wäldern benutzt hatten (auch wenn sie heute erheblich weiterentwickelt ist). Man hatte ihm beigebracht, an ein Tier immer so nah wie möglich heranzukommen, bevor man schoss. Und wer das Gewehr zu Hause ließ, musste das Heranpirschen üben. Er sah sich alle Jagdsendungen an, las alle Jagdzeitschriften und stellte fest, dass heutzutage anscheinend besonderer Wert auf das Schießen aus großer Distanz gelegt wurde. Ein Fabrikant in Cody stellte ein Gewehr her, das angeblich einen Hirsch aus einer Entfernung von rund neunhundert Metern töten konnte. Turnbull hielt das für unethisch. Für ihn war die faire Jagd, also die Haltung, nach der ein Jäger jegliche Technik vermeiden sollte, die ihm einen ungeziemenden Vorteil gegenüber dem Wild verschaffte, mehr als nur ein hohle Phrase.

Ein weiterer positiver Aspekt dieser Jagdmethode bestand darin, dass die Saison für die Hirschjagd mit Pfeil und Bogen schon im September begann, einen Monat vor der allgemeinen Gewehrjagd. Das hieß, dass man nur wenige Jäger in den Wäldern antraf. In den letzten Jahren war Crandall bei auswärtigen Jägern immer beliebter geworden. Die wohlhabende Klientel konnte geführte Jagdtouren buchen – wenn auch nicht mehr ganz so viele wie früher, als es noch mehr Wapitis gab. Private Farmen entlang des Clarks Fork waren wegen der leicht zu jagenden Herden und der gewaltigen Bullen weltbekannt. Er konnte es sich nicht leisten, dort auf die Jagd zu gehen, und das machte ihm nichts aus. Der Großteil des Crandall-Gebiets galt als National Forest, also Staatsforst, wo jeder einen Hirsch mit einer 50 Dollar teuren Abschussgenehmigung, einem sogenannten tag, jagen konnte – sofern man einen ergattern konnte.

Wenn die Jagdsaison mit Pfeil und Bogen begann, war er am liebsten in den Wäldern. Das Wetter im September war immer noch schön. Die Tage waren warm und die Nächte kühl genug, um die Herbstfarben in den Espen, Pappeln und Weiden zur Geltung zu bringen. Die Bullen waren brünstig, stießen in ihren Harems Brunftschreie aus und kämpften mit ihren Rivalen.

Bei den warmen Temperaturen musste das Fleisch so schnell wie möglich weggeschafft werden – wegen der Bären konnte die Jagdbeute ohnehin nicht über Nacht im Wald zurückgelassen werden. Am nächsten Morgen, wenn man zurückkam, wäre nichts mehr von dem Wapiti übrig, oder noch schlimmer, man würde einen siebenhundert Pfund schweren Grizzly auf der Beute liegend antreffen.

Im Oktober fand die Gewehrjagd auf die Wapitibullen statt, gefolgt von der auf geweihlose Hirsche, die gewöhnlich Mitte November begann. Ende Dezember war die Jagdsaison vorbei, aber Turnbull fand immer noch einen Grund, durch die Wälder zu streifen. Er pirschte sich mit seiner Videokamera an die Tiere heran, filmte die großen Bullen an ihren Lieblingsplätzen, erkannte sie an ihren Geweihen. Im Spätwinter sammelte er Geweihstangen und versuchte gelegentlich, sie den Bullen in seinen Aufzeichnungen zuzuordnen. Die Wälder waren voller abgeworfener Geweihstangen. Er lud sie auf seinen Pick-up und verkaufte sie pfundweise in der Stadt. Die meisten wurden zu Tierfutter verarbeitet. Im Frühjahr kam die Schwarzbärensaison, und im Sommer trainierte er das Schießen mit Pfeil und Bogen und befiederte seine Pfeile. Es war die einzige Zeit des Jahres, in der man auf Ziele schießen konnte, ohne Pfeile im Schnee zu verlieren.

Grizzlys durfte man nicht schießen – zumindest nicht legal. Aber jetzt konnte man endlich Wölfe jagen. Er wusste nicht, warum die Bürokraten in Cheyenne und Washington so lange gebraucht hatten, um zu erkennen, was ihm schon lange klar war. Er hatte nichts gegen Wölfe im Crandall-Tal. Im Gegensatz zu einigen seiner Cowboy-Freunde – die jeden einzelnen Wolf getötet hätten, um ihr Vieh zu schützen, hätte man ihnen die Gelegenheit dazu gegeben – fand er, dass sie in die Landschaft gehörten. Aber der Bestand musste kontrolliert werden. Als im Herbst nach mehr als fünfzig Jahren die erste legale Wolfsjagdsaison in Wyoming angekündigt wurde, hatten die Wildhüter in diesem Teil des Shoshone National Forest die Abschussquote auf acht festgelegt, und im Crandall war Turnbull einer der Ersten gewesen, der die 12 Dollar für einen tag hingelegt hatte. Nach zwölf Wochen Wolfsjagd waren bereits sieben erlegt worden, und er hatte immer noch seine Abschussgenehmigung in der Tasche. Jetzt wollte er unbedingt den letzten Wolf erwischen.

Es war fast sieben Uhr, als die beiden Wölfe an den Weiden entlang des Feldes auftauchten. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt und bewegten sich hintereinander über den unberührten Schnee. Einer war völlig schwarz und so groß, dass er ein voll ausgewachsener Rüde sein musste. Das andere Tier, wohl seine Partnerin, wie Turnbull vermutete, war eine graue Fähe. Sie war kleiner, aber immer noch von beachtlicher Größe. Ihr dickes Winterfell war unten weiß und ging an den Flanken in Grau über. Die langen Deckhaare auf ihrem Rücken und ihren Schultern waren schwarz getüpfelt, wie ein Cape. Aus dieser Entfernung hätte man die graue Wölfin für einen ausgerissenen Schlittenhund aus Alaska halten können, hätte sie nicht direkt neben ihrem dunklen Gefährten gestanden, der eindeutig ein Wolf war und mit nichts anderem auf diesem Erdboden hätte verwechselt werden können.

Die Wölfe sahen den Jäger sofort, rannten jedoch nicht weg. Langsam hob er das Gewehr an die Schulter und blickte durch das Zielfernrohr.

Er hatte genug Zeit, seine Wahl zwischen ihnen zu treffen.