Cover

KEVIN WIGNALL




Aus dem Amerikanischen
von Alexander Wagner

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FÜR GEORGE UND RAFAEL

Erstmals als cbt Taschenbuch September 2020

© 2019 Kevin Wignall

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»When We Were Lost« bei Jimmy Patterson Books,

einem Imprint der Verlagsgruppe Little Brown and Company, New York

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Alexander Wagner

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock (KobchaiMa)

MP · Herstellung: AS

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24553-5
V001

www.cbj-verlag.de


PROLOG

MAN NENNT ES DEN SCHMETTERLINGSEFFEKT und der ist Teil der gerade ziemlich angesagten Chaostheorie. Die Grundidee dabei ist, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings auf der anderen Seite der Erde einen Tornado auslösen kann. Natürlich nicht direkt. Nicht als ob die Schmetterlingsflügel Luft bewegen und dieser Luftzug dann mehr und mehr Luftmassen aufwirbelt, bis diese zu einem Tornado anschwellen – das wäre natürlich Unsinn.

Es geht eher darum, dass viele Dinge unheimlich komplex sind und bei so ziemlich jedem Ereignis Millionen Faktoren zusammenspielen. Und wenn man nur einen einzigen davon weglässt (den Flügelschlag des Schmetterlings zum Beispiel), dann läuft alles ganz anders ab, oder vielleicht auch überhaupt nicht.

Vor vielen Jahren hielt es beispielsweise ein Vollpfosten namens Matt Nicholson für wahnsinnig komisch, einer jungen Frau heimlich Wodka in ihre Drinks zu kippen. Und so unwahrscheinlich das jetzt auch klingen mag, in dem Fall war Matt Nicholson der Schmetterling, und die mit Wodka versetzten Drinks waren der Flügelschlag.

Die junge Frau hieß Sally Morgan und schon bald war ihr kotzübel. Sie war neu auf dem College, daher beachtete niemand Sally groß, als sie ganz grün um die Nase aus der Bar stolperte – außer Matt Nicholson, der das Ganze für einen wahnsinnig coolen Witz hielt.

Nur eine junge Frau namens Julia, die vor der Bar stand, bemerkte Sally. Und obwohl die beiden sich nicht kannten, erfasste Julia sofort, dass Sally in Schwierigkeiten steckte und Hilfe brauchte. Julia sprang ihr zur Seite und schaffte Sally gerade noch rechtzeitig zur Toilette.

Sally und Julia gingen auf unterschiedliche Colleges, studierten verschiedene Fächer, und wenn Matt Nicholson in Sallys Drinks keinen Wodka geschüttet hätte, hätten die beiden sich niemals kennengelernt. Zumindest nicht damals, und später vielleicht auch nicht, und sie wären wohl niemals beste Freundinnen geworden. Dann hätte Julia Sally auch niemals Rob Calloway, einem alten Freund aus ihrem Heimatort, vorstellen können.

Folglich hätten sich Sally und Rob auch nicht ineinander verliebt, hätten nicht nach dem College geheiratet und ein Kind bekommen. Und als sie irgendwann ihr Testament aufsetzten, hätten sie nicht Julia zum Vormund für ihr Kind bestimmt, falls ihnen je irgendetwas zustoßen sollte.

Und hätten Sally und Rob nicht eines Nachts, als das Kind neun war, ihren zehnten Hochzeitstag in einem Restaurant außerhalb Connecticuts gefeiert, und hätte das Taxi, das sie anschließend bestellt hatten, sie nicht versetzt, dann hätten sie auch nicht beschlossen, zu Fuß nach Hause zu laufen.

Und wenn die Freundin eines Typen namens Sean Hodges nicht an dem Abend mit ihm Schluss gemacht hätte, weil er ein Loser war, hätte er sich nicht betrunken, nicht herumgeheult und -geschrien und wäre nicht zu ihr gefahren. Und wenn sie ihn wieder zurückgenommen oder ihn wenigstens in ihre Wohnung gelassen hätte, dann wäre er nicht wieder nach Hause gefahren, noch immer wütend und betrunken, und hätte nicht die beiden Menschen übersehen, die entlang einer dunklen, verlassenen Landstraße nach Hause wanderten, und dann hätte er sie nicht totgefahren.

Obwohl Sally und Rob niemals mit so etwas gerechnet hätten, kam daraufhin ihr Kind, der neun Jahre alte Tom Calloway, in die Obhut ihrer guten alten Freundin Julia. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass die beiden in den letzten Jahren keinen besonders engen Kontakt zu Julia gehalten hatten, weil sie von ihrem ständigen Gejammer und ihrer Unzuverlässigkeit genervt gewesen waren. Aber falls sie je daran gedacht hatten, ihr Testament zu ändern, war ihnen der Tod zuvorgekommen.

Obwohl Julia jetzt die Verantwortung für ein Kind hatte, änderte das wenig an ihrem Lebensstil. Und so schickte sie Tom acht Jahre später mit auf diesen Schulausflug nach Costa Rica, um ein besonderes Umweltprojekt zu unterstützen, obwohl so was normalerweise überhaupt nicht sein Ding war. Aber es musste sein, einfach, weil Julia zu einem Yoga-Retreat nach Italien wollte und die Termine perfekt passten. Und deshalb hatte Tom schließlich eingewilligt, nach Costa Rica zu fahren, wo er überhaupt nicht hinwollte, zusammen mit Leuten, die ihn kein bisschen interessierten, um dort Dinge zu tun, auf die er nicht die geringste Lust hatte.

Das ist also der Schmetterlingseffekt. Hätte ein Vollpfosten namens Matt Nicholson keinen Wodka in die Drinks einer jungen Frau namens Sally Morgan gekippt, wäre Tom, wenn er denn überhaupt je geboren worden wäre, nicht zwanzig Jahre später in ein Flugzeug gestiegen, das sein Ziel niemals erreichen würde – wovon aber weder Tom noch irgendeiner seiner Mitschüler zu Beginn ihrer Reise etwas ahnten.


KAPITEL 1

ES WAR NICHT SO, DASS TOM die Umwelt egal gewesen wäre. Er trennte Müll und liebte diese Natur-Dokumentationen von David Attenborough, aber er fand, dass in dem Bereich ziemlich viel Verlogenheit herrschte. Er hielt es zum Beispiel für ziemlich daneben, wenn man eine Tonne Kerosin in die Luft pustete, nur um eine Gruppe Kids aus einem der reichsten Länder der Welt nach Costa Rica zu fliegen, damit sie dort Pflanzen und Schmetterlinge studieren konnten. So was fand er einfach dämlich.

Das war einer der Gründe, warum er nicht an der Reise teilnehmen wollte – einer Urlaubsreise zu Luxusresort-Preisen, getarnt als Gutmenschen-Aktion, nur um dann seine Ferien in einem insektenverseuchten Öko-Camp zu verbringen.

Außerdem waren da die anderen – neununddreißig weitere Schüler, drei Lehrer und die Ehefrau eines Lehrers. Vermutlich waren die anderen Kids in Ordnung, vielleicht sogar interessant, möglicherweise sogar nett, zumindest so nett, dass sie miteinander klarkamen. Es war einfach nur so, dass Tom nicht wirklich zu ihnen gehörte.

Als Kind hatte er mal ein Puzzle geschenkt bekommen, das Bild einer Burg, mit unendlich vielen Teilen. Er hatte es an einem einzigen verregneten Wochenende zusammengesetzt, musste dann aber feststellen, dass ein einzelnes Puzzleteil übrig geblieben war. Es gehörte wohl zu einem anderen Puzzle und war versehentlich in die Packung geraten.

Tom hatte es behalten, hob es immer noch irgendwo zu Hause auf. Damals hatte er nicht genau gewusst, warum, aber in den darauffolgenden Jahren war es ihm klar geworden: Er war wie dieses Puzzleteilchen. Er hatte die richtige Form. Er sah richtig aus. Und die meisten Menschen hätten ihn für jemanden gehalten, der sich nahtlos einfügte. Trotzdem passte er einfach nicht ins Bild.

In welches Bild auch immer er wirklich gepasst hätte, in das seines momentanen Lebens ganz sicher nicht. Aber das war in Ordnung, denn irgendwann war ihm klar geworden, dass dieses überzählige Teilchen möglicherweise im Puzzle von jemand anderem fehlte. Und vielleicht würde er irgendwann – auf dem College oder danach – ein Bild finden, in das er tatsächlich passte.

Nicht nur Tom dachte so über sich. Auch seine Mitschüler spürten, dass er anders war, sich absonderte, nach seinen eigenen Regeln spielte. Selbst den Lehrern fiel es auf, sodass es jedes Jahr Thema in seinen Zeugnissen war (die Julia niemals las). Das aktuelle bildete da keine Ausnahme.

Toms schulische Leistungen sprechen für sich und er verdient dafür aufrichtige Anerkennung. Ich wünschte nur, er würde sich mehr Mühe geben, um aktiver Teil unseres Klassenverbandes zu werden. Denn im Augenblick ist sein Verhalten distanziert, fast an der Grenze zur Unfreundlichkeit, was sehr bedauerlich ist, denn ich glaube, er wäre eine große Bereicherung für die Gemeinschaft, wenn er sich nur dazu entschließen könnte, an ihr teilzunehmen.

Richard Glenister, Klassenlehrer

Sehr gute Leistung, Tom, in einem erfolgreichen dritten Jahr auf der Highschool! Wie Du weißt, habe ich Dich mehrfach gebeten, Dich ein wenig mehr in das soziale Leben an der Hopton High einzubringen, und ich hoffe, dass Dein Entschluss, an der bevorstehenden Reise nach Costa Rica teilzunehmen, ein Hinweis darauf ist, dass Du meinen Rat beherzigst und die Chance ergreifst, mit Deinen Mitschülern Freundschaft zu schließen!!

Rachel Freeman, Schulleitung

Tom ist ein Rätsel. Seine schriftlichen Arbeiten bewegen sich durchgehend auf hohem Niveau, seine Beiträge im Unterricht sind stets bereichernd und auf den Punkt. Ich wünschte nur, er würde etwas mehr von sich selbst preisgeben, sowohl in seinen Arbeiten als auch gegenüber seinen Mitschülern.

Susan Graham, Fachlehrerin, Englische Literatur

Miss Graham war ebenfalls ein Rätsel. Sie war so jung und attraktiv, dass es sich manchmal seltsam anfühlte, mit ihr alleine im Klassenzimmer zu sein. Bei einem Elterngespräch hatte sie Julia versichert, sie wünsche sich »so dringend«, dass Tom mehr Kontakt zu seinen Klassenkameraden hätte.

Bei der Reise nach Costa Rica war sie auch dabei, sie gehörte zu den Lehrern, die sie begleiteten. Im Augenblick zählte sie gerade ein letztes Mal vor dem Boarding die Gruppe durch. Sie lief dabei langsam an den Schülern vorbei, ihr Mund bewegte sich stumm beim Zählen. Als sie Tom erreichte, blieb sie unvermittelt stehen, musterte ihn überrascht, fast verwirrt, bevor sie seltsam lächelte, als könne sie es immer noch nicht ganz fassen, dass er tatsächlich mit auf diese Reise kam.

Dann fluchte sie leise und kehrte an den Anfang der Schlange zurück, begann leicht genervt von vorn zu zählen: eins, zwei, drei … Dieser kleine Moment brachte es vermutlich besser als jeder andere auf den Punkt, wie wenig Tom dazugehörte und wie absolut ungewöhnlich es für ihn war, sich an einem solchen Ausflug zu beteiligen. Offenbar reichte schon seine bloße Gegenwart aus, damit Miss Graham nicht mehr bis vierzig zählen konnte.


KAPITEL 2

»ICH BIN FROH, DASS DU DICH ENTSCHLOSSEN HAST, mit auf diese Reise zu kommen, Tom«, verkündete Miss Graham, die im Flugzeug neben ihm saß. »Hoffentlich gibt uns das allen eine Chance, dich besser kennenzulernen.«

»Miss Graham, es sind doch nur zwei Wochen.«

Sie lachte, als hätte er einen witzigen Spruch gerissen, was aber gar nicht seine Absicht gewesen war. Dann drehte sie sich zur anderen Seite und sagte irgendetwas zu Barney Elliot.

Mit Julia war Tom schon oft geflogen, und obwohl sie eher so etwas wie eine leicht chaotische Mitbewohnerin als eine Mutter darstellte, hatte sie echte Ahnung vom Reisen. Sobald sie ein Flugzeug betrat, marschierte sie immer nach links, in Richtung der Business Class oder der Ersten Klasse.

Bei diesem Flug allerdings war er ganz hinten gelandet, wie die meisten anderen der Gruppe. Mr Lovejoy und seine Frau saßen im Mittelteil am Notausstieg bei Jack Shaw, der fast zwei Meter groß war und daher viel Beinfreiheit benötigte, und bei Maisie McMahon, die winzig klein war, aber aus irgendwelchen ungeklärten Gesundheitsgründen ebenfalls dort vorne sitzen musste.

Der Rest der Gruppe vereinnahmte zwei Sitzblocks ganz hinten in der Kabine. Coach Holdfast, der Sportlehrer und Football-Trainer, saß vorne im ersten Block, zusammen mit den Spielern seines Teams – er lachte, riss Witze und rief gelegentlich »Go Hawks!«, als wäre er selbst noch einer der Jungs.

Miss Graham saß weiter hinten im Flugzeugheck, Tom hatte den Gangplatz neben ihr. Das Boarding war jetzt fast abgeschlossen und sie wandte sich an Tom. »Darf ich dir was beichten?« Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich hören wollte, nickte aber. Sie lächelte, fast ein wenig scheu, bevor sie sagte: »Ich habe ein bisschen Flugangst. Hatte ich immer schon. Turbulenzen – das ist für mich der Horror.«

»Warum sind Sie dann überhaupt mitgekommen?«

Sie zuckte mit den Achseln, was wohl zum Ausdruck bringen sollte, dass sie keine große Wahl gehabt hätte.

Barney, der auf ihrer anderen Seite saß und kleiner und jünger wirkte als seine gleichaltrigen Mitschüler, sagte: »Wissen Sie, Miss Graham, es ist fast unmöglich, dass ein so großes Flugzeug durch Turbulenzen abstürzt.«

Sie drehte sich zu ihm. »Echt, ist das wahr?«

»Absolut. Das kann der Konstruktion nichts anhaben und die Piloten werden leicht fertig damit.«

»Verstehe. Aber wie kommt es dann überhaupt zu Flugzeugabstürzen?«

»Das kommt eigentlich so gut wie nie vor, zumindest rein statistisch gesehen. Ich meine, klar, natürlich stürzen Flugzeuge ab, aber statistisch gesehen ist es dermaßen unwahrscheinlich, dass es kaum lohnt, darüber nachzudenken. Ich meine, man geht ja auch nicht jeden Abend zu Bett und sorgt sich, ob das eigene Haus in Flammen aufgeht. Obwohl es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass man in einem brennenden Haus stirbt als bei einem Flugzeugabsturz.«

»Wie interessant.« Sie drehte sich wieder zu Tom. »Hast du das gehört, Tom?«

Er nickte, obwohl er eigentlich nicht der Auffassung war, dass Statistiken ein großer Trost waren für Menschen, die gerade in einem brennenden Feuerball zur Erde stürzten. Aber die Antwort blieb ihm erspart, weil sich ein paar Reihen vor ihnen ein Mädchen namens Olivia erhob und zu Miss Graham schaute.

»Miss Graham, könnten Sie bitte Chris sagen, dass er aufhören soll, uns zu nerven?«

Miss Graham warf Tom einen verschwörerischen Blick zu, als wären sie beide hier die Erwachsenen. Dann sagte sie: »Ich bin gleich wieder zurück.«

Er ließ sie vorbei, und nachdem er sich wieder hingesetzt hatte, sagte Barney ruhig: »Ich glaube, Miss Graham steht auf dich.« Tom warf ihm einen kurzen Blick zu, und Barney fügte kleinlaut hinzu: »So was kommt vor. Man sieht es öfter im Fernsehen.«

»Hast du da vielleicht auch eine passende Statistik parat?«

Barney schien offenbar um eine Antwort verlegen, entschied sich aber dann zu wiederholen: »So was kommt vor, mehr wollte ich damit nicht sagen.«

Tom bemerkte weiter vorne eine Auseinandersetzung. Und obwohl er stark bezweifelte, was Barney über Miss Graham gesagt hatte, war er ziemlich erleichtert, dass sie es offenbar für das Beste hielt, ihren Platz mit dem schwerfälligen und anscheinend auch ziemlich nervigen Chris Davies zu tauschen.

Chris stampfte den Gang hinunter und sagte: »Die Graham meint, ich soll hier sitzen. Kann ich den Gangplatz haben?«

»Nein.« Tom stand auf, ließ ihn durch und setzte sich wieder.

Chris schüttelte den Kopf. »Olivia ist so eine Zicke. Ich kann schließlich auch nichts dafür, dass ich diesen Traum hatte.«

Chloe, die in der Reihe hinter ihnen saß, stöhnte. »Nicht schon wieder das mit dem Traum! Chris, halt einfach die Klappe.«

Chris drehte sich nicht um, sondern erhob einfach die Stimme, damit Chloe ihn hören konnte. »Das wirst du nicht mehr sagen, wenn ich recht behalte und das Flugzeug abstürzt.«

»Was?«, fragte Barney.

»Ich hab das geträumt. Und zwar genau von dem Flugzeug hier.«

Joel Aspinal, der auf Toms Höhe auf der anderen Seite des Ganges saß – er war Schülersprecher und der Sohn irgendeines Lokalpolitikers –, beugte sich vor und sagte: »Chris, du musst leiser sprechen, oder die schmeißen uns aus dem Flugzeug.«

»Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie uns rausschmeißen. Dann könntet ihr mir alle dankbar sein, wenn das Ding abstürzt.«

Rundherum erhob sich Gemurmel, offenbar hatte sein Gerede einige verunsichert. Doch dann ertönte von hinten, möglicherweise aus der letzten Reihe, eine scharfe Stimme, nicht laut, aber bestimmt.

»Christian!« Es war Alice Dysart, die Chris seit dem Kindergarten kannte und deren Familien befreundet waren. Obwohl sie sonst wenig gemeinsam hatten, schien ihre Verbindung, welcher Art auch immer sie sein mochte, Gewicht zu haben, denn Chris gab sofort Ruhe und ließ sich in seinem Sitz nach unten rutschen.

Allerdings konnte er es nicht lassen, Tom zuzuflüstern: »Dieses Flugzeug stürzt ab. Wir werden alle sterben.«

Chris war immer so süchtig nach Aufmerksamkeit, dass es schwer einzuschätzen war, ob er tatsächlich diesen Traum gehabt hatte und ernsthaft besorgt war oder ob es nur ein armseliger Versuch war, sich wichtigzumachen.

Wie auch immer, Tom schaute ihn an und sagte: »Mir doch egal.«

Chris hielt Toms Blick ein paar Sekunden stand, dann schien er aufzugeben und sah wieder nach vorn. Tom tat dasselbe und starrte auf den Sitz vor sich, während er einen merkwürdigen Gedanken hatte.

Er glaubte keine Sekunde daran, dass Chris Davies einen prophetischen Traum gehabt hatte, gleichzeitig überraschte es ihn, wie egal es ihm selbst gewesen wäre, wenn Chris die Wahrheit gesagt hätte. Was immer geschehen würde, geschähe ohnehin, und eines Tages würden sie sowieso alle sterben.

So wie Tom es sah, spielte es keine Rolle, ob dieser Tag der heutige war.


KAPITEL 3

VOR SEINEM ALLERERSTEN FLUG war Tom ziemlich aufgeregt gewesen, in den ersten zehn Minuten hatte er sogar ein wenig Angst gehabt. Aber danach hatte er es schnell richtig öde gefunden und war eingeschlafen.

Seitdem hatte ihm das Fliegen keinen sonderlichen Spaß mehr gemacht, die kleinen aufregenden Momente hatten sich mit der Zeit abgenutzt, die Langeweile war geblieben. So ziemlich das Einzige, was er am Fliegen noch mochte, war der Traum. Im Flugzeug schlief er immer rasch ein und hatte dann seit mindestens fünf Jahren immer den gleichen Traum.

Tom hatte diesen Traum immer nur auf Flügen, nie zu Hause oder wenn er anderswo schlief. Anfänglich hatte er sich gefragt, ob es vielleicht etwas mit dem Luftdruck in der Kabine oder den Triebwerksgeräuschen zu tun hatte, aber er war nie wirklich dahintergekommen. Inzwischen war es für ihn einfach sein Flugzeug-Traum.

Es war einer jener seltsamen Träume, in denen es noch einen Rest von Wahrnehmung gab und er sich des Flugzeugsitzes bewusst war ebenso wie des leisen Turbinengeheuls im Hintergrund. So war es auch bei diesem Flug nach Costa Rica. Aber im Traum war er nicht mehr angeschnallt, sondern schien in der Dunkelheit zu schweben, immer noch in sitzender Position, jedoch losgelöst vom Sitz und dem Flugzeug.

Dann nahm er unvermittelt die Welt um sich herum wahr, die Luft, die Kälte und die Feuchtigkeit, das Land unter und die Sterne über sich. Er wurde sich der zahllosen Menschen bewusst, die lebten und starben, konnte sie alle zugleich sehen, manche bei Tageslicht, andere in tiefer Nacht auf der anderen Seite der Welt. Kinder spielten in einer staubigen Straße, Liebende küssten sich im Zwielicht eines Parks, ein alter Mann hauchte umgeben von seiner Familie seinen Lebensatem aus. Bilder aus jeder Region des Planeten strömten auf ihn ein, Ozeane und Wüsten, leise flüsternde Wälder, einsame sirrende Straßenlaternen und menschenleere Vergnügungsparks.

Es war, als würde sich sein Bewusstsein erweitern, sich vollständig öffnen. Was er jedoch an diesem Traum am meisten liebte, war das Gefühl der Verbundenheit mit allem. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in dem Gefühl verbracht, dass es für ihn keinen Platz auf der Welt gab. Doch in diesem Traum fühlte er sich absolut zugehörig, war selbst ein integraler Bestandteil all dieser Leben und Nicht-Leben, all dieser Orte und Nicht-Orte. Und irgendwann verblasste dieser Traum, nur eine letzte Vision drang noch aus der Leere machtvoll in sein Bewusstsein: Er trieb bei Nacht auf einem rauen Ozean, fühlte sich fast als Teil der Wellen, etwas unter ihm lebte und atmete. Er wurde sich bewusst, dass es ein Wal war, der durch die schwere Dünung glitt, ein schwarzer Schatten in der Dunkelheit, eine gewaltige, schwermütige, kraftvolle Präsenz. Und für einige wenige Augenblicke war Tom Teil davon, pulsierte selbst durch den dunklen Ozean, unter ihm ein tiefschwarzer Abgrund, über ihm der endlose Himmel, und er empfand ein tiefes Gefühl des Friedens.

Ein gewaltiger Ruck weckte Tom, er wurde gegen die straffen Sitzgurte geschleudert. Er öffnete die Augen, starrte in die merkwürdig halb erleuchtete Kabine, brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, wo er sich befand, dann war ihm sofort alles klar.

Turbulenzen. Er dachte an Miss Graham, aber auch an Barneys Versicherungen. Er hörte vereinzelt leises Gemurmel, vermutlich hatten alle anderen auch geschlafen und waren jetzt wach.

Die Sauerstoffmasken hingen herab, tanzten über den Sitzen, als wären sie durch die Turbulenzen losgeschüttelt worden. Tom hatte das schon einmal bei einem Flug erlebt und wusste, es war kein Grund zur Sorge –

Ein weiterer Stoß, diesmal so gewaltig, dass er ihn bis durch den Sitz und in seiner Wirbelsäule spürte. Erneut wurde er hochgeschleudert und die Sitzgurte schnitten schmerzhaft in seinen Körper. Jetzt waren alle wach, riefen durcheinander, manche schrien laut. Tom spürte, wie Adrenalin durch seine Adern pumpte und sich sein Magen zusammenkrampfte. Das war keine gewöhnliche Turbulenz.

Der nächste Stoß war noch heftiger, erschütterte die gesamte Struktur des Flugzeugs, außerdem war da ein seltsames metallisches Knirschen, das die gellenden Schreie übertönte. Gegenstände stürzten aus den Gepäckfächern. Vor ihm, vielleicht zehn Reihen weiter, knallte jemand gegen das Dach der Kabine, bevor er wieder zu Boden stürzte.

Es herrschte ein Höllenlärm, aber Tom fiel auf, dass ein Geräusch fehlte – das der Triebwerke. Er fragte sich, ob das wirklich nur Turbulenzen waren oder ob sie in Wahrheit gar nicht länger flogen, sondern bereits abstürzten.

Tom wurde in seinen Sitz zurückgeschleudert, ohne den Eindruck zu haben, sie würden wieder an Höhe gewinnen. Er blickte zum Fenster, sah aber nichts als die Dunkelheit dahinter, dann erschütterte ein weiterer gewaltiger Schlag das Flugzeug, ein ohrenbetäubendes Krachen, noch mehr Schreie ertönten, Tom spürte einen Schmerz in seinem Arm, und ihm wurde bewusst, dass Chris sich daran festklammerte.

Dann ein noch gewaltigerer Stoß, Chris ließ ihn wieder los, ein metallisches Kreischen ertönte, das Tom bis in die Zähne spürte. Irgendwo in all dem Lärm hörte er jemanden leise schluchzen.

Ein merkwürdiger, gewaltsamer Sog zerrte ihn nach vorne, bevor sie abrupt wieder nach hinten kippten. Er wurde zurück in seinen Sitz gepresst, der Neigungswinkel wurde noch steiler, ein weiteres Kreischen, diesmal als ob der Rumpf des Flugzeugs auseinandergerissen würde.

Es folgte ein donnernder Schlag, der Boden schien sich unter seinen Füßen zu wölben, die Luft füllte sich mit Trümmern, das Dach über ihnen wurde aufgerissen, und bevor er begriff, was geschah, wirbelten die Sitze vor ihm hinaus in die Dunkelheit, Luft strömte herein. Für einen kurzen Augenblick schien es fast, als hätten sie angehalten und nur die Reihen vor ihnen – und der Rest des Flugzeuges – wären weitergeflogen und vor ihnen in der Dunkelheit verschwunden.

Barney schrie, seine Stimme klang überraschend tief, es war nicht der Schrei eines Verletzten, sondern eines Menschen unter Schock. Unaufhörlich brabbelte er irgendeine sinnlose, verzweifelte Silbe. Er hörte auch nicht auf, als sie sich gleich darauf wieder bewegten, diesmal rückwärts und mit zunehmendem Tempo.

Sie rutschten bergab, und Tom wappnete sich innerlich, denn der eigentliche Aufprall würde erst noch kommen. Barney kreischte unaufhörlich, hinter ihnen ertönten weitere Schreie. Chris neben ihm war beängstigend still. Wie weit würden sie rutschen, und wie schnell? Tom sah, wie undurchdringliches, dunkles Grün an ihnen vorbeiraste.

Und dann schien das Terrain flacher zu werden, und noch etwas flacher, und mit einem letzten unerwarteten metallischen Krachen und Kreischen drehte sich das Flugzeug, oder was von ihm übrig war, um seine eigene Achse und stoppte abrupt. Tom wurde mit solcher Wucht gegen seinen Sitz geschleudert, dass er das Gefühl hatte, er würde hindurchgepresst.

Die plötzlich einsetzende Stille war so umfassend und erbarmungslos, dass Barney und die anderen ebenfalls kurz verstummten. Erst jetzt hörte Tom, wie laut sein Herz pochte. Schlagartig wurde er sich der Nacht draußen bewusst, der ihn umhüllenden warmen Luft, der merkwürdigen Geräusche der Insekten und Nachttiere, die wie eine Art atmosphärisches Rauschen wirkten.

Und dann begriff er. Sie waren abgestürzt.

Ihr Flugzeug war aufgeprallt, auseinandergebrochen und sie hatten überlebt.

Für den Augenblick zumindest.


KAPITEL 4

ALLE BEGANNEN SOFORT GLEICHZEITIG zu reden und zu rufen. Niemand schrie mehr, niemand weinte, nur noch aufgeregte, kaum verständliche Unterhaltungen. Chris sagte zu Barney: »Ich hab doch gesagt, wir stürzen ab.«

»Du hast aber auch gesagt, wir sterben alle. Stimmt’s, Tom?«

Tom löste sich vom Anblick der undurchdringlichen Dunkelheit draußen und wandte sich Barney zu. »Könnte immer noch passieren.«

Chris lachte nervös. »Himmel, das war doch nur ein blöder Witz. Ich habe überhaupt nichts geträumt.« Aus einer kleinen Platzwunde auf seiner Stirn rann Blut über eine Gesichtshälfte.

»Du blutest«, stellte Tom fest.

Chris nickte, offensichtlich froh über den Themenwechsel. »Irgendetwas hat mich an der Stirn getroffen.«

Tom blickte nach oben und war erstaunt, dass er überhaupt etwas sehen konnte. Irgendeine Art Notbeleuchtung hatte sich eingeschaltet und erfüllte die Kabine mit Dämmerlicht, obwohl die gesamte Verkabelung völlig zerfetzt sein musste.

Barney sagte etwas, doch es ging im Lärm der anderen Stimmen unter. Dann erhob Joel die Stimme. »Ruhe!« Alles Stimmengewirr verebbte schlagartig und das folgende Schweigen war fast so angespannt wie das Geplapper zuvor. Tom blickte zur anderen Seite des Gangs, wo Joel mit den Beinen über der Abbruchkante baumelte, als säßen sie in einer Art außergewöhnlicher Achterbahn.

Joel hatte jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit. Er drehte sich ungelenk in seinem Sitz um und sagte: »Okay, ist irgendjemand in diesem Bereich verletzt? Schaut nach den Personen neben euch. Wenn ihr selbst verletzt seid, meldet euch.«

Den aufgeregten Antworten war zu entnehmen, dass jeder das schier Unglaubliche konstatierte: Niemand hatte ernsthafte Verletzungen.

Als erneut alle durcheinanderriefen und Chaos auszubrechen drohte, hob Joel die Hand. »Okay, beruhigt euch wieder. Ich vermute, wir sind über dem Regenwald oder dem Dschungel abgestürzt, daher könnte es eine Weile dauern, bis Rettungsmannschaften eintreffen. Das bedeutet, wir müssen ruhig und gut organisiert bleiben.«

Von hinten ertönte Chloes Stimme. »Wo ist der Rest des Flugzeuges?« Sie klang, als hätte sie gerade erst festgestellt, dass er fehlte.

»Verschwunden«, erwiderte Chris, dem die Lust an seiner Rolle als Spaßvogel vergangen schien. »Er ist einfach abgerissen.«

»Also gibt es vielleicht noch mehr Überlebende.«

Niemand antwortete. Dann sagte Joel: »Chris und ich klettern nach unten und schauen nach, wie der Boden beschaffen ist.«

»Warum?«, erwiderte Chris rasch. »Ich finde, wir sollten besser im Flugzeug bleiben.«

Barney beugte sich vor und sah zu Joel. »Wir sollten alle nach unten, falls es dort sicher ist.« Er richtete den Blick auf die schwache Notbeleuchtung. »Wenn immer noch Strom fließt, vielleicht aus irgendwelchen Aggregaten, könnte ein elektrisches Feuer ausbrechen. Solange dieses Risiko nicht auszuschließen ist, sollten wir alle das Flugzeug verlassen.«

Shen, der neben Barney auf der anderen Seite des Ganges saß, sagte: »Komisch, dass die Beleuchtung überhaupt noch funktioniert.«

Barney wollte gerade antworten, doch Joel kam ihm zuvor. »Okay, du hast recht. Trotzdem möchte ich mir vorher die Umgebung anschauen.«

Er löste seinen Gurt und blickte nach vorn, wie ein nervöses Kind am Rand eines Sprungbretts, doch Barney rief: »Whoa, denk nicht mal daran, da runterzuspringen.« Joel blickte zu ihm. »Unter uns befindet sich der Stauraum für das Gepäck, also geht es da mindestens drei Meter nach unten. Außerdem wurde das Flugzeug gerade in Stücke gerissen, also gibt es überall scharfe Kanten und alle möglichen Arten von Trümmern.«

»Dann klettere ich eben nach unten«, erwiderte Joel.

»Oder du könntest die Hecktüren benutzen. Wenn wir eine davon aufkriegen, könnten wir möglicherweise sogar die Notrutsche auslösen.«

»In Ordnung. Du kommst mit mir.« Joel schwang sich aus seinem Sitz auf den sicheren Boden des Ganges. »Ich schaue mich draußen um. Und bitte schaltet alle eure Handys ein. Man weiß nie, vielleicht hat einer von euch Empfang.«

Joel übernahm offenbar die Rolle des Anführers und alle folgten seinen Anweisungen. Tom und Chris schalteten gleichzeitig ihre Handys ein, doch keiner von ihnen hatte Netz. Die überall in der Kabine gemurmelten Bemerkungen verrieten, dass es den anderen ähnlich erging.

Chris hielt sein Handy hoch, schwenkte es in alle Richtungen, um ein Funksignal einzufangen. Tom dagegen schaltete seines wieder ab, es erschien ihm sinnvoller, den Akku zu schonen, falls sie das Handy noch irgendwann brauchen würden.

Hinter ihnen begannen ein paar Schüler von ihren Eltern zu sprechen, wie krank vor Sorge sie wohl wären, wenn sie von dem Absturz erfahren würden. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass Julia ein paar Stunden vor Toms Abflug in den Flieger nach Italien gestiegen war und bei ihrem Yoga-Retreat technische Geräte untersagt waren. Möglicherweise würde sie erst in zwei Wochen von dem Unglück erfahren.

Für Tom war das völlig in Ordnung, auch wenn ein kleiner Teil von ihm neugierig war, wie sie wohl auf die Nachricht reagiert hätte, wenn sie zu Hause gewesen wäre. Klar wäre sie geschockt gewesen, das schon, aber er war sich nicht sicher, ob ihre Gefühle sehr viel tiefer gehen würden.

Er erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge seiner Mom immer von seinem Schultag erzählt hatte: was sie gelernt hatten, was ihm gefallen hatte, wen er mochte, wer ihn ärgerte, all diese kleinen Triumphe und Widrigkeiten. Dann war der Unfall passiert.

Irgendwann in den Wochen danach war Julia aufgetaucht und hatte ihm erklärt, sie würde jetzt mit ihm zusammenleben. Mit ihm zusammenleben, nicht, sich um ihn kümmern. Und selbst als Neunjähriger hatte er irgendwie gespürt, dass Julia nichts von seinem Schultag hören wollte, von den Sachen, die ihn begeisterten oder bedrückten. Also hatte er aufgehört, darüber zu reden, und schon bald hatte ihn überhaupt nichts mehr sonderlich berührt oder begeistert.

Er machte Julia nicht verantwortlich dafür. So war sie nun mal. Vielmehr kam er irgendwann an den Punkt, sie dafür zu bewundern und ihr dankbar zu sein, dass sie eine Verantwortung geschultert hatte, mit der sie niemals gerechnet hatte und für die sie in keiner Weise geschaffen war. Es war niemandes Fehler, niemand trug Schuld – außer vielleicht der Typ, der seine Mom und seinen Dad auf dem Gewissen hatte.

Unten in der Dunkelheit tauchte ein Licht auf. Es war Joel, der mit seinem Handy den Boden anleuchtete. Barney hatte recht gehabt mit der Höhe, Tom war erschrocken, Joel so tief unter sich zu sehen.

Joel wandte sich nach oben und sagte: »Okay, hier gibt es ein paar Äste und Kram, über den man hinwegklettern muss, doch ansonsten ist das Gelände vor dem Flugzeug ziemlich frei. Hinten am Heck hat es verbrannt gerochen – aber das bedeutet nicht, dass ein Feuer ausbricht. Trotzdem denke ich, ihr solltet im Augenblick besser alle hier nach unten kommen.«

Die Dunkelheit war so undurchdringlich und das Licht des Handys so schwach, dass Tom erst jetzt Barney bemerkte, der direkt neben Joel stand.

Hinter Tom begannen die Leute aufzustehen und zügig das Flugzeug zu verlassen. Fast so, als hätten sie gerade ihren Zielflughafen erreicht und wollten nun eilig wieder ihrer eigenen Wege gehen. Tom löste seinen Gurt, während Chris endlich von seinem Handy abließ und es ausschaltete, bevor er seinen eigenen Gurt öffnete. Tom sah zu, wie er auf Barneys Sitz rutschte, um dann auf dieser Seite in den Gang zu hüpfen.

Tom saß einfach weiter da. Er lauschte den Geräuschen der anderen, während sie das Flugzeug verließen, die Notrutsche hinabglitten. Er hörte das leise Geplapper ihrer Stimmen, das sich von ihm entfernte und dann wieder näherte, als die Ersten unter ihm auftauchten.

In der Kabine herrschte jetzt Stille. Er wollte sich gerade erheben, hielt aber wieder inne, weil sich die Umgebung um das Flugzeug zu verändern schien. Es wurde heller, aber es war keine schleichende Dämmerung, sondern der typische plötzliche Tagesanbruch der Tropen.

Schlagartig konnte er die Bäume sehen, die zu beiden Seiten aufragten, und vor sich einen Hügel – den sie vor Kurzem herabgerutscht waren. Nach einer Minute konnte er auch Joel und die anderen deutlich erkennen. Das Tageslicht überflutete den Himmel so rasch, dass man fast die Orientierung verlor.

Und jetzt konnte er auch die Spuren dessen sehen, was geschehen war: Den Hügel hinauf erstreckte sich eine wüste Schneise, die das Heck des Flugzeugs gepflügt hatte. Bäume waren geknickt und zur Seite gedrückt worden, die Erde war aufgewühlt, der Hang mit Trümmern übersät. So viele Trümmer, dass es ihm erneut unfassbar vorkam, wie diese kleine Gruppe von Menschen, die sich unter ihm versammelte, das alles völlig unverletzt überlebt haben konnte.


KAPITEL 5

TOM TASTETE SICH zum hinteren Teil des Flugzeugs. Die Notrutsche war leicht verdreht, aber immer noch brauchbar. Er glitt hinunter und kletterte dann über ein paar verstreute Äste zur Vorderseite. Dabei umging er die Gruppe, bis er auf der anderen Seite des Wracks stand.

Alle schienen zu den Überresten der Kabine hinaufzublicken, die sie gerade verlassen hatten. Sie plapperten wieder miteinander, versuchten zu begreifen, was geschehen war, jetzt, wo sie das Resultat unmittelbar vor Augen hatten. Barney und Shen studierten sogar die Bruchkante des Flugzeugrumpfs, als wären sie professionelle Sachverständige für Flugunfälle.

Tom blickte den Hügel hinauf. Weiter oben lagen einige große Metallcontainer, die der Aufprall aus dem Gepäckraum geschleudert hatte. Einige waren aufgebrochen, und der Hügel war übersät mit Koffern und etwas, das nach ihren großen Wanderrucksäcken aussah.

Der Hügel endete oben in einem ziemlich scharfen Grat. Zu beiden Seiten standen immer noch Bäume, aber das Flugzeug hatte beim Aufprall eine breite Bresche geschlagen. Vermutlich war es an dem Hügelrücken zerschellt und der vordere Teil auf der anderen Seite hinabgestürzt.

Tom spähte in den Himmel, der bereits leuchtend blau strahlte, konnte aber keine Anzeichen von Rauch entdecken. Dann blickte er auf die Uhr, die immer noch auf die Zeit zu Hause eingestellt war, und zum ersten Mal erfasste ihn Verwirrung. Er überprüfte, ob die Uhr noch intakt war, dann begann er, den Hang hinaufzusteigen.

Joels Stimme hielt ihn auf. »Hey, hallo, Tom.« Er klang, als wäre er sich unsicher bei dem Namen, und tatsächlich hatten die beiden noch nie direkt miteinander gesprochen. Tom drehte sich um, während alle anderen verstummten und zu ihm blickten. »Wohin gehst du?«

»Da rauf.«

»Ich glaube, wir sollten besser alle zusammenbleiben, bis die Rettungsmannschaften eintreffen.«

»Du weißt schon, wie in Herr der Fliegen«, fügte Chris hinzu. »Wir sollten alle zusammenbleiben.«

»Genau«, sagte Joel. »Wir müssen uns organisieren.«

Tom nickte und lächelte über Chris’ nicht sonderlich passenden Vergleich. »Organisiert euch nur. Sobald ich jemanden bei euch eintreffen sehe, bin ich wieder zurück.«

Joel nickte. Vermutlich spürte er, dass Tom ohnehin tun würde, was er wollte. »In Ordnung. Vermutlich ist es nicht schlecht, wenn du überprüfst, ob es weitere Wrackteile gibt.«

Kaum war Tom losgelaufen, da erhoben sich hinter ihm erneut die Stimmen, Joels über alle anderen hinweg laut vernehmlich.

Nach einer Weile bemerkte Tom einen Karton mit Wasserflaschen. Die tropische Hitze machte sich bereits bemerkbar, also bückte er sich, riss eine der Flaschen heraus und schob sie in seine Tasche, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Ein Stück weiter oben erreichte er den ersten offenen Container. Rucksäcke lagen auf dem Boden verstreut, ein paar befanden sich auch noch im Inneren, und ohne hinüberzugehen, erkannte er darunter auch seinen eigenen.

Er setzte den Aufstieg fort, und obwohl der Hang nicht steiler wurde, ging sein Atem bald rascher, und die hohe Luftfeuchtigkeit ließ sein T-Shirt am Körper kleben. Aufdringliche Insekten umschwirrten ihn. In wenigen Stunden wäre es hier vermutlich nicht mehr auszuhalten.

Er bemerkte ein Stück Papier auf dem Boden und bückte sich, um es aufzuheben – die Bordkarte eines gewissen Miguel Fernandez, der jetzt vermutlich tot war. Tom faltete sie und steckte sie, ohne nachzudenken, in seine Tasche, dann blickte er sich um und überlegte, warum wohl nirgendwo Leichen zu sehen waren.

Er hatte ja selbst eine Person aus ihrem Sitz fliegen und gegen das Kabinendach krachen sehen, andererseits hatte die Bruchstelle des Flugzeugrumpfs ziemlich sauber ausgesehen, und die Passagiere waren fast alle angeschnallt gewesen. Möglicherweise hatten einige von ihnen überlebt, doch Tom wagte nicht, an ein weiteres Wunder zu glauben.

Er spähte über die Schulter, überrascht, wie weit er schon gekommen war. Von diesem Punkt aus mit Blick auf das Wrack und die Menschen davor wurde ihm klar, dass so ein Unglück im Grunde keiner von ihnen hätte überleben dürfen. Dieser Absturz würde als außergewöhnlicher Glücksfall in die Bücher eingehen, ähnlich wie der Fall dieses einen Stewards, der eine Explosion in fast 10 000 Meter Höhe überlebt hatte und dann sanft in tiefem Schnee gelandet war.

Tom stapfte weiter, wobei ihm zunehmend die Geräusche seiner Umgebung bewusst wurden, die Vögel und anderen Tiere, aber in erster Linie die Insekten. Der Dschungel war voll von ihnen. Für alle diese Lebewesen hatte sich durch den Absturz nichts geändert, und früher oder später würden die Spuren des Unfalls – zuerst die Leichen, später dann die Wrackteile – wieder von dieser Wildnis verschluckt werden.

Kurz darauf erreichte er den Hügelkamm, doch der Ausblick stellte ihn wenig zufrieden. Auf dieser Seite ging es steil hinab in eine tiefe, bewaldete Schlucht, auf deren anderer Seite sich ein noch steilerer Hügel erhob. Tom warf einen raschen Blick über die Schulter auf die Landschaft hinter dem Flugzeugheck. Sie war sanft geschwungen, dicht von Dschungel überwuchert, in der Ferne lagen weitere niedrige Hügel. Ein einziges grünes Meer, so weit das Auge reichte.

Dann drehte er sich wieder zur Schlucht, und es dauerte nicht lange, bis er den vorderen Teil des Flugzeugs entdeckt hatte. Er lag so tief unten und so weit entfernt vom Hügelrücken, dass er nicht einfach den Hang hinuntergerutscht, sondern regelrecht wegkatapultiert worden sein musste, bis er, den Bauch nach oben, in der Schlucht aufgeschlagen war. Das Wrackteil wirkte flach gedrückt und zerknautscht, die Lackierung war geschwärzt, als hätte es kurz gebrannt, bevor es wieder erloschen war.

Es war schwer zu beurteilen, wie langwierig der Abstieg dorthin würde, doch er konnte bereits von hier aus beurteilen, dass dort keiner mehr am Leben war. Sie waren alle tot – Miss Graham mit ihrer Angst vor Turbulenzen, Jack Shaw mit seinen langen Beinen, Maisie McMahon mit ihren ungeklärten Gesundheitsproblemen. Ebenso Olivia, die sich über den nervigen Chris beschwert und ihm auf die Art das Leben gerettet hatte, auf Miss Grahams Kosten.

Es war etwas Wundersames an diesen zufälligen Ereignissen, die letztendlich darüber entschieden hatten, wer leben und wer sterben würde. Das galt auch für die Bewegungen des Flugzeugs – wenn es nur einen Meter weiter geflogen und dann erst auf den Kamm gekracht wäre, läge Tom jetzt dort unten in dem verkohlten Wrack bei den anderen.

Er musste an diese Familie denken, die er beim Boarding beobachtet hatte, vermutlich Costa Ricaner, mit zwei Töchtern. Eine war etwa in seinem Alter gewesen und ihm gleich aufgefallen, weil sie so hübsch war. Ihre acht- oder neunjährige Schwester hatte ein Kuscheltier umklammert gehalten.

Ohne genau zu wissen, warum, fiel es Tom schwer zu akzeptieren, dass diese beiden Mädchen jetzt tot dort unten liegen sollten. Er hatte sie nicht gekannt, hätte sie höchstwahrscheinlich auch nie wiedergesehen, trotzdem war ihr Tod für ihn viel schwerer zu fassen als der Miss Grahams oder seiner anderen Mitschüler.

Irgendwie keimte der Gedanke in ihm, die beiden könnten vielleicht gar nicht tot sein, sondern dort unten eingesperrt auf Rettung hoffen. Vielleicht musste er deshalb so stark an sie denken, hatte deswegen überhaupt den Hügel erstiegen. Vielleicht war das seine Aufgabe, und er war dazu bestimmt, sie zu finden.

Dieses Gefühl war so stark und drängend, dass er unwillkürlich einen Schritt machte, dann einen weiteren, den steilen Hang hinab, in dem Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen. Er warf noch einen letzten Blick auf das entfernte Wrack, einfach um sich die Richtung einzuprägen, doch der Anblick ließ ihn schlagartig innehalten und brachte ihn wieder zur Vernunft.

Das Wrack. Keiner war mehr am Leben darin, weder die beiden Schwestern noch Miss Graham, niemand. Diese Einsicht traf ihn beim zweiten Mal noch härter, sie erschien irgendwie noch grausamer – wie konnten all diese Menschen einfach tot sein?

Er dachte an Miss Graham, die Art, wie sie jedes Mal ermutigend gelächelt hatte, wenn jemand in der Klasse etwas vorgetragen hatte. Er dachte an die anderen Schüler, die einfach nur Gesichter für ihn gewesen waren. Sie alle waren jetzt tot.

Er wollte nicht mehr an sie denken, wollte sich nicht die letzten entsetzlichen Momente vorstellen, bevor das Rumpfteil auf den Boden der Schlucht gekracht und zermalmt worden war. Stattdessen wandte er sich ab, starrte auf die Bäume zu seiner Linken, so lange, bis ihm klar wurde, dass dort eine Leiche hing.

Sie hatte sich etwas unterhalb von Tom in den Ästen eines Baumes verfangen, trug ein kariertes blaues Hemd und hatte blonde Haare. Sofort begann Tom, die Bäume nach weiteren Toten abzusuchen, aber er konnte niemanden entdecken.

Er machte sich an den Abstieg zu dem Jungen, doch der Hang war auf dieser Seite viel steiler und dicht bewachsen. Als Tom den Baum schließlich erreichte, war er vom schummrigen Halblicht des Dschungels umgeben und konnte die Leiche über sich kaum mehr sehen. Er erkannte den Jungen dennoch – es war Charlie Stafford.

Es war unmöglich, an ihn heranzukommen, aber selbst aus dieser Entfernung verriet die merkwürdig verdrehte Haltung Charlies, dass er tot war. Und selbst wenn Tom ihn herunterschaffen könnte, würde er ihn ohne Handwerkszeug nicht begraben können.

Charlie hatte sich einmal einen Stift von Tom geliehen, danach hatte er ihn jedes Mal gegrüßt, wenn sie sich begegnet waren. Sie hatten einander im Grunde kaum gekannt, trotzdem brachte es Tom ins Grübeln, wie es sein konnte, dass Charlie jetzt da oben hing, anwesend und zugleich auch nicht, mit seinem üblichen gepflegten, gesunden Äußeren, auch wenn sein warmes Lächeln, seine sympathische Art, seine Freundlichkeit ausgelöscht waren.

Charlie war häufig in Gedanken versunken gewesen, ein Träumer, doch jetzt schien alles, was ihn einmal beschäftigt haben mochte, ohne Bedeutung. Nun dachte er an nichts mehr, würde nie wieder etwas denken, träumen oder planen, würde nie wieder ruckartig aus seiner eigenen kleinen Welt erwachen, wenn sie sich auf dem Flur begegneten, und sagen: »Hi, Tom, wie läuft’s?«

Traurig wandte Tom sich ab, stieg langsam wieder zu dem Kamm hinauf. Dort setzte er sich, blickte auf die Gruppe um das Wrack hinab, auf die von Trümmern übersäte Schneise und den sich endlos erstreckenden Dschungel dahinter. Und während seine Gedanken noch mit Charlie beschäftigt waren, fühlte er eine merkwürdige Erleichterung in sich aufsteigen, dass er nicht losgezogen war, um die beiden Schwestern zu finden.

Er griff in seine Tasche, zog die Flasche heraus und nahm einen kleinen Schluck. Das Wasser war bereits warm, trotzdem fühlte es sich unglaublich erfrischend an, wie es über seine Zunge und durch seine Kehle rann. Tom konnte sich nicht erinnern, wann ein einfacher Schluck Wasser je so gut geschmeckt hatte.

Aber es war nicht nur das Wasser. Obwohl es brennend heiß war, das Klettern ihn erschöpft und die Sicherheitsgurte schmerzende blaue Flecke hinterlassen hatten, der Anblick des Wracks und Charlies Leiche ihn verstört hatten, durchströmte ihn doch ein merkwürdiges Gefühl des Wohlbefindens und Friedens. Vielleicht war es nur eine weitere Reaktion auf den Schock, aber im Augenblick hätte er für immer zufrieden oben auf diesem Hügel hocken können.

Natürlich würde er nicht hierbleiben können. Er würde zu den anderen zurückkehren müssen, obwohl er überzeugt davon war, dass er alleine besser zurechtkommen würde, und überhaupt nicht darauf vorbereitet war, Teil einer Gruppe zu werden.

Gleichzeitig fragte Tom sich, ob die anderen bereits einen Notfallplan hatten oder überhaupt schon irgendwelche Überlegungen in dieser Richtung angestellt hatten. Vielleicht schlugen sie einfach nur die Zeit tot, bis die Rettungsmannschaften eintrafen, was aber angesichts dieser Umgebung wohl noch eine ganze Weile dauern würde.

Erneut blickte er auf seine Uhr. Ihm wurde klar, dass sie sich keinesfalls dort befanden, wo sie eigentlich sein sollten, aber dann wurde er von Vorgängen beim Wrack abgelenkt. Offenbar schwang Joel dort immer noch große Reden, während die anderen alle um ihn herumstanden. Alle, bis auf eine Person. Sie hatte sich von der Gruppe gelöst und stapfte jetzt den Hügel hinauf, in Toms Richtung.

Sie blieb an der gleichen Stelle stehen wie er vorhin, schnappte sich ebenfalls eine Wasserflasche, dann setzte sie ihren Weg zu ihm hinauf fort. Es war Alice Dysart, die in der Highschool exakt dieselben Kurse besuchte wie er, auch wenn er vermutlich nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Tom fragte sich, ob sie aus eigenen Stücken hier hochkam oder ob Joel sie losgeschickt hatte, um ihn zurückzuholen. Für Menschen, die Herr der Fliegen für einen Überlebensratgeber hielten, war es offenbar von entscheidender Bedeutung, dass alle eng zusammenblieben …