Vom Glück der Dummheit
Gedanken zur intellektuellen Minderleistung
Robert Musil
Johann Eduard Erdmann
Jacob und Wilhelm Grimm
„… einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen …“
Immanuel Kant, 1781
Robert Musil wurde am 6. November 1880 in St. Ruprecht in der Nähe von Klagenfurt in Österreich geboren. Sein Vater war der Ingenieur und Hochschulprofessor Alfred Musil, seine Mutter Hermine die Tochter des Eisenbahnpioniers Franz Xaver Bergauer. Die Familie zog mehrmals um, ab 1891 besuchte Musil die Volksschule in Brünn im heutigen Tschechien, von 1894 bis 1897 Musil die Militärrealschule in Eisenach und in Mährisch Weißkirchen. Die anschließend in Wien begonnene Offiziersausbildung brach er bereits nach wenigen Monaten ab.
1898 nahm Robert Musil ein Maschinenbaustudium an der Deutschen Technischen Hochschule Brünn auf. Er war sportlich sehr aktiv und engagierte sich außerdem in einer Reihe von Klubs und Vereinen, unter anderem auch dem Deutsch-Akademischen Leseverein. Einen starken Eindruck auf Musil übten in dieser Zeit Friedrich Nietzsche, der amerikanische Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emersons sowie der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck aus.
Nachdem Musil seine Ingenieurprüfung bestanden hatte, leistete er einen einjährigen freiwilligen Militärdienst ab und machte ein Praktikum als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Stuttgart. Da sich seine Interessen mittlerweile weiterentwickelt hatten, ging Musil anschließend nach Berlin und begann, Psychologie und Philosophie zu studieren. Hier wurde er mit der Experimentalpsychologie Carl Stumpfs und dem Werk des Physikers und Wissenschaftstheoretikers Ernst Mach bekannt, die ihn beide stark beeinflussten.
1906 veröffentlichte Musil seinen ersten Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, der autobiografische Elemente aufweist. Das Buch fand von Anfang an großen Zuspruch und öffnete Musil viele Türen. 1908 promovierte Musil bei Carl Stump mit einer Dissertation über die Lehren Ernst Machs. Er entschloss sich zu einer Existenz als Schriftsteller, an die Erfolge von „Törless“ anzuknüpfen, gelang ihm jedoch nicht. 1910 zog Musil nach Wien und arbeitete zunächst als Bibliothekar und später für die Presse. Am 15. April 1911 heiratete er Martha Marcovaldi, geborene Heimann.
Im Ersten Weltkrieg wurde Musil als Reserveoffizier eingesetzt. Nachdem er aus dem Militärdienst entlassen worden war, arbeitete er für mehrere Zeitungen. Zwischen den Weltkriegen führte Musil ein unruhiges Leben. Allerdings gelang es ihm, zahlreiche seiner heute erhaltenen schriftstellerischen Werke und Theaterstücke zu verfassen. Seine finanzielle Situation war dennoch zeitweise prekär. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 war Musil zunächst bemüht, sich unauffällig zu verhalten, ohnehin hatte er sich politisch nie sonderlich engagiert.
1936 erlitt Musil einen Schlaganfall, der ihn erheblich einschränkte. Nachdem er bei den Nationalsozialisten in Ungnade gefallen war und außerdem 1938 Österreich Deutschland beigetreten war, gingen Robert und Martha Musil ins Exil in die Schweiz, wo sie zunächst in Zürich, dann in die Nähe von Genf lebten. 1942 erlitt Robert Musil einen weiteren Schlaganfall, an dem er am 15. April verstarb. Seine Frau Martha verstreute seine Asche am Fuße des im benachbarten Frankreich liegenden Mont Salève.
Johann Eduard Erdmann war ein deutscher Theologe, Religionsphilosoph und Philosophiehistoriker, der zu den Althegelianern gezählt wird. Erdmann wurde am 13. Juni 1805 in Wolmar im heutigen Lettland geboren. Sein Vater war der Wolmarer Pfarrer Wilhelm Erdmann, seine Mutter die Arzttochter Elisabeth Dorothea.
Nach dem Besuch des Gymnasiums von 1820 bis 1823 studierte Erdmann zunächst Theologie in Dorpat (heute Tartu; Estland), 1926 wechselte er nach Berlin, wo er auch begann, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Hier lernte Erdmann das Werk von Georg Wilhelm Friedrich Hegel kennen, und kam bald, und zu Recht, in den Ruf, nie eine Vorlesung zu verpassen.
Nach dem Studium war Erdmann zunächst als Pastor in seiner Heimatstadt tätig, er entschied sich aber schon bald, sein Leben der Philosophie zu widmen. Er lehrte zunächst in Kiel, dann wechselte er nach Berlin, 1934 wurde Erdmann hier zum Dr. phil. promoviert, 1836 folgte die Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Halle, 1839 zum ordentlichen Professor.
Erdmann verfasste zahlreiche Bücher, die in teilweise sehr hoher Auflage gedruckt wurden. Er galt als begnadeter Redner, seine Vorlesungen waren überaus beliebt. Hegels Auffassung von einem zielgerichteten Ablauf geschichtlicher Vorgänge teilt Erdmann nicht. Er sieht Philosophie als Geschichte philosophischer Systembildungen, was er in seinen entsprechenden Werken, vor allem dem „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ von 1865 und dem „Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie“ (3 Bände, 1834 bis 1853) ausführlich darlegt und begründet.
Johann Eduard Erdmann starb am 12. Juni 1892 in Halle an der Saale.
Jacob und Wilhelm Grimm wurden 1785 beziehungsweise 1786 in Hanau geboren. Nachdem sie ihre Jugend im hessischen Steinau an der Straße verbracht hatten, besuchten sie das Friedrichsgymnasium in Kassel. Später nahmen sie in Marburg das Studium der Rechtswissenschaften auf.
Bereits während des Studiums beschäftigten sie sich mit Literaturgeschichte und schafften so die Grundlage für die spätere Sammlung von Märchen und Sagen, die heute als ihr Hauptwerk bekannt ist. Die beiden Bände der Kinder- und Hausmärchen wurden erstmals 1812 beziehungsweise 1815 veröffentlicht.
Wilhelm Grimm verstarb 1859, sein Bruder Jacob im Jahr 1863.
„… und wirklich wird die Seele vieler Völker und Staaten heute von Gefühlen beherrscht, unter denen unleugbar die Eitelkeit einen vordersten Platz einnimmt; zwischen Dummheit und Eitelkeit besteht aber seit alters eine innige Beziehung, und vielleicht gibt sie einen Fingerzeig. Ein dummer Mensch wirkt gewöhnlich schon darum eitel, weil ihm die Klugheit fehlt, es zu verbergen ...“
Was ist Dummheit? Was ist ihr Wesen, was zeichnet sie aus? Bedeutet „dumm“ zu sein, dass von etwas zu wenig da ist, dass also derjenige, dem es an diesem Etwas mangelt, an einem Handicap leidet, so dass gegebenenfalls therapierende oder inkludierende Maßnahmen in Erwägung gezogen werden müssen? Oder stellt die „intellektuelle Minderleistung“, als welche Dummheit heute wertneutral definiert wird, womöglich gar keine solche dar, sondern vielmehr lediglich eine Spielart im Rahmen der Vielfalt der menschlichen Natur? Ist sie mithin nur eine normale Eigenschaft wie Ausgeglichenheit, Geschwätzigkeit, Sportlichkeit oder Appetitlosigkeit?
Die Frage beschäftigt die Menschheit schon seit Anbeginn der Zeit. Klare Worte, zumindest scheint es auf den ersten Blick, findet die Schrift der Schriften, so heißt es im Matthäusevangelium (Mt 5,3): „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Die Dummen wären demnach im Vorteil – zumindest solange der Herr im Himmel und das in seinem Verwaltungsbereich liegende Paradies im Spiel sind.
Allerdings haben die theologischen Exegeten auch in diesem Fall eine hohe Flexibilität an den Tag gelegt, so dass von diesem Satz, je nach Ausgabe, Interpretations- und Übersetzungsversion der Heiligen Schrift auch stark abweichende Auslegungen im Umlauf sind. Natürlich sollten die mentalen Fähigkeiten der Gläubigen nicht gleich, wie es der russische Anarchist Michail Bakunin (1814-1876) tat, abschlägig beurteilt werden („Es gibt leider eine viel zu große Zahl ganz dummer Menschen, die bis zum Idiotentum dumm sind.“), dennoch bleibt resümierend festzustellen, dass Gottes Wort nur scheinbar zur Erleuchtung verhilft.
Lässt sich „dumm“ dann als Maß auf einer Skala verstehen, so wie es bei groß und klein, schwarz und weiß, männlich und weiblich möglich ist, also gewissermaßen als irgendetwas zwischen Genie und hirntot? In dem Sinn, dass das Leben genauso selbstverständlich wie Mittelmaß eben auch an den äußersten Ende von Beurteilungsmaßstäben zu verortende Ergebnisse hervorbringen kann? Wer die Angelegenheit fern aller Spekulationen für sich klären möchte, dem muss geraten werden, Gedanken kluger Menschen zur Hilfe zu nehmen, die sich mit diesem Thema vertiefend beschäftigt haben.
Einer davon ist der österreichische Schriftsteller Robert Musil, dem selbst ein gewisses Genie nachgesagt wird. Auch Musil freilich musste eingestehen, dass das Wesen der Dummheit nicht leicht zu fassen ist, in seiner Rede „Über die Dummheit“, die er am 11. März 1937 in Wien hielt, bringt er es auf den Punkt, „... dass etwas dumm sein kann, aber es nicht sein muss, dass die Bedeutung mit der Verbindung wechselt, in der etwas auftritt, und dass die Dummheit dicht verwoben mit anderem ist, ohne dass irgendwo der Faden hervorstünde, der das Gewebe in einem Zug auftrennen lässt.“
Den Einstieg in diesem Band bildet die Rede, die Johann Eduard Erdmann, in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts Professor für Philosophie in Halle, am 24. März 1866 im wissenschaftlichen Verein zu Berlin hielt, und die Musil stark beeindruckt und inspiriert hatte, über das Phänomen der intellektuellen Minderleistung nachzudenken. Erdmann sieht einen wesentlichen Aspekt der Dummheit, banal wie wahr, in einer ausgeprägten geistigen Unbeweglichkeit, der Dumme wäre demnach außerstande, sich über einen einmal eingenommenen Standpunkt hinauszuentwickeln, mithin: dazuzulernen.
Von der Ansicht Immanuel Kants lag der Hegelianer Erdmann damit nicht weit entfernt, allerdings hatte der Verfasser der „Kritik der reinen Vernunft“ diese Sicht der Dummheit im zweiten Kapitel derselben noch erweitert, nämlich als auch auf gebildetere Stände anwendbar: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jener (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.“
Schicksal scheint sie also zu sein, die Dummheit, doch keineswegs in dem Sinne, dass der von ihr Geschlagene zu einem traurigen Dasein fernab allen Glücks verdammt ist. Dies zeigt sich bei den Brüdern Grimm, den großen Sammlern alter Geschichten, Märchen und Volksweisheiten, immer wieder: In deren Kinder- und Hausmärchen nämlich tummeln sich nicht nur vielerlei verzaubertes Getier, Teufel, Hexen und Prinzessinnen, sondern auch vom Allmächtigen mit nur geringer Geistesstärke ausgestattete Gestalten aller Art.
Dass diesen durchaus ein zufriedenes und erfülltes Leben offenstehen kann, zeigt sich am deutlichsten in dem Märchen, das ganz passend den Titel „Hans im Glück“ trägt, und das nicht umsonst eine der beliebtesten Geschichten der Brüder Grimm darstellt. Es wurde den eher anspruchsvollen, vorangehenden Texten in diesem Band als Gegenpol beigefügt, quasi als Gutenachtgeschichte. Für all jene, die sich in den Reflexionen zur Dummheit bisweilen in beunruhigender Weise selbst wiederzuerkennen glauben, gibt es als Trost zusätzlich noch ein paar Fallbeispiele von Stilblüten, die bekanntlich auch reichen, berühmten und einflussreichen Menschen immer mal wieder unterlaufen.
Wie bei allen Werken der ofd edition wurden hier keine automatisiert kopierten Versionen der Druckfassungen verarbeitet. Die vorliegenden Texte wurden vielmehr sorgfältig neu überarbeitet und der aktuellen Rechtschreibung angepasst – die bessere Lesbarkeit steigert den Genuss bei der Lektüre erheblich.
Hohe Versammlung!