Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7104-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5351-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2012
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: A dream to call my own
© Copyright der Originalausgabe 2009 by Tracie Peterson
Published in English by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
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Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg




Für Brian,
der liebt und vergibt

Und in liebender Erinnerung an meine Mutter und treueste Leserin
Loretta »Lori« Theisen
Juni 1940 – August 2010




Wenn die Menschen einander ihre Fehler vergeben,
öffnen sie sich die Tore zum Paradies.

William Blake



Das Tor zum Leben dagegen ist eng und der Weg dorthin ist schmal,
deshalb finden ihn nur wenige.

Jesus Christus

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Nachwort der Autorin

Über die Autorin

Anmerkungen

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Wo sie untergebracht werden konnte, wurde zum Gegenstand äußerst trauriger und folgenschwerer Beratungen.

Jane Austen, Mansfield Park

September 1813

Das ist also das Ende des Lebens, wie ich es bisher gekannt habe, dachte Mariah Aubrey und blickte aus dem Fenster der Kutsche auf die Gestalten ihrer Mutter und ihrer Schwester, die rasch kleiner wurden. Die neunzehnjährige Julia stand vorn, ihre Schultern zuckten unter heftigem Schluchzen. Der Anblick brach Mariah fast das Herz. Halb hinter Julia verborgen war ihre Mutter, die Hand auf dem Arm ihrer jüngeren Tochter – um sie zu trösten, weil sie mit ihr litt, aber vielleicht auch, um sie zurückzuhalten. Soeben kam auch ihr Vater die Stufen von Attwood Park herunter. Er hatte sich nicht von ihr verabschiedet. Er sei unter keinen Umständen bereit, so hatte er gesagt, »das Laster gutzuheißen oder ihre Schande zu mildern«. Jetzt trat er zwischen seine Frau und seine jüngere Tochter, legte beiden einen Arm um die Schultern, drehte sie um und führte sie ins Haus zurück – in das Haus, das bis jetzt auch Mariahs Zuhause gewesen war. Und das sie vielleicht niemals wiedersehen würde.

Mariah wandte sich vom Fenster ab. Miss Dixon, die ihr gegenübersaß, schlug rasch den Blick nieder und beschäftigte sich intensiv mit ihrem Pompadour, als hätte sie Mariahs Tränen nicht gesehen.

Mariah biss sich auf die Lippen, damit sie aufhörten zu zittern. Sie sah wieder aus dem Fenster, obwohl sie wusste, dass der Anblick sie nur traurig stimmen würde. Doch dann nahm sie die vorüberziehende Landschaft kaum mehr wahr, während ihr wieder die Ereignisse des letzten Monats durch den Kopf gingen. Sie stöhnte leise auf, doch die herzzerreißenden Szenen vor ihrem inneren Auge änderten sich nicht und verschwanden auch nicht.

»Wir haben eine lange Reise vor uns, Miss Mariah«, sagte Dixon. »Möchten Sie nicht versuchen, ein wenig zu schlafen? Die Zeit vergeht dann viel schneller.«

Mariah rang sich ein Lächeln ab und nickte. Gehorsam schloss sie die Augen. Sie bezweifelte zwar, dass sie schlafen konnte, doch mit geschlossenen Augen sah sie wenigstens das Mitleid im Gesicht der einzigen Freundin, die sie auf der Welt noch hatte, nicht mehr.

Die Reise dauerte zwei Tage. Sie machten mehrmals halt, um die Pferde zu wechseln, sich ein wenig die Beine zu vertreten und eine eilige Mahlzeit einzunehmen. Gegen Ende des zweiten Tages fiel Mariah endlich in einen Schlaf der Erschöpfung, nur um gleich wieder hochzuschrecken, als die Mietkutsche plötzlich heftig schlingerte, sodass sie schmerzhaft gegen das Seitenfenster geschleudert wurde.

»Was ist passiert?«, fragte sie und rappelte sich auf.

Dixon rückte den Hut zurecht, der auf ihrem mit Silberfäden durchzogenem Haar thronte. »Ich glaube, der Fahrer ist einem Lamm ausgewichen.« Sie blickte aus dem Fenster auf das Weideland, das sich vor ihren Augen in alle Richtungen erstreckte. »Wir befinden uns ganz unbestreitbar im Schaf-Land.«

Mariah rieb sich die lädierte Schulter und sah ebenfalls aus dem Fenster, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Auf der einen Seite schlängelte sich ein ruhig dahinfließendes, in der Sonne glitzerndes Flüsschen, auf der anderen lag ein von sanften Hügeln durchzogenes Tal, gesprenkelt mit weißgesichtigen Schafen und schon fast ausgewachsenen Lämmern. Unmittelbar vor ihnen machte der Fluss eine scharfe Biegung. Sie überquerten ihn auf einer Steinbrücke und fuhren an ein paar roten Ziegelhäuschen vorüber, die an seinem Ufer standen. Dann gelangten sie in ein Dorf mit Häusern aus hellem Sandstein, einem Gasthaus, einer Apotheke, einem Steinmetz und einer Pfarrkirche mit Türmchen, alle um einen dreieckigen, begrünten Platz gelegen.

»Ist das Whitmore?«, fragte Mariah.

»Ich hoffe es von ganzem Herzen«, seufzte Dixon. »Meine armen Knochen haben entschieden genug von diesen ungefederten Sitzen.« Mariahs ehemaliges Kindermädchen war noch keine fünfzig, doch das Jammern beherrschte sie bereits wie eine sehr viel ältere Frau.

Sie ließen das Dörfchen hinter sich. Wenige Minuten später bog die Kutsche plötzlich scharf ab. Mariah sah gerade noch rechtzeitig auf, um einen Blick auf den imposanten Eingang zu einem Landgut zu erhaschen, dessen hohe Mauer von einem geöffneten Säulentor durchbrochen war.

Dixon lehnte sich aus dem Fenster wie eine Topfpflanze, die zum Licht strebt. »Wo ist das Torhaus?«

»Dies muss der Haupteingang sein«, meinte Mariah und zitierte damit die Ausführungen aus dem Brief ihrer Tante. »Das Torhaus steht an einem anderen Eingang, der nicht mehr benützt wird.«

Mariah konnte noch immer kaum fassen, dass sie jetzt ganz allein, ganz auf sich gestellt leben sollte. Miss Dixon würde fortan ihre einzige Gesellschaft sein. Ihr Vater war unerbittlich gewesen. Selbst wenn kein anderes junges Mädchen im Haus gelebt hätte, deren Unschuld durch Mariahs bedenklichen Charakter in Gefahr war, wäre er nicht bereit gewesen, seine Nachbarn vor den Kopf zu stoßen, indem er ihr weiterhin Obdach bot. Wie weh hatten ihr seine Worte getan und wie sehr schmerzten sie sie noch immer!

Die Kutsche passierte das Tor und folgte dann einer Auffahrt, die in langen, sanften Bögen durch eine wunderschön gestaltete Parklandschaft führte – mit sauber geschnittenen Hecken und einem gepflegten Rosengarten rund um einen Teich, dessen Oberfläche im Sonnenlicht wie ein Spiegel schimmerte. Am Ende der geschwungenen Auffahrt stand das imposante, aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Windrush Court. Das Herrenhaus aus hellem, fast goldfarbenem Sandstein war zweieinhalb Stockwerke hoch. In dem grauen Schieferdach waren Mansardenfenster eingelassen. Im Erdgeschoss und im ersten Stock glitzerten lange Reihen hoher, zweiflügeliger Fenster.

Die Kutsche hielt vor dem Herrenhaus und schwankte, als der Stallbursche heruntersprang, um das Treppchen zum Aussteigen auszuklappen. Doch da ging auch schon die Vordertür des Hauses auf und aus dem Säulenportal trat nicht ihre Tante, sondern eine etwas absonderliche Gestalt. Es war ein Mann Ende fünfzig, doch weder in der Livree eines Butlers noch mit dem vornehmen Gebaren eines solchen, sondern in einem schlicht geschnittenen Anzug aus dunklem Tuch. Seine Haltung hatte etwas Unnatürliches; es hatte den Anschein, als sei die eine Schulter ein Stückchen höher als die andere.

Der Stallbursche öffnete die Wagentür, doch der Mann im dunklen Anzug trat näher und hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Halt. Einen Augenblick.« Steif verbeugte er sich vor Mariah. »Jeremiah Martin.« Dann hob er den Kopf, der bis auf einen Kranz silbergrauen Haares kahl war. »Sind Sie Miss Aubrey?«

»Ja. Erwartet meine Tante mich denn nicht?«

»Doch. Aber ich habe den Auftrag, Sie zum Torhaus zu begleiten.«

»Danke.« Mariah zögerte. »Darf ich Mrs Prin-Hallsey vielleicht zuvor noch begrüßen?«

»Nein, Madam. Ich soll Sie direkt ins Torhaus bringen.«

Ihre Tante, die ihr Zuflucht gewährt hatte, einen Ort, an dem sie nun wohnen konnte, wollte sie nicht persönlich empfangen? Mariah blickte zu Dixon hinüber, um zu sehen, wie diese Frau, die normalerweise ihr feste Meinung zu allem und jedem hatte, auf diesen Affront reagierte, doch Dixon nahm sie gar nicht wahr. Sie starrte auf den Mann – oder vielmehr auf den Haken, der dort zu sehen war, wo eigentlich seine linke Hand hätte sein sollen.

»Ich verstehe.« Mariah hoffte, ihre Enttäuschung und Verlegenheit hinter einem steifen Lächeln verbergen zu können.

Die blauen Augen des Mannes hielten die ihren einen Augenblick fest und wandten sich dann ab. »Ich klettere zum Kutscher auf den Sitz. Windrush Court ist recht weitläufig.«

Einen Augenblick später setzte sich die Kutsche, heftig schwankend, erneut in Bewegung und fuhr die geschwungene Auffahrt auf der anderen Seite wieder hinunter.

Mariah blickte noch einmal zum Haus zurück. An einem der Fenster im ersten Stock teilten sich kurz die Vorhänge, schlossen sich aber gleich darauf wieder. Dann bog die Kutsche nach rechts ab, weg vom Herrenhaus, und tauchte in ein Wäldchen aus Redwood- und Kastanienbäumen ein.

Während sie den Weg entlangrumpelten, versuchte Mariah die Kränkung darüber, dass ihre Tante sie nicht wenigstens begrüßt hatte, hinunterzuschlucken. Als Tante Fran Mariahs Onkel geheiratet hatte, hatte sie anfangs ein gewisses Interesse an ihrer Nichte gezeigt und sie sogar mehrmals zu sich eingeladen. Obschon man sie nicht unbedingt als warmherzig bezeichnen konnte, war sie doch immer sehr freundlich zu der kleinen Mariah gewesen. Das machte die jetzige Zurückweisung umso schmerzlicher.

Impulsiv griff Mariah nach der Hand ihrer Begleiterin und drückte sie fest. »Danke, dass du mit mir gekommen bist.«

Dixon erwiderte den Druck. Ihre blauen Augen glänzten von ungeweinten Tränen. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?«

Die Kutsche passierte ein Gärtnerhäuschen, vor dem eine Schubkarre, bepflanzt mit Chrysanthemen, stand. Neben dem Cottage befand sich ein Treibhaus aus Glas. Es folgte eine Schreinerei, erkennbar an langen, schmalen, auf Sägeböcken gestapelten Brettern. Ein dünner Mann in mittlerem Alter war über die Bretter gebeugt. Er tippte grüßend an die Mütze, als sie vorbeifuhren.

Dann wurden die Bäume dichter und der Weg verengte sich. Gras und Unkraut wucherten in die ehemals sicher sehr gepflegte Auffahrt hinein. Mariah reckte den Hals und versuchte, durch die Bäume zu spähen, um einen Blick auf das Torhaus zu erhaschen.

Da war es.

Hoch und schmal, erbaut aus karamellfarbenem Cotswold-Stein. Gar nicht so übel, dachte Mariah. Das Torhaus wirkte wie die Miniaturausgabe eines zweistöckigen Schlosses. Es stand neben einem Bogentor, flankiert von zwei runden Türmchen, die etwa ein Stockwerk höher waren als das Haus selbst. Auf der dem Torhaus gegenüberliegenden Seite machte die hohe Mauer, die das gesamte Anwesen umgab, einen Bogen und verschwand zwischen den Bäumen.

Die Kutsche hielt an, der Stallbursche sprang wieder vom Wagen und öffnete die Tür. Diesmal hatte Mr Martin nichts dagegen, dass sie ausstiegen. Vielmehr schien der Abstieg vom Kutschbock seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.

Mariah betrachtete das große Tor mit dem filigranen Gitterwerk und den Spitzen aus stabilen Eisenstäben. Ganz eindeutig war dies früher einer der Haupteingänge zum Grundstück gewesen. Jetzt hatte man es mit einer schweren Kette und einem verrosteten Schloss gesichert.

Auf den zweiten Blick machte das Torhaus einen eher heruntergekommenen Eindruck. Die Mauern waren mürbe, die Fenster schmutzig, die Scheiben zum Teil gesprungen. Der kleine Garten erstickte im Unkraut. Die Nebengebäude – ein kleiner Stall und ein Holzschuppen – befanden sich im Zustand der Auflösung. An einem Baum hing eine Schaukel, deren hölzerner Sitz zerbrochen war.

Mariah blickte zu Dixon hinüber, die jedoch schon wieder Mr Martin anstarrte. Er war neben ihnen stehen geblieben und nestelte gerade einen Schlüsselbund aus seiner Tasche. Dixon drückte sich ohne jedes Zartgefühl ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase. Der Angestellte verströmte tatsächlich einen penetranten Geruch. Er roch allerdings nicht ungewaschen, überlegte Mariah, sondern nach etwas anderem, Undefinierbarem. Was es auch war, Dixon schien es zu missbilligen.

Martin sah Mariah an und sagte streng: »Das Tor muss geschlossen bleiben, es sei denn im Brandfall oder einem anderen Notfall.«

»Darf ich fragen, warum?«, antwortete Mariah neugierig.

Er hob seine normal hohe rechte Schulter zu einem Achselzucken, bei dem daraufhin beide Schultern angehoben wurden. »Es wird seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Seit die Straße vor dem Haupttor zur Mautstraße wurde.«

Die Antwort erklärte zwar nicht ganz, warum dieses Tor geschlossen bleiben musste, doch Mariah forschte nicht weiter.

Mr Martin schloss die Haustür auf und öffnete sie weit. Dann reichte er ihr die Schlüssel. Gespannt betrat Mariah ihr neues Heim.

In der kleinen Küche empfing sie der süßliche Geruch modriger Feuchtigkeit und abgestandener Luft. Tisch und Arbeitsfläche trugen eine dicke Staubschicht. Dixon hob einen alten Korb an, der umgedreht auf einem Regal stand. Darunter lag eine Ansammlung fenchelsamenähnlicher Mäuseköttel. Sie rümpfte angewidert die schmale Nase.

Mariah ging aus der Küche in den Salon, der zur Frontseite des Torhauses hinausging. Als sie das Zimmer betrat, huschte etwas an ihr vorbei. Ein durchgesessenes Sofa und ein Schaukelstuhl waren zum Schutz vor dem Staub in große weiße Tücher gehüllt. Die Wand zwischen den Bogenfenstern wurde von Wasserflecken geziert, doch das Dach schien dicht zu sein. Die mottenzerfressenen Vorhänge gehörten eigentlich abgenommen und durch neue ersetzt, aber vielleicht gelang es ihnen, sie noch einmal zu waschen und zu flicken. Mariah seufzte. Es gab so viel zu tun und ihre Mittel waren äußerst beschränkt.

Mr Martin bat den Kutscher und den Stallburschen, ihre Koffer und Taschen aus dem Wagen zu holen und hereinzutragen, bot jedoch seinerseits keine Hilfe an. Vielleicht konnte er es nicht, mit dem Haken anstelle seiner Hand. Aber vielleicht hielt er die seltsame junge Frau, eine entfernte Verwandte seiner Herrin, auch einfach nicht der Mühe wert.

Dixon überwachte den Transport zweier Kisten mit Lebensmitteln und Haushaltsgeräten in die Küche, in die so gut wie kein Tageslicht fiel. Eine Kiste mit Büchern und Tischwäsche wurde im Salon abgestellt, die Koffer brachten die Diener nach oben.

Dixon und Mariah stiegen hinter den Männern die schmale Stiege in den ersten Stock hinauf. Das Treppengeländer war wackelig. Oben befanden sich, am Ende eines schmalen Flurs, zwei Schlafzimmer mit einem kleinen Wohnzimmer dazwischen.

»Welches möchtest du haben, Dixon?«, fragte Mariah, erleichtert, dass die Zimmer bewohnbar wirkten.

»Sie sollten natürlich das Größere nehmen.« Dixon blieb vor dem Fenster des größeren Schlafzimmers stehen, von dem aus man auf die Straße und den dahinterliegenden Wald blickte. Über den Wipfeln erhob sich das Dach eines festen, kastenartigen Gebäudes, aus dem drei große schwarze Schornsteine emporragten, die eine dreigeteilte, rußig-graue Säule schwarzen Kohlenstaubs in die Luft bliesen.

»Nicht gerade das, was man eine schöne Aussicht nennt, fürchte ich. Wenn Sie lieber das andere Zimmer möchten, habe ich nichts dagegen.«

»Nein, ich nehme dieses, Dixon. Danke. Was sich wohl in dem Gebäude befindet?«

»Ich weiß es nicht. Aber bei etwas stärkerem Wind werden wir hier ständig den Ruß im ganzen Haus haben.« Sie drehte sich um. »Nun, das Beste wird sein, wenn wir uns an die Arbeit machen. Das Haus wird sich kaum von selbst putzen.«

Mehrere Tage lang waren Mariah und Dixon damit beschäftigt, das Torhaus vom Fußboden bis zur Decke, vom Keller bis zum Dachboden zu säubern und zu lüften. Dabei mussten sie mehrere Geschöpfe ausquartieren, die sich in den Kaminen einquartiert hatten, und ganze Berge ihrer Hinterlassenschaften wegwischen. Das war denn auch der einzige Grund, warum Dixon nicht protestierte, als Mariah vorschlug, die Katze zu adoptieren, die ihnen auf Schritt und Tritt folgte, während sie unentwegt aus- und eingingen, schmutzige Vorhänge nach draußen trugen, um sie dort auszukochen, und ganze Abfallberge aus dem Haus schafften, um sie zu verbrennen.

Am vierten Tag nach ihrer Ankunft rief Dixon plötzlich: »Miss Mariah! Da kommt eine Kutsche!«

Mariahs Herz geriet ins Stolpern. Eine Kutsche aus dem Innern des umzäunten Anwesens. Wer mochte das sein? Sie eilte zum Küchenfenster, schaute aus dem Fenster und sah eine große Reisekutsche, die von einem Paar wunderschöner, farblich zusammenpassender Füchse gezogen wurde. Ein livrierter Lakai kletterte herunter, öffnete die Wagentür und reichte der Insassin die Hand.

Da war sie. Ihre Tante, die ehemalige Francesca Norris, jetzige Mrs Prin-Hallsey.

Ihr Haar war anders, als Mariah es in Erinnerung hatte – kaninchenpelzgrau, gelockt und zu einer eleganten Hochsteckfrisur aufgetürmt, mit langen Korkenzieherlocken, die ihr über eine Schulter fielen. Zweifellos eine Perücke. Tante Norris hatte nie so dickes Haar gehabt; außerdem war ihre eigene Haarfarbe ein rötliches Braun gewesen. Das Gesicht ihrer Tante war ganz leicht gepudert, doch ihre Brauen und Wimpern waren dunkel, sodass ihre braunen Augen unverhältnismäßig groß wirkten und ihr ein rehäugiges Aussehen verliehen. Sie trug ein burgunderfarbenes Tageskleid mit silbernem Besatz und einem hochgeschlossenen Spitzenkragen. Dabei hielt sie sich sehr aufrecht und schritt jetzt geradezu königlich-maßvollen Schritts auf die Tür zu. Mariah beeilte sich, um sie zu öffnen, doch Dixon hielt sie fest.

»Wenn Sie gestatten, Miss«, sagte sie mit ihrer respektvollsten Stimme und nahm Mariah die Haube vom Kopf. Mariah band sich noch rasch die Schürze ab.

Dixon öffnete die Tür, bevor Mariah den Salon erreicht hatte. So stand sie noch in der Küche, als ihre Tante den niedrigen Raum betrat, als gehörte ihr das Haus – was, wie Mariah dachte, in gewisser Weise ja auch stimmte.

»Tante … ich meine, Mrs Prin-Hallsey. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Mariah warf ihre Schürze auf den Tisch und knickste.

»Meinst du das ehrlich?«

»Natürlich. Vielleicht nicht … nicht gerade die Umstände, aber ja, ich freue mich, Sie zu sehen.«

Ein Lächeln ließ die schmalen Lippen der Frau noch dünner erscheinen. Sie neigte gnädig den Kopf und folgte Mariah in den Salon.

Das Angebot ihrer Nichte, sich zu setzen, lehnte sie ab. »Ich kann nicht lange bleiben.« Die großen Augen erforschten Mariahs Gesicht. »Wie alt bist du jetzt, Mariah? Einundzwanzig?«

»Vierundzwanzig.« Die dunklen Brauen hoben sich. »Ach, wirklich? Nun gut. Ich werde jetzt nicht sagen, wie viel älter du seit unserer letzten Begegnung aussiehst, weil mir das gleiche Kompliment aus deinem Mund alles andere als erwünscht wäre. Ich stelle nur fest, dass du gut aussiehst.«

»Danke. Sie ebenfalls.«

Ihre Tante nickte. »Und wie lebst du dich ein?«

»Sehr gut«, sagte Mariah. »Ich weiß Ihr Angebot, hier wohnen zu dürfen, sehr zu schätzen.«

Mrs Prin-Hallsey winkte ab. »Es tut mir leid, dass ich dich bei deiner Ankunft nicht begrüßen konnte. Hugh … ich meine, ich war indisponiert.« Sie deutete durch die offene Küchentür auf zwei Lakaien, die draußen warteten. »Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht.«

Die livrierten jungen Männer traten ein. Der erste trug eine schön verzierte, rechteckige Truhe.

»Das ist eine Truhe, die ich selbst mit nach Windrush Court gebracht habe. Sie enthält nur ein paar persönliche Besitztümer. Es wäre mir lieb, wenn ich sie für's Erste in deine Obhut geben könnte. Mein Verhältnis zu Hugh, dem Sohn meines verstorbenen Mannes, ist, gelinde gesagt, schwierig. Das verstehst du sicher.«

Mariah verstand nichts, nickte aber.

Dann bedeutete Mrs Prin-Hallsey mit einer zarten, behandschuhten Hand dem zweiten Lakai vorzutreten.

»Und hier sind ein paar Sachen für dich.« Ihre Tante begann, Gegenstände aus dem Korb zu nehmen, den der junge Mann ihr hinhielt. »Dieser Kerzenleuchter hat meiner Großmutter gehört.« Sie hob ein Päckchen mit Bindfaden umwickelter Kerzen hoch. »Und ein Dutzend Wachskerzen dazu. Hier ist eine Dose Kaffee und eine mit Tee. Die Köchin hat eine Auswahl von Keksen dazugelegt.« Mit einer Handbewegung gab sie dem Lakaien zu verstehen, dass er den Korb Mariah geben sollte.

»Darf ich die Truhe auf den Dachboden bringen lassen?«, fragte Mrs Prin-Hallsey dann. »Der Mauerturm hat doch einen Dachboden, wenn ich mich recht erinnere?«

»Ja, gern«, antwortete Mariah, obwohl die Frage eindeutig rhetorisch gewesen war. Sie fragte sich, woher ihre Tante von dem Dachboden wusste. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, was sie bewogen haben mochte, schon früher irgendwann einmal das seit Langem leer stehende Torhaus aufzusuchen.

Der junge Diener, der die Truhe trug, ging zur Treppe.

»Hast du vielleicht noch etwas, das meine Bediensteten dir hinauftragen können, wo wir schon einmal hier sind?«

Mariah nickte rasch. »Im Flur im ersten Stock stehen zwei große Koffer, fast leer – die müssen auf den Dachboden.«

»Sehr schön.« Mrs Prin-Hallsey nickte dem zweiten Diener zu. Er folgte dem ersten.

Mariah war etwas unbehaglich bei dem Gedanken, dass fremde Menschen sich völlig frei in dem Haus bewegten, das so plötzlich ihr Zuhause geworden war. Trotzdem lächelte sie Mrs Prin-Hallsey an. »Danke, Tante Fran.« Die alte Anrede war ihr entschlüpft, ehe sie sich's versah.

Die Augen der Frau wurden womöglich noch größer. »Den Namen habe ich seit Jahren nicht mehr gehört – und auch nicht vermisst. Du kannst mich …«, sie zögerte, »Tante Francesca nennen. Oder Mrs Prin-Hallsey, wenn du das vorziehst.«

»Natürlich. Entschuldigung.« Mariah fühlte sich ein bisschen zu Unrecht zurechtgewiesen, denn früher hatte ihre Tante nie etwas gegen den Namen einzuwenden gehabt. »Und danke noch einmal für die Geschenke.«

Wieder das gnädige Nicken. »Nichts zu danken.«

Ein paar Minuten später war sie fort und ihr Gefolge mit ihr.

Mariah stieg die Treppe hinauf und sah erfreut, wie viel Platz sie durch das Wegräumen der Koffer gewonnen hatte. Sie trat ans Fenster und schaute zu dem Dach und den Schornsteinen hinüber, die über den in herbstliches Gold getauchten Bäumen sichtbar waren.

Hinter ihr knarrte der Dielenfußboden und kündigte Dixon an. »Ich habe einen der Diener nach dem Gebäude auf der anderen Straßenseite gefragt.«

»Ja?« Mariah schaute Dixon an. »Und was hat er gesagt?«

Den Blick fest auf das Fenster geheftet, sagte ihre Gefährtin ruhig: »Es ist das Armenhaus der Gemeinde.«

Mariah starrte auf das dunkle Dach und schauderte. Das Armenhaus … Plötzlich schien ihr das Torhaus kein gar so schlimmes Schicksal mehr zu sein.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

Seid tätig, Lady, arbeitet und lasst das Bücherschreiben,
weisere Frau sah man nie dergleichen treiben.

Die Herzogin von Newcastle,
Schriftstellerin aus dem 17. Jahrhundert

Fünf Monate später
Februar 1814

Der Spätherbst und der Winter waren kalt, einsam und entmutigend gewesen. Mrs Prin-Hallsey hatte sie nicht wieder besucht und auch nicht ins Haupthaus eingeladen. Vom Zimmermann des Anwesens, Jack Strong, hatte Mariah erfahren, dass die Herrin im Dezember und Januar krank gewesen war. Miss Dixon war ebenfalls krank gewesen. Sie hatte für mehrere, ihnen beiden endlos scheinende Wochen an einem Fieber gelitten und Mariah hatte fast ihre ganze Kraft – und sämtliche Mittel – verbraucht, um ihr Zimmer warm zu halten und sie zu versorgen. Trotzdem hatte Dixon ständig unter Schüttelfrost und Atemnot gelitten. Mariah war mehrmals zur Apotheke gegangen, um Medizin sowie dicke Socken und einen Schal zu kaufen, die, wie man ihr sagte, die »Bewohner von Honora House«, des Armenhauses ganz in ihrer Nähe, gestrickt hatten.

Schon sehr bald zeichnete sich ab, dass die jährliche Summe, die ihr Vater ihr zugestanden hatte, nicht ausreichen würde. Sie hatten Fensterglas und Bettwäsche kaufen müssen sowie Kohlen und ein paar notwendige Artikel des täglichen Bedarfs für das Haus. Die danach noch verbliebene Summe war durch die Apothekerrechnungen, die nicht eingeplant gewesen waren, auf ein bedenkliches Minimum zusammengeschrumpft.

Doch nun schien der Frühling sein frühzeitiges Kommen anzukündigen. Es war erst Februar, aber der Schnee war schon geschmolzen. Der Knöterich und sogar kleine Grüppchen violetter Krokusse waren bereits durch den feuchten Erdboden gebrochen und hatten sich zu den bescheidenen Schneeglöckchen gesellt.

Obwohl sie wegen des wärmeren Wetters weniger Feuerholz und Kohlen benötigten und sicher schon bald einen Gemüsegarten anlegen konnten, war ihre Lage immer noch verzweifelt. Mariah brütete wieder einmal über dem Haushaltsbuch und kam zu dem Ergebnis, dass sie möglichst rasch etwas unternehmen musste. Die Worte von Admiral Nelson fielen ihr ein: »Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen.« Es wurde Zeit, dass sie verzweifelte Maßnahmen ergriff.

Mariah tauchte eine Feder in das Tintenfass und begann einen Brief an ihren Bruder Henry. Henry Aubrey, ein paar Jahre älter als sie, war ein aufstrebender junger Rechtsanwalt in Oxford. Sie hatte ihn seit letztem Sommer nicht mehr gesehen, war aber ganz sicher, dass ihr Vater ihn über die Situation in Kenntnis gesetzt und ihm verboten hatte, sie bei sich aufzunehmen. Ihre jetzige Bitte, so überlegte Mariah, war jedoch wohl eher professioneller als persönlicher Natur zu nennen.

Mariah schilderte Henry ihren verzweifelten Vorschlag und bat ihn, wenn möglich, im Torhaus von Windrush vorzusprechen, oder aber ihr einfach einen abschlägigen Bescheid zukommen zu lassen. Sie beschwor nur sehr ungern den Zorn ihres Vaters herauf und wollte Henry auf keinen Fall von der Arbeit abhalten, wenn er ihren Plan ohnehin für aussichtslos hielt.

Dixon, der es inzwischen wieder besser ging, brachte den Brief für sie zur Post.

Den Rest der Woche verbrachte Mariah sehr viel Zeit damit, im Salon auf und ab zu gehen, während Dixon sich still ihren Flickarbeiten widmete.

»Was meinst du, wird er kommen?«, fragte Mariah wohl zum zwanzigsten Mal.

Dixon fädelte einen langen Faden in die Stopfnadel. »Sie haben ihm doch geschrieben und ihn darum gebeten.«

»Schon, aber vielleicht hat er ja inzwischen mit Vater gesprochen und sich anders besonnen.«

»Er wird kommen«, beharrte Dixon. »Sie sollten Ihrem Bruder vertrauen und Sie sollten auch Gott vertrauen.«

Mariah vertraute Henry. Was Gott betraf, war sie da nicht so sicher. Nicht mehr.

Mitten in dieser nervenaufreibenden Zeit erschien eines Tages der gutmütige Gärtner des Anwesens, Albert Phelps, mit einem Korb voller Blumenzwiebeln. Er und Jack Strong waren ihnen in den langen Herbst- und Wintermonaten hilfreiche Nachbarn gewesen. Mr Phelps war ungemein beleibt und hatte dichtes, grau gesprenkeltes Haar und ein wohlgefälliges Funkeln in den Augen, wenn er Dixon ansah. Das amüsierte Mariah, doch die ältere Frau nahm es höchst argwöhnisch zur Kenntnis.

»Im Moment sehen sie noch nach nichts aus«, sagte Mr Phelps. »Doch ehe Sie sich's versehen, kommen die Gladiolen und Freesien heraus und schmücken Ihren Garten.«

Dixon blieb stumm und steif, sodass Mariah dem Mann an ihrer Stelle dankte.

»Ich pflanze sie Ihnen gerne ein, wenn Sie möchten.« Er sah Dixon an, als er dieses Angebot machte, sodass Mariah die Antwort diesmal ihrer Freundin überließ.

Dixon hob das Kinn und sagte kühl: »Wir sind Ihnen äußerst dankbar für Ihre Hilfe, Mr Phelps.«

Ein breites Lächeln erhellte sein rötliches Gesicht. »Und in ein paar Wochen bringe ich Ihnen eine Kiste mit Setzlingen, die ich im Treibhaus gezogen habe. Ist noch ein bisschen früh dafür. Aber genau richtig für Zwiebeln.«

Mariah fragte sich, ob Miss Dixon jemals von einem Mann Blumen – oder Blumenzwiebeln – bekommen hatte. Einen Moment lang vergaß sie all ihre Sorgen und lächelte.

Es wurde Zeit.

Am Samstagnachmittag klopfte es an der Vordertür des Torhauses – eine seltene Überraschung. Dixon erhob sich, um zu öffnen. Als Mariah Henry auf der Schwelle stehen sah, spürte sie, wie der Anblick ihres geliebten Bruders ihr das Herz und die Kehle zusammenzog. Am liebsten wäre sie zu ihm hingelaufen und hätte die Arme um seinen Hals geschlungen, doch sie zögerte.

Eine solch überschwängliche Geste hatte sie sich ihm gegenüber auch früher nie herausgenommen. Wie würde er sein? Kalt? Zurückhaltend? Missbilligend?

»Mariah.« In seinen Augen las sie nur Wärme und Mitgefühl. Er kam zu ihr, um sie zu begrüßen.

Sie ließ alle Zurückhaltung fallen und warf sich in seine Arme. »O Henry, danke, dass du gekommen bist! Ich hatte solche Angst, dass du nicht kommen würdest. Ich hätte dir deswegen keine Vorwürfe gemacht, aber …«

»Natürlich bin ich gekommen, Rye. So schnell ich konnte.«

Mariah beobachtete ihren Bruder, während er Dixon freundlich begrüßte. Er wirkte wie immer – nach wie vor sehr gut aussehend, auch wenn er um die Taille herum etwas zugenommen zu haben schien und sein braunes Haar, das den gleichen Farbton wie ihres hatte, bereits anfing, sich zu lichten.

Dixon entschuldigte sich, und Mariah blickte in Henrys haselnussbraune Augen. Es waren die Augen ihrer Mutter. »Hältst du es für eine lächerliche Idee? Bitte, sag mir die Wahrheit.«

»Aber nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich finde die Idee großartig. So haben wir doch die Möglichkeit, wenigstens etwas Gutes aus dem ganzen Schlamassel zu machen.« Er setzte sich auf das Sofa. »An welches hast du gedacht?«

»An Die Brombeeren von Bath.« Sie setzte sich neben ihn. »Anonym natürlich. Ich habe es den Winter über überarbeitet. Aber Töchter ist ebenfalls fast fertig, wenn du das für geeigneter hältst.«

»Mir haben sie beide gefallen. Julia auch, wenn ich mich recht erinnere. Hmmm …« Er strich sich über das Kinn. »Vielleicht solltest du die Titel ändern, damit Vater sie nicht wiedererkennt.«

Ihr Vater hasste Romane. Seiner Ansicht nach übten sie einen schlechten Einfluss auf junge, leicht zu beeindruckende Frauen aus. »Eine gute Idee«, sagte sie. »Schließlich ist es nicht nötig, Vater noch einen weiteren Grund zur Missbilligung zu geben.«

Henrys Augen wurden traurig. »Rye …«

Doch Mariah unterbrach ihn schroff. Sie wollte sein Mitleid nicht und sie wollte mit ihm auch nicht über die Vergangenheit reden. »Kennst du einen Verleger, der vielleicht Interesse hätte?«

Er holte tief Luft. »Nein, niemand. Aber ich kann mich erkundigen.«

»Und du hast wirklich nichts dagegen? Wenn Vater es herausfindet …«

»Diese Gefahr halte ich für ziemlich gering.« Er nahm ihre Hand. »Ich tue es gern. Ich wünschte nur, ich könnte mehr für dich tun. Aber …«

»Schhhhhh, Henry. Das weiß ich doch. Ich bin dir dankbar, dass du überhaupt gekommen bist, und würde kein Geld von dir annehmen, selbst wenn du es hättest. So kannst du wenigstens ehrlich sagen, dass du mir keinen Unterschlupf geboten hast.«

Henry verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass sie dich nicht zu Hause bei Julia lassen konnten, aber nicht einmal angemessen für seine eigene Tochter zu sorgen …«

»Urteile nicht so streng über ihn«, beschwichtigte ihn Mariah. »Er hat bestimmt gedacht, dass die Summe, die er mir gegeben hat, ein ganzes Jahr reicht. Du weißt doch, dass Mama und Weston das Finanzielle regeln. So war es schon immer.«

»Kannst du ihm denn nicht schreiben und ihn um mehr bitten?«

Mariah blickte ihn vielsagend an. »Würdest du das tun?«

Er schauderte. »Niemals.«

»Ich hätte sicher besser haushalten können, aber …«

Dixon kam herein. Sie trug ein Tablett mit Kaffee und Gebäck. »Sie haben Großes geleistet, Miss Mariah, daran zweifelt niemand. Aus nichts viel gemacht, würde ich sagen.«

Henrys Brauen hoben sich. »Wirklich?« Er lächelte Mariah an und drückte ihre Hand. »Ich bin stolz auf dich.«

»Stolz? Ich … danke, Henry.« Tränen traten ihr in die Augen.

Ihre Reaktion machte ihn nervös. »Na, na, du wirst dir doch wegen mir nicht den Teint verderben wollen.« Er stand auf. »Danke, Dixon, aber ich kann nicht bleiben. Wo ist nun das Meisterstück?«

Mariah stand auf und trat an den Tisch. Sie las noch einmal die Titelseite mit dem neuen Titel Ein Winter in Bath. Dann schlug sie das Manuskript in Packpapier und band eine Schnur darum. Dixon richtete Henry eine kleine Tüte mit Gebäck für den Heimweg.

Henry dankte ihr. Dann sah er Mariah erwartungsvoll an.

Sie zögerte, ihm das dicke Päckchen auszuhändigen. Und wenn der Verleger es nun für völlig unzulänglich hielt? Das war gut möglich. Doch sie musste es versuchen, ihr blieb keine andere Wahl. Sie gab ihm das Paket.

Henry wog es in der Hand. »Ich dachte, du hättest gesagt, es sei ein Roman und kein Wörterbuch.« Er zwinkerte ihr zu.

Mariah wollte lächeln, doch es gelang ihr nicht. »Sei vorsichtig damit, Henry. Es ist mein einziges Exemplar der Endfassung.«

»Keine Sorge. Ich passe darauf wie auf mein eigenes Kind auf.« Er legte Mariah die freie Hand auf die Schulter. »Pass gut auf dich auf, meine Liebe, und schreib das zweite Buch fertig!«

An einem Freitagmorgen Ende Februar machte Mariah eine Pause im Schreiben und trat an das Fenster ihres Schlafzimmers. Von dort aus sah sie zu, wie zwei Jungen aus dem Armenhaus ein langes Seil über die kaum befahrene Straße spannten. Ihre Neugier war geweckt; sie entriegelte das Fenster und öffnete es.

»Guten Morgen, Jungs«, rief sie hinunter. »Was macht ihr denn da mit dem Seil?«

»Hallo Miss!« Der kräftige zwölfjährige George winkte ihr mit seiner flotten Zeitungsausträgermütze zu. »Wir fordern einen Wegezoll von jedem Mädchen, das vorüberkommt.«

Mariahs Brauen hoben sich. »Einen Wegezoll auf dieser Straße? Wie viel?«

George und sein Kumpel Sam grinsten sich an. »Nur einen.«

Mariah legte den Kopf schief. »Einen was?«

»Einen Kuss.«

Der schlanke Sam brach in lautes Lachen aus, schlug sich aber gleich eine schmutzige Hand vor den Mund. George sah ihn an, als hielte er ihn für einen Idioten.

»Immerhin ist Kissing Friday!«, verteidigte er sich.

Wirklich? Mariah hatte es völlig vergessen. »Stimmt. Aber hier werdet ihr nicht viel Glück haben.«

George zuckte die Achseln. »Wir haben schon jedes Mädchen im Armenhaus geküsst.«

Sam nickte energisch.

George spielte mit der Fußspitze im Straßenstaub. »Sie müssen nicht zufällig hier entlanggehen, Miss?«

Mariah lächelte. »Ich fürchte nein, George. Aber vielleicht hat ja noch eine andere Dame das Vergnügen.«

»Möglich.«

»Und wenn«, rief Sam, »sind wir bereit!«

Mariah winkte den beiden kopfschüttelnd zu und schloss das Fenster. Kissing Friday. Es war lange her, seit sie auch nur daran gedacht hatte. Der Tag, an dem Schuljungen jedes Mädchen, von dem sie nicht mit einer Abfuhr rechnen mussten, küssen durften.

Mariah ging hinunter, um nachzusehen, ob sie etwas Essbares auftreiben konnte. Sie war hungrig, weil sie zum Frühstück kaum etwas gegessen hatte. Dixon hatte den Haferbrei wieder einmal anbrennen lassen.

Die Küche war leer, doch durch das offene Fenster hörte sie Stimmen draußen im Garten.

»Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, Miss Dixon?«, fragte der Gärtner, ein Grinsen in seinem rotwangigen Gesicht. Er zwinkerte ihr zu.

»Freitag?«

»Ja, aber kein gewöhnlicher Freitag. Es ist Kissing Friday – und Sie wissen, was das bedeutet.«

Dixon stemmte die Hände in die Hüften. »Mr Phelps! Sie sind ja wohl kein Schuljunge mehr. Ich hoffe, Sie denken nicht einmal daran, mir einen Kuss rauben zu wollen.«

»Aber Miss Dixon, ich werde Sie doch wohl nicht in den Po kneifen müssen!«

Dixon sah wütend aus. »Sie … das wagen Sie nicht!«

Er zuckte die Achseln. »Das ist die übliche Strafe.«

»Albert Phelps, wenn Sie sich unterstehen, mich zu kneifen … dann macht Ihr Kopf augenblicklich freudige Bekanntschaft mit dieser Pflanzschaufel!«

»Miss Dixonnnnnn …« Er schmollte und sah dabei tatsächlich wie ein zu groß geratener Schuljunge aus. Wie George oder Sam, nur nicht ganz so bezaubernd.

Mariah verbiss sich ein Lächeln. Immerhin war Mr Phelps' Mut zu bewundern.

»Ein Küsschen auf die Wange, wenigstens?« Er machte einen Kussmund. »Ein ganz kleines?«

Von ihrem Fensterplatz aus beobachtete Mariah Dixon, mit Gartenhandschuhen und Gartenschürze bewehrt, eine alte Haube über dem schmalen Gesicht mit den hervorstehenden blauen Augen. Sie sah zornig aus und … ja, und was noch?

»Meinetwegen«, sagte Dixon ergeben. Sie neigte den Kopf und bot ihre Wange dar wie eine Patientin, die sich bereit macht, verarztet zu werden. Doch Mr Phelps stürzte sich nicht auf sie. Stattdessen beugte er sich langsam vor und gab Miss Dixon einen langen, zärtlichen Kuss auf die Wange. Einen Augenblick lang hielt Dixon ganz still. Sie stand einfach da, den Kopf geneigt, die Augen … mit Tränen gefüllt.

»D-danke, Mr Phelps«, murmelte sie zerstreut, als der Kuss vorbei war.

»Ich danke Ihnen, Miss Dixon.« Der Gärtner strahlte. Ihre feuchten Augen schien er gar nicht wahrzunehmen. Er schlug sich mit dem Hut gegen den Oberschenkel, setzte ihn dann fröhlich auf und stolzierte davon.

Auf dem Weg begegnete er dem großen, dünnen Zimmermann, Jack Strong.

»Sie hat sich bedankt, dass ich sie geküsst habe«, rief er ihm zu und platzte beinahe vor Stolz.

Mariah rechnete damit, dass Dixon etwas sagen oder zumindest etwas vor sich hin murmeln würde über Lippen, die küssen und nicht schweigen können oder Ähnliches. Doch sie zog nur ihre Handschuhe aus und kam zu ihr in die Küche. Sie wirkte leicht benommen.

Mariah fragte besorgt: »Dixon, stimmt etwas nicht?«

Wieder schimmerten Tränen in Dixons blauen Augen. »Wer hätte mit so etwas gerechnet? Dass ich meinen ersten Kuss auf diese Weise bekomme …«

Mariah drückte ihrer Freundin die Hand. »Viele Mädchen bekommen ihren ersten Kuss am Kissing Friday. Ich auch.«

Dixon schnaubte. »Mein erster Kuss und zweifellos mein letzter.«

Mariah grinste. »Nicht, wenn Mr Phelps ein Wörtchen dabei mitzureden hat.«

Dixon schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf. »Wie töricht.«

Mariah wusste nicht, ob sie Mr Phelps oder sich selbst meinte.

Sie ging hinaus, um Jack Strong zu danken, der gekommen war, um die Schaukel zu reparieren, und ihn nach seiner Frau zu fragen, die Haushälterin im Herrenhaus war. Dann holte sie sich ein Stückchen Käse und ging wieder hinauf, um weiter an den Töchtern von Brighton zu arbeiten, der Geschichte zweier Cousinen – die eine höchst temperamentvoll, die andere schüchtern und ängstlich –, die in denselben Mann verliebt waren. Doch oben trat sie zuerst noch einmal ans Fenster und knabberte nachdenklich an ihrem Käse. George und Sam hatten offenbar die Hoffnung aufgegeben und waren fortgegangen, denn die Straße war wieder leer. Mariah dachte trübselig, sie hätte ihnen eigentlich den Gefallen tun und ihnen erlauben können, sie zu küssen. Gut möglich, dass es auch ihr letzter Kuss gewesen wäre.

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3

Meine liebe Tante, mein Ruf ist unbescholten;
doch ich kann dir gar nicht genug dafür danken,
dass du ein solches Aufheben darum machst.

Die Dorfschönheit, 1822 (anonym)

Als das Torhaus am nächsten Morgen von einem heftigen Klopfen an der Tür erschüttert wurde, legte Mariah die Feder nieder, stand von dem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer auf und lief hinunter, in der Annahme, Jack Strong oder Mr Phelps seien gekommen.

Doch es war keiner der beiden, sondern Jeremiah Martin, der Diener ihrer Tante.

Mariah schauderte unwillkürlich. Vielleicht lag es an seinen eisblauen Augen. An der seltsamen, hochgezogenen Schulter. An dem Haken. Oder an der plötzlichen Furcht davor, was sein unerwartetes Auftauchen wohl zu bedeuten hatte. Er war seit Mariahs und Dixons Ankunftstag im letzten Herbst nicht im Torhaus gewesen.

»Hallo. Mr Martin, nicht wahr?«

»Nur Martin, bitte.« Er verneigte sich fast unmerklich, wobei sich der schwarze Anzug spannte. »Die Herrin bittet Sie, ins Haupthaus zu kommen.«

Angst stieg in Mariah auf. »Ist Mrs Prin-Hallsey nicht wohl?«

»Ganz recht, Miss. Bitte um Punkt elf Uhr, nicht früher.«

Damit drehte er sich um und ging, in seinem seltsamen Gang, bei dem der eine Arm rhythmisch mitschwang, die Hand mit dem Haken jedoch eng an den Körper gepresst blieb.

Dixon erschien neben ihr. »Ich wundere mich, wie eine Frau wie Ihre Tante die Gegenwart dieses Menschen aushält.«

»Ja, das wundert mich auch«, stimmte Mariah ihr zu. Sie schüttelte den Kopf und spitzte die Lippen. »Was kann sie von mir wollen?«

Zur vereinbarten Stunde ging Mariah zum Haupthaus hinüber. Zu diesem Anlass trug sie eins ihrer besseren Kleider in einem ganz zarten, verblassten Veilchenton. Sie stieg die Treppe hinauf und überquerte den überdachten Säulengang, bis sie vor der imposanten Vordertür stand. Kaum hatte sie geklopft, als auch schon die Tür geöffnet wurde. Hinter dem Lakai winkte Martin ihr zu, hereinzukommen. »Zwei Minuten zu spät.«

Mariah antwortete leicht gereizt: »Der Weg hat länger gedauert, als ich gerechnet hatte.«

Mit einer wegwerfenden Bewegung führte er sie durch eine riesige Eingangshalle mit einem massiven Steinkamin. Die prachtvolle Decke war geschmückt mit geschnitzten und gemalten Medaillons, die Früchte, Blumen, Engel und Vögel zeigten.

Sie gelangten an die große Haupttreppe. Neben dem Aufgang hingen zwei große, formelle Porträts unter einem schimmernden Kronleuchter. Das erste zeigte einen Mann in mittleren Jahren, mit dichtem grauem Haar und langen Koteletten. Seine grünen Augen blickten traurig. Daneben hing das Bild eines gut aussehenden, aber hochmütig wirkenden jungen Mannes mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Er trug einen Edelstein im Binder. »Wer ist das, Martin?«

»Der ältere Gentleman ist der verstorbene Mann der Herrin, Mr Frederick Prin-Hallsey. Und der jüngere ist sein Sohn, Master Hugh.«

Mariah nickte und folgte Martin die Stufen hinauf. Oben gingen sie einen langen, hallenden Flur entlang. An seinem Ende befand sich eine getäfelte Tür. Martin bedeutete ihr hineinzugehen und schloss die Tür hinter ihr.

Während die Räume, die Mariah bisher gesehen hatte, eher schlicht gehalten waren, war der Raum, den sie jetzt betrat, förmlich mit Möbeln und anderen Dingen – Gemälden, Uhren, Kerzenleuchtern und Plastiken – vollgestopft. Mittendrin thronte Francesca Prin-Hallsey aufrecht in einem frisch gemachten Himmelbett. Sie war vollständig bekleidet mit einem schwarzen, spitzenbesetzten Seidenkleid und ihrer Perücke. Eine Patchworkdecke über ihren Beinen war das einzige Zugeständnis an ihren Krankenstand.

»Mariah. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Steht mir Schwarz? Ich finde nicht, aber Dr. Gaston meint, dass ich jeden Tag sterben könnte. Da möchte ich natürlich vorbereitet sein. Miss Jones, die du hier siehst, trägt ebenfalls Schwarz.« Sie deutete mit einer in Spitze gehüllten Hand auf eine schlicht gekleidete, freundlich aussehende Frau, die am Fußende des Bettes saß. »Ihr gefällt es nicht, aber warum soll ich mit dem ganzen Aufwand und den Feierlichkeiten warten, bis ich tot und begraben bin und nichts mehr davon habe?«

Miss Jones schüttelte den Kopf und lächelte Mariah schüchtern an. Sie trug ein einfaches Tageskleid und hielt eine Näharbeit auf dem Schoß – dem Aussehen nach schwarze Trauerbinden, die, wie Mariah hoffte, noch lange nicht benötigt werden würden.

Sie setzte sich auf einen steiflehnigen Stuhl am Bett ihrer Tante. »Aber ich finde, du siehst gut aus, Tante.«

»Wirklich? Dr. Grässlich hört das aber überhaupt nicht gern. Und Hugh ebenfalls nicht, wage ich zu behaupten.«

Mariah wusste nicht, was sie antworten sollte.

Mrs Prin-Hallsey strich ihre Spitzenärmel glatt. »Wie gefällt dir das Leben im Torhaus?«

»Sehr gut. Es ist sehr ruhig.«

»Hast du meine Truhe noch?«

»Natürlich.«

»Hast du nachgesehen, was drin ist?«

Mariah zögerte. »Ich … nein …«

Ihre Tante zwinkerte ihr zu. »Aha. Du hast es versucht, musstest aber feststellen, dass sie abgeschlossen ist, nicht wahr?«

Sie zog an der Kette, die sie um den Hals trug, und ein alter, verschnörkelter Schlüssel kam zum Vorschein.

»Du wirst auch nicht nachsehen, nicht, ehe ich tot und begraben bin.« Sie steckte den Schlüssel wieder zurück in den Ausschnitt. »Danach kannst du nach Herzenslust in meinen Sachen stöbern. Man kann ja nie wissen. Vielleicht findest du etwas Wertvolles oder doch wenigstens etwas Interessantes.«

Bevor Mariah ihr danken konnte, fuhr sie fort: »Aber was du auch tust, kein Wort zu Hugh. So manches von meinem persönlichen Besitz ist schon verschwunden. Ich fürchte, er verkauft, was immer er kann, um seine Spielschulden zu begleichen. Böser Junge.«

Ihre Tante neigte den Kopf zur Seite. Einen Augenblick fürchtete Mariah, die schwere Perücke könnte ihr vom Kopf rutschen.

»Ich weiß noch genau, wie du als Kind warst, meine Liebe.« Sie musterte Mariah ruhig. »Du und ich haben mehr gemeinsam, als du vielleicht denkst.«

»Inwiefern?«

Mrs Prin-Hallsey lächelte geheimnisvoll und beugte sich ein wenig vor. »Wenn Hugh dich nach meinem Tod hinauswirft, nimm die Truhe mit. Versprich mir das.«

Würde er das wirklich tun? Mariah schluckte schwer. »Ich verspreche es.«

»Gut. Das wäre also geklärt.« Francesca Prin-Hallsey lehnte sich in ihre Kissen zurück und schloss die Augen. Mariah sah, dass sie eingeschlafen war.

Als sie die Treppe des Säulengangs hinunterging, sah Mariah vom Stall her einen Mann auf das Haus zukommen. Sie erkannte in ihm sofort den jungen Mann auf dem Gemälde. Hugh Prin-Hallsey, einziger Sohn aus der ersten Ehe von Frederick Prin-Hallsey und dessen Erbe. Beide Eltern waren inzwischen verstorben. Obwohl er noch immer gut aussah – groß, mit vollem schwarzem Haar, breiten dunklen Brauen und Koteletten –, wirkte er doch mindestens zehn Jahre älter als auf dem Bild. Er mochte inzwischen Ende dreißig sein. Hugh trug eine gut geschnittene Reitjacke und bewegte sich lässig elegant, mit langen, leichtfüßigen Schritten. Als er näher kam, sah sie die feinen Linien zwischen seinen Brauen und um den lächelnden Mund.

Seine dunklen Augen leuchteten interessiert auf. »Hallo. Erfreut, Sie zu sehen. Hugh Prin-Hallsey.« Er verbeugte sich. »Und Sie sind?«

Sie zögerte, aus Furcht vor seiner Reaktion, wenn er erfuhr, wer sie war. »Ich bin Miss Aubrey. Und ich weiß, wer Sie sind.«

»Ach wirklich? Sind wir uns denn schon einmal begegnet? An eine so hübsche Dame würde ich mich doch bestimmt erinnern.«

»Wir sind uns noch nicht begegnet, aber ich habe Ihr Porträt im Haus gesehen.«

»So, so. Und wie hat es Ihnen gefallen?« Er warf sich in die Brust und hob das Kinn. »Wird es mir gerecht?«

Sie lächelte. »Was immer man dem Künstler für seine Arbeit gezahlt hat, es war zu wenig.«

Er zog eine schwarze Braue hoch. »Mich dünkt, die Lady spricht in Rätseln.«

Sie wechselte das Thema. »Ich habe gerade Mrs Prin-Hallsey besucht, deren Gesundheitszustand nicht der beste ist, wie Sie sicher wissen.«

Sie sah ihn plötzlich zusammenzucken und fragte sich, ob diese Nachricht ihn wirklich so aus der Fassung brachte, wie es gerade den Anschein hatte.

Doch er korrigierte das Missverständnis rasch. »Ich hasse es, wenn dieser Name für jemand anders als für meine liebe Mama gebraucht wird – sie ruhe in Frieden.« Er seufzte.

»Das tut mir leid.« Mariah ließ offen, ob sie den Tod seiner Mutter oder ihre Bezeichnung bedauerte.

Er verzog das Gesicht. »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie die Nichte sind.«

Sie lächelte entschuldigend. »Ich fürchte, die bin ich. Ich wohne im Torhaus.«

»So hat man mir kürzlich berichtet. Eine Schande.«

Sie wollte fragen, welchen Aspekt dieses Umstands er als Schande bezeichnete, schwieg dann jedoch.

Er überkreuzte die Arme hinter dem Rücken. »Sie sagen, Ihrer Tante geht es schlecht?«

»Ja. Der Arzt sagte ihr, sie hätte nicht mehr lange zu leben.«

»Ausgezeichnet. Die erste gute Nachricht seit Monaten.«

Mariah schnappte nach Luft. »Mr Prin-Hallsey, das ist sehr unfreundlich von Ihnen.«

»Zweifellos. Aber ich werde kein Bedauern heucheln, wenn ich keines empfinde. Sie selbst würde mich verspotten, wenn ich das täte. Sie kennt meine Meinung über sie und ich wage zu behaupten, dass Ihre Meinung über mich nicht viel besser ist.«

Mariah konnte ihm nicht widersprechen. »Eigentlich fand ich, dass sie ganz gut aussah.«