Vom Universitätsbetrieb angeödet, beschließt Mitja, seinen vertrauten Alltag zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Der junge Historiker nimmt den Kleinbus in die Provinz, steigt in einem Kaff mit gogoleskem Namen aus und quartiert sich bei einem steinalten Ehepaar ein. Angst und Misstrauen schlagen ihm entgegen: Die Dorfbewohner halten ihn für einen Abgesandten der Behörde, die seit längerem damit droht, die Schule zu schließen. Mitja dagegen fürchtet sich vor den Irren, die in einer therapeutischen Kommune am Ortsrand leben und denen er nicht aus dem Weg gehen kann. Sein Projekt, das »wahre Leben« zu suchen, entwickelt sich zu einem Abenteuer mit dramatischem Ausgang.

Nach ihrem erfolgreichen Debüt Endstation Rußland (dt. 2010) legt die junge Autorin erneut einen Roman vor, der »die widersprüchliche russische Realität facettenreich einfängt« (NZZ).

 

Natalja Kljutscharjowa, 1981 in Perm geboren, Lyrikerin, Erzählerin, Journalistin, lebt in Abramzewo bei Moskau. Ihr Roman Endstation Rußland wurde in acht Sprachen übersetzt.

 

Natalja Kljutscharjowa
Dummendorf

Roman

Aus dem Russischen von
Ganna-Maria Braungardt

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2010 u. d. T. Derevnja durakov im Verlag

Ast Astrel, Moskau. Übersetzt wurde aus dem Manuskript.

 

Foto Seite 3: © Brigitte Friedrich

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

edition suhrkamp 2640

Erste Auflage 2012

© by Natalja Kljutscharjowa 2010

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

ISBN 978-3-518-76270-7

www.suhrkamp.de

Dummendorf

 

ERSTES KAPITEL
Mitja

Mitja las die Liste, die ihm die Leiterin des Kreisschulamtes auf den Tisch geknallt hatte, und mit jeder Zeile fühlte er sich schlechter. Iudino, Kulebjakino, Kurojedowo, Pustoje Roshdestwo … Die Namen der Dörfer, in denen ein Geschichtslehrer gesucht wurde, kamen ihm wie böse Omen vor.

Obwohl – was war denn so schlimm an einer Kulebjaka, einer Pastete? Doch Mitja stellte sich sofort eine schreckliche, vom Essen besessene Welt vor: fleischige Gesichter, ölige Augen, zischende Pfannen. Und er erinnerte sich an einen entsetzlichen Alptraum aus seiner Schulzeit: Der Sitzenbleiber Waganow antwortet auf die Frage: »Waganow, wozu hast du deinen Kopf?!« mit seinem immer gleichen breiten Lächeln: »Zum Fressen!«

»Vielleicht Marjino?«, krächzte Mitja mit ausgetrockneter Kehle.

»Soll das ein Witz sein?!«, donnerte die Natschalniza, und ihr Goldzahn blitzte. »Von da ist sogar San Sanytsch abgehauen!«

»Welcher Sansan?«, fragte Mitja. »Samson?«

»Tjutikow. Er hat bei den OMON-Truppen gedient.«

Mitja wollte sich schon verabschieden und wieder nach Moskau zurückfahren. In dem Moment stieg wie Sodbrennen ein bis zum Erbrechen bekanntes Bild in ihm auf. Er läuft die vollgespuckte Treppe hinauf, die langen Flure entlang, wo gelangweilte Mädchen mit ihrer Maniküre prahlen, er betritt das Institut und hört, wie die alternden Spezialistinnen für die Russkaja prawda in seinem Rücken tuscheln. Dann das tote Geraschel in der Universitätsbibliothek, die ineinander verschwimmenden ismen in einem dicken Wälzer. Und die quälende, nicht zu beantwortende Frage: »Wer braucht das alles?«

»Na schön.« Mitja räusperte sich. »Und was raten Sie mir?«

»Was ich Ihnen rate?!« Die Natschalniza jaulte auf, als sei in ihrem alten Sessel eine Sprungfeder gebrochen. »Nichts wie weg hier! Wer will sich denn freiwillig begraben lassen? Na schön, wir – aber wir sind hier geboren. Da kann man nichts machen. Aber solche wie Sie, ich frage mich, was wollen die hier?«

»Ich bin auch hier geboren.«

»Erzählen Sie mir doch nichts! Geburtsort – Moskau!« Sie hielt Mitja seinen Ausweis unter die Nase.

»Naja«, Mitja bewegte unbestimmt die Hand, »ich meine, hier in Russland.« Er schämte sich schrecklich.

»Ojeojeoje«, jammerte die Natschalniza wie eine einfache Frau vom Lande. »Ihr brütet in den Hauptstädten lauter idealistisches Zeug aus, und dann kommt ihr angeschwirrt und wollt die Heimat retten.«

»Nein, nein, nein! Nicht doch! Es geht nicht ums Retten! Nur …«

»Ihr habt ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wenn der Esel überschnappt, läuft er Rollschuh! Aber bitte, fahren Sie, schnuppern Sie unseren Stallmist. Das wird Ihnen die Flausen rasch austreiben. Was sitzen Sie noch hier? Die Audienz ist beendet!«

»Wohin soll ich denn nun?«

»Wohin du willst. Ein Papier stelle ich dir gar nicht erst aus. Du haust sowieso nach einer Woche wieder ab.«

Mitja lief hinaus auf die Straße, schäumend vor Ärger.

»Dein Ausweis! Du hast deinen Ausweis vergessen! Schwachkopf!«, rief die Natschalniza aus einem Fenster.

 

An der Bushaltestelle ging Mitja zum Kiosk, um sich zum Trost etwas Süßes zu kaufen. Über dem winzigen Fensterchen flatterte eine handgeschriebene Nachricht:

 

Der Wettbewerb der zerknitterten Zehnrubelscheine ist beendet!

 

Lange und ergebnislos studierte Mitja die von Fliegen okkupierten Schokoriegel in ausgeblichenen Verpackungen, immer heftiger gepeinigt von seiner Unfähigkeit, auch nur die geringste Entscheidung zu treffen. Schließlich fiel seine Wahl auf Snickers, er reichte hundert Rubel durch das Fenster und bat heiser:

»Ein Mars bitte.«

»Ich kann nicht wechseln«, verkündete die Verkäuferin, ohne sich zu ihm umzudrehen.

Wenn das Ganze so schlecht anläuft, dachte Mitja trübsinnig, während er sich vom Kiosk entfernte, dann bin ich wohl wirklich auf dem falschen Dampfer. Das ist dann einfach nicht meine Sache. Aber was ist denn dann meine Sache? Mich in Papieren vergraben? Mir bei Dissertationsverteidigungen den Arsch breitsitzen, mir anhören, wer wen beeinflusst hat? Das Matriarchat im Paläolithikum? Die Geschichte der Nagelschere? Für wen?! Wozu?!

Mitja zuckte resigniert die Achseln und stapfte wütend über den staubigen Bahnhofsvorplatz. Die bedrängenden Gedanken an seine Sache, das Grübeln über seinen Lebensweg, vor allem aber die Unmöglichkeit, sich zu entscheiden, nicht mehr von Zweifeln geplagt hin und her zu schwanken, all das hatte ihn unglaublich erschöpft. Wie gern würde er endlich etwas finden und sich ernsthaft in die Arbeit stürzen. Aber er hatte solche Angst, sich zu irren, sein Leben und all seine Kräfte an das Falsche zu verschwenden, er hatte so wenig Zutrauen zu sich selbst, war ständig damit befasst, alles eingehend zu erwägen und zu studieren und sich dabei selbst zu prüfen, dass er schon seit einem halben Jahr nicht über den toten Punkt hinwegkam.

Mitja war achtundzwanzig, aber seine hoch aufgeschossene, linkische Gestalt, an der jede Kleidung schlaff herunterhing oder sich bauschte, verriet noch deutlich den Jugendlichen. Alle seine Klassenkameraden, bis auf Waganow, der im Knast saß, hatten bereits eine Familie gegründet und sich einen Bauch zugelegt und sahen aus wie erwachsene Männer. Nur Mitja war noch immer dünn, allein und rastlos.

»He, du da!«, rief ihm der Fahrer einer startenden Gazelle zu. »Mach hinne! Wir fahren jetzt los!«

Mitja sprang in die offene Tür des anfahrenden Busses.

»Bis wo musst du?«

»Bis ans Ende!«, seufzte Mitja und empfand eine unglaubliche Erleichterung.

Doch kaum war der Bus in die nächste Straße eingebogen, überfielen Mitja erneut Zweifel. Er fuhr doch hoffentlich nicht nach Marjino, wo es nicht mal der OMON-Soldat Tjutikow ausgehalten hatte? Oder in das kauende und schmatzende Kulebjakino? Gab es dort überhaupt eine Schule? Und wenn ja, brauchten die einen Geschichtslehrer? Wurde er, Mitja, überhaupt irgendwo gebraucht?

Der Kleinbus hatte inzwischen die Kreisstadt verlassen und schuckelte eine Landstraße entlang. Mit den hungrigen Augen des Städters betrachtete Mitja die hohen Wildblumen und vergaß alles auf der Welt.

Hin und wieder tauchten mitten auf dem freien Feld Bushaltestellen auf, Mausoleen einer versunkenen Zivilisation – monumentale, sonderbare Bauten, verziert mit groben Mustern oder halb abgefallenen Mosaiken, auf denen man Gestalten erahnen konnte, die in ein Horn bliesen – Pioniere, Herolde oder Engel.

An einer solchen Haltestelle saß ein Mensch ohne Kopf. Mitja zuckte vom schmutzigen Busfenster zurück, an das er die ganze Zeit die Stirn presste, um die Landschaft besser betrachten zu können. Doch als er genauer hinsah, begriff er, dass der Mensch sich nur die bis zum Kragen zugeknöpfte Jacke über den Kopf gezogen hatte und darin schlief wie in einem Starenkasten.

Doch der unangenehme Eindruck blieb, und die Wehmut riss Mitja mit geübter Hand aus dem sonnigen Tag und schleuderte ihn in ihr feuchtes Verlies.

Die Gazelle kroch langsam und am ganzen Körper zitternd bergauf. Am Straßenrand lief eine junge Frau in einem schwarzen städtischen Mantel, der zwischen den blühenden Feldern absurd wirkte. Noch absurder waren die hohen Absätze, auf denen sie bei jedem Schritt mal nach rechts, mal nach links umknickte, sie bewegte flatternd die Arme, um nicht hinzufallen. An ihrem unsicheren Zickzackgang konnte nicht nur das unbequeme Schuhwerk schuld sein. Mitja sah – voll tiefer Scham –, dass der ganze Mantel mit Straßenschmutz besudelt war, mit Stroh, mit vertrockneten Blättern, und am Rücken klebte ihr wie zum Hohn ein Eispapierchen. Die Frau weinte, schneuzte sich in die Faust und wischte sich die Finger am Mantel ab.

Die Gazelle machte einen heftigen Schlenker zur Seite, und Mitja wurde fast in den Gang geschleudert.

»Verdammt, diese Teufel!«, brüllte der Fahrer und kurbelte am Steuer.

Auf der anderen Seite, direkt auf der Fahrbahn, schleppte sich ein Mann von undefinierbarem Äußeren dahin. Sein Gang war unsicher, immer wieder trat er auf einen Zipfel der am Boden schleifenden karierten Decke, in die ein Baby eingewickelt war. Er weinte ebenfalls.

»Pachomow nimmt seiner Schlampe wieder mal das Kind weg«, lärmten die Fahrgäste. »Ausgerechnet der! Gleich lässt er es noch fallen!«

»Anhalten!«, rief Mitja mit schwacher Stimme.

»Noch zu früh für dich!« Der Fahrer warf ihm im gesplitterten Rückspiegel einen kurzen Blick zu und gab Gas.

Die ganze restliche Fahrt über drehte und wendete Mitja diesen Satz in seinem Kopf hin und her. Zu früh, sich ungebeten in fremdes Unglück einzumischen, weil er noch nicht erwachsen genug war und alles nur schlimmer machen würde? Zu früh, sich in das hiesige Leben einzumischen, weil er dessen Eigenheiten und unterschwellige Strömungen noch nicht kannte? Wer war dieser Pachomow? Wer war diese Frau? Und was spielte sich da ab – vor aller Augen, dennoch für niemanden außer den beiden verständlich?

 

»Erst willst du rausspringen, und dann muss man dich mit Gewalt raussetzen! Wir sind da! Aussteigen!«, rief der Fahrer. Mitja kam zu sich und sah, dass der Bus mitten in einem großen Dorf stand, dass die Tür offen war und ein weißer Schmetterling jeden Moment hereinfliegen würde.

Mitja setzte die Füße auf den Boden und klappte seinen langen Körper wie einen Zollstock Glied für Glied auseinander.

»He, Mann, zu wem willst du überhaupt?«, bohrte der Fahrer nach, ein weißblonder Bursche in Badelatschen und unterhalb der Knie abgeschnittenen Sporthosen, dem Mitjas ungeklärte Identität offenkundig keine Ruhe ließ. »Zu den Dummen? Oder zu Vater Konstantin?«

»Wieso?«, fragte Mitja verständnislos.

»Na, weil nur zu denen Fremde kommen. Wer zu jemand anders will, die kenne ich alle.«

»Was denn für Dumme?«, fragte Mitja weiter, statt direkt zu erklären, wer er war und was er hier wollte.

»Da hinten, einmal quer übers Feld, ist unser Dummendorf«, erklärte er. »Da kümmern sich Ausländer um unsere Psychos. Die haben sie aus verschiedenen Heimen zusammengeholt und wischen ihnen nun den Rotz ab. Für ohne Geld. Darum nennen wir das so – Dummendorf. Dumme kümmern sich um andere Dumme. Heilige Irre um pathologische Irre. Ich bin übrigens Wowa.«

Der junge Mann hatte sich so übergangslos vorgestellt, dass Mitja nicht gleich begriff, warum er ihm die ölverschmierte Hand hinhielt.

»Sehr angenehm. Mitja«, sagte er, stockte aber sofort: Sollte er sich der Seriosität halber nicht lieber mit Namen und Vatersnamen vorstellen?

»Und, was willst du hier?«, fragte Wowa ungeduldig, weil er sah, dass der dürre Lulatsch partout nicht kapierte.

»Ich will mich als Lehrer versuchen«, murmelte Mitja und hätte um ein Haar gefragt: »Gibt es bei euch eine Schule?«, besann sich aber rechtzeitig, dass das ziemlich dumm wäre.

»Du drückst dich vor der Armee, ja?!«, fragte Wowa freudig, weil er nun endlich eine begreifliche Erklärung für Mitjas Auftauchen gefunden hatte. »Also, ich hab gedient. Und war sehr zufrieden. Ich hab die Obrigkeit kutschiert. Der General hat mir sogar angeboten zu bleiben, als sein persönlicher Chauffeur. Aber ich Idiot bin zurückgekehrt. Ich hab ’ne Braut hier. Das heißt – gehabt. So ein Miststück!«

Wowa spuckte in den Staub und verwischte die Spucke wie wild mit seinem Gummischlappen. Mitja wollte sagen, dass er schon ein Jahr drüber war und sich nicht mehr vor der Armee drücken musste, ließ es aber. Hätte er denn eine klare Antwort gewusst – nicht für Wowa, nein, auch für sich selbst –, warum er hier war, in diesem Dorf, von dem er nicht mal wusste, wie es hieß?

»Und jetzt kutschiere ich alte Weiber auf den Markt. Dabei hätt ich einen General fahren können!«, klagte Wowa weiter. »Na schön, komm, ich zeig dir die Schule. Aber die ist jetzt sowieso zu.«

»Warum?«

»Na, ist doch Sommer! Ferien.«

Den ganzen Weg zur Schule beschimpfte sich Mitja für seine hoffnungslose Unbeholfenheit. Das gibt’s doch nicht! Als Lehrer arbeiten wollen und ganz vergessen, dass nicht nur an der öden Uni jetzt Ferien sind, sondern überall auf der Welt. Selbst in Australien! Und in Madagaskar! Und in Peru! Die geografische Perspektive verlieh Mitjas Gedanken eine besondere Bitterkeit, weil sie seinem Irrtum gleichsam eine globale Dimension verlieh.

Auf einer Holzbrücke über einen kleinen Fluss drängten sich sonnengebräunte Jungs mit ihren Angeln.

»Wenn wir uns beschweren, kriegen wir es bloß noch dicker!«, riefen sie einander zu, als stünden sie an verschiedenen Ufern.

Als sie Mitja entdeckten, verstummten sie alle gleichzeitig und schauten zu, wie er ging. Dem Jüngsten, der nichts anhatte außer einem schräg aufs Ohr gerutschten Panamahut, blieb der Mund offen stehen.

In Mitja lösten sich vor Verlegenheit sämtliche Scharniere, die seinen langen Körper zusammenhielten: Die Beine knickten in die falsche Richtung ein, die Arme schlenkerten unrhythmisch hin und her, das Gesicht verlor überhaupt jeden Halt und konnte keinen einzigen Ausdruck fixieren.

»Tach!«, brüllten die Jungs, als Mitja die Brücke betrat.

»Mach den Mund zu, Kleiner, sonst fliegen noch Mücken rein!«, erwiderte Wowa, schrecklich stolz darauf, dass nur er wusste, wer Mitja war und was er hier wollte.

Der Junge mit dem Panamahut fing sich und klappte den Mund wieder zu.

»Guten Tag«, murmelte Mitja und ging rasch weiter.

Hinter sich hörte er es flüstern:

»Onkel Wowa, wer ist denn das?«

»Wer, wer, wer – der große Bär!«, verkündete Wowa altklug, holte Mitja ein und plapperte drauflos: »Als ich zur Armee eingezogen wurde, da kam ich zum ersten Mal in die Stadt. Ich bin aus dem Bus gestiegen, losgelaufen und hab jeden gegrüßt. Am Ende der Straße, da fällt mir fast die Zunge ab: so viele Leute! Und das Schlimmste – alle zucken vor mir zurück, als hätte ich die Pest, und keiner grüßt zurück.«

Die eingeschossige Schule sah aus wie ein schlichtes Bauernhaus, sie stand mitten in einem riesigen Gemüsegarten. An der Tür hing ein rostiges Schloss, die Fenster waren mit alten Zeitungen zugeklebt. Doch in den Beeten arbeiteten die Direktorin und sämtliche Schüler der oberen Klassen.

»Jewdokija! Lass mal kurz!«, rief Wowa und sprang über einen Haufen gejäteten Unkrauts. »Kuck mal, wen ich dir mitgebracht habe!«

Eine kleine Frau im Trainingsanzug richtete sich auf, die Hand ins Kreuz gepresst, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und musterte Mitja beunruhigt. Einige Mädchen, größer als sie, bauten sich wortlos neben ihr auf, Schulter an Schulter, wie umzingelte Kundschafterinnen, die entschlossen sind, bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Drei Jungen streiften langsam die erdverkrusteten Stoffhandschuhe ab, als wollten sie den ungebetenen Gast im nächsten Moment mit bloßen Händen zerreißen. Mitja wäre am liebsten geflohen.

»So! Da sind Sie also, ja?«, fragte die kleine Jewdokija, als wäre sie zum Tode verurteilt. Die Mädchen durchbohrten ihn mit hasserfüllten Blicken.

»Ja, da bin ich«, bestätigte Mitja erschrocken.

»Warum lassen Sie die Kinder nicht in Ruhe die Schule beenden?!«, jammerte sie plötzlich. »Das letzte Jahr! Und in der siebten habe ich auch noch zwei! Drei in der fünften, Kostja nicht mitgerechnet. Und bald ist Minkin soweit! Wo sollen sie denn hin? Ins Heim, obwohl sie doch noch Eltern haben?«

Mitja zwinkerte verwirrt, er begriff nicht, warum sie ihn anschrie, diese Frau, der irgendwer – offenbar jemand, der Mitja ähnlich sah – alles wegnehmen wollte.

Nun hatte Wowa sein geheimes Wissen genug ausgekostet und mischte sich herablassend ein:

»Jewdokija! Beruhige dich! Was fällst du über den neuen Lehrer her? Gleich ist er noch beleidigt und fährt mit dem nächsten Bus wieder zurück. Stimmt’s?«

Ich kann noch zurück!, freute sich Mitja und dachte fast ohne Widerwillen an sein Institut, das Geraschel und Gezischel.

»Sie wollen uns also nicht schließen?«, seufzte die Frau und lächelte zaghaft.

Der lebendige Schutzwall hinter ihr löste sich auf und geriet in Bewegung wie ein Birkenhain: Die Mädchen flüsterten miteinander, kicherten, warfen rasche Blicke auf den neuen Lehrer und stießen einander an. Mitja war nun erst recht verlegen und fest entschlossen, nach Hause zurückzukehren.

Sich an diesen rettenden Gedanken klammernd, antwortete er abwesend auf alle Fragen Jewdokijas und fand erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als Wowa und sie laut darüber stritten, wo sie ihn unterbringen sollten. Im ersten Augenblick wollte er sich einmischen, fand aber weder den Mut dazu noch die Worte, kapitulierte und hörte zu, wie fremde Menschen über sein Schicksal entschieden.

Im Grunde seines Herzens war Mitja froh, dass er das nicht selbst tun musste. Er entspannte sich und schwamm mit dem Strom, als wäre ihm eine große Last von den hängenden Schultern gefallen, als wäre er auf einmal federleicht. Er hob den Kopf und sah sich zum ersten Mal um.

Die Schule stand ganz am Rand des Dorfes. Die menschenleere Landstraße verschwand hinter einem Berg und tauchte erst weit entfernt zwischen blühenden Feldern wieder auf. Am Straßenrand entdeckte Mitja ein schiefes Ortsschild. Blinzelnd versuchte er zu lesen, was darauf stand. Er traute seinen Augen nicht, holte die Brille, die zu tragen er sich genierte, aus seiner Brusttasche und schaute erneut. Der Ort, in den es ihn zufällig verschlagen hatte, hieß Mitino.

Es ist also alles richtig!, dachte Mitja begeistert und folgte leichten Herzens der kleinen Direktorin.

»Jedes Jahr wollen sie uns schließen«, sagte sie, wobei sie dem neuen Bekannten schüchtern ins Gesicht sah: ob er auch nicht gekränkt war, weil sie ihn so unfreundlich empfangen hatte. »Letzten Sommer sind wir sogar in einen Hungerstreik getreten. Wir haben auf Matratzen vor der Kreisschulleitung kampiert, auch die Mädchen – unsere Mädchen, das sind Kämpferinnen. Dabei war ein Wetter – Nieselregen, überall Pfützen, wie bestellt! Die Schulrätin Valentina Petrowna – Sie haben sie ja kennengelernt, oder? –, die hat uns vom Fenster aus wüst beschimpft. Wir machen euch sowieso zu, wir haben unsere Vorschriften, für zehn Schüler dürfen wir keine ganze Schule erhalten. Dabei haben wir nicht zehn, sondern elf Schüler, plus Kostja, und bald ist auch Minkin soweit. Aber wir hatten Glück: Ein deutscher Professor ist gekommen, er wollte die Dummen besuchen. Da sollten wir weg – sie haben uns eingesammelt, mitsamt den Matratzen, und im Schulbus nach Hause geschafft. Aber dafür haben sie uns in Ruhe gelassen und die Schule nicht zugemacht. Und jetzt warten wir wieder auf Besuch aus der Kreisstadt.«

Mitja und die Direktorin liefen die Hauptstraße von Mitino entlang. Wowa hatte widerwillig seine Abendtour angetreten, und die Schüler waren auf dem Kohlfeld geblieben, um weiter Unkraut zu jäten.

Hin und wieder begegnete ihnen jemand. Im Gegensatz zu Wowa hatte Jewdokija Erbarmen mit fremder Neugier: Sie blieb stehen und gab in allen Einzelheiten Auskunft über Mitja.

Bei jeder Begegnung stieg er höher, denn Jewdokija malte sich, je länger sie liefen, für Mitja unermüdlich Aufgaben in einer immer entlegeneren Zukunft aus.

»Er wird sich als Geschichtslehrer versuchen.«

»Ich hoffe, ihn zum stellvertretenden Direktor zu machen.«

»Wenn ich in Rente gehe, wird er Direktor.«

Die Zukunft schien Jewdokija – weil es darin nun einen neuen Lehrer gab – immer lichter und schöner. Die Schule wurde nicht geschlossen, das Gehalt rechtzeitig gezahlt, ihr Mann hörte sogar mit dem Trinken auf. Niemand sonst hätte an dem schlaksigen Mitja, den die ihnen begegnenden Babuschkas sogleich langes Elend tauften, etwas gefunden, das eine derartige Zuversicht geweckt hätte. Doch Jewdokija lag so sehr an ihrer Hoffnung, dass es im Grunde keine Rolle spielte, auf wen sie hoffte. Das andere Ende des Dorfes erreichte Mitja bereits als potentieller Bildungsminister.

Hier verlor sich die Straße glücklicherweise in Klettengestrüpp, und Jewdokija stellte sich auf Zehenspitzen und schaute vorsichtig über einen Gartenzaun. Dahinter wogte und loderte ein ganzes Meer prächtiger Blumen. Direkt am Haus wiegte sich roter Mohn, es sah aus, als stünde die Treppe in Flammen. Mitten in diesem Feuer stand ein alter Mann auf den Stufen, beschirmte die Augen mit der Hand und betrachtete die Welt.

»Na, dann versuchen wir es mal«, flüsterte Jewdokija unsicher, drehte sich zu Mitja um, den sofort aller Mut verließ, und fügte hinzu: »Wir haben ein wenig Angst vor ihm. Er kann hexen.«

»Wie?«

»Sehen Sie den Flieder? Überall ist er längst verblüht. Und die Gladiolen da – die sind eigentlich erst im August so weit. Aber bei ihm blüht alles gleichzeitig. Das kommt nicht von ungefähr.«

»Dann sollten wir ihn vielleicht lieber nicht belästigen?« Die botanischen Argumente überzeugten Mitja zwar nicht, aber er war trotzdem eingeschüchtert.

»Die anderen trinken alle«, erwiderte Jewdokija wehmütig. »Und wenn sie getrunken haben, prügeln sie sich. Sie sind doch ein kultivierter Mensch, das wäre eine Zumutung für Sie.«

»Jewdokija!«, rief der alte Mann plötzlich, und die beiden Direktoren – die jetzige und der künftige – zuckten zusammen wie Erstklässler, die etwas angestellt haben. »Ich erwarte Gäste. Seid ihr das vielleicht?«