Henryk M. Broder

Die letzten Tage Europas

Wie wir eine
gute Idee versenken

Knaus

Ich danke Wolfgang Ferchl, Alex Feuerherdt und Hilde Recher für das gnadenlose Lektorat, Walter Laquer für die Erlaubnis, den Titel seines 2006 erschienenen Buches noch einmal benutzen zu dürfen, Jo Schröder und der Preview Filmproduktion für die Organisation der »Europa-Safari« und allen Lesern der »Achse des Guten« für die zahllosen Hinweise zum Thema »Europa«.

3. Auflage

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Alex Feuerherdt, Hilde Recher

Gesetzt aus der Rotation von Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11328-5

www.knaus-verlag.de

Für Hanna und Tal

Though this be madness, yet there is method in’t.

William Shakespeare

Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.

Angela Merkel

Inhalt

1. Wie ich Europa für mich entdeckte

2. Gut, dass wir darüber gesprochen haben

3. Man muss auch gönnen können

4. Deswegen macht man es meistens am Wochenende

5. Wir leben in einer sehr glücklichen Zeit

6. Unterwegs im europäischen Förderdschungel

7. Omnipotente Phantasien impotenter Bürokraten

8. Das Nichts läuft auf vollen Touren

9. Ein bisschen Frieden

10. Frage dich, was du für Europa tun kannst

11. Wann geht es dem Leberkäse an den Kragen?

12. Wir für Europa

13. Gelegenheit macht Diebe

14. Die vereinigte Kirche von Europa

15. Das Karussell Europa muss sich weiter drehen – oder …?

Postscriptum: Des Wahnsinns fette Beute

Lieber Leser, liebe Leserin!

Beim Schreiben dieses Buches habe ich mich, wie immer, nur aus öffentlichen, allgemein zugänglichen Quellen bedient. Ich halte nichts von »vertraulichen Informationen«, die einem bei »Hintergrundgesprächen« zugeraunt werden. Alles, was man dabei erfährt, steht sowieso in der Zeitung. Dazu kamen Beobachtungen, die ich »vor Ort« sammeln konnte, als ich mit meinem Freund Hamed Abdel-Samad für die TV-Serie »Entweder Broder« in europäischen Landen unterwegs war: von Brüssel bis Krakau und von Island bis Kalabrien.

Eine Reihe europäischer »Skurrilitäten« war mir natürlich schon länger bekannt; die Normierung der Gurkenkrümmung zum Beispiel oder der Unsinn, dass die EU gleichzeitig Kampagnen gegen das Rauchen finanziert und den Anbau von Tabak fördert; dass der eine Kommissar über die Gefahren des Zuckerkonsums »aufklärt« und der andere Kommissar die Zuckerrübenbauern subventioniert.

Was für ein gigantisches Wahngebilde die praktische Umsetzung der »europäischen Idee« aber tatsächlich hervorgebracht hat, ist mir erst bewusst geworden, als ich den Text abgeschlossen hatte. Das Buch ist eine Art »work in progress«, die ich wie eine Loseblattsammlung fortsetzen könnte. Es sind nicht die einzelnen Absurditäten, die das Ganze diskreditieren, es ist die Summe der zahllosen Interventionen in unser Leben und es sind die Begründungen, mit denen sie uns präsentiert werden, wobei das Adjektiv »alternativlos« nur die Spitze der Unsinns-Pyramide markiert. Nehmen Sie deshalb die Beispiele, die Sie in diesem Buch finden werden, »pars pro toto«. Und weil jeden Tag neue Ungeheuerlichkeiten hinzukommen, die immer den gleichen Mustern und Strukturen folgen, spielt die Aktualität nur eine untergeordnete Rolle.

Sollten Sie den Eindruck haben, das politische Spitzenpersonal in diesem Land zeige doch gerade im Moment eine gewisse Einsicht – kein weiterer Schuldenerlass, Spardiktat für die »Südländer« – oder gar demonstrative Skepsis – keine Teilnahme an der Feier anlässlich der Aufnahme Kroatiens in die EU –, so bedenken Sie: Der nächste Wahltag steht schon vor der Tür! Und nichts fürchtet die Nomenklatura mehr als eine ehrliche Diskussion darüber, was sie mit der »europäischen Idee« angerichtet hat. Also müssen wir sie dazu zwingen, im Wissen, dass der wirkliche Europäer ein kritischer Europäer ist. »Europakritiker« und »Europaskeptiker« sind inzwischen negativ besetzte Begriffe, wie »Nestbeschmutzer« und »Kritikaster«. Aber Kritik und Skepsis sind die Waffen des Bürgers. Nur ein Untertan lässt sich widerspruchslos herumkommandieren.

In diesem Sinne: Ran an die Buletten!

Lesen und teilen Sie weitere Fundstücke und Debattenbeiträge zum Thema »Die letzten Tage Europas« mit mir auf www.achgut.com.

1. Wie ich Europa für mich entdeckte

Ich muss zugeben, dass mir »Europa« lange egal war. Es gibt einige Dinge, die ich als selbstverständlich nehme. Dass ich ein Mann bin, dass ich einen deutschen Pass habe, dass ich ein Europäer bin, dass ich in einem Rechtsstaat lebe, dass ich genug zu essen und zu trinken habe. Ich muss mich für nichts entschuldigen, ich brauche für nichts dankbar zu sein.

Ich glaube weder an Gott noch an die Klimakatastrophe, ich sammle Schneekugeln und Kühlschrankmagneten, ich leiste meinen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, zahle meine Steuern, halte an der roten Ampel und fühle mich überall dort wohl, wo ich in Ruhe gelassen werde. Zu sagen: »Ich bin ein Europäer«, fände ich so albern wie: »Ich dusche täglich«. Selbstverständlichkeiten, die in den Rang des Besonderen erhoben werden, sind peinlich. Ich wurde in Kattowitz geboren, und das liegt weder in Amerika noch in Afrika, Australien oder Asien, sondern mitten in Europa. Mir wäre schon geholfen, wenn es nicht in Polen, sondern in der Toskana liegen würde.

Ich habe noch nie an einer Europawahl teilgenommen, ich weiß nicht einmal, wer mich im Europäischen Parlament vertritt. Europapolitik war für mich einerseits der Sandkasten, in dem sich diejenigen tummeln, die nicht einmal in Gummersbach oder Radebeul ein Amt abbekommen hatten, andererseits die Auffangstation für Politiker wie Cem Özdemir, Angelika Beer, Sahra Wagenknecht und Günther Oettinger, die sich mit ihrer Basis überworfen hatten und mit einem Job abgefunden werden oder eine Warteschleife drehen mussten, bis über irgendeinen Skandal Gras gewachsen war.

Irgendwann konnte man von Köln nach Amsterdam oder Paris fahren, ohne an der Grenze aufgehalten zu werden. Das hat mir gut gefallen. Ich war auch sehr für den Euro, nicht wegen seiner integrativen Kraft, sondern weil ich es praktisch fand, in Dinkelsbühl, St. Pölten, Alkmaar, Montebelluna und Deauville mit derselben Währung bezahlen zu können. Ich gebe zu, ich habe mir über den Preis, den diese Bequemlichkeit fordert, keine Gedanken gemacht. Die da in Brüssel würden schon wissen, was sie tun. Auch wenn eine Pizza bei meinem Italiener in der Bleibtreustraße vor der Umstellung sechs Mark gekostet hat und danach sechs Euro, also das Doppelte.

Und wenn sich jemand über die Brüsseler Bürokratie mokierte, über die Regelung zur Krümmung der Salatgurke, so habe ich das als vernachlässigbare Schrulle abgetan. Denn, so glaubte ich, mit mir hat das alles gar nichts zu tun.

Mein Moment der Erleuchtung kam Anfang August 2012, als ich beim Zappen in eine Sendung des ZDF mit dem Titel »Giftiges Licht« geriet, eine 30-Minuten-Dokumentation über die Entstehungsgeschichte der Energiesparlampe, die auf Beschluss der Europäischen Kommission zum 1. September 2012 die konventionelle Glühbirne ersetzen sollte. Wohlgemerkt, es war keine Empfehlung, sondern eine verbindliche Verordnung, mit der den Einwohnern der 27 EU-Staaten die Benutzung der alten Glühbirne untersagt und die Benutzung der neuen Energiesparlampe vorgeschrieben wurde. Auch die neu hinzugekommenen Kroaten dürfen jetzt ihre Glühbirnen aussortieren. In der ZDF-Doku ging es vor allem um die Tatsache, dass die Energiesparlampe Quecksilber enthält, das extrem gesundheitsschädlich ist. Deswegen darf die Energiesparlampe nicht einfach weggeworfen, sie muss fachmännisch, unter erheblichem Aufwand entsorgt werden.

Hätte die EU-Kommission beschlossen, dass jeder EU-Bürger einmal am Tag den Atem für drei Minuten anhalten soll, um den globalen CO2-Ausstoß zu reduzieren, wäre dies nicht weniger absurd gewesen. Hinter dem Beschluss der Kommission standen zwei Hersteller, die sich von der »Reform« ein Milliardengeschäft versprachen. Der Besitzer des Haushaltsladens, bei dem ich immer einkaufe, hatte freilich vorgesorgt und einige Tausend Glühbirnen auf Vorrat gebunkert, eine kluge Maßnahme, die seine Stammkunden bis heute zu schätzen wissen. Ich fand es unfassbar, dass ein paar Brüsseler Kommissare in der Lage sind, Millionen von Bürgern zu diktieren, welche Glühbirnen sie benutzen sollen. »Charity begins at home«, sagen die Briten, Wohltätigkeit fängt zu Hause an. Die Herrschaft der Brüsseler Technokraten auch.

Inzwischen weiß man, dass die Energiesparlampe nicht nur gefährlich ist, sondern auch keinen Beitrag zur Energieersparnis leistet. Ihre Benutzer neigen dazu, sie länger brennen zu lassen, weil sie ja »weniger« Energie verbraucht. Am Ende ist es bestenfalls ein energiepolitisches Nullsummenspiel, das mit einem gigantischen Aufwand inszeniert wurde. Nein, so haben sich Konrad Adenauer und Robert Schuman die europäische Integration bestimmt nicht vorgestellt: eine Bürokratur, die vor allem für sich selbst sorgt, ein Super-Staat mit einer Quasi-Regierung, einem Quasi-Parlament und einem Parlamentspräsidenten, der sich über den Charakter des Projekts im Klaren ist. »Wäre die EU ein Staat, der die Aufnahme in die EU beantragen würde«, sagt Martin Schulz, »müsste der Antrag zurückgewiesen werden – aus Mangel an demokratischer Substanz.«

Meine Neugier war mit der Geschichte über die Energiesparlampe geweckt. Seitdem beobachte ich genau, wer da tagaus tagein über Europa, den Euro, die Krise usw. schwadroniert. Ich schaue den Eurokraten, die vorgeben, nur unser Bestes zu wollen, »aufs Maul«, wie man in Bayern sagt. Ich fürchte, eine weitere menschenbeglückende Idee ist im Begriff, totalitäre Züge anzunehmen. Und ich weiß, jeder Dammbruch fängt mit einem Haarriss an. Einem winzigen Haarriss, der entweder übersehen oder nicht ernst genommen wird.

Im Jahre 1986 explodierte die Raumfähre Challenger 73 Sekunden nach dem Start in 15 Kilometer Höhe, weil ein Dichtungsring in einer der Feststoffraketen defekt war. Bevor eine Concorde im Juli 2000 in der Nähe der Flughafens Charles de Gaulle beim Start abstürzte, gab es schon über einhundert »Zwischenfälle« – von geplatzten Reifen bis zu Schäden an den Treibstofftanks – , die den zuständigen französischen Stellen bekannt waren, ohne dass etwas unternommen worden wäre. Denn die Concorde symbolisierte nicht nur »Modernität« und »technische Leistung«, sie war »zugleich ein ästhetisches Juwel«, so die Tageszeitung »Liberation« nach der Katastrophe, die 113 Menschen das Leben kostete. Bis heute rätseln und spekulieren die Historiker darüber, ob es nur ein Versprecher von Günter Schabowski, dem neu ernannten Sekretär des Zentralkomitees der SED für das Informationswesen, war, als er bei der legendären Pressekonferenz vom 9. November 1989 auf die Frage eines Journalisten erklärt hatte, die neue Reiseregelung für DDR-Bürger sei »ab sofort« in Kraft. Schabowskis Äußerung führte zu einem Massensturm auf die Grenzanlagen und zur Öffnung der Mauer durch die verwirrten und überforderten Grenzschützer.

Ob es nun um die Challenger, die Concorde oder das Grenzregime der DDR geht, immer wieder beweist das Sprichwort »kleine Ursachen, große Folgen« seine Gültigkeit. Man kann sich und anderen lange etwas vormachen, die Augen vor der Realität verschließen, so tun, als sei alles in Ordnung, als habe man alles unter Kontrolle. Irgendwann kommt der Moment der Wahrheit, und je länger man ihn vor sich herschiebt, umso gnadenloser schlägt er ein.

Das Dritte Reich war nach nur zwölf Jahren am Ende, es dauerte – vor dem Hintergrund der Weltgeschichte – eine Millisekunde. Dennoch sind seine Nachbeben bis heute spürbar. Die Sowjetunion brauchte 70 Jahre, um zu implodieren, die DDR immerhin 40. Eine Fiktion kann auf vielerlei Weise am Leben erhalten werden: durch sanfte Propaganda, brutale Gewalt, eine Mischung aus diesem und jenem und allem Möglichen dazwischen. Wenn es dann vorbei ist, kommen die Propheten aus der Deckung und rufen: »Wir haben es kommen sehen!« Leider haben sie es nicht kommen sehen, bevor es passiert ist. Wie die Börsenexperten, die uns einen Tag nach dem Crash sagen, warum er nicht zu vermeiden war, eine Erkenntnis, die sie uns einen Tag vor dem Crash nicht mitteilen mochten.

Ich misstraue grundsätzlich allen Experten. Ob es nun um Politik, Wirtschaft, das Klima, die Energiewende, Warentermingeschäfte oder die Kursentwicklung des südafrikanischen Rand geht. Wenn diese Experten nur unbedarft wären, könnte man sie gewähren lassen. Aber sie sind anmaßend, präpotent und außerstande, ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Deswegen erklären sie alles, das sie nicht erklären können, zu »komplexen Vorgängen«. »Komplex« bedeutet in diesem Zusammenhang: »Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede, aber ich tu mal so, als wüsste ich Bescheid. Denn ich bin ein Experte. Und du bist es nicht.«

Ich bin in der Tat nicht in der Lage, Einsteins Relativitätstheorie zu begreifen; der Blick aus dem dritten Stock meiner Berliner Wohnung geht nicht weit genug, damit ich die Erdkrümmung erkennen kann. Also verlasse ich mich darauf, dass Einstein mit seiner simplen Formel richtig lag, und da mein Computer in Berlin genauso gut funktioniert wie am Potomac River, ist mir das Beleg genug; und ich vertraue auch darauf, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, die sich um die Sonne dreht.

Allem Expertentum zum Trotz gibt es so etwas wie den gesunden Menschenverstand, die Briten nennen es »Common sense«. Der sagt mir, dass ich eine Weile auf Kredit einkaufen kann (so wie man früher beim Krämer an der Ecke hat anschreiben lassen), dass ich aber eines Tages die offene Rechnung begleichen muss. Tue ich es nicht, bekomme ich keinen Kredit mehr. Oder derjenige, der mir Kredit gegeben hat, macht Pleite, denn ich bin nicht der Einzige, der bei ihm in der Kreide steht und nicht zahlen mag oder kann.

Das ist doch ganz einfach, nicht wahr? Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muss man nicht Nationalökonomie studiert und alle Theorien von John Maynard Keynes bis Ludwig von Mises parat haben. Es genügt zu wissen, dass auf Dauer Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht sein müssen, wobei es von Vorteil wäre, ein wenig mehr einzunehmen als auszugeben, damit man sich entweder etwas außerhalb der Reihe leisten kann, eine Reise um die Welt zum Beispiel, oder eine Rücklage für unvorhergesehene Notfälle hat.

Es gibt freilich eine Möglichkeit, diese Regel auszuhebeln. Ich könnte meinen Nachbarn, der vermögender ist als ich, weil er einen besser bezahlten Job oder etwas geerbt hat, bitten, mich zu unterstützen. Ich würde natürlich nicht bei ihm klingeln, die Hand aufhalten und sagen: »Gib mir Geld, du hast mehr als ich!« Nein, ich würde es geschickter anstellen. Ich würde ihn zu mir auf einen Tee einladen und ihn davon überzeugen, dass es in seinem Interesse ist, mir unter die Arme zu greifen. Er möchte doch, würde ich sagen, keinen Nachbarn haben, der sein Haus verkommen lässt, weil das auch den Wert der anderen Häuser in der Nachbarschaft mindern würde. Vor allem möchte er nicht, dass ich eine Etage meines Hauses untervermiete, um meine Finanzen aufzubessern, man könne doch nie wissen, wer da einziehen würde. Im schlimmsten Fall könnten es Leute sein, die ihren Müll über den Zaun werfen, auf das Grundstück des Nachbarn! Es sei auch in seinem Interesse, dass es mir gut gehe, denn wenn es mir nicht gut gehe, würde ich zu Handlungen neigen, die ich später bereuen könnte.

Unter solchen Umständen wird mein Nachbar nicht zögern, mir seine Hilfe anzubieten. Kein Bargeld, das wäre demütigend, nein, Hilfe zur Selbsthilfe. Er wird vorschlagen, die Müllabfuhrgebühr für mich zu bezahlen, er wird mir seine Putzfrau und seinen Rasenmäher zur Verfügung stellen, denn er hat begriffen: Sein Wohlergehen hängt mit meinem Wohlergehen zusammen.

Wenn alles gut geht, werde ich ihm später vorschlagen, unsere Kooperation zu erweitern. Wir sollten, werde ich sagen, unsere Einnahmen zusammenlegen und unsere Ausgaben koordinieren. Einerseits verdient er mehr als ich, andererseits gebe ich weniger aus als er. Von einem solchen Deal würden wir beide profitieren. Ich würde unterm Strich mehr einnehmen, er weniger ausgeben. Win-win! Jetzt bräuchte das Ganze nur noch einen Namen. Wie wäre es mit »UmFAIRteilung«? War das nicht auch das Motto einer Kampagne für mehr soziale Gerechtigkeit, getragen von der Gewerkschaft Ver.di, den Grünen und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband unter der Führung von Ulrich Schneider?

Genau dieses Spiel wird in der EU gespielt. Es sind 28 Länder, die sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengetan haben. Von Polen bis Portugal, von Finnland bis Malta. Die »Vereinigten Staaten von Europa« sind das größte europäische Reich seit Karl dem Großen, der zu beiden Seiten des Rheins als Urahne verehrt wird. Bereits Ende des 8. Jahrhunderts wurde er zum Pater Europae, dem Vater Europas, erklärt. Lange vor Konrad Adenauer, Robert Schuman, Jean Monnet, Edmund Stoiber und Herman Van Rompuy.

Siebzehn dieser Länder haben eine gemeinsame Währung. Ein Bergsteiger würde sagen, sie bilden eine Seilschaft, bei der jeder für alle und alle für jeden haften. Strauchelt einer, müssen ihn die anderen auffangen, wenn sie nicht selber abstürzen wollen. Medizinisch gesehen sind fünf dieser siebzehn Länder bereits Pflegefälle Stufe 2, Stand März 2013; bis zum Erscheinen dieses Buches könnten es noch mehr werden: Portugal, Spanien, Griechenland, Irland und Zypern. Italien und Frankreich balancieren am Rand des Abgrunds, richtig gesund sind nur vier: Deutschland, Finnland, Luxemburg und Österreich. Allen übrigen geht es »den Umständen entsprechend«, das heißt mal mehr und mal weniger schlecht. Die Situation ist also sehr »komplex«, und man muss schon ordentlich »differenzieren«, wenn man »Generalisierungen« vermeiden will.

Jetzt stellen Sie sich ein ganz normales Mietshaus mit 17 Parteien vor. Fünf von ihnen leben von der Stütze und sind nicht in der Lage, die Umlagen für Heizung, Müllabfuhr, Reparaturen, Treppenreinigung etc. zu bezahlen. Vier haben ein geregeltes Einkommen. Die Übrigen kommen mit Ach und Krach über die Runden und sind froh, wenn sie am Ultimo noch ein paar Groschen in der Haushaltskasse haben. Würden Sie in einem solchen Haus leben wollen? Möchten Sie im Namen der Hausgemeinschaft bei einer Bank vorstellig werden und um einen Kredit zur Finanzierung einer neuen Heizungsanlage bitten? Welche Sicherheiten hätten Sie anzubieten?

Sie leben aber nicht nur in einem solchen Haus, Sie haben es auch jeden Tag mit Politikern und Medienvertretern zu tun, die von diesem »Modell« begeistert sind. Es sei, sagen sie, wegweisend für die Zukunft, es müsse noch viel mehr solcher Häuser geben. Es stimme zwar, dass die finanzielle Situation prekär sei, dafür aber gebe es wenig Animositäten unter den Bewohnern. Man habe sogar im Laufe der Zeit so etwas Ähnliches wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt, dieses Gefühl müsse erhalten bleiben, ja gefördert werden, denn sonst bestehe die Gefahr, dass die Einwohner des Hauses übereinander herfallen. Der Hausfrieden stehe auf dem Spiel. Und damit dieser erhalten bleibe, müsse man die Lasten »gerecht« verteilen.

Diese Argumentation ist so schief wie der Turm von Pisa. Dazu unlogisch und konstruiert. Aber darauf kommt es nicht an. Sie wird auch nicht dadurch besser, dass sie ständig wiederholt wird. Wir hören und lesen jeden Tag, Europa sei »ein Haus des Friedens«, ohne die europäische Integration gäbe es längst wieder Krieg, und dass man alles, aber auch wirklich alles tun müsse, damit es mit der Integration weitergeht und der Frieden erhalten bleibt. Nicht zufällig wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis 2012 ausgezeichnet. Ich bin jetzt also Teil einer Friedensnobelpreisträgergemeinschaft. Einer von 500 Millionen Europäern. Ich sollte stolz darauf sein. Wenn ich nicht eine angeborene Allergie gegen »Gemeinschaften« hätte. Ich möchte, wie Groucho Marx, keinem Verein angehören, der darauf besteht, dass ich ihm beitreten soll. Es reicht mir schon, dass ich mir meine Eltern, meinen Geburtsort, meine Nationalität und meine Religion nicht aussuchen konnte, dass ich sozusagen vorfabriziert, vorgeprägt, vorbestimmt auf die Welt gekommen bin. Dabei habe ich noch Glück gehabt. Als Angehöriger der untersten Kaste in Indien wäre ich schlimmer dran. Dagegen ist das Leben als Beutedeutscher mit polnisch-jüdischem Migrationshintergrund der reine Luxus.

Aber ich möchte weder ein Europäer honoris causa sein noch dazu zwangsverpflichtet werden, mich als Europäer fühlen zu müssen. Schon gar nicht von Leuten, die ihr Europäertum zu einem Beruf gemacht haben. Europa, sagt der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, ist »kein Ort, sondern eine Idee«. Das hört sich erst einmal gut an, ist aber eine hohle Formel, die jeder nach eigenem Gusto mit Inhalt füllen kann. Also nutzlos. Man kann auch nicht für oder gegen Europa sein. Das ist so, als wäre man für oder gegen das Wetter. Man kann aber Meteorologen, die das Wetter vorhersagen oder es zumindest versuchen, misstrauen. So wie man Demoskopen, die Wahlergebnisse prognostizieren, misstrauen sollte. In diesem Sinne habe ich kein Vertrauen zu den Berufseuropäern. Und ich erkläre Ihnen gerne, warum Sie gut daran täten, meinem Beispiel zu folgen.