Josef Winkler

Begib dich auf die Reise
oder Drahtzieher der Sonnenstrahlen

Suhrkamp

Begib dich auf die Reise oder Drahtzieher der Sonnenstrahlen

Der Hahn ging sofort auf das Chamäleon los und stieß ein paar kurze zufriedene Gluckser aus. Das Chamäleon machte bei seinem Anblick jäh und wie versteinert halt. Obwohl es Angst hatte, war es auch mutig. Es stemmte die Füße in den Boden, riß weit seinen Rachen auf und streckte dem Feind, um ihn abzuschrecken, blitzschnell seine lange steife, keulenförmige Zunge entgegen. Der Hahn stand einen Augenblick da, als wäre er unsicher und unschlüssig. Dann ließ er seinen Schnabel rasch und resolut wie einen Hammer niedersausen und riß dem Chamäleon die Zunge aus.

Tania Blixen, Jenseits von Afrika

I Kirschen im Vogelnest

Seine Stimme klang sehr ernst, als er zu mir sagte: »Msabu, ich finde, du solltest aufstehen.« Ich richtete mich im Bett auf, verwirrt und verärgert, denn hätte wirklich eine Gefahr gedroht, dann wäre Farah gekommen, um mich zu holen. Doch als ich Kamante aufforderte zu verschwinden, rührte er sich nicht von der Stelle: »Msabu«, wiederholte er, »ich finde, du solltest besser aufstehen. Ich glaube, Gott kommt.«

Tania Blixen, Jenseits von Afrika

Der Katzensilberkranz in der Henselstraße

Eine ganze Epoche liegt zwischen uns,

und heute ein gewaltiges Schneeland.

Stéphane Mallarmé

1.

»Weil ich, in jener Zeit, an jenem Ort, unter Kindern war und wir neuen Platz gemacht haben, gebe ich die Henselstraße preis, auch den Blick auf den Kreuzberg, und nehme zu Zeugen all die Fichten, die Häher und das beredte Laub. Und weil mir zum Bewußtsein kam, daß der Wirt keinen Groschen mehr für eine leere Siphonflasche gibt und für mich auch keine Limonade mehr ausschenkt, überlasse ich anderen den Weg durch die Durchlaßstraße und ziehe den Mantelkragen höher, wenn ich sie blicklos überquere, um hinaus zu den Gräbern zu kommen, ein Durchreisender, dem niemand seine Herkunft ansieht«, steht in der Prosa »Jugend in einer österreichischen Stadt« von Ingeborg Bachmann. Immer wieder, besonders abends, wenn es dämmert und in Klagenfurt die Straßen leer werden, gehe ich von der Khevenhüllerstraße, über die Radetzkystraße, Richtung Kaserne, wenige hundert Meter weiter, in die Henselstraße, in der Ingeborg Bachmann einen Teil ihrer Kindheit und ihre Jugend verbracht hat, betrachte einen großen, an der Zauntür des Nachbarhauses hängenden Schildpattkranz, einen Katzensilberkranz, wie ich ihn nenne, der aus Hunderten hostiengroßen Schildpattalern zusammengefügt ist, ziehe ein leicht angeklebtes Schildpatt aus dem Kranz, stecke es schnell und verstohlen ein – auf meinem Schreibtisch wird es liegen müssen, sage ich mir, während ich diesen Text schreibe – und gehe, an das Katzensilber meiner Kindheit denkend, ein paar Schritte weiter zum Haus Nummer 26, zum Haus der Ingeborg Bachmann, das Katzensilber vor Augen, das ich damals am Flußufer der Drau gesammelt, nach Hause getragen, als Lesezeichen in Winnetou I hineingesteckt habe – ein paar Jahre bevor ich den Namen Ingeborg Bachmann das erste Mal hörte –, an der Stelle, wo Winnetou bei einem Zweikampf seinem damals noch weißen Feind Old Shatterhand ein Messer ins Herz stoßen wollte, aber auf der linken Brusttasche seines Gegners an der Sardinenbüchse abrutschte, so daß das Messer des Indianers seinem Feind Old Shatterhand oberhalb des Halses und innerhalb der Kinnlade in den Mund und durch die Zunge stieß und sein Blut, wie es in Winnetou I steht, »aus der äußeren Wundöffnung am Hals in einem beinahe fingerdicken Strahle herausrann«.

2.

Vor dem Haus von Ingeborg Bachmann stehend und auf den über die Hausmauer rankenden Rosenstrauch und die die Gedenktafel der Dichterin verdeckenden weißen und rosafarbenen Rosenblüten schauend, schiele ich immer wieder nach rechts, ein paar Häuser weiter, stadteinwärts, aufs Gartentor in der Henselstraße Nummer 22, an dem der große, schwere Schildpattkranz hängt, und stelle mir vor, daß dieser Schildpattkranz am Gartentor des Hauses von Ingeborg Bachmann angebracht ist mit einer langen breiten Schleife und mit den aufgedruckten Worten aus ihrer Prosa »Jugend in einer österreichischen Stadt«: »In der Ausdünstung von Ölböden, von ein paar Hundert Kinderleben, Zwergenmänteln, verbranntem Radiergummi, zwischen Tränen und Tadel, Eckenstehen, Knien und unstillbarem Schwätzen sind zu leisten: ein Alphabet und das Einmaleins, eine Rechtschreibung und zehn Gebote.« Wenn Ingeborg Bachmann von der Ausdünstung der Ölböden in der Schule spricht, tauchen wieder die eigenen Erinnerungen vom schwarzen Ölboden im Unterrichtsraum auf, in der »Klasse« der Dorfvolksschule, wie wir den Raum nannten – damals, wann war das? – vor einem halben Jahrhundert schon, als der Kleindienst Gerhard, der älteste Sohn einer Keuschlerfamilie, deren Kinder jahrelang versteckt im eigenen Haus und Hof gehalten wurden und niemals mit den Bauernkindern des Dorfes spielen durften, zum ersten Mal an die Dorföffentlichkeit, in die Schule gehen sollte und sich im Flur des Schulhauses gegen den stark nach Öl riechenden Boden stemmte und schrie – wir warteten in der Klasse, in den uns zugeteilten Sitzbänken auf unseren zukünftigen Mitschüler –, so schrie, daß mich sein Schreien an das furchterregende Zwillen eines Schweins erinnerte, das, festgebunden mit einem kotbeschmierten Strick am Oberkiefer, aus dem Stallglitsch in den Hof hinausgezogen wurde, worauf zwei stark behaarte menschliche Hände den geladenen silbernen Bolzenschußapparat, den »Buffer«, wie wir ihn nannten, an den Schädel des sich gegen den Hofboden stemmenden, widerstrebenden Schweins hielten, der Menschenkörper zurückfuhr, das Schwein zusammensackte, der zappelnde dicke Fleischwanst mit hocherhobenen Beinen vor dem Misthaufen lag, mit einem großen Küchenmesser in seinen Hals gestochert und das fingerdick warm herausströmende, in die Waschschüssel, über der sich am Wochenende mit einer Terpentinseife, auf der ein Hirsch aufgedruckt war, die Kinder die Achselhöhlen wuschen, schäumende Schweinsblut von der taubstummen Magd aufgefangen wurde, und während ich in der Henselstraße vor dem Haus von Ingeborg Bachmann stehe und auf den Rosenstrauch an der rosaroten Hausmauer schaue, mir die sich gegen den schwarzen Ölboden stemmenden Füße des weinenden und zwillenden Kleindienst Gerhard vorstelle, der von zwei Erwachsenen, von seiner Mutter und von dem Augengläser tragenden Lehrer, in die Klasse hineingezogen werden mußte, fallen mir wieder die Worte meines inzwischen dreizehnjährigen, damals siebenjährigen Sohnes ein, der sich auch am zweiten Schultag gegen die Türschwelle der Schule stemmte und flehentlich sagte: »Ich möchte nicht in die Schule gehen, ich möchte Schriftsteller werden!«

3.

»Die Kinder legen alte Worte ab und neue an«, steht in der Prosa »Jugend in einer österreichischen Stadt« – einer Stadt, die Ingeborg Bachmann in dieser Geschichte nur einmal mit dem Buchstaben »K« identifiziert. Immer noch vor dem Haus von Ingeborg Bachmann stehend, auf die Blüten des hoch am Gemäuer aufragenden und die Gedenktafel verdeckenden Rosenstrauchs und wieder sehnsuchtsvoll nach rechts auf den am Gartentor des Nachbarhauses hängenden Schildpattkranz schauend, erinnerte ich mich an einen Herbsttag – damals, wann war das? –, als ich, aus Klagenfurt kommend, in meinem Heimatdorf Kamering meinen Freund, den Schneiderssohn, besuchte, in die nach Stoffballen und Zigaretten riechende großräumige Küche hineinging, in der seine Mutter an der Singer-Nähmaschine ratterte, sein Vater mit der diskusförmigen, kleinen rosaroten Schneiderkreide den angeschnittenen Stoff markierte, und wir aus dem Radio hörten, daß in Rom die in Klagenfurt aufgewachsene österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann nach einem Brandunfall in ihrer Wohnung ihren schweren Verletzungen erlegen sei. Das Wort »erlegen« hatte mich damals, als Jugendlichen, irritiert und erschreckt, die Radiostimme sprach nicht von Tod und Sterben, sondern von »erlegen«. Ich ahnte nur, daß die Dichterin tot war, ich hatte aber nicht den Mut, die Schneiderin zu fragen, was denn das Wort »erlegen« überhaupt bedeutet. In dieser Radiomeldung war auch davon die Rede, daß Ingeborg Bachmann unter Drogen gestanden haben soll, Alkohol und Tabletten eingenommen habe und mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen sei, die schließlich einen Schwelbrand auslöste. Ribiselsaft schlürfend und mit einer Gabel im Kirschkuchen stochernd, die Kirschkerne in unsere Hände spuckend, schauten wir in der Schneiderwerkstatt mit Gänsehaut immer wieder aufs kleine Kofferradio, warteten, begleitet von den Morsezeichen der ratternden Singer-Nähmaschine, die nächste volle Stunde ab, um dieselbe Meldung mit neuen Details und vielleicht auch noch einmal das Wort »erlegen« zu hören, das wir bis dahin nicht einmal vom Hörensagen kannten.

4.

»Noch lieber sind sie unter sich, nisten sich auf dem Dachboden ein und schreien manchmal laut im Versteck, um ihre verkrüppelten Stimmen auszuprobieren. Sie stoßen leise kleine Rebellenschreie vor Spinnennetzen aus.« Erlegen, um es so zu sagen, erlegen, sage ich und befühle mit der durchstochenen, vernarbten Zunge meinen Gaumen mit Groll und Verzweiflung, denn ich sehe zappelnde Kinderbeine auf dem Asphalt vor mir, erlegen in dieser Stadt, in der ich auch schon mein zweites Jahrzehnt verbringe und in der Ingeborg Bachmann in der Henselstraße aufgewachsen ist, seinen Verletzungen erlegen ist auch der neunjährige Lorenz Woschitz, vor zwei Jahren, als einem größenwahnsinnig gewordenen Bürgermeister und einem ebenso größenwahnsinnigen Landeshauptmann, den beiden Hausherren der Stadt K. und des Landes K., in den Kopf gestiegen war – der eine hat später, schwer alkoholisiert, aus seinem mit dreifach überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Auto ein beim Aufprall mehrfach sich überschlagendes Geschoß gemacht –, für drei Fußballspiele, für viereinhalb Stunden Fußball also, ein gigantisches Fußballstadion in dieser Kleinstadt zu bauen. Der neunjährige, gerade aus der Schule kommende Lorenz Woschitz, der auf dem Heimweg war, wurde in Klagenfurt an einer Kreuzung – damals ein Dreivierteljahr lang eine ein paar hundert Quadratmeter große Baustelle –, die er auf einem Zebrastreifen bei Grün überquerte, von einem Lastwagen überfahren und getötet. Um das neue Fußballstadion schneller fertig bauen zu können, in dem im Juni 2008 in Klagenfurt drei Europameisterschaftsspiele stattfanden, wurde von dieser Kreuzung, an der sich der tödliche Unfall ereignete, immer wieder Personal zu Arbeiten ins Fußballstadion abgezogen, manchmal sah man wochenlang keine Arbeiter auf dieser mit Verkehrstafeln und Hindernissen vollgepflasterten, die Autofahrer irritierenden Kreuzung, und so haben die verantwortlichen Straßenbauer, die Sensenmänner von Klagenfurt, wie ich sie nenne, schließlich den Tod eines Schulkindes buchstäblich aus dem Asphalt gestampft. Von einem Omnibus aus, der im Verkehr ins Stocken geraten war, sahen Schulkinder den sterbenden, noch mit den Beinen zappelnden neunjährigen Lorenz Woschitz auf dem Asphalt liegen, in der Radetzkystraße, wenige hundert Meter von der Henselstraße entfernt, in der Ingeborg Bachmann im Haus mit der Nummer 26 Kindheit und Jugend verbracht hat. »Die Kinder haben keine Zukunft«, steht in der Prosa »Jugend in einer österreichischen Stadt«. »Sie fürchten sich vor der ganzen Welt. Sie machen sich kein Bild von ihr, nur von dem Hüben und Drüben, denn es läßt sich mit Kreidestrichen begrenzen. Sie hüpfen auf einem Bein in die Hölle und springen mit beiden Beinen in den Himmel.«

5.

Diese Stadt Klagenfurt, die sich seit über dreißig Jahren, jährlich im Juni, in der Zeit der Lindenblüte, als deutschsprachige Literaturhauptstadt feiern läßt, ist wohl die einzige Stadt Mitteleuropas mit 100 ‌000 Einwohnern, in der es keine eigene Stadtbibliothek gibt, in einem Land, in dem der damalige, inzwischen eingeäscherte Landeshauptmann gemeinsam mit dem röm.-kath. Parteivorsitzenden der sogenannten christlich-sozialen Volkspartei – der vor einem Jahr einen schweren Verkehrsunfall überlebt und nach seiner Genesung im Freundeskreis demutsvoll erzählt hat, daß ihm, um seine Worte zu gebrauchen, die »Lourdes-Mitzi«, die heilige Mutter Gottes von Lourdes, beim Verkehrsunfall das Leben gerettet hat –, dieser Kärntner ÖVP-Vorsitzende und der ehemalige Kärntner Landeshauptmann, der sich mit seiner Asche aus dem Staub gemacht hat, haben im vergangenen Jahr beim Verkauf der Kärntner Hypo-Bank einem Villacher Steuerberater für seine zweimonatige mündliche Beratung ein Honorar in Höhe von 6 Millionen Euro in räuberischer Manier aus Landesvermögen zugeschanzt, und höchst appetitlicherweise ist dieser Villacher Steuerberater auch noch der persönliche Steuerberater des Kärntner ÖVP-Politikers, dem himmel- und gottseidank die Lourdes-Mitzi bei einem Verkehrsunfall das Leben gerettet hat. Gegrüßt seist du, Maria, Königin der Güte, Ölbaum der Barmherzigkeit, durch welchen uns die Arznei des Lebens zukommt! Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf! Gottesmutter süße, o Maria hilf! Das gigantische Stadion, das für drei Europameisterschaftsspiele gebaut wurde, hat über 70 Millionen Euro, also eine Milliarde Schilling, gekostet, und der Villacher Steuerberater hat für seine zwei Monate lange mündliche Beratung von diesen beiden Politikern 6 Millionen Euro, also 84 Millionen Schilling, eingestreift. Der von den beiden Politikern auf diese Art und Weise zum Multimillionär gemachte Steuerberater begründete die Höhe des Honorars unter anderem mit den Worten: »Es waren zwei intensive Arbeitsmonate!« und »Ich habe mein Werk abgeliefert!«. (Zuerst hätten es 12 Millionen Euro Honorar sein sollen, aber er hat sich erweichen lassen und hat dem Land einen, um seine Worte zu gebrauchen, »Patriotenrabatt« gewährt und schließlich nur mehr 6 Millionen Euro verlangt und bekommen.) Aber für eine Stadtbibliothek in der Landeshauptstadt, wie es sie in jeder Stadt Mitteleuropas gibt, hatten diese drei erwähnten Politiker in den letzten Jahren, und eigentlich seit dieser Literaturwettbewerb existiert, kein Geld. Sie haben kein Geld für eine Bibliothek für Kinder und Jugendliche. Sie haben kein Geld für Bücher. Sie haben kein Geld für die Bücher von Ingeborg Bachmann. Sie haben kein Geld für »Der gute Gott von Manhattan«. Sie haben kein Geld für die »Anrufung des Großen Bären«. Sie haben kein Geld für »Die gestundete Zeit«. Sie haben kein Geld für »Malina«, für »Das dreißigste Jahr«. Seit über dreißig Jahren haben sie kein Büchergeld für die Jugend dieser österreichischen Stadt! denke ich, in der Henselstraße, vor dem Haus von Ingeborg Bachmann stehend, auf den an der rosaroten Hausmauer sich hochrankenden Rosenstrauch und immer wieder nach rechts zum Schildpattkranz schielend, der schwer an der Gartentür des Nachbarhauses hängt. »Es ist kein Geld im Haus. Keine Münze fällt mehr ins Sparschwein. Vor Kindern spricht man nur in Andeutungen. Sie können nicht erraten, daß das Land im Begriff ist, sich zu verkaufen und den Himmel dazu, an dem alle ziehen, bis er zerreißt und ein schwarzes Loch freigibt.« Um die Politik Willy Brandts zu unterstützen, drückte im Oktober 1972, also ein Jahr vor dem Tod von Ingeborg Bachmann, bei einem Parteitag der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll seine Abscheu vor den Mächtigen, die keine Scham haben, mit folgenden Worten aus: »Es gibt nicht nur eine Gewalt auf der Straße, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse hoch gehandelt werden.«

6.

»Die Durchlaßstraße hat ihren Namen nicht von dem Spiel, in dem die Räuber durchmarschieren, aber die Kinder dachten lange, das wäre so«, schreibt Ingeborg Bachmann in ihrer Geschichte »Jugend in einer österreichischen Stadt«. Und: »Erst später, als die Beine sie weiter trugen, haben sie den Durchlaß gesehen, die kleine Unterführung, über die der Zug nach Wien fährt. Hier mußten die Neugierigen hindurch, die zum Flugfeld wollten, über die Felder, quer durch die Herbststickereien. Jemand ist auf die Idee gekommen, den Flugplatz neben den Friedhof zu legen, und die Leute in K. meinten, es sei günstig für die Beerdigung der Piloten, die eine Zeitlang Übungsflüge machten. Die Piloten taten niemand den Gefallen, abzustürzen. Die Kinder brüllten immer: Ein Flieger! Ein Flieger! Sie hoben ihnen die Arme entgegen, als wollten sie sie einfangen …« Ich verlasse die Henselstraße, verabschiede mich noch von der die rosarote Hausmauer hochrankenden Rosenstaude und vom Schildpattkranz, gehe die St. Veiter Straße entlang, am rosaroten Haus mit der Nummer 24 vorbei, in dem der Zeichner Alfred Kubin vier Jahre lang als Jugendlicher verbracht hat. »In diese Stadt ist man selten aus einer anderen Stadt gezogen, weil ihre Verlockungen zu gering waren«, schreibt Ingeborg Bachmann. Um seinem in Klagenfurt unnützen und verpfuschten Leben, wie er es nannte, ein Ende zu machen, trieb der neunzehnjährige Alfred Kubin einen Revolver auf, setzte sich in den Zug, fuhr in den Ort seiner Kindheit, nach Zell am See, einem Hochgebirgsort im Salzburgischen, um sich am Grab seiner früh verstorbenen Mutter zu erschießen, aber die eingerostete Waffe funktionierte in diesem Moment nicht, beim zweiten Male fehlte ihm die seelische Kraft, wie er es nannte, und er fuhr wieder nach Klagenfurt zurück, in seine Behausung, wo er Schlangen, Würmer und Käfer beherbergte. Ich gehe zur Durchlaßstraße, durch die Unterführung, über die der Zug nach Wien fährt, zum Annabichler Friedhof. Einen Steinwurf nur vom Grab von der Ingeborg Bachmann und einen Katzenhechtsprung vom Flugplatz entfernt ist das Grab des neunjährigen Lorenz Woschitz. Weit auseinandergegrätscht und unendlich verlängert hat man seine Beine, der eine Fuß ist im Himmel, der andere ist in der Hölle, um die Worte von Ingeborg Bachmann zu paraphrasieren, und auf der Straße ist in der Todesstunde eine Kreidezeichnung in Gestalt eines Kindes geblieben, bis sie ausradiert worden ist vom Regen, Staub oder Wind. Der Magistrat der Stadt Klagenfurt war nicht imstande, der Familie einen zinslosen Kredit für die Begräbniskosten – mit weißem Kindersarg – zu gewähren. Es gibt dafür keinen Budgetposten! soll es wörtlich geheißen haben. Rote und lachsfarbene Nelken blühen auf dem Grab des Kindes, violette Stiefmütterchen, ein Herz aus Glas als Blumenbehälter, ein blauer Lederball, auf dem »Euro 2008« steht, auf dem kleinen, schönen Grabstein das Brustbild des neunjährigen Buben, ein blauer, leicht bewölkter Himmel hinter seinem blonden Scheitel. »Wir vermissen dich!« steht auf einem danebengesetzten, kleineren Stein, neben einem Gipsengel. Ja, wir vermissen dich, Lorenz Woschitz! Mit meinen Schritten vermesse ich die steinwurfweite Entfernung bis zum Grab von Ingeborg Bachmann, in dessen Mitte, umgeben von der Umklammerung niedergeschnittener Buchsbaumsträucher, ein rostfarbener Keramiktopf mit rosaroten Petunien steht. Auf ihrem Grabstein, zwischen den Buchstaben A und C des Namens Bachmann, steckt ein kleiner, weißer, ein wohl vom Bachwasser, denke ich, herzförmig zugeschliffener Stein. »In dem Mietshaus in der Durchlaßstraße müssen die Kinder die Schuhe ausziehen und in Strümpfen spielen, weil sie über dem Hausherrn wohnen. Sie dürfen nur flüstern und werden sich das Flüstern nicht mehr abgewöhnen in diesem Leben. In der Schule sagen die Lehrer zu ihnen: Schlagen sollte man euch, bis ihr den Mund auftut. Schlagen … Zwischen dem Vorwurf, zu laut zu sein, und dem Vorwurf, zu leise zu sein, richten sie sich schweigend ein.«

7.

Als ich mich vor vierzehn Tagen, auf einer Lesereise in der Türkei, in Ostanatolien, in der Stadt Van aufhielt, sechzig Kilometer von der iranischen Grenze entfernt, durch die Stadt ging und in einer Markthalle eine Scheibtruhe sah, in der sich an die dreißig, vierzig schwarze, blutige Schafsschädel stapelten, da dachte ich, während der Fleischhauer die schwarzen Schafsschädel nacheinander in einen Schacht hineinwarf, wie lange werden sich die Bevölkerung des Landes K. und die Bewohner der Stadt K. von diesen schamlosen und räuberischen Politikern, den Hausherren des Landes Kärnten und den Hausherren der Stadt Klagenfurt, noch ausbeuten lassen, wann werden sie endlich auf die Straße gehen und den Mund aufmachen, wie lange werden sie sich noch »schweigend einrichten«, wie lange noch werden sie demütig sein und sich lammfromm ausrauben und abschädeln lassen, bis sie vielleicht, die Bevölkerung und die Bewohner dieser Stadt und dieses Landes, mit letztem großen Staunen vor ihren eigenen Eingeweiden stehen, die ihnen zu Füßen liegen werden, wie lange noch, dachte ich, als ich dem anatolischen Fleischhändler zuschaute, wie er nacheinander die blutigen, schwarzen Schädel der Schafe entsorgte, bis die blutbeschmierte Scheibtruhe leer war und ein Kind in einer Schlangenlinie mit ihr davonfuhr. »Zeit der Trophäen, Zeit der Weihnachten, ohne Blick voraus, ohne Blick zurück, Zeit der Kürbisnächte, der Geister und Schrecken ohne Ende. Im Guten, im Bösen: hoffnungslos.«

Kabale und Bestatter

ch'derken doss ort

ch'derken doss ort:

a mejdl hot mich do getrejsst amol

mit blasse lipn.

ch'derken di mide lompn,

di mentschn baj di tischn.

blojs der sal hot sich ojssgezojgn

lenger – in der ejbikajt arajn.

doss mejdl is schojn ejne fun die lompn.

ICH ERKENN DEN ORT

Ich erinnre mich an den Ort:

da hat mich ein Mädchen getröstet

mit blassen Lippen.

Ich erkenn die müden Lampen,

die Leute an den Tischen.

Nur der Saal hat sich gestreckt

lang – in die Ewigkeit hinein.

Das Mädchen ist schon eine von den Lampen.

Rajzel Zychlinski

Florjan Lipuš, der eigentliche und erste, wie ich es sage, Kärntner Schriftsteller slowenischer Sprache, also in einer Minderheitssprache sich ausdrückende kärntnerslowenische Autor, der wie auch andere literarische Größen, wie Peter Handke, Engelbert Obernosterer und Gustav Januš, das berühmte und damals jedenfalls auch berüchtigte Gymnasium in Tanzenberg besuchte, das Lipuš einmal als »Internatszwinger« bezeichnet hat, und der eigentlich Priester hätte werden sollen, wurde am 4. Mai 1937 als Sohn einer Magd in Lobnig oberhalb von Bad Eisenkappel/Železna kapla geboren. Während sein Vater als Wehrmachtssoldat diente, wurde seine Mutter Marija Lipuš, nachdem sie eine als Partisanen verkleidete Gruppe von Gestapo-Männern bewirtet hatte, vor den Augen ihrer beiden Söhne Florjan und Franc von Nazischergen abgeführt, deportiert und am 3. Feber 1945 im KZ Ravensbrück ermordet. Der junge Florjan mußte damals zusehen, wie die Mutter, die gerade den Brotteig angerührt hatte – zum Brotkneten ist sie nicht mehr gekommen –, von einem Gendarm mit dem Namen »Ugav« abgeführt wurde. »Vom Backtrog weg«, heißt es im Roman »Boštjans Flug« in der meisterhaften Übersetzung von Johann Strutz, »in dem sie den Teig angerührt hatte, wurde sie abgeführt und hat kein Brot mehr geknetet. Weder der blinde und taube Gott noch die Heerscharen der Heiligen, auch sie auf der Flucht vor den Gewalttätern, auch sie mit eingezogenen Köpfen vor den Schlächtern, auch sie ohne Rückgrat und krumm vom Verbeugen, den Mächtigen angepaßt, auch sie Stumme, Ängstliche, Nutznießer, die alle ihr Mäntelchen nach dem Wind hängen, sie rührten keine Hand und regten nicht einmal den kleinen Finger, machten keinen Mucks auf ihren Sockeln.« Bevor ich »Boštjans Flug« und auch seinen satirischen, mich an Grimmelshausens »Simplicissimus« erinnernden Roman »Beseitigung meines Dorfes« gelesen und mir Fabjan Hafner, Lipuš-Übersetzer auch er, von diesem Bild, das einem das ganze Leben nicht mehr aus dem Kopf gehen kann, erzählt hatte, trug ich lange die Vorstellung mit mir herum, daß die Mutter des jungen Florjan mit ihren Händen und Fäusten den nassen, klitschigen, gummiartigen, quietschenden Brotteig knetet, bis die Tür aufgeht, die Mutter mit einem Messer die auf ihren Händen und Fingern klebenden Reste des grauen, blasenschlagenden Teiges abschaben, die fleckige, nach nassem, gemahlenem Getreide riechende Schürze ablegen und vor dem uniformierten Ugav die Schwelle ihres Hauses übertreten und ihre beiden minderjährigen Söhne zurücklassen muß. »Ugav selbst nahm sich das Innere des Hauses vor«, schreibt Florjan Lipuš in »Boštjans Flug« »mit polterndem Schritt drang er ein und pflanzte sich vor der Mutter auf, die gerade den Teig auf das Blech legte. Er unterbrach sie mitten in der Arbeit, Boštjan sah, wie ihre mehligen Finger stockten und starr wurden. Sie konnte den Laib nicht mehr ins Backrohr schieben, dafür blieb keine Zeit, zu gebieterisch war Ugavs Stimme und zu laut, höchste Eile war geboten, so überstürzt war der Vorgang, unaufschiebbar und unvermeidlich. Der Teig gärte weiter, sackte ein und fiel zusammen, als der Gendarm das Blech zur Seite stieß. Mit harten Schritten ging er die Räume ab, durchstöberte alle Ecken, schaute auch immer wieder in die Kammer, wo die kranke Großmutter lag, während er, mit den Insignien der Macht rasselnd, die an seinem Gürtel hingen, und zur Eile treibend, die Mutter im Auge behielt, die sich zögernd zum Gehen bereitete, wohl wissend, daß es schwerlich Gutes bringt, wenn der Gendarm mit dem Finger winkt.« Die beiden in diesem Schrecken alleingelassenen Kinder, Florjan und Franc, die verwaisten Halbwüchsigen, fragten sich, wer denn heuer das Obst schütteln, wer die Äpfel einlagern wird, wer das Sterzmehl mahlen, die Erdäpfel und die Rüben versorgen, das Kartoffelkraut verbrennen wird, wer »die sieben Regenbogen deuten«, wer den Platz vor der Hauskapelle vom Eis freihacken wird? Aber auch vom »Schweiger am Kreuz«, dem die Haut bereits abbröckelte, dem Wind und Wetter das Gesicht verzerrt und die Dornenkrone schon abgehoben hatten, kam weder ein Kopfschütteln, noch ein Nicken, denn auch er rührte sich nicht und hatte kein Wort übrig für die Kinder.

Selbst das Ministrieren wurde dem jungen Boštjan verweigert, er hätte auch gerne, wie andere, wenigstens einmal in der Woche am Altar an der Seite des Pfarrers im Mittelpunkt gestanden vor den Gläubigen, die sich in die Kirchenbänke einklemmten und eingeklemmt wurden von der gemeinen und alles und jeden kontrollierenden Dorfgemeinschaft, hätte gerne das Weihrauchfaß getragen und den Kessel mit dem Weihwasserschwengel, mit dem der Pfarrer das Kirchenvolk segnet und zu Allerheiligen die mit brennenden Kerzen und weißen, gelben und rostroten Chrysanthemen überladenen Gräber besprengt, wobei Weihwasser auf die zittrigen Blütenblätter und auf das Schuhwerk der vor den Gräbern stehenden Gläubigen und Ungläubigen spritzt – eine Gemeinschaft, »die Gesellschaft der Gotteswilligen«, wie sie Florjan Lipuš in seinem Roman »Boštjans Flug« nennt und ironisch kommentiert mit den Worten: »Den Willen Gottes kennt allerdings nur der Pfarrer, weil das Dach mit einem Blitzableiter ausgestattet ist, durch den nicht nur die Elektrizität abgeleitet wird, über den Blitzableiter kommt Gottes Wille verdichtet und in Reinform ins Haus.«

Nach der Verhaftung der Mutter lebten ihre beiden Buben alleine mit ihrer dahinsiechenden Großmutter in der Einschicht in einer Seitenklamm des Grabens Remschenig/Remšenik und verbrachten einige Tage neben der toten Großmutter, ehe sie zufällig entdeckt wurden. Von den 200 Bewohnern des Grabens sind in der NS-Zeit 57 eines gewaltsamen Todes gestorben. Schließlich wuchs der junge Florjan, der auf dem Bauernhof schwere Arbeiten verrichten mußte, mit einer Stiefmutter und einem traumatisierten Vater auf, der sich nach seiner Heimkehr aus dem Krieg ins Schweigen zurückgezogen hatte und auch von den anderen verlangte, daß sie schweigen sollten für ewig und immer, und der sich zu einem Werkzeug der Arbeit gemacht und nur mehr die Arbeit und nichts als die Arbeit sehen konnte, und dann und wann den Kopf seines widerspenstigen Sohnes Florjan zwischen seine harten Knie klemmte und, wie Florjan Lipuš in »Boštjans Flug« schreibt, »es ihm gab, jedesmal wenn die Rute ihre Psalmen auf seinen Hintern pfiff und seinen Schenkeln irgendwelche Sinnsprüche einbleute«. Der junge Florjan wuchs in einem tratschsüchtigen und bigotten Dorf auf, in dem alles und jeder kontrolliert wurde, in dem man stets auf der Lauer nach einem Ärgernis war, wo Kontakte subtil überwacht wurden, wo man bereits im »Rahmen der kirchlichen Folklorewochenenden« den Hauch einer Sünde witterte, um ein Wort von Florjan Lipuš zu gebrauchen, in dem, obwohl und weil die Sünden hohes Ansehen genießen in der katholischen Kirche, der Pfarrer mit seinen Sprüchen versuchte, die Sünden seiner Lämmer, Kirchengänger und Gläubigen, bei denen »die Auferstehung bereits ihre Zungenspitze erklommen« hat, dieser »Seelenschleicher«, wie sie Florjan Lipuš nennt, im schwarzen Beichtstuhl mit dem violetten Vorhang zu zermürben, einer Dorfgemeinschaft, die nur das Unglück anderer glücklich macht, die in der Liebe katholisch verklemmt war und die ihm, dem kleinen, vereinsamten und verlorenen Boštjan, nicht einmal den Blick auf ein Mädchen vergönnten, eine junge Liebe in dieser tiefen Trauer, dieser Einsamkeit, Verlorenheit und der Hoffnung, daß die Mutter doch bald wiederkäme, ein Mädchen und eine zaghafte, zarte, von Angst, Skrupel, vom schlechten, wohl eingebeulten Gewissen – denn das katholische Gewissen ist immer ein schlechtes – beschlichene und von Hoffnung genährte Liebe, die später zu Boštjans erhebendem Flug und schließlich auch zu diesem gerühmten Roman wurde, über den Peter Handke, der erste und bahnbrechende Lipuš-Übersetzer, schreibt: »›Boštjans Flug‹ ist, wie kein anderes Buch der letzten Jahrzehnte in unseren europäischen Breiten und Längen und vor allem Engen, das Buch des großen, beständigen Aufruhrs, aber auch – warum ›aber‹? –, und auch, erstmals bei Florjan Lipuš, ein Buch der Liebe, einer ersten, der ersten, und so erzählt, daß man es liest als das erste Buch der Liebe seit (fast) unvordenklichen Zeiten.«

Im Roman »Boštjans Flug« ist auch einmal, gegen Schluß, von einem der vielen Erniedrigten und Beleidigten die Rede, von einem Knecht, dem man, da er nur ein Leibeigener war, der zwar eine Geliebte hatte, das Aufgebot verweigert hatte, den also der Pfarrer nicht kirchlich trauen wollte. Der verbitterte und wohl todtraurige Knecht zog sein Sonntagsgewand an, mit dem er sich immer bei den Gottesdiensten blicken ließ, ebenfalls seine neuesten Schuhe, steckte sich eine Wachsblume auf den Rockaufschlag und legte sich, auf dem Ast eines Baumes stehend, einen Strick um den Hals. »Der Teufel hat ihm das Blut verwirrt!« sagten die Dorfleute. Lange soll der Leichnam gehangen haben, im Wind vertrocknend und in den Unwettern verwesend, bis die sterblichen Überreste, wie es in der katholischen Kirche heißt, im Laufe von Monaten Stück für Stück zu Boden gefallen sind. Zuerst sollen die Hoden des Knechts abgefallen sein, und die niederträchtigen Dorfleute behaupteten, aus seinem Samen sei ein männchenförmiger, krummer, dem gebuckelten Knecht ähnlicher Strauch gewachsen, in einem Jahr, in dem der lasterhafte und vom strafenden Gott geschickte Teufel, verkörpert in ein Weltuntergangsunwetter, Brücken in der Umgebung fortgeschwemmt, Wege und Hausdächer zerstört haben soll. Die Geschichte mit dem Leibeigenen, dem man das Aufgebot verweigert hatte, erinnerte mich an mein Heimatdorf im Kärntner Drautal, an eine Geschichte, die mir der Vater erzählte, in der ein Herrschaftsbauer, der Mägde und Knechte in der Küche nur an einem eigenen Gesindetisch essen ließ, einmal einen schwer betrunkenen, leibeigenen Knecht, in ein Schweineglitsch werfen ließ, wo ihm die Schweine im Zustand seiner Ohnmacht die Hoden abgefressen haben sollen.

»Die Wahl, die er traf«, schreibt Florjan Lipuš in »Boštjans Flug«, »entsprach seiner augenblicklichen Stimmung, er suchte ein Dach aus mit einem Kamin, aus dem der Rauch des Brotbackens quoll, genaugenommen erst der Duft der harzigen Föhrenscheite, während durch das angelehnte Fenster ein säuerlicher Geruch nach dem im Backtrog aufgehenden Teig kam, und die Seraphim um den Gottesthron verdeckten sich noch mit dem zweiten Flügelpaar, dem für das Fliegen, die Augen, die gefallenen Engel der Unterwelt aber rieben sich die schwarz gewordenen Hände, als sie sahen, wo der Seraph den Stachel Gottes einstach.« Tief, maßlose senkrechte Kilometer tief steckte der Seraph den Stachel Gottes in die Menschen hinein, in der Gaskammer, unter den Düsen, wo die nackten Frauen zusammengepfercht wurden und mit emporgestreckten Händen und gespreizten Fingern einander festhielten und schließlich übereinander fielen. Und: »Zum Glühen gebracht, zerschmolzen, eingeäschert, verweht. Damals, beim Backen, das sie schuldig blieb, wird sie vermutlich noch nichts geahnt haben, wahrscheinlich vermochte sie sich auch das Knistern im Ofen nicht vorzustellen, an dem Morgen, an dem sie abgeholt wurde und es so eilig war, auf den Posten zu kommen.«