Das Buch „Nur ein Traum im Traum?“ beschrieb die Nöte von Anton Kortner, dessen kleine Existenz auseinanderzufliegen drohte. Er meinte, mit einem blauen Auge aus Wien zurückgekehrt und davongekommen zu sein und es ginge wieder bergauf. Doch es war alles andere als gut, was ihm danach passierte. Seine Frau verließ ihn. Er steuert zielsicher in einen Burnout und wirtschaftlich auf die Insolvenz zu.
Ein Jahr ist seitdem vergangen, da fällt ihm ein Auftrag wie vom Himmel zu und er kann in Wien arbeiten. Eigentlich ein Traum, der für ihn wahr wird, wenn da nicht nicht noch schmerzliche Rückstände vom letzten Besuch in ihm bohren würden und wenn er nicht Hauptverdächtiger im Mordfall an einem Geschäftspartner würde. Er gerät wieder in einen Strudel von Sex und Crime beziehungsweise Realität und Traum.
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Marco Toccato ist eine fiktive Person, etwa Jahrgang 1951, in Italien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seine Familie kam mit einer der ersten Gastarbeiterwellen ins boomende Westdeutschland, wo es Arbeit gab, aber wenig Verständnis für die neuen Bürger. „Amor Amaro und die tote Nachbarin“ hieß sein erstes Buch. Dies hier ist sein achtes.
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abrufbar.
© 2020 Marco Toccato
Umschlaggestaltung: Marco Toccato
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7526-1504-3
1. Auflage 19. März 2020
2. Auflage 16. April 2020
3. Auflage 4. September 2020 (komplette Überarbeitung)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Namen, alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Sollten Menschen ähnlich heißen oder Ähnliches erlebt haben, so ist das rein zufällig und unbeabsichtigt.
The Beatles*
Once there was a way
To get back homeward
Once there was a way
To get back home
Sleep, pretty darling
Do not cry
And I will sing a lullaby
Golden slumbers
Fill your eyes
Smiles await you when you rise
Sleep pretty darling
Do not cry
And I will sing a lullaby
Once there was a…
Gold’ne Schlummer
Mal gab’s einen Weg
Heimwärts!
Mal gab’s einen Weg
Heimwärts!
Schlaf, schöner Liebling
Weine nicht!
Und ich singe dir ein Schlaflied.
Gold’ne Schlummer
Füllen deine Augen
Lächeln wirst du, wenn du erwachst.
Schlaf, schöner Liebling
Weine nicht!
Und ich singe dir ein Schlaflied.
Mal gab’s einen Weg
Heimwärts!
Anton Kortner ist beruflich in Wien. Für ihn ist ein ganz alter Wunsch in Erfüllung gegangen. Einmal in Wien zu arbeiten, war ein lange unerfüllter Traum!
Es ist sogar für ihn, der hier schon immer Ruhe und Stressabbau gesucht und gefunden hat, frappierend, wie leicht und angenehm sich seine Besprechungen und die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern seines Kunden gestalten. Das spürt er sehr intensiv nach den Umständen und Situationen, in denen er in letzter Zeit leben musste. Wenn es doch immer so wäre. Zuhause hat er harte Zeiten durchlitten.
Der Zauber von Wien umhüllt ihn und die ruhige, sehr höfliche Art, in der hier miteinander umgegangen wird, lässt weder Druck noch Hektik aufkommen. Die Pohrer AG ist ein alteingesessenes Unternehmen und dort wird immer noch nach den Regeln zuverlässiger Kaufleute gearbeitet. So schien es ihm jedenfalls zu sein.
Es ist Donnerstag und er wird das Wochenende in Wien bleiben, was dem Kunden Reisekosten und ihm die Fahrerei erspart. Was soll er zuhause, er hat kein Zuhause mehr! Außerdem kann er in der Atmosphäre baden, die Wien für ihn von allen anderen Orten der Welt unterscheidet.
Es ist ein Jahr her, dass er hier vier denkwürdige Tage mit Fred Baldow, dessen Frau Margret und seiner Frau Dorothee verbracht hatte. Seitdem hat die Stadt eine zusätzliche Komponente für ihn. Ihre Morbidität ist für ihn greifbar und seine Verbundenheit ist erheblich stärker geworden. So als hätte er ehemals geliebte Freunde und Angehörige dort, die verstorben sind.
Er fühlt sich als echter Hinterbliebener. Da, wo man sich lieben Menschen verbunden fühlt, auch seien sie schon tot und begraben, hat man eine Heimat.
Samstag wird er zum Zentralfriedhof gehen und nach dem Grab von Sissi forschen. Sissi Kolesariç, eine junge Prostituierte in die er sich verliebt hatte, als sie ihm begegnete. Sie fehlt ihm besonders, seitdem er annehmen muss, dass sie tot ist. Er kann nichts mehr gutmachen.
Es zieht sich was in ihm zusammen, wenn er an die wenigen Momente denkt, die er mit ihr hatte. Er sieht sie zum Greifen nah, wie sie sich ihren ärmlichen, dünnen Kittel über den fast nackten Körper zieht. Blass war sie im kalten Neonlicht der Küchenlampe, sehr schlank und athletisch, biegsam wie eine junge Birke.
Er ist erwischt worden, als er sich in die Orgie der Adamiten eingeschlichen hatte. Männer in schwarzen Umhängen, mit Masken vor den Gesichtern lustwandelten durch ein Fin de Siècle-Gebäude in einem Wiener Nobelviertel. Sie gingen an schönen Damen vorbei, die nackt bis auf eine Maske und Pumps in den Räumen auf sie warteten.
Eine hatte ihn angesprochen, um ihn zu warnen. War es Sissi, die er kurz vorher am Abend kennengelernt hatte?
Doch er hatte ihre Warnung missachtet!
Als er zur Rede gestellt wurde, war ihm klar, dass es um sein Leben ging. Man duldete keine Eindringlinge und die Herrschaften waren zu prominent, als dass sie sich eine Veröffentlichung ihrer Abendgestaltung hätten leisten können. Und sie waren prominent genug, um Menschen verschwinden lassen zu können, ohne Probleme befürchten zu müssen.
Das alles wurde ihm klar, als er in ihrem großen Kreis stand. Eine der Damen ergriff das Wort und bat darum, ihn ziehen zu lassen. Er nahm an, dass es Sissi war oder Margret, die Frau seines Geschäftspartners Fred Baldow oder war es gar seine eigene Frau Dorothee?
Die Konsequenzen für seine Fürsprecherin wurden drastisch angedeutet und schienen unerträglich, ja sogar tödlich zu sein.
Er wurde rausgeschmissen. Was mit seiner unbekannten Retterin geschah, konnte er nicht herausfinden. Er nahm an, dass sie getötet wurde. Jedenfalls war Sissi spurlos verschwunden, wie er damals von ihrer Kollegin und Mitbewohnerin Mizzi Prokopeç erfuhr.
Zuhause, in Deutschland angekommen, hat er im Internet geforscht und ist auf ein Grab auf dem Zentralfriedhof gestoßen.
Sein Name ist Kortner, Anton Kortner. Er ist selbstständig und verdient sein Geld als Berater in Sachen Informationstechnik für Lager und Logistik.
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"... rtner? … Entschuldigens, verehrter Herr Ingenieur Kortner?" Der Logistikleiter von Pohrer hat ihn aus seinen Gedanken gerissen. Er muss sich konzentrieren, bei der Sache bleiben. Sein ehemaliger Geschäftspartner Fred Baldow meinte damals, dass er mitunter in Besprechungen abwesend wirke.
"Pardon, Herr Magister Anzgrund. Ich war in Gedanken." Es können nur wenige Sekunden gewesen sein, wie ein verstohlener Blick auf seine Gruen Armbanduhr zeigt, ein Überbleibsel aus glücklichen Tagen, seine Frau Dorothee hat sie ihm geschenkt.
Er muss deutlich machen, dass er voll im Projekt und auch engagiert ist. Er ergreift die Initiative:
"Ich habe nachgedacht und schlage nun vor, wir schauen uns die fraglichen Prozesse unten in der Fertigung an, bevor wir sie besprechen. Ist Ihnen das recht?"
"Selbstverständlich! Das ist eine sehr gute Idee. Sonst müssten Sie zu viel nachfragen und nach dem langen Gespräch wird uns der Gang auch gut tun."
Der Logistikleiter Magister Michael Anzgrund nimmt dankbar seinen Vorschlag auf. Er und der Betriebsleiter Josef Sedlasçek stehen auf und führen ihn zu einem Schrank, aus dem sie Schutzhelme und einen Besucherkittel für ihn nehmen.
Sein Tagtraum hat ihn erfrischt, nachdenklich, aber hellwach gemacht. Der Gang durch den Betrieb liefert ihm jede Menge Anregungen, die das Projekt sicher erfolgreich machen werden. Gegen siebzehn Uhr hat er den Eindruck, dass Anzgrund und Sedlasçek gern Feierabend machen würden. Ihm ist es recht. Diplomatisch schlägt er vor:
"Meine Herren, ich hoffe, dass Sie Verständnis dafür haben, wenn ich vorschlage, für heute Schluss zu machen. Es waren für mich reichlich viele Eindrücke, die ich bis jetzt sammeln konnte und die Anreise steckt mir in den Knochen ..."
Man sieht den beiden Erleichterung an. Sie wirken wesentlich geschaffter als er. Das ist normal, Freelancer wie er sind daran gewöhnt, frühmorgens ihre manchmal stundenlange Anreise zu absolvieren und dann trotzdem noch einen vollständigen Arbeitstag von acht bis zehn Stunden abzuliefern. Angestellte sind in der Regel anders konditioniert.
Sein Vorschlag hat den beiden die Befürchtung genommen, über ihren normalen Feierabend hinaus weiterarbeiten zu müssen. Ihnen gefällt die Zusammenarbeit mit dem neuen Berater.
"Selbstverständlich Herr Ingenieur! Können wir Sie in Ihr Hotel bringen oder wünschen Sie ein Taxi? Welches Hotel haben Sie gewählt?"
"Nein Danke, Herr Sedlasçek! In Wien genieße ich es, mich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln selbst zurechtzufinden. Zum Bristol werde ich sicher allein finden."
Anzgrund und Sedlasçek ziehen beim Wort Bristol überrascht die Brauen hoch und schauen sich kurz bedeutsam an. Das Bristol ist eines der arrivierten Ringstraßen-Hotels, nicht ganz billig. Er hat es aus Verbundenheit gewählt, nachdem er darin vor gut einem Jahr dieses denkwürdige, lange Wochenende verbracht hatte.
„Apropos, mit Herrn Dr. Pohrer habe ich vereinbart, dass ich Reisekosten und Spesen pauschal abrechne. Meinen Kunden soll es egal sein, wo ich übernachte."
Die Augenbrauen senken sich fast synchron.
"Sie haben sicher ein umfangreiches Tagesgeschäft zu erledigen, drum rege ich an, dass ich erst des Morgens so gegen zehn Uhr Ihre Hilfe beanspruchen werde. Dementsprechend finden Sie mich morgen spätestens um neun Uhr fünfundvierzig in dem Raum, den Sie mir bereitgestellt haben. Wenn das für Sie passt, treffen wir uns morgen um zehn wieder hier?"
Die beiden nicken sehr zufrieden und verschwinden zügig in ihren Feierabend.
Das Betriebsgelände von Pohrer liegt an der Donau nahe dem Freudenauer Hafen. Es sind nur hundert Meter zur nächsten Bushaltestelle und es dauert nicht lange, bis ein Bus kommt. Er achtet nicht auf die Buslinie. Von hier aus geht alles Richtung Zentrum beziehungsweise bis zu einer U-Bahn-Station.
Er ist allein im Bus und fährt bereits einige Minuten. Da sieht er links ein Gebäude mit dem Schriftzug Schenker und daneben Getreidesilos. Das kennt er. Er ist an der Haltestelle Alberner Hafen. Hier war er schon mal zusammen mit seiner Frau Dorothee, als sie auf dem Weg zum Friedhof der Namenlosen waren.
Fast automatisch, ohne nachzudenken steigt er aus. Ins Hotel kann er immer noch fahren. Noch ist ein wenig Tageslicht vorhanden.
Er muss grinsen, als er über die Getreidekörner geht und an dem WC-Container langläuft, den Dorothee damals verschmäht hatte. Doch mit jedem Schritt, den er entlang der Silos macht, wird seine Beklemmung stärker. ‚Warum ist er eigentlich ausgestiegen? Was hat er hier zu suchen? Wer oder was steuert ihn, hier lang zu gehen?‘
Damals war er zwei Mal hier, zuerst mit Dorothee per Bus und dann mitten in der Nacht mit Itzhak Rosenstein, dem geheimnisvollen Taxifahrer.
Nun steht er vor der Treppe, die über den Schutzdeich zum Friedhof führt. Er könnte sich umdrehen und zurück zur Bushaltestelle gehen. ‚Genau! Vergessen wir das Ganze! Was soll dieser späte Besuch?‘
Aber sein linker Fuß ist auf der ersten Stufe und wie fremdgesteuert folgt der rechte. Er sieht schon die Rückseite der kreisrunden Kapelle, geht weiter und nimmt die rechte, vordere Treppe hinunter.
Wieder bemächtigt sich seiner eine unbeschreibliche Stimmung genau wie beim ersten Besuch. Es ist kein unangenehmes Gefühl nur, dass er alles, was nun kommt, nicht beeinflussen kann, ruft in ihm Widerstand hervor. Er kann tatsächlich nicht umkehren. Er muss Stufe für Stufe zu den Grabstätten runtergehen. Immer weiter zieht es ihn zu dem Mann, der an einem der Gräber steht. Den kennt er!
Nein, genau genommen kennt er ihn nicht. Er hat ihn damals gesehen, als er in der Kapelle die Leiche einer schönen, jungen Frau für ihr Begräbnis präpariert hat. War es Sissis Leiche? Später sah er ihn nochmal bei einer denkwürdigen Beerdigung mitten in der Nacht und ein letztes Mal, als er ihm in einem Heurigen an einem Tisch gegenüber saß. Der Mann ist älter als er. Trägt seine dichten, dunkelbraunen Haare mit vielen grauen Strähnen lang. Er ist nicht groß, hat eine sehr kräftige, kompakte Figur. Ein Typ, wie man ihn in Dörfern der Steiermark antrifft, einer der mit Landarbeit groß geworden ist.
Das Grab, vor dem er steht, ist gepflegt. Es wirkt wie neu und soeben geschlossen. Darauf liegen frische Kränze mit Schleifen, deren Aufschriften er aus unerfindlichen Gründen nicht lesen kann. Es ist schon sehr dämmerig hier, aber das ist nicht der Grund.
Warum wirkt das Grab neu? Er war Zeuge, als in ihm vor über einem Jahr eine junge, rothaarige Frau beerdigt wurde. Damals, es war ein Uhr nachts, strahlte ihre weiße Haut, wie eine natürliche Lichtquelle auf dem dunklen Friedhof. Ihre Haare auf Kopf und Scham bildeten zwei orangerote Akzente auf der weißen Fläche ihres Körpers. Was er sah, sah aus, wie von Gustav Klimt gemalt. Sie lag obenauf in einem offenen Sarg, den der alte Mann am Tag zuvor in seinem Beisein vorbereitet hatte, nicht von Decken oder Totenhemd verdeckt, sondern nackt und schön, eine Frau, wie man sie auf Jugendstilbildern als Nymphen sehen kann.
Drei Helfer schlossen zusammen mit dem alten Mann den Sarg und ließen ihn an Seilen in die Grube.
Außer den Bestattern standen noch ein Mann und eine Frau vor dem Grab. Sie sahen aus wie Fred Baldow und Antons Frau Dorothee. Die beiden schienen nicht zu bemerken, dass er und Rosenstein die Zeremonie beobachteten, so als wären sie selbst Akteure in einem Film, den sie sich von außen ansahen.
Unmittelbar nachdem der Sarg abgesenkt war, gingen sie fast durch sie hindurch und verließen den Friedhof. Kurz darauf hörte er den Motor eines Jaguar-Cabriolets, das er beim Kommen gesehen hatte. Der Alte und seine Helfer schaufelten das Grab zu.
Nachdem auch die Helfer gegangen waren, nahm der Alte einen Kranz vom Boden neben dem Grab und legte ihn sorgsam auf den frischen Grabhügel. Damals konnte er die Aufschrift auf der Schleife lesen: R.I.P. wünscht dir die Vereinigung der Adamiten.
Er hatte sich in der Nacht vor diesem denkwürdigen Begräbnis in ein Treffen der Adamiten eingeschlichen und war entdeckt worden. War diese Tote die Frau, die ihn gerettet hatte?
Von Stund an machte er sich Vorwürfe und er fragte sich seitdem, wer diese Frau war und was ihr geschehen sein mochte, ob sie gelitten hatte? … für ihn?
Das alles geht ihm in Blitzeseile durch den Kopf. Dabei hat er es wieder verpasst, mit dem geheimnisvollen Bestatter zu sprechen, denn der ist gegangen, ohne dass er es bemerkt hat und ohne erkennen zu lassen, dass er ihn bemerkt hätte. Es ist genauso wie in der Nacht bei der Beerdigung. Er kommt sich wie Einer vor, der einen Film sieht und selbst in der Kulisse steht.
Anton versucht wieder, die Aufschriften auf den Schleifen der Kränze zu lesen, doch es gelingt ihm nicht. Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen.
Auf dem Namensschild am geschmiedeten Kreuz kann man jedoch deutlich „Unbekannt“ in weißer Schrift auf schwarzem Grund lesen. Wer ist diese Tote, zu deren Grab er immer wieder geführt wird?
Es gibt ein Grab auf dem Zentralfriedhof, wo eine Elisabeth Kolesariç begraben ist. Aber das kann eigentlich nicht seine Sissi sein. Vom Jahrgang her käme es hin, aber die Elisabeth Kolesariç im Grab ist nur sechszehn Jahre alt geworden und lange vor seinem Treffen mit Sissi gestorben. Trotzdem ist er überzeugt, dass es ihr Grab ist. Ihm sind vor einem Jahr in Wien seltsame Dinge passiert, die er sich nicht erklären kann. Während dieser vier Tage, die er in Wien war, gingen bei ihm Traum und Realität durcheinander. Er hat damals seine eigene Traumnovelle, genau wie Fridolin, der Protagonist im gleichnamigen Buch von Arthur Schnitzler, erlebt!
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ihm ist nicht bewusst, wie lange er schon hier steht. Er ist wie weggetreten, keine Gedanken im Kopf, keinen Wunsch, weder Hunger noch Durst oder irgendeine andere Empfindung.
Eine Hand auf seiner rechten Schulter holt ihn zurück. Er dreht sich um und erkennt Itzhak Rosenstein, seinen treuen Taxifahrer aus alter Zeit. „Sie sind zurück, Herr Ingenieur! Wir sollten fahren. Wie immer ins Bristol?“
„Guten Abend, Herr Rosenstein! Ja, fahren sie zum Bristol.“
Sie verlassen den Friedhof zusammen, als wären sie gemeinsam gekommen und sowieso schon seit langem miteinander unterwegs. Dass inzwischen mehr als ein Jahr vergangen ist, spielt keine Rolle. Es wundert ihn kein bisschen.
Als sie auf dem Damm stehen, spürt er den scharfen, kalten Wind, der von Ungarn her durch Wien bläst. Er ist froh, dass er nun nicht zur Bushaltestelle zurück muss. Und auch Rosenstein ist ein großer Trost für ihn. Bis jetzt war er allein. Wien ergreift ihn wieder mit einer eigenartigen Stimmung, die beängstigend sein müsste, ihn aber nur melancholisch stimmt.
Im Taxi ist es noch warm und er drückt sich angenehm berührt in den hinteren Sitz.
„Wie ist es Ihnen ergangen, Herr Rosenstein?“
„Oh, ich war lange weg aus Wien, aber seit heute Morgen bin ich wieder hier“ und nach einer Pause
„Sie suchen, Herr Ingenieur?“
Er geht in sich. Ja, er sucht, das wird ihm nun klar. Er sucht die Lösung. Es ist noch zu viel übrig geblieben vom letzten Mal. Er hatte damals die Sache abgeschlossen, weil er mit Fred Baldow und Dorothee im Reinen zu sein glaubte, aber mit sich selbst war er noch nicht fertig!
„Ja, ich suche. Ich suche das, was geschehen ist und was ich bis heute mit mir herumtrage, ohne zu wissen, was es ist. Wien hat mich eingeholt. Schön, dass Sie da sind und mir helfen!“ sagt er, ohne zu wissen, ob Rosenstein ihm helfen wird. Aber das gehört zum Spiel und Rosenstein widerspricht nicht.
„Und haben Sie noch Ihre Dame, Herr Ingenieur?“ Rosenstein ist passionierter Schachspieler, meint es im übertragenen Sinne.
„Nein, meine Dame habe ich nicht mehr. Diese Partie spiele ich ohne jede Aussicht auf Erfolg, aber spielen muss ich sie!“
„Das muss nicht so sein. Sie können immer noch einen Bauern zur gegnerischen Grundlinie durchbringen und in eine Dame wandeln.“
Sie sind schon auf dem Rennweg und es ist nicht mehr weit bis zum Hotel. Bevor er aussteigt, schaut er Rosenstein lange an und überlegt, ob er ihn fragen soll oder nicht …
„Ja, Herr Ingenieur. Das Grab war frisch und mir ist der Verwalter des Friedhofs begegnet, bevor ich zu Ihnen kam.“
Damit sind seine drängendsten Fragen beantwortet. Er zweifelt an seinem Verstand. Wien bedrückt ihn. Er fühlt sich, als hätte er einen schweren Rucksack auf dem Rücken, den er nicht ablegen darf, bevor er alles darin an die passenden Orte und Personen verteilt hat.
Nur weiß er nicht, was im Rucksack ist und wo oder an wen er was verteilen soll.
„Ja, ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Bis später, Herr Ingenieur!“
„Heute wird’s nichts mehr, aber morgen gegen acht Uhr dreißig können Sie mich gern zum Freudenauer Hafen fahren.“
„Ich glaube schon, aber morgen bin ich auf jeden Fall da, Herr Ingenieur.“
Bevor er nachfragen kann, was er mit Ich glaube schon … gemeint hat, ist Rosenstein weggefahren.
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„Grüß Gott, Herr Ingenieur!“ Sein alter Freund, der Nachtportier Stefan Steyrer hat Dienst und als wäre er nie weggewesen, setzt er fort:
„Ich habe einen neuen Vers vom Poe übersetzt! Wollens den hören?“
Er übersetzt in seiner Freizeit Gedichte von E. A. Poe ins Wienerische. Jedes Mal, wenn er ihn angetroffen hat, hatte er wieder einen Vers fertig. Unheimlich daran war, dass der dann immer genau zur Situation passte, in der er sich gerade befand.
Anton will auf jeden Fall den neuen Vers hören. „Ja, bitte! Ich bin sehr gespannt.“
Alloa (Übersetzungen sind hinten)
Ois Kind woar i ned wia de andan Leit
I siech ned, wos andre segn, gestan wia heit
mei Lust woa ned aus da söbn Quöl
meine Surgn worn ned von da gleichn Stöl
mei Herz hot ned die Freid wia olle
ois, wos i lieb, lieb i alloa.
So wira Kind vurm wüldn Lebn
hots mi ausse zogn aus´n Guadn und Schlechtn
Zauba, die mi fessln
von Strömen und Bächn
Rode Fölsn aum Berg
von da Sunn, die si um mi draht
Mit ihra Herbstfoarb wie Goid
Vom G'witta, des mi pockt
vom Donna und Stuam
Und von da Woikn, die im blaun Himme
fia mi ausschaut wira Geist.
„Das heißt ‚Alloa‘, i moan Allein oder Alone. Konnten Sie alles verstehen, Herr Ingenieur? Soll ich’s Eahna übersetze?“
Anton ringt mit seiner Fassung. Doch, doch, er hat alles verstanden.
Man hat ihm dieselbe Suite gegeben, die er zusammen mit Dorothee hatte, als sie im letzten Jahr da waren. Sein Reisekostenbudget wird dadurch strapaziert, aber fürs Erste will er es dabei belassen. In Zukunft wird er vorweg ein einfacheres Zimmer reservieren, doch im Moment hat er anderes im Kopf und dieses Hotel und dieses Zimmer gehören dazu.
Der Nachtportier hat ihn wieder kalt erwischt. Was er da von Edgar Allan Poe bearbeitet hat, traf ihn in der passenden Stimmung, so wie es vor einem Jahr auch immer war. Er ist allein. Er empfindet anders als die Anderen und er fühlt sich durch die Verse wie in einem Gewitter. Er hat eine schlimme Zeit hinter sich und sucht genau genommen wieder Grund, auf dem er nach allen Problemen der letzten Zeit zu einem einigermaßen geregelten Leben zurückkehren kann.
In der Minibar ist eine halbe Flasche Côte du Rhone, mit der setzt er sich in den Wohnbereich, an den Tisch, auf dem damals der Champagner im Eiseimer stand, mit dem Dorothee ihren Traum eingeleitet hatte, diesen Traum mit dem alles anfing. Für ihn war das die Wurzel allen Übels. Dorothee hatte ihm gestanden, dass sie ihn im Traum betrogen hatte, betrogen mit Vielen und vor allem mit Fred Baldow. Auch sie war auf dem Adamiten-Treff, wenn auch im Traum. Anton hat damals die Eifersucht zerfressen!
Unmittelbar nach diesem Aufenthalt in Wien ging ihm immer wieder durch den Kopf, was ihm selbst passiert ist. Oder hatte er das auch nur geträumt? Es ist ihm bis heute nicht klarer geworden.
Später hatte er keine Zeit mehr, darüber zu sinnieren. Es ist ihm zu viel zugestoßen, aber eins nach dem anderen.
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Das Glück mit Dorothee, das nach dieser letzten Wienreise so unzerstörbar wirkte, war wieder fast wie zu Beginn ihrer Ehe. Nachdem sie zurück waren, gab es eine wunderbare gemeinsame Zeit. Solange, bis er wieder nach Worms musste, wo er zusammen mit Fred an diesem vermaledeiten Projekt arbeitete. Er musste es mit Fred zu Ende bringen. Dorothee war wieder allein zuhause.
Der in Wien mit Fred geschlossene Frieden, war nach der ersten halben Stunde gemeinsamer Arbeit in Worms zum Teufel. Fred machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Er mobbte alle, die ihm unter die Augen kamen, allen voran Anton.
Im Projekt, an dem sie gemeinsam arbeiteten, vertieften sich die Differenzen. Die Unternehmen Knauerbruch und Seligmann sollten fusioniert werden.
Die Beteiligten in den beiden Unternehmen und Anton strebten Optimierungen an, die ein Fortbestehen der Firmenstandorte von Seligmann und der meisten Arbeitsplätze sinnvoll machen könnten. Doch Fred wollte Seligmann ausschlachten und dann deren Mitarbeiter ohne Ausnahme über die Klinge springen lassen.
Anton unterlief eine freudsche Fehlleistung. Er hatte eine eMail - halb aus Versehen und halb aus Absicht - falsch adressiert. Dadurch wurden seinem Ansprechpartner Thau bei Seligmann die Differenzen klar. Das hätte ihm und Fred den Kopf kosten können.
Natürlich hat er Fred angerufen und ihm von seinem Missgeschick berichtet. Seitdem war das Tischtuch zwischen beiden komplett zerschnitten.
Fred arbeitete gerne damit, andere in Angst zu versetzen und er tat alles, das geeignet war, bei Anton Angst zu schüren. Mit Erfolg! Zusätzlich zu der pausenlosen Arbeit über Wochen, drohte Anton Böses, falls seine Indiskretion offiziell bekannt werden würde.
Währenddessen lud ihm Fred andauernd unsinnige Arbeiten auf. Antons Panik wurde verstärkt!
Er hat sehr schlecht ausgesehen, hatte Ringe unter den Augen und sein Gewicht war um sieben Kilo gesunken. Wenn das Telefon klingelte, bekam er Angstzustände: Es hätte Fred sein können, der wieder irgendeinen seiner vermeintlich wichtigen Aufträge für ihn hatte oder Thau, der die Bombe platzen ließ oder Knauerbruch, der ihn vor die Tür setzte.
So ging es ihm seit sechs Wochen und die Abschlusspräsentation, die das Ende versprach, würde in drei Wochen sein. Er war sicher, dass er drei weitere Wochen nicht durchstehen würde.
Vor allem während seiner Panikattacken meinte er, auf dem Weg in den Burnout, wenn nicht gar in den Wahnsinn zu sein.
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Als er nach Hause kam, ging es weiter. Er begrüßte Dorothee. Sie schaute ihn besorgt an. Bei dem kleinsten Hinweis von ihr auf seinen Zustand, geriet er in Rage und verschwand in seinem Büro, sobald er bemerkte, dass die Situation eskalierte. Dort blieb er dann von morgens um sieben bis abends um zehn Uhr. Zwischendurch erschien er missmutig oder übererregt am Tisch, um schweigend eine Mahlzeit runter zu schlingen.
Innerhalb dieser drei entscheidenden Wochen lagen die Weihnachtsfesttage, die er fast ohne Pause durcharbeitete. Doch seine Familie forderte auch ihr Recht.
Wenn er dann so gegen neun oder zehn Uhr abends nicht mehr konnte, setzte er sich vors Fernsehgerät mit einer Flasche Rotwein. Ohne den Wein hätte er nicht schlafen können. Er schlief auf der Couch vorm Fernseher ein und wenn er dann nachts ins Bett ging, schlief Dorothee oder sie stellte sich schlafend.
Es dauerte nicht lange und er hörte im Haus wieder Marianne Faithful „The ballad of Lucy Jordan“ singen. Alles war wieder wie vor der bemerkenswerten Reise nach Wien. Nicht alles, denn früher hatte er ähnlich wie Dorothee gedacht, dass er irgendwas in seinem Leben verpasst hätte, tolle Frauen, große Lieben, Sex, Luxus und so weiter. Jetzt war nichts davon mehr erstrebenswert für ihn. Er wollte seine Ruhe und aus der Angstschleife raus, sonst nichts!
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Freds Spiel flog auf, aber sie durften ihre Ergebnisse auf eigene Kosten nacharbeiten. Positiv für Anton war, dass Knauerbruch nun zu einer Integration des Seligmann-Betriebs tendierte. Auf Umwegen und gewissermaßen unter schweren Verlusten hatte Anton sein Ziel erreicht.
Aber das bedeutete auch, dass die Torturen weitergingen. Und sie waren schlimmer, denn die Hoffnung auf das Ende war nun dahin, wahrscheinlich käme danach noch die Umsetzungsphase, die Betreuungsphase, die Begleitung der neuen Prozesse ... immer zusammen mit Fred. Das Hamsterrad ließ ihn nicht raus!
Anton war am Limit!
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Seine Hoffnung war jetzt vollständig geschwunden. Dorothee gab auf. Sie stellte ihn zur Rede, machte ihren Standpunkt klar und er wehrte sich nicht. Er war wehrlos, es ging nicht mehr. Auseinandersetzungen ging er aus dem Weg und wenn er das nicht konnte, ließ er alles über sich ergehen. So auch Dorothees letzte Worte.
„Anton, ich gehe! Ich habe mir eine kleine Wohnung in der Stadt gemietet und heute werde ich gehen. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr zusehen, wie du kaputt gehst, nichts an dich heranlässt. Eigentlich bist du schon seit zwei Monaten weg!
Vielleicht haben wir irgendwann eine Chance, aber die sehe ich nur, wenn du aus deiner Schleife raus bist und glaube mir, solltest du zu früh zu mir kommen, dann merke ich das und es wird Schluss für immer sein!
Mach’s gut, Anton! Sieh zu, dass du wenigstens regelmäßig isst. Du bist so dünn!“ sagte sie mit besorgter Stimme. „Versuche schnell aus diesem Scheißprojekt rauszukommen!“
Er drehte sich schweigend um und ging in sein Büro. Er hatte nicht mehr die Kraft für Widerworte. Er hatte nur noch seinen Tagesplan im Kopf, auf dem noch zehn unerledigte Punkte standen. Er funktionierte automatisch. Stellte morgens zusammen, was anlag und ging das Punkt für Punkt den Tag lang durch, wie ein Automat, ohne zu hinterfragen, ob das gut war und wenn, für was es gut sein könnte. Als er wieder am Schreibtisch war, hörte er noch nicht mal, wie die Haustür zufiel.
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Das Projekt hatte ihn fast zur Strecke gebracht. Mit dem Abschluss der Nachbesserungen und der Übergabe seiner Ergebnisse an Fred stieg Anton aus dem Team aus. Fred kürzte ihm seine Rechnung, aber das war ihm egal. Die veranschlagten zwölf Tage Arbeit waren sowieso um ein Vielfaches überschritten. In einem klaren Moment wurde ihm klar, dass er das beenden musste, koste es, was es wolle.
Doch auch ein paralleles Projekt endete unvorhersehbar früh, da sein Kunde einen Teil seines ursprünglichen Geschäftsfeldes aufgab.
Er hatte plötzlich weder Arbeit noch nennenswerte Reserven auf dem Geschäftskonto. Die Vorgänge der letzten Zeit hatten ihm jede Initiative genommen und so war weit und breit kein neuer Auftrag in Sicht. Er beschäftigte sich mit dem Gedanken, Insolvenz für sein Unternehmen anzumelden.
Da fiel ihm gewissermaßen der Auftrag der Pohrer AG vor die Füße. Er hatte keinerlei Anstrengungen unternommen, seine Lage zu ändern, als ihn plötzlich Dr. Felix Pohrer selbst anrief, ihn auf seine Erfahrungen im Geschäft der Industrieverpackungen ansprach und ihm den Auftrag erteilte, die Abläufe bei Pohrer zu prüfen und Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten.
Genau genommen wusste er nicht, ob er überhaupt noch in der Lage war, sich in irgendeines dieser Haifischbecken zu begeben, zu denen sich die typischen Beratungsprojekte entwickelt hatten.
Irgendwann hatte es eine Wende gegeben, ab der nur die Karriere der Beteiligten eine Rolle spielte. Man traf niemanden mehr an, der zum Wohle und Nutzen seines Unternehmens arbeitete. Entscheidungen wurden vermieden oder wie heiße Kartoffeln delegiert. Sie könnten sich ja als falsch herausstellen und später dem, der entschieden hat, den Kopf kosten.
Die Managergeneration, in die Anton nun geraten war, fühlte sich für ihn an, als bestände sie nur aus Egozentrikern unterschiedlichster Art. Es gab „Absicherer“, „Brechstangenschwinger“, „Intriganten“, „Radfahrer“ und „Ellenbogenkämpfer“. Allen war gemeinsam, dass jeder Kollege, der dabei auf der Strecke blieb, ein Kollege weniger war, der später im Weg sein könnte. Der berühmte morgendliche Blick in den Spiegel beim Rasieren hatte stark an Bedeutung verloren.
Er hatte die Lust verloren und war bereit, alle Konsequenzen auf sich zu nehmen. Er wollte sogar den Auftrag von Pohrer ablehnen, doch hatte der ihm vorher rübergebracht, dass es in diesem Falle anders sein würde, er müsste ihm nur vertrauen.
Dr. Felix Pohrer hat seine Firma selbst aufgebaut. Er ist promovierter Maschinenbauingenieur, mit der festen Überzeugung, dass man jedes Problem mit Technik lösen könne. Die Einstellung hatte Anton früher auch. So wollte er es nochmal versuchen. Eventuell würde ihm das den Grund unter den Füßen geben, den er suchte.
Dass das Ganze in Wien stattfinden sollte, gab ihm den letzten Anstoß zuzusagen.
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Wien! Er war allein! Er war unabhängig. Er war fertig mit Allem und er hatte die Chance zu einem Neuanfang. Mal sehen, ob Wien ihn wieder heilen könnte.
Sein zweiter Gedanke war Sissi, Sissi Kolesariç, die österreichische Meisterin im Poledance und Prostituierte aus Wien. Der alte Stachel steckte noch im Fleisch. Hatte sie ihm das Leben gerettet? War sie selbst tot, eventuell getötet worden, seinetwegen?
Anton merkte seit langer Zeit zum ersten Mal wieder, dass er ein Motiv hatte. Er brannte darauf, etwas zu tun. Ein Gefühl, dass ihm seit fast einem Jahr abhanden gekommen war.
Er schläft schlecht. Wieder weckt ihn ein Schmerz im Brustbereich, den er für einen Herzinfarkt gehalten hätte, wäre es ihm nicht schon oft so gegangen. Sodbrennen kriecht vom Magenpförtner von unten rechts schräg die Speiseröhre rauf und verursacht Schmerzen bis in den linken Arm und den linken Unterkiefer.
Er springt schnell ins Bad und trinkt Wasser aus dem Hahn. Das ist für ihn erfahrungsgemäß das einzige Mittel, das hilft. Was macht er, wenn auch das nicht mehr wirkte? Wäre es dann wirklich ein Herzinfarkt? Er bekam bei diesem Gedanken mittlerweile keine Panik mehr. Sein Lebenswille hatte arg gelitten.
Das Wasser wirkt wirklich schnell und nachvollziehbar, ganz entgegen der Meinung eines Arztes, dem er das mal beschrieben hatte. Dabei ist es ganz logisch. Wasser spült die Magensäure zurück in den Magen und verdünnt sie dort.
Jetzt, da der Rotwein nicht mehr wirkt, braucht er gar nicht versuchen, wieder einzuschlafen. Es ist drei Uhr fünfunddreißig. Im Fernsehen läuft ein Gespräch mit Richard David Precht. Verblüffend, wie klar und überzeugend der seine Ansichten äußert. Alles was er sagt, leuchtet ein. Trotzdem geht ihm das Gespräch auf die Nerven. Rauszugehen ist sinnlos, außer um frische Luft zu schnappen und er hat Angst davor, dass Itzhak Rosenstein ihn wieder erwischt, um ihn zu einem neuen Abenteuer zu bringen. Aber kann er überhaupt den drohenden Abenteuern ausweichen?
Das Wasser hat seinen Dienst getan, er ist wieder schmerzfrei. Gott sei Dank! Komische Stimmung, um drei, vier Uhr allein in einem Hotelzimmer zu sitzen und nichts außer ab und zu draußen eine Straßenbahn fahren zu hören. Es ist, als wäre man allein auf der Welt. Was für ein angenehmer Gedanke!
Sein Verstand schweift durch alle möglichen Gefilde. Plötzlich fällt ihm eine Opernszene ein; die Sopranistin Heléne Noiret singt als Konstanze „Martern aller Arten“ aus „Die Entführung aus dem Serail“ von W. A. Mozart:
„Martern aller Arten
Mögen seiner warten,
Er verlache Qual und Pein.
Nichts soll ihn erschüttern,
Nur dann würd' er zittern,
Wenn er untreu könnte seyn.
Lass dich bewegen,
Verschone mich!
Des Himmels Segen
Belohne dich!
Doch du bist entschlossen.
Willig, unverdrossen
Wähl' er jede Pein und Noth.
Ordne nur, gebiethe,
Lärme, tobe, wüthe,
Zuletzt befreyt ihn doch der Tod.“
So ein wenig passt die Arie zu seinem Zustand und die Gedanken an die Noiret sind ihm sehr angenehm. Er entspannt sich und ganz nebenbei hat er eine wichtige Idee, bei Pohrer müsste er eine Klausurtagung ansetzen, schon jetzt, gleich zu Beginn. Er würde die Mitarbeiter besser kennenlernen und alle Ansichten, Probleme, Befindlichkeiten und Verbesserungsideen kämen auf den Tisch. Das notiert er sich!
Im Fernsehen findet er die Möglichkeit, sich Aufzeichnungen der Staatsoper anzusehen. „Entführung aus dem Serail“ ist zwar auch dabei, er wählt aber „Così Fan Tutte“, denn es ist die Aufführung, die sie damals in Wien gemeinsam gesehen hatten, die mit der Noiret. Die „Marterarie“ ist ihm weniger wichtig. Er möchte die Interpretin sehen und hören!
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Durch den Vorhang im Wohnraum der Suite fällt das erste Licht. Verdammt, es muss schon spät sein. Er ist auf dem Sofa eingeschlafen und sitzt noch im Schlafanzug vor dem Fernseher.
Blitzschnell duscht er, putzt sich die Zähne und springt in die Kleidung, Anzughose und frisches, weißes Hemd. Leider muss er sich jetzt mit dem Frühstück beeilen.
Mit der U-Bahn und einem Bus ist er schneller, als es ein Taxi sein könnte. Darum schickt er den treu wartenden Rosenstein weg. Die „Wiener Linien“ sind ein Traum, was öffentliche Verkehrssysteme angeht. Er geht aus der U-Bahn am Handelskai raus, überquert die Straße und schon kommt ein Bus, der ihn bis vor das Gelände von Pohrer bringt
Punkt neun Uhr fünfundvierzig steht er in dem Büro, das sie ihm bei Pohrer frei gemacht haben. Ihm kann so ziemlich alles passieren, was man sich denken kann, pünktlich ist er immer.
Keine fünf Minuten später kommt Anzgrund zur Tür herein mit einem verblüfften und bewundernden Lächeln.
„Sie sind sehr pünktlich, Herr Ingenieur!“
„Ja, ich halte es für höflich, pünktlich zu sein. Aber was kann ich für Sie tun, Herr Magister Anzgrund?“
„Gestern Abend auf dem Nachhauseweg habe ich überlegt und ich meine, dass es sehr gut wäre, wenn wir uns für ein, zwei Tage mit den maßgeblichen Leuten in einen Workshop begeben würden, der möglichst abgeschirmt sein sollte …“
„Sehr gut! Ob Sie es glauben oder nicht, Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde. Wie Ihnen ging‘s mir in der letzten Nacht auch. Ich hatte mir extra notiert, dass ich Ihnen heute eine Klausurtagung außerhalb der Pohrer-Räume nahelegen wollte. Hätten Sie einen Vorschlag, wo wir das veranstalten könnten?“
Anzgrunds Lippen umspielt ein stolzer Zug: „Es ist zwar ein wenig entfernt, aber ich habe dort mal an einem Seminar teilgenommen und fand Haus und Umgebung sehr gut geeignet, um intensiv und konzentriert zu lernen und um sich auszutauschen. Hinzu kommt, dass dieses schöne Plätzchen allen Komfort bietet, aber recht schlecht ausgelastet ist. Da gibt’s quasi Fünfsterne-Komfort zum Schnäppchenpreis und sie haben immer Vakanzen. Ich meine das Hotel Panhans am Semmering …“
„PANHANS! Das ist gut! Ihr Vorschlag gefällt mir sehr. Zufällig kenne ich es, dort habe ich vor etwa zwanzig Jahren an einer Seminarveranstaltung mitgewirkt. Ich habe es damals genauso empfunden, wie Sie es schildern.
Ich werde das mit Herrn Dr. Pohrer besprechen. Könnten Sie sich um die Reservierung und alles ringsum kümmern, Herr Anzgrund?“
„Aber sehr gerne, Herr Ingenieur! Ich frage gleich an, wie es um die Auslastung dort steht. Oder wollten Sie sich jetzt mit uns zusammensetzen?“
„Nein, nein, das machen wir in der Klausurtagung. Ich spreche Herrn Dr. Pohrer direkt an und strebe an, schon Montag dorthin zu fahren.“
Dr. Pohrer hat nichts dagegen und Anzgrund reserviert. Den Freitag nutzen sie gemeinsam, um ihm noch die Topografie bei Pohrer näher zu bringen.
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Montags fahren sie raus zum Semmering. Er wird im Fahrzeug von Dr. Pohrer mitgenommen, in dem auch Anzgrund und Sedlasçek sitzen. In einem zweiten Fahrzeug folgen noch vier Mitarbeiter, die für die Klausurtagung wichtig sind.
Es ist zwar erst Anfang Dezember, aber in diesem Jahr ist der Schnee früh gekommen. Durch den weißen Wald fährt Dr. Pohrer ruhig und sicher hinauf zum Hotel. Anton erinnert sich, wie er damals zusammen mit Dorothee im Leihwagen ohne Navigationsgerät durch diese damals schwarze Wildnis geirrt ist. Es war schon dunkel, denn sie waren abends unterwegs.
Heute ist es noch hell und der weiße Schnee reflektiert das restliche Licht. Sie kommen gerade um eine Biegung und da erscheint das Hotel Panhans vor ihnen. Er zieht hörbar die Luft ein. Obwohl er schon einmal da war, überrascht ihn die Größe des Gebäudes auch dieses Mal. Er hatte vergessen, wie gewaltig sich das Hotel in den Wald und an den Hang schmiegt.
Als zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Südbahn auf ihrem Weg nach Triest von Wien aus am Semmering entlang fuhr und im dortigen Bahnhof Station machte, wurden wunderbare Hotels erbaut mit der Pracht der Ringstraßengebäude mitten in den Wald und auf den Berg. Ihm fällt „Der Zauberberg“ von Thomas Mann ein; hier würde er eine neue Fassung drehen lassen.
Sie werden hervorragend vom Personal empfangen und selbst die einfacheren Zimmer sind riesengroß und umfassend ausgestattet.
Es ist die Mittagszeit und sie treffen sich im Restaurant zum Essen, nachdem sie sich auf den Zimmern frisch gemacht haben. Durch die großen Fenster dort strömt jetzt helles Sonnenlicht herein, ein gutes Zeichen für ihr Vorhaben oder?
„War es schwer, hier noch Zimmer und einen Tagungsraum zu bekommen, Herr Magister?“ Er ist sehr guter Stimmung. In diesem Projekt stimmt bisher alles! Es wird die Wende seiner schlechten Strähne sein.
„Nein, gar nicht!“ Anzgrund ist stolz, dass sein Vorschlag Anklang gefunden und seine Organisation geklappt hat. „Leider kämpft dieses wunderschöne Haus beständig mit Besitzerwechseln, Insolvenzen und schlechter Auslastung, wenn es überhaupt in Betrieb ist. Die Leute, die das Geld für ein Fünfsterne-Hotel ausgeben, tun das in Dubai oder in Kitzbühel, wenn sie Skifahren wollen. Zum Fin de Siècle, Ende des 19. Jahrhunderts war es chic, hier abzusteigen, ein Zeichen von Stil und Reichtum. Alle, die es sich leisten konnten, waren zu der Zeit überempfindlich, melancholisch und voller Sehnsucht, wonach war nicht klar. In Musik, Literatur und Malerei dieser Zeit ist diese Stimmung heute noch spürbar. Es war so, als hätten alle Menschen bereits gewusst, dass in wenigen Jahren ihre alte Grundordnung dahingehen würde.
Auch wenn der Semmering gewissermaßen der Hausberg der Wiener ist, steigen die heutzutage eher in den kleineren Hotels und Pensionen ab. Die Zeiten des herrschaftlichen Auftritts sind leider lange vorbei.
Ich hingegen liebe gerade diese Epoche und alles was damit verbunden ist. Es gibt hier noch das Südbahn-Hotel, dem ein ähnliches Schicksal beschieden ist. Wenn Thomas Mann noch lebte, würde er hier oder dort absteigen.“
Das alles bricht enthusiastisch aus Anzgrund heraus. Man glaubt ihm seine Leidenschaft. Eine Vorliebe, die Anton mit ihm teilt.
„So geht’s mir auch. Man spürt die K&K-Zeit und hier ist sie fast noch greifbarer als in Wien. Ich warte nur drauf, dass Arthur Schnitzler mit Frau und Tochter zur Tür herein kommt. Bei unserer Ankunft habe ich mich hundert Jahre zurückversetzt gefühlt.“ Er träumt kurz.
„Aber das soll uns nicht daran hindern, hier ordentlich zusammenzuarbeiten, im Gegenteil!
Sind wir eigentlich die einzigen Gäste, Herr Magister? Bisher habe ich keine anderen gesehen.“
„Das war meine erste Frage, als ich eingecheckt habe. Der Portier sagte, dass es außer uns noch eine weitere Gruppe gäbe, die wären regelmäßig hier, um ihre Treffen möglichst authentisch zu gestalten.“ Anzgrund zieht die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel runter, so als stellte sich ihm eine sehr interessante Frage.
„Authentisch? Wird es hier Kostüm- und Themenabende geben? Aber ohne uns oder was meinen Sie, Herr Dr. Pohrer?“ schmunzelt Anton und blickt zu ihm rüber.
„Natürlich, es sei denn, wir haben unsere Arbeit erledigt. Welche Ziele haben Sie sich und uns gesetzt, Herr Kortner?“
„Sobald wir komplett sind, werde ich dazu ein wenig sagen. Ich schlage vor, dass wir uns heute erst einmal näher kennenlernen, unsere Ziele vereinbaren und vor allem gemeinsam gut essen! Ist das zweite Auto schon eingetroffen? Ich würde gerne eine kurze Vorstellungsrunde machen, bevor wir uns in die Arbeit stürzen.“
Ein Kellner, der sich bisher seriös zurückgehalten hat, kommt zum Tisch, der für acht Personen eingedeckt ist:
„Die Herrschaften sind soeben auf ihre Zimmer gegangen. Sie beabsichtigen in einer Viertelstunde zu Ihnen zu stoßen!“ Ebenso leise und dezent wie er an den Tisch kam, hat er sich wieder auf seinen Posten neben der Tür zurückgezogen.
Das Hotel und die Geschichte des Semmering im Allgemeinen und die große Zeit des K&K-Reiches im Besonderen sind in dem vorerst kleinen Kreis die vorherrschenden Gesprächsthemen.
Es dauert nicht lang und der Kellner öffnet die große Tür, um zwei Damen und zwei Herren in das Restaurant zu lassen. Derartige Hotels sind nicht ihre übliche Umgebung und man sieht, dass sie vom Hotel und der Umgebung beeindruckt sind.
Der Kellner geleitet sie an den Tisch und schiebt zusammen mit einem Kollegen den Damen die Stühle am Tisch unter. Was die beiden sehr verlegen macht. Ihnen geht sichtlich durch den Kopf, dass sie für diesen Aufenthalt nicht die richtige Garderobe dabei haben. Beide tragen Jeans und beiden stehen sie sehr gut.
Die Eine ist etwa Ende vierzig, mit langen, blonden Haaren. Ihrem Gesicht und ihrer Haut sieht man an, dass sie eine echte Blondine ist. Man sieht an ihren Schläfen feine, bläuliche Adern durch die Haut schimmern. Die Haut ist wie opakes, asiatisches Porzellan, sehr weiß und durchscheinend. Ihre Augen sind strahlend blau. Die Augenwinkel haben kleine dünne Fältchen, die vom Winkel nach außen gehen. Sie anzuschauen hat etwas Beruhigendes und Aufheiterndes. Anton empfindet sie auf den ersten Blick als eine kluge, gütige Frau, die ein ausgefülltes Leben lebt.
Und jetzt, wo er die Andere sieht, ist es ihm, als bekäme er einen Stich ins Herz. Sie hat halblange, lockige, rotbraune Haare, grüne Augen und ist ebenfalls blass. Sie hat selbst jetzt im Winter Sommersprossen. Er sieht ein Abbild von Elisabeth Kolesariç, von Sissi!
Sie bemerkt seinen betroffenen Blick und zieht etwas unwillig die Augenbrauen zusammen. Er stürzt schnell den Inhalt eines Glases herunter. Es ist Weißwein. Er ist vollkommen aus dem Takt. Gedanken rasen ihm durch den Kopf, meistens kommt der Name Sissi darin vor. ‚Sie muss tot sein, das ist nicht Sissi‘, redet er sich ein.
Er muss sich zusammenreißen!
„Hrm! Guten Abend meine Damen und Herren. Willkommen im Hotel Panhans. Wir sind hergekommen, um uns über die Logistik in Ihrem Unternehmen zu unterhalten.
Als Ziel habe ich zum einen, dass ich mich nach diesen Tagen fast so gut bei Ihnen auskenne, wie Sie und zum anderen, dass ich von Ihnen allen aufgenommen habe, was Ihnen nicht gefällt und Ihrer Meinung nach verbessert werden sollte.
Ich werde dabei aufmerksam zuhören, das Gespräch soweit wie nötig lenken, um selbst genug zu erfahren und so wenig wie möglich eingreifen. Wenn sie abends Schluss machen, werde ich das Gesagte zusammenfassen und am folgenden Morgen rekapitulieren, damit Sie meine Zusammenfassung bestätigen oder korrigieren können. Ich gehe davon aus, dass sie so innerhalb der nächsten vier Tage ein schlüssiges Sollkonzept für Ihre Logistik vorformuliert haben werden.
Und nun bitte ich Sie, sich vorzustellen. Sollten einige von Ihnen noch etwas gehemmt sein, kann ich gerne den Anfang machen. Was meinen Sie?“
„Bitte beginnen Sie, Herr Kortner!“ Dr. Pohrer lehnt sich zurück und weist mit ausgestrecktem Arm auf ihn.