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JONATHAN STROUD

Aus dem Englischen von
Katharina Orgaß und Gerald Jung

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Für Kelsey, Naomi und Alex,
in Liebe.

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2021 Jonathan Stroud

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel:

»The Outlaws Scarlett & Browne«

bei Walker Books Ltd., London

Übersetzung: Katharina Orgaß & Gerald Jung

Umschlagkonzeption: semper smile, München

unter Verwendung der Abbildungen von © Shutterstock

(Chipmunk131; OSTILL is Franck Camhi; HappyPictures; Real Illusion;

Tintapix; SergeyBitos; dwph; Lukasz Szwaj; ilolab; Phatthanit)

MP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26269-3
V003

www.cbj-verlag.de


Inhalt

I. Die Wildnis

II. Die Stadt

III. Der Fluss

IV. Die Inseln


Kapitel 1

Die Morgendämmerung hing blass und feucht über den Flussdeichen, als Scarlett McCain neben vier toten Männern aufwachte. Vier! Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass es so viele gewesen waren. Kein Wunder, dass ihr alles wehtat.

Sie ließ ihren eingerollten Gebetsteppich aus seiner Hülle gleiten und breitete ihn aus. Dann setzte sie sich im Schneidersitz darauf und versuchte zu meditieren. Aber es wollte ihr nicht gelingen – nicht, wenn vier Leichen sie anstarrten und eine Messerwunde an ihrem Arm schmerzhaft pochte. Sich unter solchen Umständen zu konzentrieren war eine Zumutung! Sie brauchte erst mal Kaffee und was zu essen.

Also stand sie auf und betrachtete die Leiche, die direkt vor ihr lag. Es war ein dicklicher, schwarzbärtiger Mann aus dem Hochland in Arbeitshose und -hemd. Vom Alter her hätte er ihr Vater sein können. Vielleicht war er ja ihr Vater. Sein Gesicht, das mit der Wange auf Schlamm und Uferkieseln lag, machte einen irgendwie gekränkten Eindruck.

»Tja, wir haben alle unsere Probleme«, sagte Scarlett. »Du wolltest mich ausrauben. Selber schuld.«

Sie machte einen großen Schritt über ihn hinweg und ging zum See hinunter, um nach ihren Fallen zu schauen. Aber sie hatte schon wieder Pech. Die Fallen waren kaputt, die Schlingen durchgebissen. Am Ende einer kurzen Blutspur lag ein abgetrennter Kaninchenkopf im platt gedrückten nassen Gras. Die langen, rostbraunen Ohren zeigten nach oben wie zwei zum Gruß gereckte, pelzige Finger. Als hätten ihn die Schlammratten absichtlich so zurückgelassen. Scarlett McCain stieß einen herzhaften Fluch in Richtung des Waldes aus. Dann holte sie einen Penny aus der Hosentasche und steckte ihn in die lederne Fluchkasse, die sie um den Hals trug. Noch nicht mal gefrühstückt und schon im Minus!

An ihrem Lagerplatz braute sie über der Glut des heruntergebrannten Feuers Kaffee. Sie trank ihn im Stehen, saugte ihn durch die Zähne und spuckte den schwarzen Kaffeesatz in den Fluss. Es sah nach einem sonnenklaren Tag aus, anfangs noch kühl, aber ohne Regen. Die Hügelspitzen des von Heide überzogenen Hochlandes schimmerten schon buttergelb, nur die gen Westen liegenden Flanken lagen noch in bläulichem Schatten. Scarlett konnte in der Ferne, jenseits des Marschlands, die Straßenlaternen von Cheltenham hinter den Befestigungsanlagen leuchten sehen. Während sie hinüberblickte, wurde der städtische Generator abgestellt, und die Lichter erloschen. In einer halben Stunde würden die Stadttore geöffnet werden und sie konnte hinein.

Scarlett rollte ihre Decke zusammen, verstaute den Gebetsteppich wieder in seiner Hülle und sammelte dann die Schwefelkerzen ein. Zwei waren im Kampfgewühl zertreten worden, aber drei waren noch unversehrt. Ihr Geruch hatte in der Nacht die Schlammratten ferngehalten. Scarlett schüttelte den Kopf. Inzwischen konnte man sich nicht mal mehr kurz aufs Ohr legen, ohne dass eins dieser Mistviecher aus dem Gebüsch kam und einem die Nase abbiss. Die größeren Ratten schreckten vor nichts zurück. Scarlett kannte Leute, denen das passiert war.

Sie beugte sich über ihren Rucksack, löste die beiden leeren Wasserflaschen und ging damit zum See hinunter. Einer der Männer, die sie getötet hatte, lag mit dem Gesicht nach oben halb im Wasser. Die blonden Haare wogten mit dem Laichkraut auf und ab, seine weiße Hand trieb wie ein Seestern über dem kiesigen Grund. Scarlett umging das Hindernis und machte ein paar Schritte flussaufwärts. Nicht, dass sie sich noch irgendwas einfing.

Schilfstängel schlugen gegen ihre braune Lederjacke, als sie ein paar Schritte ins Wasser watete und die Flaschen auffüllte. Schlamm und Wasser reichten ihr bis auf halbe Höhe der Stiefel. Als sie in den gekräuselten Wellen das verzerrte Abbild ihres blassen Gesichts erblickte, schnitt sie sich selbst eine Grimasse. Die langen roten Haare hingen noch wirrer um ihr Spiegelbild herum als die Wasserpflanzen. Bevor sie in die Stadt ging, musste sie sich unbedingt kämmen.

Als sie die Flaschen wieder verschloss, spürte sie plötzlich ein Kribbeln im Nacken. Sie drehte sich um, alle ihre Sinne waren schlagartig geschärft.

Die Sonne, die über der Wildnis von Wessex aufging, tauchte alles in glühendes, optimistisches Gold. Es ging so gut wie kein Wind. Das Wasser des Sees lag still und glatt wie Glas um die Schilfstängel.

Scarlett blieb reglos stehen, in jeder Hand eine Flasche, und gab sich Mühe, innerlich ganz leer zu werden, sich für alle anderen Eindrücke zu öffnen. Dann ließ sie den Blick langsam umherwandern.

Nirgendwo war etwas Verdächtiges zu sehen, doch davon ließ sie sich nicht täuschen. Irgendetwas war vom Blutgeruch aus dem Wald gelockt worden.

Aber wo hielt es sich versteckt?

Auf halber Strecke zwischen Ufer und Bäumen ragten die Ruinen mehrerer alter Gebäude aus der Wiese. Die zu grotesken Formen verbackenen Mauern sahen wie schroffe, schwarze Klippen aus, härter als jedes Gestein. Am Himmel darüber wand sich ein Vogelschwarm wie eine Luftschlange und schwenkte dann in Richtung Wald. Noch immer war nichts Ungewöhnliches zu sehen oder zu hören.

Scarlett ging zu ihrem Gepäck zurück, befestigte den Gebetsteppich und die Flaschen am Rucksack und setzte ihn auf. Dann scharrte sie mit der Stiefelspitze Erde über die Glut, ging dabei langsam einmal im Kreis und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Normalerweise hätte sie die Taschen der toten Outlaws gründlich gefilzt, aber jetzt wollte sie nur noch weg von hier. Nur den Bärtigen durchsuchte sie oberflächlich. Wieder einer dieser armseligen Bauern, die glaubten, bloß weil sie ein Messer, einen Bierbauch und einen miesen Charakter besaßen, könnten sie jedes Mädchen überfallen, das allein am Lagerfeuer saß. Leider war sein Messer nicht so scharf wie das, das bereits in ihrem Gürtel steckte, aber dafür entdeckte sie in der Jackentasche des Toten ein paar in Wachspapier gewickelte belegte Brote. Damit war Scarletts Frühstücksproblem gelöst.

Sie bahnte sich einen Weg durch das nasse, hohe Gras. Nach Westen hin türmten sich die Wolken über der Grenze zu Wales zu gewaltigen weiß-rosa Gebirgen auf. Scarlett ließ den See hinter sich und hielt direkt auf die Gebäude-Ruinen zu. Sie trat dem Tier lieber hier im offenen Gelände mit der Sonne im Rücken entgegen, als auf der anderen Seite des Uferdamms verfolgt zu werden. Versteckspielen war nicht ihr Ding.

Etwa fünfzig Meter vor den verformten Mauern blieb sie stehen und wartete. Im nächsten Augenblick löste sich etwas Dunkles, Langgestrecktes von den geschwärzten Wänden und trottete in die Sonne hinaus.

Es war ein grau-schwarz gestromter, ausgewachsener Wolfsrüde, doppelt so lang, wie Scarlett groß war. Er hielt den Kopf gesenkt, doch allein seine träge kreisenden Schulterblätter reichten beinahe bis auf Höhe ihrer Brust. Die Kreatur fixierte sie mit bernsteinfarbenen Augen und kam ohne Eile auf sie zu, mit dem selbstbewussten Gang eines Händlers, der kurz vor dem Abschluss eines guten Geschäfts steht. Ohne Hektik, ohne jede Nervosität. Der Wolf wollte die Sache einfach nur durchziehen.

Scarlett tastete unauffällig nach ihrem Gürtel, rührte sich aber nicht von der Stelle – eine schlanke, drahtige Gestalt in einer abgewetzten, langen braunen Jacke, auf dem Rücken den schweren Rucksack mit den Wasserflaschen, dem Gebetsteppich und allem anderen Kram, den ein Mädchen in der Wildnis so brauchte.

Der Wolf lief jetzt noch langsamer. Etwa sechs Meter vor ihr blieb er stehen. Als er den Kopf hob, waren ihre Augen auf gleicher Höhe. Sie taxierten einander. Scarlett musterte die gefletschten Reißzähne, die schwarzen Lefzen und die glühenden, intelligenten Augen. Vielleicht nahm auch der Wolf wahr, dass mit Scarlett McCain nicht zu spaßen war. Er wandte den Kopf; trottete plötzlich einfach an ihr vorbei. Sein strenger Geruch schlug ihr ins Gesicht und war im selben Moment verflogen.

Mädchen und Raubtier gingen ihrer Wege. Der Wolf folgte der Witterung der Leichen und trottete zum See hinunter, Scarlett holte ihren Kamm aus der Tasche und fuhr sich damit so gut es ging durch das verknotete Haar. Dann steckte sie einen Kaugummi in den Mund, zog die Rucksackgurte straffer, richtete ihren Pistolengurt und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Genug getrödelt. Zeit, sich an die Arbeit zu machen! Sie würde den Städtern schon zeigen, wie ein richtiger Raubüberfall aussah.


Kapitel 2

Wie jeden Mittag gönnte sich Mr H. J. Appleby, Direktor der Genossenschaftsbank Cheltenham, eine schöne Tasse Tee. Seine Sandwiches hatte er bereits verzehrt, und jetzt freute er sich auf die Haferkekse mit Ingwer, für die Mrs Simpson nicht umsonst so berühmt war. Seine Weste spannte über dem Bauch, und dass sie gleich noch ein bisschen mehr spannen würde, trug nur zu seinem Wohlbehagen bei.

Die große Standuhr in der Ecke, seit vier Generationen der ganze Stolz seiner Familie, tickte dumpf und beruhigend. Die Räume der Bank im Erdgeschoss waren vorübergehend geschlossen, die Kassierer genossen ihre Mittagspause draußen in der Frühlingssonne. Wenn sich Mr Appleby mit seinem Stuhl umdrehte und durchs Fenster auf die Hauptstraße hinabblickte, konnte er sie sehen, ebenso wie etliche andere brave Bürger von Cheltenham. Die Ladenbesitzer erzählten sich den neuesten Klatsch, die Briefträgerinnen beendeten ihre Runde, und seine Angestellten standen vor Simpsons Bäckerei Schlange … Die Sonne schimmerte auf dem sauber gefegten Asphalt und auf den verchromten Lenkern der Fahrräder in den Ständern. Ruhe und Ordnung herrschten überall. Genau so, dachte Mr Appleby, wie es sein sollte.

Er gönnte den Papieren auf seinem Schreibtisch einen flüchtigen Blick. Miss Petersen hatte sie bereits vorsortiert und beschriftet. Nach den bunten Reitern zu urteilen, musste er ein paar Glaubenshaus-Dokumente durchsehen, mehrere Zahlungen gegenzeichnen und ein paar Briefe unterschreiben. Nichts Kompliziertes, und nichts davon auch nur annähernd so wichtig wie die Kekse. Er kicherte in sich hinein, streckte die Hand nach dem Teller aus …

… und hielt inne. Er hatte nichts gehört, aber irgendetwas war plötzlich anders.

Er blickte auf.

In der Tür stand ein Mädchen.

»Wir haben Mittagspause.« Mr Appleby zog die Hand zurück. »Die Bank ist geschlossen.«

»Weiß ich«, sagte das Mädchen. »Das ist ja der Witz.« Sie verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln, aber ihr Blick war kalt. Dann betrat sie zu Mr Applebys Missfallen das Zimmer.

Ihre langen roten Haare wurden von einer geschnitzten schwarzen Spange zusammengehalten, damit sie ihr nicht in das blasse, sommersprossige Gesicht fielen. Sie trug Jeans, Stiefel und einen abgetragenen weißen Pullover. Beide Hände steckten tief in den Taschen einer langen, braunen Jacke. Mr Appleby hatte eine Tochter im gleichen Alter, nahm aber nur selten zur Kenntnis, wie sie sich anzog. Trotzdem erkannte sogar er, dass es sich hier nicht um den in Cheltenham üblichen Kleidungsstil handelte.

»Wie bist du hereingekommen?«, fragte er.

Das Mädchen gab keine Antwort. Ihre großen Augen waren eigenartig dunkelgrün und betrachteten ihn gelassen. Von Respekt scheint sie noch nie etwas gehört zu haben, dachte Mr Appleby. Kein bisschen. Außerdem kaute sie auf irgendetwas herum. Vermutlich Kaugummi. Ihre Kiefer mahlten unablässig. Auch seine Tochter pflegte diese Unsitte, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte.

»Ich höre?«, sagte er mit Nachdruck.

Daraufhin machte das Mädchen noch ein, zwei Schritte auf ihn zu, vorbei an der Standuhr und Mr Applebys Fotogalerie an der mit Streifentapete verzierten Wand. Ihr Blick fiel flüchtig auf das Bild seiner Frau beim Fest des Cricket-Clubs, auf dem sie ihr Blumenkleid und den großen Strohhut trug.

»O Mann«, sagte sie, »ihr lasst es euch ganz schön gut gehen hier. Lebensmittel sind bei euch bestimmt nicht gerade knapp.«

Der Bankdirektor kniff die Lippen zusammen und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Ich muss dich leider auffordern zu gehen, junge Dame.«

Plötzlich stand das Mädchen direkt vor dem Schreibtisch, hinter dem lederbezogenen Besucherstuhl, der schon Mr Applebys Vater gehört hatte, als der Bankdirektor gewesen war, und davor dessen Vater. Sie drehte den Stuhl herum, nahm darauf Platz und lehnte sich zurück, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.

»Hey, die Lehne gibt ja nach«, sagte sie kauend. »Schick.«

Mr Appleby ließ sich auf seinen eigenen Stuhl zurücksinken. Vielleicht war es besser, keine große Szene zu machen. Er fuhr sich mit seinen braunen Fingern durch die krausen schwarzen Locken auf seinem Oberkopf und fragte: »Na schön – was kann ich für dich tun?«

»Oh, ich will nur Ihr Geld«, entgegnete das Mädchen mit mahlendem Kiefer und lächelte wieder flüchtig. »Das ist ein Banküberfall.«

Ein kehliger Laut entschlüpfte Mr Appleby. War sie geisteskrank? Unglaublich, dass trotz aller Tests und Kontrollen von Kindesbeinen an immer wieder ein paar Abweichler durchrutschten! Ihre roten Haare und die blasse Haut hätten ihn gleich stutzig machen müssen. In jedem Fall diese unheimlichen Augen.

»Ist das Ihr Ernst, Miss …? Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden.«

»Ich habe mich auch nicht vorgestellt«, gab das Mädchen zurück. »Also – in der Wand hinter Ihnen ist ein Tresor. Sie haben sechzig Sekunden, um ihn zu öffnen, Mr …« Sie warf einen Blick auf das silberne Schild auf dem Schreibtisch. »… Mr Horace Appleby. Ha, jetzt kenne ich Ihren Namen! Wer lesen kann, ist immer im Vorteil. Sechzig Sekunden, Horace, ab … jetzt!«

»Lassen Sie uns doch erst mal darüber sprechen«, entgegnete Mr Appleby. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

»Diese Plörre trinke ich nicht.« Sie schlug die Beine übereinander und sah auf ihre Armbanduhr. »Noch fünfundfünfzig Sekunden.« Sie zwinkerte ihm zu. »Rechnen kann ich nämlich auch.«

»Dann vielleicht einen Keks?« Er schob ihr den Teller hin und drückte mit der anderen Hand unauffällig den Alarmknopf unter der Tischplatte. Eric würde schon mit ihr fertigwerden. Eric war ruhig, groß und nicht übermäßig freundlich. Er tat, was man ihm sagte. Er würde die Kleine in den abgelegenen Hof hinter der Bank bringen. Keine große Sache. Ein paar Ohrfeigen, ein paar Schläge dahin, wo es wehtat, und sie würde heulend abziehen. Er lächelte das Mädchen an, dann huschte sein Blick zur Tür. Wo blieb Eric bloß?

»Noch fünfzig Sekunden. Falls Sie sich wundern, warum der Muskelmann aus dem Foyer nicht auftaucht – da können Sie lange warten. Er ist gerade … ein bisschen verhindert.«

Mr Applebys Verblüffung siegte über seine Zurückhaltung. »Heißt das etwa, du hast ihn gefesselt?«

Jetzt lächelte sie richtig, grinste über beide Ohren wie ein Kobold. »Wie kommen Sie denn darauf? So was würde ich nie tun!« Das Grinsen erlosch. »Ich habe ihn k. o. geschlagen. Und wenn Sie den Tresor nicht aufmachen, blüht Ihnen das Gleiche«, schob sie nach.

Mr Appleby nahm ihr zwar nicht ab, dass sie Eric bewusstlos geschlagen hatte, andererseits war sie hier, Eric hingegen nicht. Er beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und legte die Finger aneinander. In seiner Schublade lag eine Schusswaffe, ein schöner, solider Revolver aus heimischer Produktion. Er hatte ihn beim Büchsenmacher zwei Häuser weiter gekauft. Aber er musste ihn erst herausholen, und zwar möglichst schnell, und dummerweise klemmte die Schublade. »Wenn du mich k. o. schlägst«, entgegnete er darum leichthin, »kann ich den Tresor nicht öffnen. Das ist nur logisch, oder?«

»Stimmt«, sagte das Mädchen. »Jedenfalls, wenn ich es in dieser Reihenfolge mache. Noch vierzig Sekunden.«

Erst jetzt sah er die Schlammflecken auf ihren Jeans und Stiefeln, die Flicken und Schrammen an der abgewetzten Jacke. Eindeutige Hinweise auf ein Leben außerhalb der Stadtmauern. An einer schmuddeligen Schnur um den Hals trug sie einen kleinen, zylindrischen Behälter aus Leder, vielleicht eine Strafkasse. Also war sie wirklich verrückt. Eine Fanatikerin. Eine gemeingefährliche Irre. Er hatte sich von ihrer Jugend täuschen lassen, aber sie musste eine dieser widerlichen Outlaws sein, die sich aus der Wildnis von Wessex hereingeschlichen hatte.

Es war nicht unmöglich, den Revolver aus der Schublade zu ziehen. Früher war er oft im Flachland auf Vogeljagd gewesen, hatte Fasanen vom Himmel geholt, wenn die Treiber ins Horn stießen. Hatte getroffen, kaum dass die Vögel aufgeflattert waren. Inzwischen war er älter geworden, aber nicht unbedingt langsamer. Er musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen. Dann merkte er, dass seine Hände zitterten.

Vielleicht ließ er sie lieber einfach weiterreden.

»Ich sehe dir an, dass du ein unglücklicher Mensch bist, mein Kind«, sagte er. »Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Wenn du willst, bringe ich dich ins Glaubenshaus, wo sich ein Pate deiner annehmen kann.«

»Nein danke. Noch fünfunddreißig Sekunden.«

Mr Appleby schielte zu seinem Familienprunkstück hinüber. Die Zeiger auf dem altehrwürdigen Ziffernblatt standen auf zwölf Uhr siebenundzwanzig. Miss Petersen machte immer nur kurz Pause. Überhaupt … wenn seine Angestellten zurückkamen und den bewusstlosen Eric fanden … »Du bist nicht von hier, oder?«, fragte er. »Hast du die Käfige auf dem Marktplatz gesehen, gegenüber vom Teeladen?«

»Noch dreißig Sekunden. Ja, die hab ich gesehen.«

»In diese Käfige stecken wir hier in Cheltenham die Kleinkriminellen«, fuhr Mr Appleby fort. »Wenn du jetzt gleich mit dem Unsinn aufhörst, kommst du mit ein, zwei Tagen davon. Das ist gar nicht so schlimm. Du wirst beschimpft und verspottet, und vielleicht wirst du ein bisschen mit den Lanzen der Gerechtigkeit gepikt. Hinterher wirst du aus der Stadt gejagt. Wenn du aber nicht zur Vernunft kommst …«, er betonte absichtlich jedes Wort, »… dann haben wir noch die Eisenpfähle jenseits der Felder. Dort wirst du angebunden und den wilden Tieren zum Fraß überlassen. Oder, wer weiß, vielleicht kommen ja auch die Gezeichneten aus dem Wald und nehmen dich lebendig mit. Das möchtest du doch bestimmt nicht, oder? Ich bin ein Appleby und stamme aus einer der einflussreichsten Familien dieser Stadt. Das Ganze kostet mich nur ein Lächeln. Diebe, Abweichler, Bankräuber – so verfahren wir immer mit denen.«

»Echt?« Die grünen Augen des Mädchens waren unverwandt auf ihn gerichtet. »Dann sind Sie ja ein ganz Gnadenloser. Aber ich habe auch so meine Methoden. Fragen Sie den Schläger im Foyer. Oder die vier toten Outlaws unten in den Marschen.« Sie erzeugte eine kleine rosa Blase, ließ sie platzen und kaute weiter. »Aber am allerwenigsten kann ich leiden«, setzte sie hinzu, »wenn jemand meine Zeit verplempert – schon gar nicht, wenn mein Leben auf dem Spiel steht. Sie haben jetzt vierzehn Sekunden gequatscht, und ich noch mal sechs. Bleiben zehn. Kramen Sie in Ihrem Gedächtnis und geben Sie die Zahlenfolge richtig ein. Mit ihren Tatterhänden dauert das sowieso länger.«

Mr Appleby schluckte. »Ich mache den Safe nicht auf.«

»Acht Sekunden.«

Eine schnelle Bewegung, mehr war nicht nötig. Er musste sie nur ablenken, die Schublade aufreißen, die Waffe packen und … »Wie gesagt, lass uns erst mal darüber reden.« Reden. Ruhe bewahren. Sie würde ihm nichts tun. Er musste sie einfach noch ein Weilchen hinhalten.

»Sechs.«

Er schaute zum Fenster.

»Fünf«, sagte das Mädchen. »Vier.«

»Zu spät.« Er zeigte hinunter auf die Straße. »Die Stadtwache rückt schon an.«

Das Mädchen verdrehte genervt die Augen, wandte aber den Kopf. Mr Appleby zerrte an seiner Schreibtischschublade. Ja, sie klemmte – aber er kriegte sie auf! Mist, der Revolver war in ein Stofftaschentuch eingeschlagen! Wie war er denn auf die Idee gekommen? Was hatte er sich dabei gedacht? Wer wickelte seinen Revolver ein wie ein Geburtstagsgeschenk? Er zog das Taschentuch rasch weg und hatte die Waffe in der Hand. Er riss den Arm hoch, spannte den Hahn –

Und musste feststellen, dass das Mädchen ihrerseits mit einer Pistole auf sein Herz zielte. Dabei sah sie unendlich gelangweilt aus. Zwischen ihren Lippen blähte sich ganz langsam eine weitere unverschämte Kaugummiblase. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Peng! Die Blase platzte. Mit einem angsterfüllten Aufstöhnen zuckte Mr Appleby in seinem Stuhl zurück und ließ den Revolver auf den Tisch fallen.

»Drei, zwei, eins«, sagte das Mädchen. »Die Zeit ist um, Horace. Mach endlich den verdammten Tresor auf.«

»Ist ja gut, ist ja gut!« Mr Appleby sprang auf, drehte hektisch am Zahlenschloss, gab den Code seines Großvaters ein und riss die Tresortür auf. Dann wuchtete er die schwere Geldkassette heraus und packte sie zwischen Revolver und Keksteller auf den Tisch.

»Geht doch!«, sagte das Mädchen. »War gar nicht so schwer, oder?« Sie deutete mit dem Pistolenlauf auf die Kassette. »Aufmachen.«

Mr Appleby gehorchte. Die Kassette enthielt die Geldreserve der Bank. Von Mr Appleby persönlich liebevoll mit Banderolen zusammengefasste, in Wessex herausgegebene Bündel mit Fünfzigpfundscheinen.

Es brach ihm das Herz, sie so ungeschützt und wehrlos daliegen zu sehen.

Das Mädchen holte ein Einkaufsnetz hervor und schüttelte es aus. »Das Geld hier rein, bitte.« Ihr Blick huschte zur Tür.

Mr Appleby tat wie geheißen, aber ihn packte ein unbändiger Hass auf das Chaos, das jenseits der Verbliebenen Städte herrschte, in den endlosen Weiten der Wälder und Marschen, jenes Chaos, das die Frechheit besaß, in schmutzigen Stiefeln und Lederjacke in sein Büro zu spazieren.

»Ich will dich tot sehen«, sagt er. »Wohin willst du denn fliehen? Nach Mercia? In die Wildnis? Wir haben ausgezeichnete Fährtensucher.«

»Schon. Aber die finden mich nicht« Sie knotete das Netz oben zusammen und sah wieder auf die Uhr.

»Ich habe Freunde in jeder Stadt.«

»Freunde, Sie? Bei dem Charakter? Glaub ich nicht.«

»Das Geld, das du stiehlst, gehört dem Glaubenshaus. Dir ist doch wohl klar, dass die auch ihre Leute haben, oder? Sie werden dich unerbittlich jagen.«

Das Mädchen wog das Netz in der Hand. »Ach ja? Haben Sie schon mal von Jane Oakley gehört, Mr Appleby?«

»Nein.«

»Oder von Jenny Blackwood?«

Er schüttelte den Kopf.

Ihr Grinsen erlosch. »Herrje, lesen Sie denn keine Zeitung?«

»Ich nehme an, es handelt sich um Outlaws und Banditen. Niederträchtige Weibsbilder, die unsere Städte heimsuchen.« Als er sich über den Tisch beugte, bebte er vor dem gerechten Zorn eines wohlhabenden Ehrenmannes. »Und sie sind deine Komplizinnen, nehme ich an.«

»Nö.« Auch das Mädchen beugte sich jetzt vor. Sie roch nach Wald, Wasser und nach schon länger getragenem Wollpullover. »Jane Oakley und Jenny Blackwood sind nicht meine Komplizinnen – das bin beides ich

Von der Tür kam ein erstickter Aufschrei. Mr Appleby und das Mädchen blickten auf. Dort stand mit offenem Mund die verängstigte Miss Petersen, und neben ihr – Shiva sei Dank! – ein Mann von der Stadtwache mit seinem dunkelgrünen, runden Bowlerhut.

Einen Augenblick waren alle wie erstarrt.

Zu seiner eigenen Überraschung reagierte Mr Appleby als Erster. Er packte das Einkaufsnetz und riss es mit einem Ruck an sich. Als das Mädchen nicht losließ, schlug er hektisch nach ihr, aber sie duckte sich weg, holte blitzschnell mit dem sehnigen Arm aus und verpasste ihm einen kräftigen Boxhieb. Ein greller Schmerz breitete sich in Mr Applebys Leib aus, genau dort, wo sich der Tee und die Sandwiches befanden. Er ließ das Netz los und sackte gegen seine Stuhllehne. Stöhnend und wild um sich fuchtelnd sah er trotz der Tränen, die ihm aus den Augen schossen, dass sich der Milizionär in Bewegung setzte. Aber wo war das Mädchen? Über ihm, auf dem Schreibtisch! Sie war so schnell hinaufgesprungen, dass er es überhaupt nicht mitbekommen hatte. Jetzt sah sie ihn lächelnd an, beugte sich herab, drückte die Tasche mit den Geldscheinen an sich, sprang mit einem Satz über Mr Appleby hinweg und in einem Regen funkelnder Scherben durch die Fensterscheibe nach draußen.

Weg war sie.

Blauer Himmel. Sonnenlicht. Ein Sekundenbruchteil Stille.

Dann von unten ein Aufschrei.

Sie war bestimmt tot! Mr Appleby presste die Hand auf den Magen und hievte sich aus dem Sessel. Dann wankte er ans Fenster, lehnte sich hinaus und blickte auf ein Zauberland aus zerbrochenem Glas und aufgescheuchten Passanten.

Aber wo war die Leiche? Er rieb sich die Augen.

Da vernahm er ein fröhliches Klingeln und hob den Kopf.

Dort – ein Fahrrad! Und im Sattel das Mädchen, das wie der Teufel in die Pedale trat, das wild schaukelnde Einkaufsnetz über der Schulter. Sie drehte sich noch einmal um, sah, dass er ihr nachschaute, und machte eine obszöne Geste. Dann wich sie elegant einem Kleinkind aus, beförderte eine alte Dame in den Rinnstein und radelte weiter.

Hinter sich hörte er Miss Petersen wie eine Krähe krächzen, dann blies der Milizionär in seine Trillerpfeife und polterte die Treppe hinab. Mr Appleby ließ sich davon nicht ablenken. Er streckte weiter den Kopf aus dem zerbrochenen Fenster und sah seinem Geld nach, das sich immer weiter entfernte. Schon konnte er das Netz nicht mehr richtig erkennen, sah nur noch leuchtend rote Locken im Sonnenlicht tanzen. Die Locken schienen ihm vergnügt zuzuwinken, als sie am Postamt, dem Ententeich und der Bushaltestelle vorbeisausten. Dann verschwanden sie durch die Tore von Cheltenham hinaus in die Wildnis.


Kapitel 3

Das Geheimnis jedes erfolgreichen Outlaws lautete: Immer auf dem Sprung sein. Keine Bindungen, keine Verpflichtungen. Hast du eine Stadt ausgeraubt, mach dich sofort auf den Weg in die nächste. Stürz dich bereitwillig wieder in die Wildnis. Schau nie zurück. Denn genau das unterscheidet dich von den Dummköpfen in ihren kleinen Häusern, die sich hinter ihren Mauern verschanzen. Der Wald birgt zu viele Gefahren. Sie jagten einen nie besonders weit.

Die Verfolger aus Cheltenham hingegen waren hartnäckiger als Scarlett McCain erwartet hatte.

Sie hatte sich am Waldrand versteckt und beobachtete durchs Fernglas, was sich auf der Straße tat. Die Suchtrupps schwärmten nun aus. Fährtenleser mit Gewehren, Milizionäre mit Bowlerhüten und Typen mit großen, schwarzen Suchhunden. Scarlett hatte keine Ahnung, wie die Hunde die Spur eines Fahrrads aufnahmen, aber sie machten ihre Sache überraschend gut. Alle Beteiligten wirkten zielstrebig, forsch und wild entschlossen. Die Genossenschaftsbank Cheltenham war ihre Bank, Scarlett hatte ihr Geld gestohlen. Sie würden sich bestimmt ein gutes Stück in den Wald hineinwagen, ehe es dunkel wurde.

Das war wiederum der Nachteil, wenn man einen Überfall um die Mittagszeit verübte. Dann dauerte die Verfolgungsjagd immer etwas länger als üblich.

Aber das ging schon in Ordnung. Das Fahrrad lag von Wasser bedeckt in einem Graben, die Kohle war in ihrem Rucksack und der Rucksack wieder auf ihrem Rücken. Sie hatte alles, was sie brauchte, nichts hielt sie auf. Sie steckte das Fernglas ein und bahnte sich geduckt einen Weg durch den Farn in den schattigen Schutz der Bäume.

Die verstreuten Waldgebiete wurden nur hier und da am Rande bewirtschaftet. Scarlett kam an Holzfällerlagern vorbei, an Viehweiden, Obstwiesen und Bienenstöcken. Bewaffnete Posten hüteten Schweine, die unter den Obstbäumen in der Erde wühlten, Schäfer gingen dicht neben ihren Herden her und behielten das Dickicht stets wachsam im Auge. Scarlett huschte ungesehen an allen vorbei und gelangte schließlich auf eine abgelegene, von der Sonne beschienene Wiese, wo auf einem bröckeligen Betonpodest die Strafpfähle der Stadt standen. Lose Ketten baumelten daran. Die Sonne drang durch die Wolken und tauchte die Bäume ringsum in ein sanftes goldenes Licht. Über der Lichtung hing eine düster-melancholische Stimmung. Scarlett spürte ein Ziehen im Magen, einen tiefen, fernen Schmerz der Erinnerung, den sie sich nicht eingestehen mochte. Weiter hinten hörte sie schon die Hunde jaulen. Sie tauchte wieder im Dickicht unter, ließ die Pfade von Cheltenham hinter sich.

In flottem Tempo stapfte sie auf dem sandigen Boden voran, stieg über am Boden liegende Äste und umgestürzte Bäume, ohne sich groß Mühe zu machen, ihre Spuren zu verwischen. Zwischendurch schaute sie immer wieder auf den Kompass an ihrer Gürtelkette. Ihr nächstes Ziel war die Stadt Stow im Nordosten, unweit der Grenze zu Mercia. Wenn sie sich von den Straßen fernhielt, müsste sie die Sicherheitszone vor der Stadt eigentlich am frühen Nachmittag des nächsten Tages erreicht haben. Dass sie die Nacht im Wald verbringen musste, machte ihr nichts aus. Es war beileibe nicht das erste Mal, und bis jetzt hatte sie es immer überlebt.

Nach einer Stunde im Wald kam sie in eine tote Zone. Hier waren die Baumstämme mit schwarzem Schimmel überzogen, ein beißender Aschegeruch lag in der Luft. Auf manche Steine waren primitive Symbole gezeichnet, Tierschädel waren in Spalten geklemmt und manche Äste mit verblassten blauen Strichen bemalt. Die Markierungen schienen zwar alt, trotzdem war Vorsicht angesagt. Scarlett spitzte die Ohren, hörte Tiere im Unterholz rascheln und über sich Vögel singen. Sie entspannte sich. Wenn sich die Tiere so unbekümmert verhielten, war es unwahrscheinlich, dass Gezeichnete in der Nähe waren.

Nach einer weiteren Stunde – die Bäume ringsum waren jetzt grün, die Luft sauber –, verlangsamte sich ihr Tempo. In Gedanken sah sie schon die Annehmlichkeiten von Stow vor sich: Kneipen, Spieltische und warme Mahlzeiten. Als Erstes würde sie ihre Schuld bei der Bruderschaft der Hand begleichen, danach konnte sie sich amüsieren. Bis dahin war sie in der Wildnis auf sich gestellt, aber genau so hatte Scarlett McCain es gern. Von den Hunden war nichts mehr zu hören. Anscheinend hatte sie die Suchtrupps abgehängt. Wenn sie den Wölfen und anderen Gefahren aus dem Weg ging, hatte sie nichts zu befürchten.

Da entdeckte sie den Bus.

* * *

Als Scarlett aus einer von Farnkraut überwucherten Schlucht trat, sah sie über sich eine befestigte Straße, die den Wald durchschnitt. Vermutlich handelte es sich um die Verbindungsstraße zwischen Cheltenham und Evesham im Norden. Der steile Hang zog sich fast bis auf Höhe der Baumkronen, aber ihr Blick wurde vom Fuß der Böschung angezogen, wo ein verunglückter Überlandbus lag. Seine zerbeulte Flanke zeigte zum Himmel.

Scarlett konnte erkennen, wo er in einer Kurve ins Schleudern geraten und die Pfosten der Befestigung durchbrochen hatte, bevor er auf dem Dach den Abhang heruntergerutscht war. Er hatte eine breite schwarze Schneise im Unterholz hinterlassen, etliche Steine waren von der Wucht des Aufpralls mitgerissen worden. Kurz vor dem Fuß des Hügels war der Bus dann erneut gegen ein paar Felsen geprallt, hatte sich noch einmal überschlagen und war auf der Seite liegen geblieben, mitten in einem kleinen Bach. Jetzt präsentierte er Scarlett seine schwarze, glänzende Unterseite auf fast obszöne Weise. Die Räder drehten sich nicht mehr, in der kleinen Waldsenke herrschte tiefe Stille. Eine dünne Ölspur schlängelte sich unter dem Wrack hervor und trieb sanft wirbelnd und in der Sonne schimmernd auf dem Wasser. Links und rechts der Karosserie schwirrten Fliegenschwärme wie leicht im Wind wehende schwarze Spitzengardinen. Es gab aber keinen Wind, und von den Fliegen abgesehen kein Anzeichen von Leben. Trotzdem rührte sich Scarlett McCain nicht von der Stelle und schaute aus dem Farnschatten den auf und ab wogenden Fliegen zu.

Etwas leuchtend Blaues blitzte nahe dem Wasser auf. Ein Eisvogel sauste über den Bach und verschwand zwischen den Bäumen. Scarlett verließ das Unterholz und ging zu dem Bus hinunter, der wie ein verwundetes Tier dalag: ein großes, dummes, unglückseliges Ding.

In der Flanke, die gen Himmel zeigte, klaffte ein großes Loch. Am dessen Rändern war das Metall aufgebogen wie die Blütenblätter einer eisernen Blume.

Es roch nach Benzin und Blut.

Scarlett blieb stehen. Das ölige Wasser schwappte gegen ihre Stiefelkappen. Wieder spitzte sie die Ohren. Nur das Brummen der Fliegen und das teilnahmslose Plätschern des Baches waren zu hören. Das Bachufer war auf beiden Seiten mit zerrissenen, blutverschmierten Kleidungsstücken übersät, die lehmige Erde von riesigen Pfoten zerwühlt. Sie sah deren Abdrücke im Uferschlamm, über blutige Schleifspuren krochen wimmelnde Schmeißfliegen. Die Pfotenspuren führten am Ufer hinauf und verloren sich zwischen den Bäumen.

Das Fahrzeug war ein Reisebus der Firma Wessex Landsmann und gehörte zu den Linien, die die befestigten Städte miteinander verbanden. Da das Blut auf dem Boden nicht mehr frisch war, musste der Unfall mindestens einen Tag her sein. Womöglich hatten ein paar überlebende Fahrgäste herausklettern können, bevor die wilden Tiere aus dem Wald gekommen waren, aber ganz gewiss nicht alle.

Auf jeden Fall waren sie inzwischen nicht mehr hier und hatten ihre Besitztümer zurückgelassen.

Scarlett schob die Hand unter ihre Haare und kratzte sich den Nacken, dann schätzte sie den Stand der Sonne ab. Die Tiere, die den Bus geplündert hatten, würden nicht vor Anbruch der Dunkelheit zurückkommen, und es war erst Nachmittag.

Sie zog sich an der Seitenwand des Fahrzeugs hoch und balancierte zu dem großen, ausgefransten Loch. Durch die Fenster unter ihren Füßen sah sie zerrissene Sitze, Koffer, Kleidung – ein blutiger Müllhaufen. Das Fressgelage hatte zum Teil auch im Innenraum des Busses stattgefunden. Bären oder vielleicht auch Wölfe waren ihrem Überlebenstrieb gefolgt und hatten ihren Hunger gestillt. Erst als sie satt gewesen waren, hatten sie die übrigen Leichen weggeschleift.

Als Scarlett vor dem Krater stand, blieb sie stehen und dachte darüber nach, was das nach außen gebogene Metall zu bedeuten hatte. Die Buswand war von innen aufgerissen worden … Doch als sich drinnen nichts rührte, ließ sie sich vorsichtig durch die Öffnung hinunter, baumelte kurz wie ein Pendel in der Luft und ließ sich dann fallen.

Ihre Jacke blähte sich, aber sie landete geschmeidig auf den Füßen. Durch die Fensterreihe über ihr strömte mattgelbes Tageslicht, von Staub und Tod gesättigt. Alles im Bus war um neunzig Grad gekippt. Die Lehnen der Doppelsitze, die ihr seitlich entgegenragten, erinnerten mit ihren dunklen Nischen an große Bienenwaben. Eine Sitzreihe befand sich unten, die andere hing über Scarletts Kopf. Überall lagen Schuhe, Kleidungsstücke und Handgepäck verstreut, das erst durch den sich überschlagenden Bus geschleudert und später von Krallen zerfetzt worden war.

Auf den ersten Blick entdeckte Scarlett nichts Interessantes, aber nach zehn Minuten gründlicheren Suchens hatte sie mehrere Gepäckstücke geöffnet und einiges Nützliches gefunden: drei Dosen Büchsenfleisch, eine mit Schokopudding, eine Dynamo-Taschenlampe und zwei zerlesene, mehrfach geklebte Bücher. Weil Scarlett lesen konnte, wusste sie um den Wert von Büchern. Sie würden auf den Jahrmärkten von Mercia einen guten Preis erzielen.

Außerdem entdeckte sie einen kleinen Aktenkoffer aus Metall mit einem Vorhängeschloss, das sie leider nicht knacken konnte. Den Schlüssel zu suchen, lohnte die Mühe nicht. Bestimmt hatte ihn jemand in der Tasche gehabt, und jetzt lag er im Magen eines Wolfs. Aber der Koffer war gerade schwer genug, um ihr Interesse zu wecken, deshalb nahm sie ihn auch mit.

Sie packte die kleineren Beutestücke in den Rucksack, befestigte den Aktenkoffer an einem Karabinerhaken neben dem Gebetsteppich, kehrte zu der Öffnung zurück und schaute zum Himmel und den Wolken empor. Gerade als sie hinausklettern wollte, hörte sie das Geräusch.

Reglos stehen zu bleiben war einfach. Schwieriger war es, im Kopf das Gehörte zurückzuspulen und einzuordnen. Es war kein einzelnes Geräusch gewesen, sondern mehrere: ein dumpfer Schlag, ein Scharren, ein abgerissenes Flüstern. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf ein kastenartiges Gebilde, das von der Decke hing und das sie zuvor nicht bemerkt hatte. Es war die Toilettenkabine, die zur Ausstattung aller Reisebusse gehörte. Die Tür war geschlossen.

Jetzt war wieder alles totenstill. Scarlett blickte durch das Loch zu den dahinziehenden Wolken, in den Himmel, in die Freiheit. Dann griff sie nach oben, spannte die Arme an, bereit, sich hinauszuziehen –

Sie seufzte. Und schlich lautlos zu der Toilettenkabine hinüber.

Als sie fast unter der Tür stand, sah sie den Schieber unter dem Griff. Auf dem roten Balken stand:

BESETZT

Das lackierte Holz wies zahlreiche tiefe Kratzspuren auf. Etwas hatte entschlossen versucht hineinzugelangen.

Scarlett lauschte. Aus der Kabine kam kein Laut.

Sie schob sich näher heran. Die Tür befand sich nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf. Den Scharnieren nach zu urteilen, ging sie nach unten auf.

Spontan erwog sie, höflich anzuklopfen, aber das war natürlich albern. Stattdessen räusperte sie sich; seit dem Banküberfall hatte sie nicht mehr gesprochen, und der war schon drei Stunden her.

»Hallo?«

Ihre Stimme hörte sich inmitten der Verwüstung ganz sonderbar an. Irgendwie falsch und seltsam flach. Aus der Kabine kam keine Antwort.

»Ist da jemand?«

Sie wartete ab. Keine Bewegung, nicht mal ein Rascheln.

Scarlett lehnte sich ans Dach des Busses, kratzte sich die Nase und blies die Wangen auf. Dann hob sie doch die Hand und klopfte an die Seitenwand der Kabine. »Es ist schon fast vier Uhr«, sagte sie. »Bald verschwindet die Sonne hinter den Bäumen und diese Senke hier liegt im Schatten. Dann kommen die Tiere zurück. Sie werden dich wittern und auf die Tür losgehen. Früher oder später haben sie Erfolg. Ich bin eine Reisende, eine einfache Pilgerin und Tochter Gottes. Noch bin ich hier, aber ich muss bald weiter. Dann kommt niemand mehr zu deiner Rettung. Wenn du verletzt bist, kann ich dich verbinden. Ich kann dir helfen, nach draußen zu klettern. Aber dazu musst du dich zeigen – innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden. Sonst bin ich weg.«

Jetzt hörte sie es wieder leise flüstern. Es klang, als unterhielten sich zwei Personen miteinander. Dafür war die Kabine ziemlich eng.

Sie stellte sich die stickige Dunkelheit vor. Sie stellte sich vor, dort drinnen eingesperrt zu sein, während sich der Bus überschlug. Während die wilden Tiere die anderen Fahrgäste fraßen. Während Wölfe heulten und geifernd an der dünnen Sperrholztür kratzten.

Scarlett McCain besaß eine lebhafte Fantasie. Genau genommen eine zu lebhafte. Fantasie konnte man nicht essen, man konnte sich nicht mit ihr verteidigen und man konnte sie nicht gewinnbringend verscherbeln, darum bedauerte sie, dass sie damit geschlagen war.

»Noch zehn Sekunden.«

In der Kabine sagte wieder jemand etwas, und fast im selben Augenblick donnerte eine Salve heftiger Schläge gegen die Tür über Scarletts Kopf. Sie sprang zurück, aber nicht schnell genug. Die Tür flog auf, krachte so heftig gegen ihre Schläfe, dass sie taumelte und Sternchen sah. Dann spie die Kabine ihren Insassen aus. Er landete zu Scarletts Füßen und rollte zappelnd und strampelnd über den besudelten Boden.

Scarlett McCain, die sich am nächstbesten Sitz festhielt und deren Zähne von dem Schlag noch vibrierten, richtete sich auf.

Stumm betrachtete sie die vor ihr liegende Gestalt.

Es war ein dünner, knochiger, blasser Junge mit riesengroßen Augen und einer wilden schwarzen Lockenmähne, die wie eine vom Frost überraschte Brunnenfontäne nach allen Richtungen abstand. Nur eine Locke fiel ihm vorn übers Gesicht, als hätte ihn jemand von hinten kräftig gehauen. Er hob eine magere Hand und strich sich die Strähne aus den Augen, um dann wieder seine vorige Haltung einzunehmen.

Ein Junge, der sie von unten anstarrte.

»Ach du Scheiße«, sagte Scarlett.

Dann kramte sie mit zitternden Händen einen Penny aus der Hosentasche und steckte ihn in ihre Fluchkasse.