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ÜBER DEN AUTOR
MEHR SPANNUNG VON F. A. CUISINIER
F. A. Cuisinier
Picon
und das blutige
Zimmer
Kriminalroman
DeBehr
Copyright by: F. A. Cuisinier
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2019
ISBN: 9783957536471
Grafiken Copyright by Fotolia by ©Melkor3D, ©berdesign
Übersetzungen und Worterklärungen finden Sie im Stichwortverzeichnis am Ende des Buches.
Vincent Concort, von seinen Freunden nur „Picon“ genannt, weil er den gleichnamigen Apéritif so gerne trinkt, saß in kurzer Hose faul auf der Terrasse seines Hauses in der Nähe von Aix-en-Provence, die nackten Füße auf dem Körper seines braven Hundes Garçon, der vor ihm lag und in der Sonne döste. Neben ihnen stand ein kleiner Tisch, darauf ein Gläschen mit selbstgemachter Tapenade provençal, ein Glas Pastis, die Reste des morgendlichen Baguettes und sein Handy. Die Sonne schien sehr angenehm, aber es war nicht zu heiß, wie so oft in dieser Gegend! Genau wie seine Bordeaux-Dogge döste er ein und begann, leicht zu schnarchen! Die Vögel zwitscherten und im Hintergrund hörte man leise den alten Hürlimann-Traktor seines Nachbarn tuckern. Der war vor einem Jahr nach Vauvenargues gezogen, wo sich Vincent Concort und seine Frau Irène nach seiner Pensionierung einen kleinen Bauernhof gekauft hatten. Sein Nachbar, Josef Ruetli, war Schweizer, vertrug aber das raue und kalte Klima in den Schweizer Bergen nicht mehr, da ihm das Rheuma schwer zu schaffen machte! So hatte er Teile des Anwesens der Concorts gepachtet, um seine landwirtschaftlichen Geräte dort unterzustellen, denn er war leidenschaftlicher Landwirt! Nach seiner Pensionierung nur noch als Hobby, so wie Vincent Concort als Hobby seinem ehemaligen Kollegen Georges Devereaux aus Paris half, der Kriminal-Kommissar war und, nach Concorts Abschied, die Mordkommission leitete. Dem hatte er versprochen, bei kniffligen Fällen mit seiner Erfahrung und seiner Spürnase zu helfen! Das war in der Vergangenheit oft genug passiert! Sie konnten einfach nicht ohne ihn! Aber er genoss auch die Ruhe und das Nichtstun auf seiner Terrasse! Da seine Frau noch als Gerichts-Medizinerin in Marseille arbeitete, hatte er tagsüber so richtig viel Zeit zum Relaxen!
Damit war es abrupt vorbei, als sein Handy klingelte!
„Du kannst es scheinbar nicht ertragen, dass ich hier auf der Terrasse in meinem Liegestuhl in der Sonne döse! Salut Georges!“
„Nein, kann ich nicht! Das ist auch total ungesund, von der vielen Sonne bekommt man Hautkrebs und vom „auf der faulen Haut liegen“ wird man übergewichtig! Salut Picon!“
„Vom Übergewicht musst Du gerade reden! Du schiebst doch einen 10-kg-Ranzen vor Dir her!“
„Nicht mehr! Ich hab’ abgenommen!“
„Wer’s glaubt, wird selig! Vielleicht 300 g!“
„Nein, Du Lästerer! Es waren genau 7 Kilogramm und 250 Gramm!“
„Genau! Waren! Vor zwei Monaten vielleicht! Mittlerweile hast Du die bestimmt wieder drauf!“
„Nein! Hab’ ich nicht! Ich kann Dir ja ein Foto schicken!“
„Gott bewahre! Vielleicht noch eins in der Badehose? Willst Du mir den Tag verderben?“
„Picon, Dir bekommt das Nichtstun in keinster Weise! Deshalb hab’ ich auch einen sehr interessanten Fall für Dich!“
„Immer wenn es gerade am schönsten ist!“
„Wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören! Du kennst doch das Sprichwort!“
„Sprichworte sind doof! Bis auf:
Der tüchtige Rentner hat sich den ruhigen, angenehmen Lebensabend verdient und muss, mit allen Mitteln, verwöhnt werden!“
„Das Sprichwort hab’ ich ja noch nie gehört!“
„Concort’sche Weisheiten, Band 4, Seite 67!“
„Haha! Sehr witzig! Pass’ auf Picon, wir brauchen Dich!“
„Wieso? Habt Ihr vom vielen Alkohol vergessen, wie man Mörder fängt?“
„Nein, ganz und gar nicht! Wir hatten ja auch den besten Lehrmeister aller Zeiten! Aber der Fall wird Dich interessieren! Da bin ich mir 100%ig sicher!“
„Georges, Du Schleimer! Aber lass’ mal kurz hören, um was es geht! Dann erteile ich Dir eine Absage und döse weiter!“
„Bestimmt nicht! Alors! In Marseille, im Hotel „Moderne“, direkt am alten Hafen, hat man bei einer Routine-Kontrolle ein über und über blutbespritztes Zimmer gefunden! Und jetzt kommt’s:
Das Zimmer war nicht vermietet, es gibt keine Leiche, keine Blutspuren im Bad, wo sich der Mörder eigentlich gesäubert haben müsste, keine Blutspuren außerhalb des Zimmers! Keine Blutspuren in anderen Zimmern und die Matratze ist von tiefen Messerstichen geradezu zerfetzt! Keiner der Gäste hat etwas gehört, der Mann an der Rezeption auch nicht! Es gab zwischen der letzten Vermietung und dem Entdecken des blutigen Zimmers in dem Hotel sieben Gäste! Vier Callgirls, die dort fast jeden Tag ihrer Arbeit nachgehen, eine Kommunal-Politikerin aus Rennes, die auf einer Wahlveranstaltung eines Parteifreundes gesprochen hat, einen Architekten, der bei der Stadtverwaltung seinen Entwurf für ein ausgeschriebenes Verwaltungsgebäude abgegeben hat und – einen Tätowierer namens Peer Ladegast aus Köln! Warum der in Marseille war und was er dort gemacht hat, ist nicht bekannt! Alle wurden vernommen und scheiden vermutlich als Täter aus, nur der Tätowierer ist verschwunden! Dreißig bis vierzig Jahre alt, schmächtige Figur, über und über tätowiert, sodass man kein bestimmtes Motiv ausmachen konnte, kurze blonde Haare, Jeans, graues Sweatshirt, Turnschuhe.“
„Hmh! Dann hat der Tätowierer jemanden umgebracht und die Leiche mitgenommen!“
„Ohne draußen Spuren zu hinterlassen?“
„Oder der Tätowierer wurde umgebracht und abtransportiert!“
„Ohne draußen Spuren zu hinterlassen? Und wieso in einem nicht vermieteten Zimmer? Offensichtlich hat der Mörder den anderen Zimmerschlüssel vom Brett an der nachts unbesetzten Rezeption genommen und später wieder hingehängt! Und bevor Du fragst – Nein, es waren keine Fingerabdrücke drauf – abgewischt!“
„Hmh!“
„Siehst Du, so hab’ ich auch gedacht, als ich das erste Mal davon hörte!“
„Glaub’ ich Dir! Mysteriös! Aber wieso landete der Fall auf Deinem Schreibtisch? Ihr seid doch für Paris zuständig und nicht für Marseille!“
„Ja, theoretisch schon, aber – das Hotel gehört zu einer Kette mit Sitz in Paris und deren Besitzer ist ein Schulfreund unseres höchsten Chefs!“
„Dem Polizei-Präfekten?“
„Oui! Und außerdem hat Deine Frau Irène die Untersuchungen des blutigen Zimmers geleitet!“
„Davon hat sie mir gar nichts erzählt!“
„Da wusste sie ja auch noch nicht, wem das Hotel gehört und dass wir den Fall übernehmen müssen!“
„Hmh!“
„Danke, Picon, dass Du uns in dem Fall helfen willst!“
„Moment! Ich hab’ noch nicht zugesagt!“
„Picon, immer wenn Du „Hmh!“ sagst, haben Deine grauen Zellen bereits die Arbeit aufgenommen!“
„Du scheinst mich ja gut zu kennen!“
„Besser als Du Dich! Pass’ auf, ich komme heute Abend mit dem TGV in Aix an, kannst Du mich dort abholen?“
„Klar! Dann machen wir einen drauf!“
„Wenn Deine Frau es erlaubt!“
„Heh, Heh! Da gibt’s nicht zu erlauben! Mit der richtigen Strategie wird sie den Vorschlag super finden!“
„Welche Strategie?“
„Georges, Du hast aber auch überhaupt keine Ahnung von Frauen! Ich lade sie zum Essen ins „Les Deux Garçons“ in Aix ein, bitte sie, sich so richtig rauszuputzen und den Kerlen auf dem „Cours Mirabeau“ so richtig den Kopf zu verdrehen, weil mich das stolz macht – und schon ist der Abend abgenickt! Und wir nutzen das weidlich aus und gießen uns eins hinter die Binde!“
„Du hinterlistiger Hund!“
„Hund ist in Ordnung aber das hinterlistig – stimmt auch!“
Um seine Frau Irène am Abend zu überraschen, hinterließ ihr Vincent Concort, als er losfuhr, um seinen Freund Georges abzuholen, einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch:
„Bon soir, ma jolie! Bin noch was besorgen! Habe eine Überraschung für Dich! Bisous!“
Als Picon Georges dann abgeholt hatte und auf seinen Hof fuhr, fehlte das Auto seiner Frau!
„Irène wird noch im gerichtsmedizinischen Institut sein! Du weißt doch, wie besessen sie arbeitet, wenn sie einen neuen Fall hat!“, meinte Georges.
„Umso besser! Dann können wir ja schon mal vorglühen gehen!“
Während George Devereaux sein Köfferchen in das Gästezimmer brachte und grob auspackte, zerknüllte Picon Concort den ersten Zettel und schrieb einen neuen:
„Bon soir, ma jolie! Habe eine Überraschung für Dich! Brezel Dich auf und komm’ mit dem Taxi ins „Les Deux Garçons“! Bis gleich! Bisous!“
Die beiden Freunde zogen sich um, Picon den feinsten Zwirn, den er im Schrank hatte, Georges eher nicht, der hatte nur Lederhosen, Holzfäller- oder Jeans-Hemden und Cowboy-Stiefel und weigerte sich stets, irgendetwas anderes anzuziehen!
So „herausgeputzt“ stiegen sie in das herbeigerufene Taxi und fuhren die 15 Kilometer in die Innenstadt! Da der Cours Mirabeau eine verkehrsberuhigte Zone ist und Taxis eine Durchfahr-Genehmigung haben, konnte es direkt vor dem Restaurant halten! Picon zahlte und gab, wie immer, ein großzügiges Trinkgeld. Da er schon von zu Hause aus „ihren“ Tisch bestellt hatte, gingen sie zielstrebig darauf zu – die Concorts waren Stammgäste und hatten fast immer denselben Tisch!
„Bon soir, Monsieur Concort, Monsieur Devereaux!“
Da sich die Freunde oft entweder in Paris oder in Aix trafen, kannte der Kellner Georges sehr gut!
„Bon soir, Gaetan! Haben wir wieder unseren Tisch?“
„Selbstverständlich! Kommt Ihre Gattin heute nicht mit?“
„Nein, die muss arbeiten!“
„Ooch, das ist aber schade!“
„Ja, ja, ich weiß schon, dass Sie ein Auge auf meine Frau geworfen haben! Dürfen Sie auch, Gaetan! Dürfen Sie auch! Nein, das war Spaß, sie kommt später!“
„D’accord! Dann decke ich für drei Personen?“
„Oui! Und wir hätten dann gerne einen Pastis und ein ‚Bière pression‘!“
„Kommt sofort!“
Nach wenigen Minuten, Picon und Georges hatten sich schon angeregt über diverse attraktive Mädchen unterhalten, die die Straße entlang flaniert waren, brachte der Kellner die Getränke, ein Schälchen Oliven, eins mit Erdnüssen und eins mit selbstgemachten Kartoffel-Chips.
„Ich bin gespannt, ob Irène schon Weiteres in dem Fall herausgefunden hat!“, sagte Georges.
„Georges, wir sind hier zum Essen und zum …“
„Trinken, ich weiß! Ich werde sie bei Euch zu Hause fragen!“
„Brauchst Du nicht! Wenn sie was herausgefunden hat, kann sie das ohnehin nicht lange für sich behalten!“
Beide lachten!
Nach einer weiteren halben Stunde, die die beiden Freunde mit anerkennenden Kommentaren bezüglich der Damenwelt auf der Pracht-Straße verbracht hatten, kam Irène Concort!
Sie hatte die Angewohnheit, immer schon an der „Fontaine de la Rotonde“ auszusteigen, um ihre Garderobe auch publikumswirksam vorführen zu können und war noch mindestens 100 Meter entfernt, aber ihr atemberaubendes Kleid schwebte mit ihr wie ein riesiges Bonbon über den Boulevard! Es zeigte riesige Mohnblumen auf einem Lavendelfeld, dazu hatte sie einen passenden roten Hut und rote Pumps mit Stiletto-Absätzen an! In der rechten Armbeuge hielt sie, selbstverständlich im gleichen Ton wie Mohnblumen, Hut und Pumps, eine kleine, rote Handtasche!
Picon konnte deutlich die offenen Münder der Männer in den Bars, Restaurants und Cafés sehen, die Köpfe gingen im gleichen Tempo nach links, Richtung „Les Deux Garçons“!
Vor dem Restaurant sah sich Irène Concort suchend um, obwohl sie ganz genau wusste, wo sie sitzen würde!
Demonstrativ langsam ging sie dann zu „ihrem“ Tisch!
„Bon soir, Chéri! Salut Georges, mein Freund, das ist ja wirklich eine Überraschung!“
Sie setzte sich und hatte schon ein Glas Roséwein vor sich stehen! Da sie immer damit anfing, wusste der Kellner Gaetan bereits ihre Wünsche!“
„Madame Concort, darf ich mir erlauben, Ihnen zu sagen, dass sie ein sehr schönes Kleid anhaben, das, mit allen Accessoires, vorzüglich zu Ihnen passt?“
„Merci, Gaetan! Sie dürfen!“
„Chéri, Du hast Dich aber schick gemacht!“, sagte Irène Concort zu ihrem Mann.
Das war zwar ehrlich gemeint, hatte aber auch einen eigennützigen Hintergrund! Amerikaner würden sagen:
„Fishing for compliments!“
„Du siehst großartig aus, ma jolie!“
„Ja, da kann ich mich nur anschließen!“, stotterte Georges, der insgeheim seit Jahren in Irène Concort verknallt war!
Was heißt insgeheim! Picon hatte das natürlich sofort bemerkt, es störte ihn aber nicht! Erstens weil Georges sein Freund war und zweitens, weil er es genoss, dass die Männerwelt seine Frau anhimmelte!
„Da Gaetan für drei Personen eingedeckt hat, gehe ich davon aus, dass wir hier auch essen! Und Du mich einlädst, Chéri!“
„So ist es, ma jolie! Das gibt meine schmale Rente gerade noch her!“
„Ooch, Picon, mir kommen gleich die Tränen!“
„Ja, ich bitte Dich! Du weißt doch sicherlich auch, dass ich von uns allen das geringste Einkommen habe!“
„Ooch! Du Ärmster!“ sagten Irène Concort und Georges Devereaux zugleich!
Beide lachten über ihren gelungenen Gleichklang und klatschten sich ab!
„Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe da einen neuen Fall hereinbekommen! Der ist sehr mysteriös!“
Jetzt waren es Picon und Georges, die lachten und abklatschten.
„Was ist daran so lustig?“
„Ooch nichts!“, sagten beide wieder gleichzeitig!
„Ihr seid ja heute Abend gut drauf – habt wohl schon vorgeglüht und nach den Mädchen geschaut!“
„Ooch! Kaum!“, kam es wieder gleichzeitig.
„Ich glaub’ Euch kein Wort! Also wollt Ihr jetzt wissen, was so mysteriös an meinem neuen Fall ist?“
„Klar, Chérie! Schieß los!“
„Alors!“ Und Irène Concort erzählte den beiden das, was sie bereits wussten!
„Liebste Irène, Ihr seid, mit weitem Abstand, das beste gerichtsmedizinische Institut in Frankreich, aber die Kommunikation in Eurem Laden lässt sehr zu wünschen übrig! Haben die Dir nicht gesagt, dass unser Kommissariat in Paris mit der Aufklärung des Falles beauftragt wurde?“
„Nein! Na die werden sich morgen aber warm anziehen müssen! Aber wieso Ihr in Paris? Was hat ein blutiges Hotelzimmer in Marseille mit Euch zu tun?“
„Das Hotel gehört zu einer Kette mit Sitz in Paris und der Chef des Hotels ist ein Freund unseres Chefs!“
„Aha! Du bist also heute nicht hier, um mich wiederzusehen und mein Outfit zu bewundern, sondern rein geschäftlich!“
„Liebste Irène, ich habe das große Glück, dass manche meiner Fälle von Dir bearbeitet worden sind und immer noch werden! So hab’ ich oft die Möglichkeit, zu Euch zu kommen, Eure sprichwörtliche Gastfreundschaft zu genießen und mich dabei an Deiner Schönheit und Deiner umwerfend attraktiven Garderobe zu erfreuen!“
„Das hast Du aber sehr schön gesagt, Georges, vielen Dank!“
„Schleimer!“, kam nur von Picon.
„Alors, aber Du wärst nicht Irène Concort, wenn Du nicht bereits etwas herausgefunden hättest, was wir noch nicht wissen, Du uns aber bisher verschwiegen hast, um die Spannung zu erhöhen und noch einen Trumpf im Ärmel zu haben! Schieß los!“
„Ja, hab’ ich auch! Also das Blut ist mehrere Tage alt, ich schätze so ungefähr vier Tage! Die Messerstiche wurden mit sehr großer Wucht ausgeführt mit einem langen, gezackten Messer und sind, teilweise, durch die Matratze gegangen! Anschließend hat der Mörder – und jetzt bin ich mir auch sicher, dass es ein Mord war! – sein Messer am Betttuch abgewischt! Dabei sind Gewebe-Reste des Opfers, die an den Zacken hängengeblieben sind, auf das Betttuch gekommen! Und jetzt kommt’s: Diese Reste bestehen aus Mamma-Gewebe! Das Opfer ist also eine Frau gewesen!“
Georges meldete sich zu Wort:
„Dann könnte es gut sein, dass es eine Prostituierte war, die in dem Hotel ja aus- und eingehen!“
„Möglich!“, antwortete Picon. „Das kannst Du morgen Abend ja einfach herausbekommen, indem Du die anderen Callgirls fragst, ob sie eine von ihnen vermissen! Und in den einschlägigen Bordellen und Bars fragst Du die anderen vom horizontalen Gewerbe danach! Dann wissen wir, spätestens übermorgen ob es eine Professionelle war!“
„Wieso ich?“
„Weil Du Single bist und – sei ehrlich – Dir solche Befragungen im Rotlicht-Milieu Spaß machen, gib’s zu!“
„Und was machst Du, Picon?“
„Ich frage im Commissariat de Police von Marseille nach, ob sie Vermissten-Meldungen haben und informiere sie davon, dass wir in diesem Fall die Ermittlungen leiten!“
„Das dauert eine halbe Stunde und dann?“
„Dann fahre ich zu dem Hotel und schau’ mir den Tatort an!“
„Oh wie gruselig! Den Part überlasse ich Dir gerne, Picon! Aber wenn Du schon dort bist, kannst Du mir die Befragung der professionellen, weiblichen „Tages-Schicht“ bitte abnehmen!“
„Mach’ ich!“
Der Kellner Gaetan kam und fragte:
„Haben die Herrschaften gewählt?“
„Gaetan, Sie wollen doch wohl nicht im Ernst diese beiden, dem Alkohol und den jungen Mädchen verfallenen Männer als „Herrschaften“ bezeichnen!“, sagte Irène grinsend.
„Pardon, Madame Concort, erstens waren mit „Herrschaften“ auch Sie gemeint und außerdem muss ich sagen, dass Ihr Mann und Monsieur Devereaux, im Gegensatz zu vielen Touristen, die ich bisher bedienen musste, den Ausdruck „Herrschaften“ wirklich verdient haben!“
„Siehst Du!“, sagten Picon und Georges wieder gleichzeitig.
„D’accord! Da haben Sie wohl recht!“
Die drei fragten nach dem Geheimtipp des Tages, in dessen Genuss nur Stammgäste kommen.
Chef-Kellner Gaetan sagte:
„Ich habe da ein paar exzellente „Dorade Royale“ für Sie, heute Morgen vor Porquerolles gefangen, dazu frischen Seetang, Jakobsmuscheln und in unserer Fisch-Räucherkammer geröstetes Baguette rustikal! Bei der Würzung der Doraden kann ich sagen: Lassen Sie sich überraschen! Nur so viel: Der Orient lässt grüßen!“
Irène lief das Wasser im Munde zusammen:
„Gaetan, Sie lassen mich dahinschmelzen! Das nehme ich!“
„Und die Herren?“
Picon und Georges guckten in den Himmel, als ob sie nicht gemeint wären!
Gaetan räusperte sich grinsend, da er das Spiel schon oft genug erlebt hatte!
„Ach, mit Herren waren wohl wir gemeint! Ich nehme das auch!“, sagte Picon.
„Echt jetzt? Na gut, ich auch!“, meinte Georges.
„Ihr zwei könntet echt als Komiker auftreten!“, sagte Irène.
Das Essen war, wie immer, exzellent und die drei hatten einen sehr angenehmen, gemütlichen und, kulinarisch gesehen, legendären Abend!
Am nächsten Morgen rief die Pflicht!
Irène Concort stürzte sich in die Feinheiten gerichtsmedizinischer Untersuchungen, Picon besuchte das Commissariat de Police von Marseille und den Tatort und Georges hielt den Kontakt zu seinen Kollegen in Paris bis er sich, am Abend, in das Rotlicht-Viertel von Marseille „vertiefte“!
Da er dort ja nicht bekannt war, spielte er, wieder mal, den besorgten Bruder! Er setzte sich zu einem der Mädchen an die Bar, tat nach außen hin so, als wäre er ein ganz normaler Gast, gab ihr einen Drink aus und kam dann, nach einigen Minuten, auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen:
„Ich habe eine große Bitte an Dich! Meine Zwillingsschwester arbeitet seit Jahren, so wie Du, in verschiedenen Städten in Bars und anderen Établissements, seit Längerem hier in Marseille. Dagegen habe ich auch grundsätzlich nichts einzuwenden, denn Euer schwerer Beruf ist wichtig! Nicht auszudenken, was auf den Straßen so passieren würde, wenn es Euch nicht gäbe! Durch unsere völlig unterschiedlichen Arbeitszeiten sehen wir uns allerdings nicht so oft wie wir es uns wünschen würden! Wir telefonieren aber häufig miteinander! Seit einigen Tagen allerdings geht sie nicht mehr ans Handy! Ich war schon bei ihr zu Hause, dort hat sie seit Tagen auch keiner mehr gesehen! Meine Schwester würde nie so einfach irgendwohin abhauen, ohne mir Bescheid zu sagen! Und jetzt hab’ ich Angst, ihr könnte was passiert sein und bin auf der Suche nach ihr! Hast Du eine Kollegin, die Du seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen hast?“
Und mit diesem Trick arbeitete er sich durch die verschiedenen Bars und Bordelle durch.
Um sechs Uhr morgens war er mit den einschlägigen Lokalitäten im Umkreis von fünf Kilometern um den Tatort herum durch und ziemlich kaputt! Er merkte eben, dass er keine dreißig mehr war! Georges Devereaux nahm sich ein Taxi und fuhr zurück nach Vauvenargues zu seinen Freunden und kam gerade rechtzeitig zum Frühstück!
„Na, Du alter Schwerenöter! Was hast Du herausgefunden?“
„Außer Spesen nichts gewesen! Und Du? Was am Tatort gefunden, was uns weiterhilft?“
„Nein! Der Tatort machte auf mich den Eindruck, als hätte man ihn aus einem anderen Hotel quasi rausgeschnitten und in dieses eingebaut! Er ist völlig isoliert von den anderen Räumen zu sehen, das habe ich noch nie erlebt!! Normalerweise steht ein Tatort immer im Zusammenhang mit seiner Umgebung! Die Spurenlage hinterlässt die stärksten Eindrücke dort, wo der Mord passierte und nimmt immer mehr ab, je weiter man sich von ihm entfernt! Bei diesem aber nicht! Es gibt nur Spuren in dem Zimmer, sonst keine! Und die Mädchen, die im Hotel regelmäßig anschaffen gehen, vermissen auch keine Kollegin! Der Rezeptionist hat den Tätowierer ein einziges Mal gesehen, beim Einchecken! Auf meine Frage, ob der tätowiert war, hat er gesagt:
„Am ganzen Körper, was man so sehen konnte!“
Und was der in Marseille wollte, wusste er nicht! Auf die Frage, woher er denn wüsste, dass er ein Tätowierer war, sagte er: „Das hat er als Beruf angegeben!“
Ich hab’ mir den Meldezettel angesehen, da stand tatsächlich ‚Tätowierer‘!“
„Und die Vermissten-Meldungen im Commissariat de Police?“
„Auch nichts! Ein paar ältere Frauen, die wahrscheinlich dement sind und hilflos umherirren, aber kein junges Mädchen aus der Rotlicht-Branche!“
„Wo ist eigentlich Irène?“, fragte Georges.
„Die ist schon in der Gerichtsmedizin! Du weißt doch – neuer Fall – Großalarm bei ihr!“
„Ist ja verständlich! Na dann leg’ ich mich mal hin! Was machst Du heute so?“
„Ich befürchte, dass mir wohl nichts anderes übrig bleiben wird, als nach Köln zu reisen und nach dem Tätowierer zu suchen! Ich mach’ dann schon mal die Reiseroute fertig und bereite das Wohnmobil vor!“
„Also fahre ich dann morgen früh wieder nach Paris zurück?“
„Ja, hier können wir momentan nichts weiter ausrichten! Irène kann Dich ja mitnehmen und am TGV-Bahnhof absetzen!“
„D’accord! Aber heute Abend besuche ich noch die Tätowierer in Marseille und Umgebung, das werden ja nicht so unheimlich viele sein! Die befrage ich nach dem ‚Ladekran‘!“
„Ladegast!“
„Auch gut!“
Am nächsten Morgen traf man sich beim gemeinsamen Frühstück im Hause der Concorts.
„Bon jour, ma jolie! Hast Du gut geschlafen?“
„Bon jour, Chéri! Nein! Ich komme mit dem Fall nicht weiter – es gibt keine Spuren!“
„Und Du, Georges? Was sagt die Tätowier-Szene?“
„Leider nichts! Den Ladekran kennt keiner!“
„Ladegast!“
„Sag’ ich doch! Aber das muss nichts heißen! Ich hab’ mir überlegt, dass es gut sein könnte, dass die Besitzer der Tattoo-Studios den gar nicht kennen wollen, weil sie dessen Dienste nicht durch die Bücher laufen lassen! Der kriegt einen Pauschal-Betrag als Honorar, vielleicht pro Stunde, und den Restbetrag zum eingenommenen Geld behält der Studio-Besitzer, das läuft an der Steuer vorbei!“
„Wäre hier in Marseille auch zu erwarten!“
„Also, ma jolie, Du suchst weiter nach Mini-Spuren, vielleicht findest Du ja doch noch was! Du Georges fährst nach Paris zurück und suchst nach vermissten Frauen! Und ich fahre nach Köln und schaue mir seine Wohnung und sein Umfeld an!“
Vincent Concort hatte eine lange Reise vor sich! Nachdem er seinen Hund Garçon eingeladen und den Kühlschrank reichlich gefüllt hatte, fuhr er mit dem Wohnmobil los. Er wollte über Avignon, Lyon, Dijon, Nancy, Metz, Luxemburg, Trier und Bonn nach Köln fahren. Eine erste Übernachtung hatte er auf dem Campingplatz von Dole eingeplant, das waren 495 Kilometer. Bei ihren gelegentlichen Reisen ins Elsass, oft zur Weihnachts-Zeit, weil dann die elsässischen Dörfer so prachtvoll und gemütlich geschmückt sind, waren seine Frau und er schon ein paar Mal dort gewesen, es ist ungefähr 2/3 der Strecke dorthin. Er hatte sich vorgenommen, nachdem er sein Wohnmobil dort geparkt und an den Strom angeschlossen hatte, mit Garçon in die Stadt zu gehen, um dort eine Kleinigkeit zu essen. Dole ist eine sehr alte Stadt am Fluss Doubs, die eine gelungene Kombination aus alten Bauwerken und modernen Geschäftsstraßen hinbekommen hat. Er ging auf direktem Wege zu dem gemütlichen Bistro am Rathaus, legte den Hund neben sich ab und bestellte ein Bière pression und ein Steak Tartare. Anschließend machte er noch einen Verdauungsspaziergang durch den Stadtpark, dann am Ufer des Doubs entlang, um anschließend zwischen Sport-Zentrum und Fluss wieder zum Campingplatz zurückzukehren. Angesichts der langen Strecke, die in den nächsten Tagen noch vor ihm lag, ging er früh schlafen.
Georges Devereaux telefonierte wie ein Weltmeister, arbeitete sich durch unzählige Internet-Seiten durch und Irène Concort hatte am Abend fast Sehstörungen vom vielen Durchsuchen der Asservate aus dem Tatort-Zimmer unter dem Mikroskop!
Picon Concort arbeitete sich in den nächsten Tagen weiter vor, übernachtete noch einmal in der Eifel auf einem sehr kleinen Campingplatz und erreichte dann endlich, am frühen Abend, Köln, wo er auf einem Platz auf den Poller-Wiesen, schräg gegenüber der berühmten Altstadt, eincheckte. Diese Wiesen heißen nicht nur so, es sind auch welche, im Gegensatz zu Paris z. B., wo das Viertel Saint-Germain-des-Prés zwar „in den Wiesen“ heißt, aber kaum welche zu finden sind!