Der Berg des Schweigens

Begegnung mit einem christlichen Meister

Kyriacos C. Markides


ISBN: 978-3-96861-018-4
1. Auflage 2020
© Deutsche Ausgabe Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de

Titel der Originalausgabe: The Mountain of Silence
© 2001 Kyriacos C. Markides
Image Book publishes by Doubleday
(Random House, Inc., 1540 Broadway, New York, New York 1 0036)
Aus dem Englischen von Astrid Ogbeiwi

Umschlaggestaltung: Annette Wagner unter Verwendung von © 100ker / 103115687 – shutterstock.com
Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Für Níkos und Dora

Vorbemerkung des Verfassers

Vater Maximos, der Hauptperson dieses Buches, bin ich zu tiefstem Dank verpflichtet – für seine Liebe, seine Freundschaft und seine geistliche Führung. Ohne seine Bereitschaft, mich an seiner Kenntnis und seiner Erfahrung mit der östlich-orthodoxen Spiritualität teilhaben zu lassen, wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Selbstredend gehen alle etwa vorhandenen Mängel in der Darstellung dieser Weisheitstradition ausschließlich auf mich zurück. Außerdem möchte ich den Mönchen des Klosters Panagia1 in Zypern sowie den Altvätern2, Mönchen und Einsiedlern, die ich auf dem Berg Athos in Griechenland kennengelernt habe, für ihre großzügige Gastfreundschaft danken.

Mein Dank geht an meine Kolleginnen und Kollegen an der Soziologischen Fakultät der University of Maine für den Studienurlaub im Frühjahr 1997 und für ihre stete Unterstützung meiner Forschungsvorhaben. Folgenden Personen möchte ich für ihre direkte oder indirekte Mitwirkung an der Entstehung dieses Buches ebenfalls danken: Allen, über die ich auf diesen Seiten schreibe; meiner Literaturagentin Marlene Gabriel sowie meinem Verleger und Lektor Eric Major für ihre beispielhafte professionelle Expertise und ihren unerschütterlichen Glauben an den Wert dieses Buches; Bischof Kallistos Ware, Oxford Professor für Religionswissenschaften für die Lektüre des größten Teils der Erstfassung sowie sein wertvolles Feedback; der Anthropologin Eleni Stamiris für ihre erhellenden Vorschläge; Akis Lordos dafür, dass er mich auf dem Berg Athos eingeführt und mich dadurch mit dem außergewöhnlichen Reichtum der östlich-orthodoxen mystischen Spiritualität bekannt gemacht hat; und schließlich meinem Freund und Kollegen Lambros Karris dafür, dass er mich mit den erhebenden Freuden des byzantinischen Gesangs in Berührung gebracht hat.

Besonderer Dank geht an meinen Freund Mike Lewis, Kunstprofessor an der University of Maine: Er hat meine Sinne für die Schönheit der Natur geschärft und mir vermittelt, welche wichtige Rolle die Kunst für das spirituelle Erwachen der Menschheit spielen kann. Sein anhaltendes Interesse an meiner Arbeit schätze ich sehr, ebenso seine kritische Lektüre der Erstfassung jedes Kapitels.

Viele Freunde und Verwandte auf Zypern tragen wesentlich dazu bei, dass meine Frau Emily und ich dem Land und seinen Menschen emotional verbunden bleiben. Allen diesen Freunden meinen herzlichen Gruß und Dank, ganz besonders meinem Jugendfreund Petros Yassemides und seiner Frau Ritsa. Die beiden geben uns das Gefühl, dass wir zu ihrem Leben einfach dazugehören.

Meine tiefste Dankbarkeit gilt meiner Schwester Maroulla und meinem Schwager Vasos Christou sowie ihrer Familie für ihre herzliche Großzügigkeit und aufrichtige Zuneigung; dass sie in Zypern sind, hat die Glut unserer Liebe zu unserem Geburtsort mehr als alles andere lebendig erhalten.

Bei der Veröffentlichung meines ersten Buches, im Jahr 1977, war unser Sohn Constantine gerade erst im Krabbelalter und unsere Tochter Vasia noch gar nicht geboren. Als das vorliegende Buch bis zu seiner Erstfassung gediehen war, versorgten mich beide mit wertvollen kritischen Kommentaren und Anmerkungen. Constantine las jede Seite mit dem prüfenden Blick eines angehenden Schriftstellers und machte entsprechende Verbesserungsvorschläge.

Für meine Frau Emily könnte ich nur wiederholen, was ich in meinen früheren Werken bereits gesagt habe. Ihre außergewöhnliche Energie, ihre Lebensfreude und Abenteuerlust gaben mir die Rückenstärkung, mit der ich mich in Erfahrungsbereiche vorwagen konnte, die ich ohne ihre Kräfte spendende Unterstützung nie betreten hätte. Sie ist nicht nur schon ein ganzes Leben lang meine Gefährtin, der Fels in der Brandung meiner Gefühle und der Anker meines Wohlbefindens, sondern auch meine beste Freundin, Vertraute, intellektuelle Partnerin und Lektorin von allem, was ich schreibe. Dieses Buch ist sehr viel besser geworden durch ihre penible und sorgfältige redaktionelle Unterstützung, obwohl sie selbst mit dem Aufbau eines »Internationalen Öko-Friedensdorfes« für Frauen und Jugendliche, den sie zusammen mit anderen Friedensarbeitern auf Zypern vorantreibt, mehr als genug zu tun hatte.

 

Eine letzte Anmerkung: In den Dialogen habe ich immer dann, wenn griechische Männer angesprochen werden, die griechische Deklination verwendet. Zum Beispiel wird Vater Maximos als »Vater Maxime« und Kyriacos als »Kyriaco« angesprochen. Bei weiblichen Namen stellen sich diese idiomatischen Probleme im Griechischen nicht. Zum Schutz der Privatsphäre der in diesem Buch genannten Personen sind die meisten Namen Pseudonyme. Aus demselben Grund habe ich gelegentlich in die Beschreibungen der Orte, an denen sich manche Episoden abgespielt haben, leichte Veränderungen eingefügt. Dennoch beruht alles in diesem Buch auf echten Dialogen, tatsächlichen Begegnungen und wirklichen Erfahrungen.


1 Es handelt sich wohl um dieses Kloster: https://de.wikipedia.org/wiki/Kykkos-Kloster; ich folge aber Markides‘ Bezeichnung. (Anm. d. Ü.)

2 zu elder = Altvater, siehe www.impantokratoros.gr/0E08958B.de.aspx (Anm. d. Ü.)

 

1: Prolegomena

A ls ich Anfang der 1960er Jahre zum Studium nach Amerika kam, brachte ich einen naiven Glauben an die christliche Religion, die Kirche sowie den Gott meiner Vorväter und Großmütter mit. Es war ein nie hinterfragter Glaube, mit dem ich innerhalb der isolierten und homogenen Grenzen der orthodoxen Ostkirche – der Mehrheitsreligion auf Zypern – aufgewachsen war. Der Kosmopolitismus und die Multikulturalität in Amerika, wo Religionszugehörigkeit eher als persönliche Entscheidung denn als Schicksal empfunden wird, erschütterten diese schlichte Glaubenssicherheit. Nach zehnjährigem Training als Soziologe war ich vom Gläubigen zum Agnostiker geworden. Wie die meisten meiner Kommilitonen und Kollegen war ich zu dem Schluss gekommen, Religion sei schlussendlich eine Erfindung der Gesellschaft. Für mich galt mittlerweile als letztlich, dass die Gesellschaft die Götter hervorbrachte und nicht umgekehrt; die Gesellschaft erschuf die Religion, die sie zu ihrem Überleben brauchte. Im schlimmsten Falle erhielt die Religion Klassenunterschiede aufrecht, indem sie die Aufmerksamkeit der Menschen von der realen Welt der Ungerechtigkeit und Unterdrückung ablenkte und auf ein fantasiertes Jenseits richtete, in dem für die Erlösten Milch und Honig flössen. Im besten Falle half sie den Menschen, mit ihren persönlichen Tragödien fertig zu werden – eine nützliche kollektive Illusion zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Stabilität und Ordnung. Wenn also Anhänger aller Glaubensrichtungen zur Anbetung ihrer Gottheiten niederknien, beten sie daher in Wirklichkeit unwissentlich ihre eigene Gesellschaft an. So lautete die mächtige, unwiderstehliche Erkenntnis aus der Feder der größten Geister der modernen Sozialphilosophie und Soziologie.

Mit dem Abschluss meines Studiums hatte ich dieses in der modernen akademischen Kultur zwar unausgesprochene, doch vorherrschende Weltbild verinnerlicht: Religion, insbesondere traditionelle Religion, die den Glauben an einen persönlichen Gott beinhaltete, gehörte der Vergangenheit an, war ein dem endgültigen Untergang geweihter Überrest mittelalterlichen Denkens.

Ich war kein fröhlicher Agnostiker. Das Nachdenken über die nihilistischen Konsequenzen der Gott-ist-tot-Theologie war für mich zunächst sehr schmerzlich – »wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt«. Doch die intellektuelle Welt, in der ich mich befand, bot kaum eine Alternative. Ein seriöser Wissenschaftler konnte nicht an unbewiesene Auffassungen vom Jenseits, von Geistwesen, Engeln, Teufeln und Ähnlichem glauben. Dies war der Glaube schriftloser Völker sowie der liebevollen und einfachen Tanten, die ich in Zypern hinter mir gelassen hatte. Für einen weltgewandten Mann des Wortes, einen Sozialwissenschaftler, war die einzig reale Welt die der harten Fakten, des konkreten physischen Universums und des Normalbewusstseins. Jegliche Auffassungen vom Jenseits waren Fantasien, Wahnvorstellungen oder »bloßer Glaube«.

Alle etwa noch verbliebenen Bindungen zur Religion meiner Jugend waren rein kultureller Natur. Sie waren die Folge meiner ästhetischen Wertschätzung ihrer Gesänge und liturgischen Gottesdienste, die sich mir von frühester Kindheit an eingeprägt hatten. Religion wurde für mich zu einer reinen Frage persönlicher Identität. Ich bezeichnete mich auch weiterhin als griechisch-orthodoxen Christen, jedoch als weltlichen griechisch-orthodoxen Christen, gerade so wie auch ein weltlicher Jude ein Jude und auch ein westlicher Araber ein Araber ist. Deshalb wäre eine Beziehung zu christlichen Mönchen und Eremiten – wie sie Gegenstand dieses Buches ist – in meiner agnostischen Zeit praktisch unmöglich gewesen. Es wäre mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass es außerhalb der Parameter der rationalen akademischen Kultur etwas von Wert und Weisheit geben könnte. Bestenfalls neigte ich während meiner agnostischen Phase zu der Auffassung, solche Leute seien lebendige Museen einer längst vergangenen Welt. Schlimmstenfalls hätte ich die Lebensweise von Mönchen und Eremiten mit psychopathologischen Begriffen erklärt und das Klosterleben in jeglicher Form als eine Spielart des Eskapismus ohne jegliche Relevanz für die postmoderne Zeit verworfen. Die Tatsache, dass es Altväter gibt, die gerade durch ihr stilles Einsiedlerleben voller schwerer innerer Kämpfe und geistlicher Übungen spirituelle Weisheit erlangen, war mir damals unvorstellbar.

Doch die Vorsehung wirkt auf wundersame Weise. Zusammen mit meiner Frau Emily kam ich 1972 als Assistenz-Professor für Soziologie an die University of Maine. Dies war der Beginn meiner Befreiung vom wissenschaftlichen Materialismus und Agnostizismus. Meine »Befreiung« begann durch den Einfluss eines Kollegen, der mich mit dem östlichen Denken und der indischen Yoga-Philosophie bekannt machte. Neben den umstrittenen Büchern von Carlos Castaneda sowie den Schriften von Alan Watts, Helena Blavatsky, Rudolf Steiner und Georges Gurdjieff gehörten von da an mehrere Jahre lang auch die Werke indischer Weiser wie Paramahansa Yogananda und Jiddu Krishnamurti zu meiner regelmäßigen geistlichen Nahrung. Derselbe Kollege führte mich außerdem in die Transzendentale Meditation ein, die in den turbulenten 1960ern von Maharishi Mahesh Yogi nach Amerika importiert worden war – und sieben Jahre lang praktizierte ich brav TM, im Streben nach »kosmischem Bewusstsein« und tiefer Entspannung.

Meditation, die Lektüre von Büchern über östliche Religionen und von wissenschaftlichen Werken, etwa von Fritjof Capra und anderen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Mystik, führten dazu, dass ich mich nach und nach von meinem Unglauben abwandte. Mir wurde zunehmend klarer, dass die säkulare Realitätsvermutung, die während meines Studiums dominant gewesen war, in Wirklichkeit eine großartige Illusion ist, ein materialistischer Aberglaube, in dem das westliche Denken seit dreihundert Jahren feststeckt und gefangen ist. Es ist ein destruktiver Aberglaube, der empfindsame westliche Intellektuelle in Scharen in existenzielle Verzweiflung gestürzt und in einigen Fällen sogar in Wahn und Selbstmord getrieben hat. Diese Erkenntnis der Verlogenheit des wissenschaftlichen Materialismus wirkte sich auf mein Denken ungeheuer befreiend aus.

Ein Vorfall von äußerst entscheidender Bedeutung, der mich von den letzten Fesseln des Agnostizismus befreite, war meine Begegnung mit dem großartigen Heiler und Mystiker, den alle Welt »Daskalos« nannte. Der Sechsundsechzigjährige war Hellseher und esoterischer Lehrer, und ich lernte ihn 1979 bei einer Exkursion nach Zypern kennen. Dieser extravagante westliche »Schamane« war eine solche Herausforderung für mein akademisches Weltbild, dass ich ein soziologisches Projekt, an dem ich damals arbeitete, fallen ließ, um ihn und den Kreis seiner Anhänger zu untersuchen. In den darauffolgenden zehn Jahren betrieb ich Feldforschung und schrieb über die außergewöhnliche Welt dieser Heiler. Es war eine Welt der Wunder, der außerkörperlichen Reisen, aller möglicher übersinnlicher Phänomene, der Exorzismen und haarsträubender Heilungstricks, die ich mit konventioneller Logik einfach nicht erklären konnte.3 Wie konnte ich rational die Heilung einer gelähmten Frau erklären, die sowohl zypriotische als auch israelische Spezialisten für unheilbar erklärt hatten? Die Heilung fand vor meinen Augen statt, vollzogen von Daskalos, der ihr einfach eine halbe Stunde lang über den Rücken strich. Neue Röntgenaufnahmen, die unmittelbar nach seiner Intervention angefertigt wurden, zeigten eine völlig normale Wirbelsäule, ganz im Gegensatz zu den Bildern, die eine Woche zuvor aufgenommen worden waren und eine dislozierte und geschädigte Wirbelsäule erkennen ließen. Oder wie konnte ich erklären, dass dieser Heiler den medizinischen Zustand einer Frau in New York City exakt diagnostizieren konnte, indem er einfach mit geschlossenen Augen ihr Foto berührte, wohingegen ihre Ärzte nicht herauszufinden vermochten, was ihr fehlte? Solche Phänomene gehörten während meiner zehnjährigen Feldbeobachtungen bei diesen medialen Heilern und Mystikern zur Routine. Dann fand ich heraus, dass Forscher in anderen Teilen der Welt von ebensolchen Erfahrungen und Beobachtungen berichteten. Die Begegnung mit Anthropologen wie Michael Harner von der New School of Social Research, der Schamanen untersuchte und dabei ähnliche Phänomene beobachtete, bestärkte mich in der Ansicht, dass meine eigenen Feldbeobachtungen keine persönliche Einbildung waren.4

Aufgrund meiner Forschungen bei Daskalos und seinem damaligen engen Vertrauten Kostas kam ich zu dem Schluss, dass im Inneren des Menschen Fähigkeiten schlummern, die über die fünf Sinne hinausgehen, und dass der Geist nicht auf das Gehirn begrenzt ist. Außerdem begriff ich, dass es offensichtlich Bewusstseinszustände gibt, die den rationalen Zustand übersteigen. Ich erkannte, dass es transrationale Bewusstseinszustände gibt, von denen Mystiker aller Traditionen seit alters her sprechen, und der sogenannte Tod nichts weiter ist als ein Neuanfang, ein Übergang auf eine andere Lebens- und Daseinsebene. Die zypriotischen Mystiker lehrten ein gut integriertes »christozentrisches« System mystischer Philosophie, das meiner rationalen Veranlagung und Denkschule entgegenkam, mich aber auch für eine mögliche Existenz anderer Welten öffnete, die weit über die Welt der groben Materie und des normalen rationalen Bewusstseins hinausgehen. Es war sehr befriedigend, in meiner eigenen Kulturtradition eine solche spirituelle Kosmologie zu entdecken.

Das Interesse, das meine Bücher über die zypriotischen Mystiker auslösten, stärkte mein neues Realitätsverständnis zusätzlich. Seit die Trilogie über mein zehnjähriges Abenteuer erschienen ist, haben sich unzählige Menschen aus aller Welt mit mir in Verbindung gesetzt und mir anvertraut, dass auch sie in der außergewöhnlichen Welt der zypriotischen Heiler und Mystiker leben, wie sie in meinen Büchern beschrieben wird. Dadurch erkannte ich mit der Zeit, dass in den Vereinigten Staaten und anderswo eine sehr große Anzahl von Menschen ein Doppelleben führt. Sie leben ihr normales Alltagsdasein und haben zugleich mystische Erlebnisse, über die sie nicht zu sprechen wagen, aus Angst, für geisteskrank erklärt zu werden. Solche Menschen, sollte ich schleunigst hinzufügen, gibt es in allen Gesellschaftsschichten – auch in der akademischen Gemeinschaft, etwa unter Verhaltenspsychologen, Soziologen, Physikern und Biologen. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, dass es mitten unter uns eine Parakultur gibt, die den Wissenschaftlern wegen ihrer tief sitzenden materialistischen Vorurteile entgangen ist.

Die zypriotischen Mystiker haben mir zwar geholfen, meinen Agnostizismus und wissenschaftlichen Materialismus zu überwinden, doch bei der Überwindung meiner Abneigung gegen organisierte Religionen haben sie kaum eine Rolle gespielt. Ganz im Gegenteil, für mich war selbstverständlich, dass authentische Spiritualität nur jenseits der Grenzen etablierter Religionen zu finden sein könnte und nur dort gedeihen kann. Für mich verstand sich von selbst, dass organisierte Religion unweigerlich korrumpierte Religion bedeutet. Die Religionsgeschichte lieferte mir reichlich Munition zur Aufrechterhaltung dieser Überzeugung.

Wie für die meisten westlichen Akademiker, waren für mich die Vertreter der institutionalisierten Religion wenn nicht mit Engstirnigkeit, Intoleranz und Korruption, so doch zumindest mit Irrelevanz verbunden. Bis zu meiner Begegnung mit einigen außergewöhnlichen christlichen Mönchen und Einsiedlern hatte ich noch keinen lebenden »Mann Gottes« getroffen, der mich spirituell oder intellektuell inspiriert hätte. Meiner Ansicht nach wirkte die kirchliche Hierarchie mit wenigen Ausnahmen langweilig und intellektuell inadäquat. Die organisierte Religion, so glaubte ich, hat dem ruhelosen, aber ernsthaften und intelligenten Sucher inneren Wissens heute wenig zu bieten. Damals war ich voll und ganz einer Meinung mit einem führenden Bibelgelehrten, der klagte: »Das Christentum, wie wir es im Westen kennen, ist blutleer und siecht dahin.«5

Nachdem ich mein Denken von den Fesseln des Agnostizismus und des wissenschaftlichen Materialismus befreit hatte, nahm ich an, wenn man sich ernsthaft mit einer spirituellen, kontemplativen Praxis zur persönlichen Transformation und inneren Erfahrung beschäftigen wolle, müsse man Meditationsmethoden wie die der Laienmystiker, die ich untersucht hatte, oder der indischen Yogis aufgreifen, und zwar am besten unter der Führung eines Meisters. Romantischer noch, man müsste wohl ins exotische Asien reisen und zu Füßen der verwirklichten Gurus sitzen, die ihre Weisheit von den Gipfeln des Himalaya herab von sich gaben.

Mein Gesinnungswandel hinsichtlich der organisierten Religion kam mit der Einladung zu einer Pilgerfahrt. Mein Freund Antonis, ein zypriotischer Geschäftsmann mit Interesse an christlicher Spiritualität, forderte mich auf, ihn im Frühjahr 1991 auf einer Reise zum Athos zu begleiten, zum Heiligen Berg, einer knapp fünfzig Kilometer langen und etwa sechzehn Kilometer breiten unzugänglichen Halbinsel im Norden Griechenlands. Dort sollten wir »lebenden Heiligen begegnen, die die Liebe Christi ausstrahlen«. Ihre Gebete, so behauptete er, vermöchten Wunder zu vollbringen, und ihre Aura sei wie eine strahlende Sonne. Fasziniert nahm ich seine Einladung an; und als ich bei jenem ersten Besuch Vater Maximos kennenlernte, vollzogen mein Leben und meine Arbeit noch einmal eine Kehrtwendung. In den darauffolgenden Jahren sollte dieser außergewöhnliche und charismatische Athos-Mönch mein Mentor, mein Lehrer und mein wichtigster Informant über die christliche Spiritualität werden, wie sie auf dem »Berg der Stille« bewahrt wird.

Nach Agnostizismus, nach Transzendentaler Meditation und nach den philosophischen Durchbrüchen aufgrund meiner langjährigen Verbindung mit den Laienmystikern und Heilern von Zypern war ich bereit für ein Abenteuer in der Welt der realen mystischen Tradition des organisierten Christentums, die in einigen wenigen uralten Klöstern weiterlebte, von denen weder der Westen noch das etablierte Christentum etwas wussten. Dort, auf dem Berg Athos, der seit dem 9. Jahrhundert Eremiten und Mönchen als Rückzugsort vorbehalten ist, kam ich mit einem anderen Christentum in Berührung.6 Wie Antonis mir versprochen hatte – sowie mit dem Rat und der Hilfe von Vater Maximos – konnte ich Eremiten kennenlernen, die als Heilige galten und in abgelegenen, Gelegenheitsbesuchern unbekannten und unzugänglichen, Regionen der Halbinsel lebten. Mir kamen sie tatsächlich wie christliche Yogis vor – von der Art, wie wir Westler sie in den indischen Ashrams suchen. Da wurde mir klar, dass die Spiritualität, die mir auf dem Berg Athos mit seiner tausendjährigen Geschichte begegnete, alle Kennzeichen dessen trug, was wir in den Veden und Upanishaden Indiens zu finden hoffen – und vielleicht noch mehr. »Der Athos«, so sinnierte ich gegenüber Antonis auf unserer Rückreise nach jenem ersten Besuch, »ist wie ein christliches Äquivalent zu Tibet.

.Beginnend mit Auf dem Löwen reiten7 erweiterte ich mein Forschungsgebiet von der wunderbaren Welt eines Daskalos und Kostas um die mystische Form des etablierten Christentums. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, dass die spirituellen Übungen und geistigseelischen Techniken, die wir in Indien und Tibet suchen, auch im Kern des Christentums vorhanden sind, bewahrt seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in den Felsenklöstern und Einsiedeleien des Berges Athos. Doch sowohl die Kirchen aller Denominationen als auch die westlichen Bibelgelehrten sind sich nicht bewusst, welche mystische Weisheit in einigen dieser Klostergemeinschaften noch lebendig ist.

Wenn ich nach meiner Rückkehr nach Maine gegenüber Freunden und Kollegen erwähnte, dass ich vorhatte, Leben und Werk christlicher Mönche und Eremiten in meine Forschungen mit einzubeziehen, merkte ich, dass Erklärungsbedarf bestand. Mönche und Einsiedler stehen in der westlichen Kultur in zweifelhaftem Ruf, sowohl in akademischen Kreisen als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. In unserem postfreudianischen Spaßzeitalter wirkt ein eremitischer Lebensstil für das moderne Empfinden eher abstoßend. Eine solche Lebensweise wird oft gleichgesetzt mit körperlicher Kasteiung, sexueller Verdrängung, ja sogar Sadomasochismus, ganz zu schweigen von Frauenfeindlichkeit und der unseligen Inquisition. Es ist eine schwere kulturelle Last. Kurioserweise bestehen solche Vorurteile nicht gegenüber Mönchen, die aus Asien nach Amerika kommen. Bei einem Vortrag über meine Erfahrungen auf dem Berg Athos, den ich vor kurzem auf einer Konferenz in Montreal gehalten habe, fragte mich die afro-amerikanische Schriftstellerin Luisah Teish, ob die Mönche sich in irgendeiner Form von ihrer Erblast der Ermordung von Millionen Frauen als Hexen gereinigt hätten. Dr. John Rossner, anglikanischer Bischof und Professor für vergleichende Religionswissenschaft sowie der Ausrichter der Konferenz, griff meiner Antwort vor. Er sprang auf und erklärte dem Publikum, in der Ostkirche habe es keine Inquisition gegeben. Dr. Teish war erstaunt und erfreut, dies zu hören. »Den Mönchen vom Berg Athos die Schuld an der Inquisition zu geben, wäre ebenso absurd«, ergänzte ich, »als wenn man den Dalai Lama und andere buddhistische und hinduistische Mönche für diese grauenhafte Periode in der Geschichte des Westens verantwortlich machen wollte.«

Zu Anfang meiner Erforschung der mystischen Spiritualität auf dem Berg Athos halfen mir zwei Menschen ganz entscheidend, meine Gedanken zu ordnen und eine klare Richtung zu finden: Emily und mein Künstlerfreund und Kollege Mike Lewis. Wie Emily und ich interessiert sich auch Mike seit jeher sehr für Spiritualität, misstraut aber der organisierten Religion, insbesondere in ihren übereifrigen Varianten. Da er keinerlei formeller Religion anhängt, konnte er mich außerdem am allerbesten für jene Elemente in der mystischen Spiritualität des östlich-orthodoxen Glaubens sensibilisieren, die nicht nur für Christen, sondern für alle relevant sind, die sich für die tieferen Dimensionen des menschlichen Daseins interessieren. Ähnlich wurde auch Emily mit ihrem feinen ökofeministischen Gespür nie müde, mich bei meinem Eintauchen in die spirituelle Welt der christlichen Mönche und Eremiten daran zu erinnern, dass Inklusivität zwingend notwendig ist.

Trotz ihres archaischen kulturellen Kontextes füllte die Tradition der Athos-Mönche, mit der ich in Berührung kam, in meiner Suche eine Lücke. Was auf den Pilger so entwaffnend wirkt, ist nicht nur das allgegenwärtige Gefühl von Agape, der selbstlosen, altruistischen Liebe, die den ganzen Kosmos des Heiligen Berges durchdringt, sondern auch die Kraft ihres künstlerischen Ausdrucks. Sie berührt den Besucher auf einer tiefen Ebene, unmittelbar im Herzen. Das Singen geistlicher Lyrik in byzantinischem Griechisch während der langen Gottesdienste schuf ein anhaltendes emotionales Hochgefühl, durch das ich erkannte, welche große Kraft Kunst und Musik bei der abenteuerlichen Suche des Menschen nach Gott entfalten. Der Gesang war eine Form der Gebetsmeditation, die mich in eine Stimmung tiefen Friedens und großer Ruhe versetzte, wie ich sie bei keiner anderen Meditationsform empfunden habe.

Doch der Athos war nicht bloß ein emotionaler und spiritueller Höhepunkt. Er war auch eine intellektuelle Herausforderung. Die fesselnden Gespräche mit Emily und Mike und ihr Input halfen mir, gedanklich Klarheit über diesen Aspekt meiner Arbeit zu gewinnen und Fragen zu stellen, die mich in den kommenden Monaten und Jahren beschäftigen sollten. Was sind die grundlegenden Eigenschaften der athonitischen Spiritualität, wie sie über Jahrhunderte in jenen uralten Klöstern und Einsiedeleien bewahrt und geformt wurde? Warum haben westliche Wissenschaftler diese empirische Form des mystischen Christentums praktisch ignoriert, und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der zahlreiche Menschen im Westen ihren Blick dem Hinduismus und Buddhismus zuwenden? Was hat der Athos der westlichen Welt heute zu bieten, was in den etablierten Kirchen nicht zu haben ist?

Irgendwann wollte ich auf den fernen Athos zurückkehren, um dort mithilfe von Vater Maximos Antworten auf diese Fragen zu finden. In der Zwischenzeit las ich, besprach alles mit Emily und setzte meine »wandelnden« Gespräche mit Mike fort. Bei einem jener Spaziergänge auf den Pfaden des Universitäts-Geländes wurde mir erstmals klar, was der Berg Athos, die autonome Kloster-Republik mit ihren etwa zweitausend Mönchen und Einsiedlern, der heutigen Kultur zu bieten haben könnte.

Eines Tages erklärte ich Mike, während wir gingen und die Sonne bereits hinter dem Wald versank, welche theoretischen Ideen und Spekulationen ich über die mögliche Bedeutung des Berges Athos für die moderne Welt entwickelt hatte. Der verstorbene Harvard-Soziologe Pitirim Sorokin und moderne transpersonale Denker wie Ken Wilber behaupten, dass wir die Wirklichkeit auf drei Arten erkennen: Durch »das Auge der Sinne« (empirische Wissenschaften), durch »das Auge des Verstandes« (Philosophie, Logik, Mathematik) und durch »das Auge der Kontemplation« (systematische und disziplinierte geistliche Praxis zur Öffnung der intuitiven und spirituellen Fähigkeiten des Selbst).8 Dies sind drei verschiedene, unverwechselbare Ordnungen der Wirklichkeit mit je eigenen legitimen, klar voneinander abgetrennten Bereichen, Gesetzen und Eigenschaften, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Es sind kognitive Ordnungen eigener Art, eigene Wirklichkeiten. Ein »ganzheitlicher« Zugang zur Wahrheit setzt voraus, dass alle drei »Augen« gleich geachtet und kultiviert werden, wie Pitirim Sorokin stets mahnte. Die historische Entwicklung im Westen verlief so, dass oft ein Ansatz die Oberhand gewann und die anderen beiden Bereiche verdrängte und überlagerte. Da der Westen sich dergestalt entwickelte, dass das »Auge der Kontemplation« als legitimer Erkenntnisweg ausgeschlossen wurde, wurden alle, die sich seiner Kultivierung widmeten, an den Rand gedrängt, ja diffamiert, zuweilen sogar verfolgt. Alle Erkenntnis wurde auf das »Auge der Sinne« reduziert. In den asiatischen Kulturen hingegen, wie etwa in Tibet, blieb »das Auge der Kontemplation« erhalten. Von dort wird es seit dem 19. Jahrhundert von desillusionierten Dichtern und Schriftstellern sowie heute von Anhängern des »New Age« auf der Suche nach einer authentischen Spiritualität wiederentdeckt.9

Auch der Athos hat auf seine stille Art »das Auge der Kontemplation« bewahrt, während es überall sonst in der westlichen Kultur verdrängt wurde. Wenn also das klassische Griechenland der Welt in erster Linie eine Methode zur Kultivierung des »Auges des Verstandes« (Philosophie, Logik, Rationalität) geschenkt und wenn desgleichen Westeuropa vordringlich zur Entwicklung des »Auges der Sinne« (empirische Wissenschaft) beigetragen hat, dann könnte der Athos – ein kulturelles Reservat des untergegangenen Oströmischen Reiches, das als Byzanz bekannt ist – einen Beitrag zur Entwicklung des »Auges der Kontemplation« leisten und so die innere Tradition der westlichen Kultur wiederherstellen. Er könnte zur Entwicklung eines »ganzheitlichen« Zugangs zur Wahrheit beitragen. Als ich diese Ideen mit Emily und Mike besprach, wurde mir klar, dass der Athos die Antwort auf die Frage geben könnte, warum »das Christentum, wie wir es im Westen kennen, blutleer ist und dahinsiecht«. Der Heilige Berg könnte also das Potenzial besitzen, dem Christentum jene neue Vitalität einzuimpfen, der es so dringend bedarf.


3 Kyriacos C. Markides, Der Magus von Strovolos. Die faszinierende Welt eines spirituellen Heilers, übersetzt von Karl Friedrich Hörner, Schirner 2004 (Erstausgabe Droemer Knaur 1988); Heimat im Licht. Die Weisheit des »Magus von Strovolos«, übersetzt von Karl Friedrich Hörner, Schirner 2004 (Erstausgabe Droemer Knaur 1988); Feuer des Herzens: Heiler, Weise und Mystiker, übersetzt von Karl Friedrich Hörner, Schirner 2004 (Erstausgabe Droemer Knaur 1991).

4 Michael Harner, Der Weg des Schamanen, übersetzt von Agnes Klein, Ullstein 2004 (Erstausgabe Ansata 1983).

5 Robert W. Funk, Honest to Jesus, HarperSanFrancisco 1996, S. 305.

6 Robin Amis, A Different Christianity: Early Christian Esotericism and Modern Thought, State University of New York Press 1995.

7 Kyriacos C. Markides, Auf dem Löwen reiten. Eine Suche nach dem mystischen Christentum, übersetzt von Malte Heim, Schirner 2005 (Erstausgabe Droemer Knaur 1995).

8 Ken Wilber, Die drei Augen der Erkenntnis. Auf dem Weg zu einem neuen Weltbild, übersetzt von Josef Wimmer, Kösel 1988.

9 Robert Thurman, Revolution von innen. Die Lehren des Buddhismus oder das vollkommene Glück, übersetzt von Dagmar Ahrens-Thiele, Econ 1999)