Cover

JENNY DOWNHAM

Aus dem Englischen

von Astrid Arz

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William Shakespeare, Werke in fünf Bänden, Band 2, Hoffmann und Campe, Hamburg, 1966, S. 445–506. »Der Sturm«: Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel.

© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© Jenny Downham, 2019

Die Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Titel

»Furious Thing« bei David Fickling Books, Oxford

Übersetzung: Astrid Arz

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung

eines Motivs von © Plainpicture (Millennium / Boris Austin)

sh • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24660-0
V002

www.cbj-verlag.de

Für meine Schwester Tina

Eine Erzählung von Liebe und Tod

Es war einmal ein Kind, das zu einem schlimmen Mädchen heranwuchs. Sie schmiss und schlug um sich, schimpfte und fluchte. Sie war ein tölpelhaftes Trampel und hatte keine Freunde. Ihre Lehrer hielten sie für schwachsinnig. Ihre Eltern waren mit ihrem Latein am Ende.

»Warum kannst du nicht so ruhig und brav sein wie die anderen Mädchen?«, riefen sie. »Warum bist du tagein, tagaus so verdammt schwierig?«

Das Mädchen wusste es nicht.

Ihre Eltern, um Verständnis bemüht, klopften mit den Fußspitzen auf den Boden und schüttelten missbilligend die Köpfe.

»Ich werde mich ändern«, sagte das Mädchen. »Von nun an benehme ich mich, versprochen.«

Sie wollte, dass es stimmte.

Sie wollte von ihrer Familie geliebt werden.

Doch die Wut lauerte in ihrem Bauch wie eine tückische Schlange. Und manche Versprechen lassen sich nicht so leicht einhalten.

1

Ich lief in den Garten, um mich zu verstecken. Als ich nach über zehn Minuten schon hoffte, damit durchgekommen zu sein, trat Mum aus der Wohnung und kam die Stufen herunter. Sosehr ich mich auch bemühte, mich unsichtbar zu machen, entdeckte sie mich doch, als sie über den Rasen kam.

Sie sagte: »Komm sofort runter vom Baum und entschuldige dich.«

»Ist er böse?«

»Genau wie ich.«

»Gibt er mir Hausarrest?«

»Weiß ich nicht. Aber du kannst nicht solche Sachen sagen, ohne dass es Konsequenzen hat.«

»Ich wollte das nicht. Das ist mir nur so rausgerutscht.«

»Ach ja?« Sie zählte an den Fingern einer Hand ab: »Du hoffst, dass der heutige Abend ein Desaster wird. Dass die Gäste Lebensmittelvergiftung kriegen. Du denkst gar nicht dran, zur Party zu kommen, und wir können dich alle mal. Das ist dir alles bloß aus Versehen rausgerutscht, ja?«

Ich berührte eine schwarzsamtene Blattknospe mit der ausgestreckten Hand. Wenn ich ein Blatt wäre, würde niemand etwas von mir erwarten.

Mum sagte: »Ziemlich verletzend, findest du nicht?«

Ich spähte durch die Zweige zu ihr runter. Sie trug eine Sportleggings und ein T-Shirt, hatte sich eine Schürze umgebunden, und ihre Wangen waren gerötet. Bei ihrem Anblick schmolz ich dahin. Ich hatte versprochen, bei den Vorbereitungen zu helfen, und stattdessen nichts als Ärger gemacht. »Tut mir leid, Mum.«

Sie lächelte erschöpft zu mir hoch. »Ich weiß, dass du enttäuscht bist, weil Kass nicht kommt, aber du kannst auch ohne ihn Spaß haben. Denk nur an all das leckere Essen und wie toll der Garten aussehen wird mit den vielen Lichtern und wenn alle tanzen.«

Aber der Einzige, mit dem ich tanzen wollte, war Kass. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er nach Weihnachten zur Uni zurückgefahren war. Ganze fünfundsechzig Tage war das schon her.

Mum sagte: »Jetzt komm endlich – runter mit dir. Je eher du dich bei John entschuldigst, desto leichter wird es.«

Ich kletterte langsam runter und hoffte, anmutig zu wirken.

»Ich hab eine Idee wegen heute Abend«, sagte sie, als ich endlich neben ihr auf dem Rasen stand. »Ich weiß, dass du dich mit geselligen Anlässen schwertust, und es tut mir leid, dass dein Bruder nicht dabei sein kann.«

»Er ist nicht mein Bruder.«

»Du weißt, was ich meine. Wenn Kass hier wäre, würde dir alles leichterfallen. Aber er kommt nun mal nicht, so ist das eben. Also, wie wär’s, wenn du zu Beginn die Appetithäppchen herumreichst? Was meinst du? Das verschafft dir die Gelegenheit zu zwanglosen ersten Kontakten.«

Ich merkte, worauf das hinauslief, und verspürte einen Anflug von Panik. »Ich kann nicht mit den Leuten reden.«

»Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du eine Aufgabe hast.«

Was sie wohl täte, wenn ich auf dem Absatz kehrtmachte und den Baum wieder raufkletterte? Mich an den Fußgelenken packen? Wenn ich schnell genug oben wäre, würde sie vielleicht über den Rasen zurückwandern und John erzählen, dass ich verschwunden wäre? Dann müssten sie ihre Verlobung ohne mich feiern. Doch während die Sekunden verstrichen, wurde mir immer klarer, dass es so nicht laufen würde. Ich steckte die Hände in die Taschen und wartete.

»Lex?«, sagte sie schließlich.

»Ist der ganze Sinn von einem Büfett nicht, dass die Leute sich selbst bedienen?«

»Ja, beim Hauptgericht, aber zur Begrüßung bietet man üblicherweise ein paar Häppchen an.«

»Bitte zwing mich nicht dazu. Lass es Iris machen.«

»Iris ist ein bisschen zu jung.« Sie hakte sich bei mir unter und drückte meinen Arm. »Das ist ein Neuanfang für uns. Ich möchte, dass du dich einbringst.«

Sie war aufgeregt. Ich spürte es ihren Fingern an. Nachdem sie jahrelang darauf gewartet hatte, dass Johns Scheidung durchkam, konnte sie jetzt, da sie endlich seine Frau wurde, nicht gebrauchen, dass ich ihr alles verdarb.

»Ich sammle leere Gläser ein, wenn du willst. Ich kümmere mich um die Garderobe.«

»Dabei kommst du nicht mit den Gästen ins Gespräch, Lex.«

»Ehrlich, Mum, wenn ich mit Tabletts voller Essen rumlaufe, schreit das nach einer Katastrophe. Das weißt du doch selbst am besten.«

»Gar nichts weiß ich.«

Ich sah mich schon stolpern. Sachen verschütten. Die Namen der Kanapees vergessen. »Was ist das?«, würden mich die Leute fragen, auf etwas auf meinem Tablett zeigen und eine sinnvolle Antwort erwarten, und ich würde dumm dastehen und irgendeinen Blödsinn murmeln; wenn sie mich dann komisch ansahen, würde mich das so wütend machen, dass ich das Tablett auf den Rasen schmeißen und davonstapfen würde. Johns gelackte und geschniegelte Arbeitskollegen würden herausfinden, was er schon wusste – dass ich eine fürchterlich jähzornige Idiotin war. Irgendwer würde ihn garantiert fragen: »Hat dieses Mädchen irgendwas mit dir zu tun?« Und dann würde er dieses furchtbar enttäuschte Gesicht ziehen und sagen: »Alexandra wird meine Stieftochter.«

Mum küsste mich auf den Scheitel. Keine Ahnung, warum. Vielleicht wünschte sie mir Glück, oder sie wollte mir zu verstehen geben, dass sie mich lieb hatte, auch wenn ich ein Albtraum war.

Ich sagte: »Ich bin sauer auf Kass.«

Mum nickte. »Ich weiß.«

Ich hatte ihm zuvor aus meinem Zimmer geschrieben: SCHON WACH?

Für die Antwort hatte er siebenunddreißig Minuten gebraucht: JETZT JA.

KOMMSTE ECHT NICHT?

Er bestätigte. Entschuldigte sich und meinte, dass er es wiedergutmachen wollte. Ich wollte ihn fragen, was genau ihm da vorschwebte, ließ es aber und schaltete stattdessen das Handy aus.

Mum nahm mich an der Hand, als wir zur Wohnung zurückgingen. »Du wirst dich irgendwann dran gewöhnen, dass er weg ist, Lex.«

Sie kapierte rein gar nichts.

Als ich Kass kennenlernte, war ich acht und er fast elf. Mum war schon mit Iris schwanger, eine neue Familiengründung war also ein fait accompli, was heißt, dass man keine Wahl hat.

Kass wurde beauftragt, mich im Garten zu beaufsichtigen, während die Erwachsenen redeten. Ich beschloss, ihn nicht zu beachten. Ich war acht und brauchte keinen Babysitter. Außerdem war es mein Garten. Ich dachte mir, wenn ich ihn komplett ignorierte, würde er weggehen. Aber daraus wurde nichts. Gleich zu Anfang setzte er sich auf eine Stufe der Feuerleiter und sagte: »Wenn es wirklich mal brennen sollte, ist die Treppe hier nutzlos.« Er erklärte, dass sie direkt in einen ummauerten Garten ohne Ausgang führte, und wenn sich alle Hausbewohner dort versammelten, wäre es die Hölle – dann würden uns brennende Gebäudeteile auf den Kopf fallen, und wir wären eingekesselt. »Du solltest dir ein Kletterseil besorgen«, sagte er, »es an dein Bett oder das Fensterbrett knüpfen und auf der Straßenseite rausklettern.«

Mir gefiel, dass er so ruhig über Katastrophen nachdenken konnte. Und auch, dass er mich retten wollte. In Hänsel und Gretel war das Mädchen die Retterin, aber andersrum stellte ich mir spaßig vor.

»Meine Mum dreht durch, wenn sie erfährt, dass ich hier war«, fuhr er fort. Er hob eine Handvoll Kies von den Stufen auf und warf die Steinchen nacheinander ins Gras. »Deine Mutter ist die Andere. Wusstest du das?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Deshalb wird meine Mutter durchdrehen. Sie ist ausgerastet, als sie es rausgekriegt hat. Sie dachte immer, mein Dad wäre ständig bei der Arbeit, nicht bei einer anderen Frau.«

»Der trifft sich schon ewig mit meiner Mum«, sagte ich.

»Eben«, sagte Kass.

Er erzählte mir, dass seine Mum seinen Dad rausgeschmissen, ihm aber wieder verziehen hatte, als er versprach, sich zu ändern. Er sagte, sein Vater sei ein Meister im Entschuldigen, aber normalerweise sei das alles nur Gerede, und er wünschte, seine Eltern würden sich nicht mehr so hirnverbrannt benehmen.

»Dann hat meine Mum das mit dem Baby rausgekriegt.« Er sah mir in die Augen und etwas Trauriges in seinem Blick versetzte mir einen tiefen Stich.

»Was hat sie gemacht?«, flüsterte ich.

»Ziemlich viel rumgeschrien. Mit Sachen geworfen. Das Komischste war eine Tasse Tee, die sie meinem Dad an den Kopf geworfen hat.«

Weil er lachte, lachte ich auch. »Hat sie ihn getroffen?«

»Er ist ausgewichen, und die Tasse ist gegen die Wand geknallt, aber er wurde trotzdem nass.«

Ich sah ihm weiter in die Augen. »Womit hat sie sonst noch geworfen?«

»Das Größte war der Fernseher, den hat sie durchs Treppenhaus runtergeschmissen.«

Wir kriegten uns beide nicht mehr ein vor Lachen. Ich stellte mir vor, dass seine Mutter unheimlich stark war, aber er sagte, es sei ein tragbarer Fernseher gewesen, also doch nicht so beeindruckend. Und dass seine Mutter damals sowieso einen neuen kaufen wollte, von daher kein großer Verlust.

Kass sagte: »Meine Mum glaubt, dass mein Dad dieses supertolle neue Leben hat, mit neuer Wohnung, neuer Frau und gebrauchsfertiger Tochter.«

»Sie weiß von mir?«

»Klar.«

Die Vorstellung, dass die Erwachsenen über mich geredet hatten und eine völlig Fremde neidisch auf mein Leben war, machte mich unverschämt glücklich.

Ich zeigte Kass meine Spezialmethode, auf den Baum zu klettern, und von welchem Ast man sich auf die Mauer hinablassen konnte. Er sagte, ich wüsste mir im Brandfall eindeutig zu helfen und hätte mich die ganze Zeit schon selbst retten können. Vom obersten Ast aus zeigte ich ihm meine Wohnung, und wir suchten in den Fenstern nach meiner Mum oder seinem Dad, aber die Sonne schien so stark, dass die Scheiben nur spiegelten. Dann hielten wir in den anderen Fenstern erfolglos Ausschau nach jemand Nacktem. Wir dachten uns alberne Spiele aus – die verrücktesten Vorhänge, wo am meisten Sachen auf dem Fensterbrett herumlagen, die dreckigste Scheibe, die hässlichste Topfpflanze. Sehr oft waren wir uns einig. Und wir lachten wie verrückt. Ich freute mich riesig, dass ich ihn zum Lachen bringen konnte.

Doch nichts war so gut wie der Augenblick, als er mich nach meinem Vater fragte.

»Den hab ich nie kennengelernt«, sagte ich. »Er hat meine Mum sitzen lassen, als sie mit mir schwanger wurde.«

Bis dahin war ich kein bisschen froh darüber gewesen, dass ich meinen Vater nicht kannte. Aber es laut auszusprechen, war, als hätte ich Kass ein bedeutendes Geschenk gemacht.

Er stieß einen langen leisen Pfiff aus. Dann nahm er meine Hand und drückte sie.

»Erwachsene kotzen mich so was von an«, sagte er.

Es war, als hätten wir uns mit Messern in die Finger geritzt und Blutsbrüderschaft geschlossen.

2

Drinnen in der Wohnung war es wie in einem Werbespot – sonnendurchflutet, Essensdüfte aus der Küche. Iris saß mit ihren Malsachen am Couchtisch, John auf seinem Sessel, die Samstagszeitung auf dem Teppichboden zu seinen Füßen. Ich fragte mich, ob er mich wohl mit Schweigen strafen würde, doch er blickte auf, als ich reinkam. »Geht’s wieder?«

»Tut mir leid.«

»Ist das alles?«

»Tut mir leid, was ich alles gesagt hab. War nicht so gemeint. Hoffentlich wird eure Feier ein Riesenerfolg und ich kriege nie wieder einen Wutanfall.«

»Na, jetzt klingst du einfach nur sarkastisch.«

Er befasste sich wieder mit seiner Zeitung. Ich atmete auf.

Iris lächelte mir zu. »Komm und guck dir mein Bild an.«

Sie hatte ein Märchenschloss aus Glas und Spiegeln gemalt, das in einen blauen Himmel aufragte. »Das ist unser neues Haus«, sagte sie. »Das Daddy baut, wenn wir reich sind. Das ist ein Erkerturm« – sie zeigte auf das kleinste Türmchen – »und die hier heißen Zinnen.«

»Gut aufgepasst«, sagte John. »Soll ich dir jetzt beibringen, was eine Bastei ist?«

»Nein danke.« Sie lutschte an einem Stiftende. »Ich mal jetzt Wegweiser für die Party, damit alle wissen, dass es die Treppe rauf zum Bad geht.«

Ich küsste sie auf den Scheitel. Sie roch nach Keksen. »Das hört sich nach ganz schön viel Arbeit an.«

Sie nickte. »Meine Geduld ist grenzenlos.«

Mir kamen häufig Zweifel, ob wir überhaupt miteinander verwandt waren. Iris hatte nicht nur einen außergewöhnlich großen Wortschatz für eine Sechsjährige, sondern war auch in allem Möglichen begabt. Und noch dazu wahnsinnig hübsch. Wie von einer anderen Spezies. Das musste am Gencocktail von John und Mum liegen. Verglichen mit dem Rest der Familie, war ich ein Oger.

John blätterte die Zeitung um. »Hemmungslos«, sagte er. »Neun Buchstaben, als zweites ein n.«

Wie ich mir wünschte, es zu wissen! Ich wollte ihn mit einem blitzartigen Anfall von Intelligenz verblüffen.

»Ich hab an ›unmoralisch‹ gedacht«, sagte John, »aber das sind zu viele Buchstaben.«

Brauchte er wirklich Hilfe? Ich ließ mich ihm gegenüber aufs Sofa fallen. »Soll ich mit meinem Handy für dich nachgucken?«

»Nein, denn das wäre Betrug.« Also wollte er keine Hilfe. Er klopfte mit dem Stift aufs Papier. »Du weißt schon, dass sich heute alle etwas feiner machen, oder?«

Ich sah meine Jeans an. Sie hatte ein Loch an einem Knie und die Säume waren mit Dreck verkrustet. Ich hatte sie gestern angehabt und heute Morgen wieder übergezogen.

»Ich hab an ein Kleid gedacht.«

»Prima. Kenne ich es?«

»Es ist neu. Ich zeig es dir später. Jetzt muss ich Mum helfen.«

Ich hörte, wie sie drüben in der Küche mit Geschirr klapperte. Johns Kollegen waren an Feste mit Catering gewöhnt, aber John hatte gesagt, bei ihnen sollte es authentisch sein, was hieß: alles hausgemacht.

Mit einem Mal von Furcht geplagt, ließ ich mich tiefer ins Sofa sinken. All diese Architektenkollegen von John würden schlau und geschliffen sein, so wie er. Ich würde mir den ganzen Abend lang wie die letzte Versagerin vorkommen.

John faltete die Zeitung zusammen und griff nach seinen Zigaretten. »Iris, ich möchte eine rauchen. Kannst du zehn Minuten rausgehen?«

»Aber ich hab zu tun.«

»Mach eine Pause und komm wieder.« Er lächelte ihr zu. »Dein Zimmer oder die Küche – ganz wie du magst.«

Sie legte einen Filzstift weg und griff nach einer anderen Farbe. »Ich möchte lieber hierbleiben.«

»Nein, Schätzchen – ich will nicht, dass du Rauch und Teer in die Lunge kriegst.«

Sie zog den Deckel vom Stift. »Und ich will nicht, dass du das in die Lunge kriegst.«

Er lachte. »Na komm, sei nicht so streng mit mir.«

»Rauchen ist sehr schlecht für dich, Daddy.«

Er hielt kapitulierend beide Hände hoch. »Schon gut, du hast gewonnen. Wie wär’s, wenn du mir stattdessen eine Tasse Tee machst?«

Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Damit du rauchen kannst, wenn ich weg bin?«

Er wedelte mit der Zigarette in ihre Richtung. »Wenn du Tee machst und mir einen Keks bringst, zünde ich mir die hier nie an, versprochen.«

Sie hüpfte von ihrem Stuhl und streckte die Hand aus. »Dann gib sie mir.« Er reichte sie ihr und sie tätschelte ihm den Kopf. »Braver Junge.«

Bei mir war er nie so folgsam. Ich wünschte, ich könnte ihm Kommandos geben: Sitz, Platz, mach Bitte-bitte, bei Fuß …

»So«, sagte John, und ich merkte zu spät, dass er Iris in voller Absicht weggeschickt hatte. »Ich höre, du hast Kass bearbeitet, dass er heute Abend dabei sein soll?«

Mein Puls beschleunigte sich. »Hat er dir das gesagt?«

Er zog eine neue Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. »Ich glaube, du hast es deiner Mutter erzählt.«

Ich wusste, dass ich rot wurde. Ich seufzte, so als würde mich alles an Kass anöden, und rutschte noch etwas tiefer ins Sofa. »Ich hab ihm halt geschrieben. Und es halt erwähnt.«

»Und seine Antwort war …?«

»Er hat zu viel zu tun.« Ich betrachtete meine Nägel.

»Und daher dein Wutanfall?« Er beugte sich vor, zwischen uns kringelten sich Rauchschwaden. »Das haben wir doch schon besprochen, oder nicht? Ich will nicht, dass er denkt, er müsste auf einen Wink hin aus Manchester herbeieilen.«

Ich inspizierte meine Nagelhäute, die trockene Stelle in meiner Handfläche.

John sagte: »Er hat bald Prüfungen. Niemand hat ihn heute Abend hier erwartet, und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen.«

»Das wollte ich nicht.«

Er runzelte die Stirn. Ich hörte unsere Herzen schlagen. »Was wolltest du dann von ihm, Alexandra?«

In einfachen Worten zusammengefasst, hätte ich gesagt: in ihm den überwältigenden Wunsch entfachen, den Rest seines Lebens mit mir zu verbringen. Doch laut zugeben würde ich das nie und nimmer. Nicht, bevor ich John bewiesen hatte, dass ich gut genug für seinen Sohn war.

»Lass den Jungen in Frieden«, sagte John.

»Ich hab gedacht, du hättest ihn gern bei eurer Feier dabei.«

»Er kommt nach den Prüfungen wieder, okay?« Er lächelte mir schmallippig zu. »Obwohl, wenn du ihm weiter so zusetzt, bleibt er vielleicht lieber weg.«

Das Monster in mir erhob seinen Kopf, aber ich schluckte es runter. »Ich setz ihm nicht zu. Ich halte Kontakt mit ihm.«

»Dann halt weniger Kontakt.«

»Ja, John.« Ich setzte meine Roboterstimme ein.

»Also, wegen heute Abend. Ich will keine Ausbrüche mehr, du benimmst dich also, verstanden?«

»Ich werde helfen. Kanapees rumreichen.«

»Im Ernst? Ist das wirklich eine gute Idee?«

»Keine Sorge. Ich lass schon nichts fallen.«

»Wie wär’s, wenn du einfach nur dein Temperament zügelst?« Er klopfte seine Zigarette am Aschenbecher ab. »Sei höflich, mehr verlange ich gar nicht – sei nett zu meinen Freunden und ganz besonders nett zu meinem Chef.«

»Warum? Strebst du ’ne Gehaltserhöhung an?«

Er lachte. »Meinst du, das kannst du für mich einfädeln?«

In Norwegen gibt es ein Tal, in das fast nie die Sonne scheint. Die Menschen frösteln das halbe Jahr und blasen Trübsal. Bis eines Tages jemand auf die geniale Idee kam, auf den Berggipfeln Riesenspiegel aufzustellen, die die Sonnenstrahlen nach unten leiteten, und sie stellten Bänke um den Dorfplatz auf, damit die Leute dort sitzen und das Gesicht dem Licht zuwenden konnten. Wer im Schatten lebt, fürchtet sich, von der Sonne zu träumen; aber wenn man sie dann doch endlich spürt, muss es unglaublich sein.

»Bestes Benehmen«, sagte ich. »Versprochen. Wenn das Fest vorbei ist, wirst du stolz darauf sein, mich zu kennen.«

Er nickte und sah einen Moment lang so aus, als hielte er es nicht für gänzlich ausgeschlossen.

3

Als ich John kennenlernte, war ich sieben, und Mum hatte ihn zu uns nach Hause eingeladen. Ich hatte mein Paillettenkleid an, Mum ihren Lieblingsrock mit Spitzenbesatz am Saum und eine neue rosa Bluse, die durchsichtig war, aber sie meinte, das machte nichts, weil sie einen schicken BH trug. Sie hatte aufgeräumt, Staub gesaugt und Raumspray verteilt. Und einen Sechserpack Bier gekauft und in den Kühlschrank gestellt.

Während wir auf ihn warteten, sahen wir uns die Website des Architekturbüros an, in dem er arbeitete. Wir klickten den »Über uns«-Button an, und da erschienen Fotos von allen, die dort arbeiteten.

»Das ist er«, sagte Mum. »Hat er nicht ein tolles Lächeln?«

Weil er kein Teilhaber war, gab es keine Bilder von Häusern, die er gebaut hatte; also gingen wir von der »Projekte«-Seite runter und sahen uns wieder sein Foto an. Dann sah Mum auf ihrem Handy nach, wie spät es war, und ging ans Fenster, um rauszuschauen. »Bei Tageslicht sieht es wahrscheinlich anders aus«, sagte sie. »All die anderen Male war es immer dunkel, wenn er hier war. Hoffentlich ist er nicht einfach dran vorbeigelaufen.«

»All die anderen Male?«, fragte ich nach.

»Ach«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Da hast du geschlafen.«

Sie rief ihre Freundin Meryam an. »Hat er es vergessen? Hat er kalte Füße gekriegt? Hatte er einen Unfall?« Sie ging mit dem Telefon in die Küche, aber ich hörte sie trotzdem. »Meinst du, er lässt mich zappeln? Meinst du, es ist wegen Lex? Er wollte, dass ich sie übers Wochenende zu ihrem Großvater schicke – findest du, ich hätte es tun sollen?«

Ich drehte Pirouetten in meinem Kleid, um nicht zuhören zu müssen. Der Rock bauschte sich um mich.

»Ich hab gerade eine SMS gekriegt«, sagte Mum, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. »Er verspätet sich, aber er kommt, was eine Erleichterung.«

Ich drehte mich für sie im Kreis und der Rock tanzte.

»Deine Haare sind verstrubbelt«, sagte sie.

Sie setzte mich auf den Hocker im Wohnzimmer und bürstete mir das Haar wieder glatt. Fand dann, dass ich Schuhe brauchte, obwohl wir drinnen waren, und ging mir welche holen. Sie wechselte ihre Ohrringe und trug neuen Lippenstift auf. Sie sagte, mein Haar sei widerborstig, und wollte mir in der Wartezeit Zöpfe flechten. Ich mochte das Gefühl ihrer Finger in meinem Haar. Sie hatte es seit Wochen nicht mehr geflochten. »Er ist da!«, quiekte Mum plötzlich. Sie stupste mich vom Hocker, warf die Haarbürste ins Bücherregal und zog mich vom Fenster weg. »Er darf nicht sehen, dass du nach ihm Ausschau hältst!«

Sie stand in der Zimmermitte und legte sich die flache Hand auf den Bauch. »Atmen«, sagte sie zu sich selbst.

So hatte ich sie noch nie gesehen. Es war, als hätte sie die Kontrolle verloren.

Als die Gegensprechanlage brummte, ging sie sehr langsam zur Tür. Da stand sie und schwieg, und ich sah ihr beim Zählen zu, wie sich ihre Lippen von eins bis zehn bewegten; dann drückte sie auf den Knopf, sagte: »Hallo?«, und schaffte es, sich beiläufig anzuhören, so als machte sie sich kaum was draus. »Ach, hallo«, sagte sie. »Drück einfach gegen die Tür und komm rauf.«

Sie zwinkerte mir zu, während wir auf seine Schritte horchten, als er die Treppe rauf kam.

»Lexi, das ist John«, sagte Mum, als er zur Tür herein in den Flur trat, holte erst mit dem Arm in meine Richtung aus und machte dann eine komische kleine Verbeugung vor ihm, wie vor einem König. »Und das ist meine Tochter, Lexi.«

Er hielt mir die Hand hin und ich schüttelte sie. »Hallo«, sagte er. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Danke«, sagte ich. Ich fand keine anderen Worte für ihn und da standen wir also und sahen uns an. Sein Lächeln fühlte sich an, als würde man von einer Wärmelampe angestrahlt.