Aus dem amerikanischen Englisch
von Catrin Frischer
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Für Summer und Sean
Alles Liebe, Mom
1. Auflage 2021
© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Extraordinary Birds« bei Bloomsbury Children’s Books
Text © 2019 Sandy Stark-McGinnis
Umschlaggestaltung und Umschlagillustration: Maria Over
Übersetzung: Catrin Frischer
aw + ah • Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24478-1
V002
www.cbj-verlag.de
1
Als ich mich auf den nächsten Ast ziehe, beginnt mein Herz schnell zu schlagen. Vögel brauchen einen schnellen Herzschlag. Der hilft, Sauerstoff durch ihre Körper zu transportieren. Sauerstoff – und zwar ganz viel – benötigen sie zum Fliegen.
Es gibt jedes Mal einen Punkt, an dem ich nach unten schaue. Das macht mir keine Angst, aber wenn ich das Grün vom Gras und das Grau der Gehwege sehe, muss ich immer an die Schwerkraft denken.
Karen redet. Sie braucht eine Menge Energie, wenn sie mit ihrer »besorgten« Stimme spricht. Ich lehne mich an die dickste Stelle eines Astes und hole meine Biografie heraus. In den lila Ledereinband ist eine Feder geprägt.
Ich nehme Bird Girl: Eine außergewöhnliche Erzählung überall mit hin. Keiner hat das Buch je gelesen. Das ist meine Geschichte und sie gehört nur mir allein.
Das Beste an diesem Buch ist, dass es mich immer daran erinnert, wer ich bin und wo ich herkomme, ganz gleich, welche Seite ich aufschlage.
Zum Beispiel Seite drei:
Früh am Morgen hatte ihre Mutter eine Vogelfeder auf dem Küchenfußboden gefunden. Die Feder war ein Zeichen. Keine Stunde später brachte ihre Mutter sie zur Welt. Draußen im Garten hingen Eiszapfen am Walnussbaum, als ihre Mutter ihr einen Namen gab.
»Dezember, komm da runter!«, brüllt Karen. »Du bist kein Vogel.« Das klingt fast so, als würde sie mein Geheimnis kennen. »Du bist ein Mädchen, ein Mensch. Du gehörst auf den Boden, da bist du in Sicherheit. Wenn du Flügel hättest, würde ich dich für einen bösen Geist halten, den der Teufel gemacht hat. Und nun komm runter von diesem Baum.«
Karen redet viel von Jesus und Gott. Sie hat mir erzählt, dass Gott alles erschaffen hat und keine Fehler macht. Warum glaubt sie dann, ich wäre ein böser Geist, wenn ich Flügel hätte, und kein wunderschönes Wesen?
»Wenn du jetzt nicht runterkommst, muss ich dich zurückschicken. Willst du das?«
Ja, das will ich. Niemals werde ich bei jemandem bleiben, der überzeugt davon ist, ich wäre böse, wenn ich Flügel hätte. Sollte Karen mein Geheimnis rauskriegen, würde sie glauben, sie müsse die Welt vor jemandem wie mir beschützen und mich in einen Raum ohne Fenster sperren, mit einer Tür, für die nur sie allein den Schlüssel hat.
Ich klappe Bird Girl zu, wickele es in ein Sweatshirt, das ich nie trage, und verstaue es ganz unten in meinem Rucksack.
Ich klettere weiter. Ich bin eine unglaubliche Kletterin. Wenn ich mal erwachsen bin, könnte ich, wenn ich wollte, meinen Lebensunterhalt mit dem Erklimmen von Felsen, Bergen und dem höchsten Baum der Welt verdienen, einem in Kalifornien wachsenden Mammutbaum. Er heißt Hyperion und ist 115,5 Meter hoch.
Aber ein Baum wie Hyperion ist nicht mein Flugbaum. Der Baum, von dem aus ich losfliegen werde, ist einzigartig, aber leichter zu finden. Lebenseichen wachsen hier überall. Das Schwierige ist nur, die richtige zu finden. Vermutlich wird es eine ältere Eiche sein, mit knorrigen Ästen, die sich zur Seite weg- und aufwärtswinden, mit jeder Menge Stellen, die zum Nestbau perfekt geeignet sind. Dieser Baum, mein Flugbaum, wird irgendwo ganz allein auf einem Feld stehen, so als hätte er sein Leben lang auf mich gewartet.
Ich werde besser darin, meine Angst zu ignorieren, den schnellen Herzschlag, die verschwitzten Handflächen. Ich habe keine Wahl. Ich bin fürs Klettern gemacht, aber zum Fliegen geboren. Ich wiege nicht viel, meine Knochen sind leicht, aber stark und biegsam.
»Du wirst fallen!«, sagt Karen. Sie trägt ein orangefarbenes T-Shirt. Orange mag ich nicht. Es ist das Gegenteil von Blau, meiner Lieblingsfarbe.
Selbstverständlich weiß ich, dass ich fallen werde. So lernen Vogelkinder fliegen. Bei den ersten Flugversuchen fallen sie meistens auf den Boden, aber sie erkennen dabei, dass sie den Aufprall mildern können, indem sie die Flügel ausbreiten.
Karen schlingt Arme und Beine um den Baumstamm, aber sie hat den Körperbau eines Eisbären und kommt nicht weit. Eisbären sind zwar keine Vögel, faszinierende Wesen sind sie trotzdem. Sie werden taub und blind geboren, doch wenn sie ausgewachsen sind, gehören sie zu den größten Landtieren auf der Erde. Den Körperbau eines Eisbären zu haben ist also überhaupt nichts Schlimmes, und das würde ich Karen auch sagen, wenn sie aufhören würde zu brüllen.
»Wenn du jetzt nicht runterkommst, kriegst du großen Ärger!« Wenn die Farbe Orange einen Klang hätte, dann wäre es der von Karens Stimme.
Lange hat es nicht gedauert, bis ich gemerkt habe, dass sich, immer wenn sie wütend wird, ein V zwischen ihren Augenbrauen bildet. Es sieht aus wie eine halbe Vogelkralle. Sogar von oben im Baum kann ich das V sehen. Sie ist wirklich sauer.
Aber mir ist das egal. Sie sollte mich nicht zwingen, etwas zu essen, das wider meine Natur ist. Ich mag Sonnenblumenkerne und ein kleines bisschen Fleisch lieber als Kürbis. Heute Morgen habe ich mir statt Cheerios einen Teller Sonnenblumenkerne aufgefüllt, und da hat Karen gesagt, ich sei zu dünn, und wenn ich nicht mehr als Körner essen würde, dann würde ich eines Tages noch wegfliegen. Dagegen habe ich nichts. Aber dann hat sie einen anderen Teller geholt, Cornflakes und Milch aufgefüllt, sich über mich gebeugt und gesagt: »Du gehst nirgendwohin, bis du nicht was Richtiges gegessen hast.«
Von zu weit oben will ich nicht springen. Ich bin noch nicht so weit. Aber ich muss mich immer wieder fordern. Alle fürchten, dass ich mich verletzen, mir den Arm oder das Bein brechen könnte. Aber sie brauchen sich keine Sorgen machen. Ich kann ganz gut einschätzen, was ich tun darf und was nicht, obwohl die meisten Pflegeeltern, bei denen ich gewohnt habe, das wahrscheinlich nicht bestätigen würden.
Susan und James zum Beispiel. Jedes Mal, wenn sie Blätter zusammengeharkt und in eine Mülltüte gestopft haben, habe ich sie wieder auf dem Rasen verteilt. Der Garten sah unter dem Rot und dem leuchtenden Gelb viel besser aus als mit dem fahlen Gras.
Oder Wes und Linda, bei denen mir danach war, ein Loch in die Wand meines Zimmers zu treten. Damals war in der Schule was vorgefallen. Ein Junge hatte einem Mädchen beim Fußballspielen in der Sportstunde ein Bein gestellt. Er hat das nur aus Gemeinheit getan. Ich hab ihm deswegen auch ein Bein gestellt, die Aufsicht hat es gesehen – und ich war diejenige, die ins Schulleiterbüro geschickt wurde. Wes und Linda haben mich dann auch noch bestraft.
Während Karen versucht, mich zum Runterklettern zu bewegen, lese ich Seite elf von Bird Girl.
Dezembers Flügel sind blau. Sie wird damit losfliegen und sich ein neues Zuhause suchen. Dezembers Zuhause wird ein Ort sein, an dem es Jahreszeiten gibt, wo es im Winter schneit und die Blumen im Frühling sogar im Dunkeln noch leuchten und wo die Vogeltränken immer voll Regenwasser sind.
»Ja, hallo.« Jetzt hat Karen das Handy am Ohr. »Ja, das ist ein Notfall.«
Es gibt ganz viele Arten abzuheben und zu fliegen. Vögel können in den Wind hineinlaufen und den Luftstrom unter ihren Flügeln auffangen oder sich aus großer Höhe abstoßen und in die Luft fallen lassen.
In letzter Zeit habe ich mich immer in die Luft fallen lassen. Das ist zwar gefährlicher, aber auf die andere Art hat es nicht funktioniert.
»Bleib einfach da, bis Hilfe kommt!« Karen schaut hoch, dabei schützt sie ihre Augen mit der Hand vor der Sonne. Sie will mich im Blick behalten. Böser Geist hin oder her, im tiefsten Inneren hält sie mich doch für ein faszinierendes Wesen.
Ich denke an Amelia Earhart. Letztes Jahr habe ich ein Referat über sie gehalten und drei Dinge, die ich gelesen habe, werde ich mir für immer merken. Sie hat gesagt:
»Hindere niemals jemanden, etwas zu tun, das du für unmöglich hältst.«
»Du hast einen Baum erst verstanden, wenn du seinen Schatten vom Himmel aus gesehen hast.«
Und: »Aber was wissen Träume über Grenzen?«
Sirenengeheul kommt näher. Ein Feuerwehrwagen biegt in die Straße ein, in der Karen wohnt. Der Notfall bin ich.
»Liebe Amelia Earhart«, flüstere ich, »bitte gib mir leichte Knochen und Federn, damit ich fliegen kann.«
Ich weiß, wenn es so weit ist, wird die Narbe auf meinem Rücken kribbeln und meine Flügel werden endlich die Haut durchstoßen. Ich muss nur einen Schritt nach vorne machen.
Ich werde fliegen. Mich vom Ast abzustoßen ist der leichte Teil.
2
Ich weiß schon, wie die erste Frage von Dr. S lauten wird. Die mit Warum mag sie am liebsten:
»Warum hast du immer wieder Blätter in den Garten gekippt?«
»Warum hast du deiner Lehrerin nicht erzählt, dass der Junge dem Mädchen ein Bein gestellt hat?«
Und dieses Mal: »Warum bist du vom Baum gesprungen?«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Antworten auf diese Fragen schon kennt, bevor sie sie stellt, aber sie will gern meine Sicht der Dinge hören. In ihrem Job geht es vor allem darum, Leute zum Reden zu bringen.
»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin abgerutscht und gefallen.«
»Karen hat gesagt, du wärst gesprungen. Du hättest auf dem Ast balanciert und dich dann abgestoßen.«
»Also, da irrt sie sich. Ich hab bloß da oben gestanden. Vielleicht hat das für sie so ausgesehen. Karen macht öfters aus einer Mücke einen Elefanten. Dr. S, ich will nicht von Bäumen springen, ich will auf sie draufklettern.« Das ist die halbe Wahrheit. »Wissen Sie, manche Kinder spielen gern mit Lego oder mit Puppen. Und ich klettere eben gern auf Bäume. Das ist doch nicht so komisch, oder?«
»Warum willst du von Bäumen springen?« Sie stellt dieselbe Frage noch mal anders. Heute trägt Dr. S Lila. In Lila steckt Blau, aber trotzdem lasse ich mich nicht dazu verführen, ihr meine absolute Wahrheit zu sagen. Vielleicht komme ich nah heran an die Wahrheit, damit sie mir diese Frage nicht noch mal stellt.
Die Geschichte über meine Flügel muss ein Geheimnis bleiben. Ich bin erst elf, aber ich weiß eine Menge über die Welt. Genug, um Leuten mein Geheimnis nicht anzuvertrauen. Würden sie meine Flügel jemals sehen, würden sie mich für verrückt halten.
Ich weiß auch, dass ich besser nicht allzu viel mit Dr. S rede. Ich könnte etwas sagen, das ich lieber für mich behalten sollte oder das sie gegen mich verwenden könnte. Aber noch schlimmer wäre es, gar nichts zu sagen und den Eindruck zu erwecken, ich würde etwas verbergen. Mit Dr. S zu reden ist wie auf einem Ast balancieren. Was für ein Glück, dass ich von Natur aus die Fähigkeit habe, das Gleichgewicht zu halten.
»Ich hab in einem Buch gelesen, dass Amelia Earhart als Kind immer auf Bäume geklettert ist«, sage ich.
»Das wusste ich nicht.«
»Das hat mir an ihr besonders gefallen, also hab ich es mir gemerkt.«
»Ich habe gelesen, dass sie mal eine Achterbahn gebaut hat.«
Dr. S hat jede Menge Diplome an der Wand hängen, um zu zeigen, wie schlau sie ist, aber über Amelia Earhart weiß sie Bescheid, weil sie Dinge finden muss, zu denen ich eine Beziehung habe. Wenn sie über was redet, das ich mag, höre ich besser zu.
»In einem Buch steht, sie habe das Gefühl gehabt zu fliegen, wenn sie damit gefahren ist. Hast du das Gefühl, du fliegst, wenn du von Bäumen springst?«
»Nein, denn ich fliege ja nicht. Ich falle, so wie alle anderen es auch tun würden.«
»Würdest du gern fliegen?«
»In einem Flugzeug? Eines Tages schon.«
»Wo würdest du hinfliegen?«
Ich würde an einen Ort fliegen, an dem ich schwer zu finden wäre.
»In die Antarktis.«
»Warum die Antarktis?«
Wir sind wieder bei einer Warum-Frage.
»Das ist der kälteste Kontinent auf der Erde. Da sind noch nicht viele Menschen gewesen, aber hauptsächlich würde ich gern einen Ort sehen, an dem nicht so enorm viele Tiere und Pflanzen zu Hause sind.«
»Interessant«, sagt Dr. S. »Ich weiß nicht, ob ich in die Antarktis reisen möchte. Ich hab es viel zu gern warm und sechs Monate im Jahr scheint dort die Sonne nicht.«
»Dann reisen sie doch in den sechs Monaten hin, in denen die Sonne scheint.«
Dr. S nickt. »Stimmt. Aber kommen wir wieder zurück zu dir und der Sache mit dem Springen.«
»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin ausgerutscht.« Ich bleibe bei meiner Geschichte.
»Okay, sagen wir mal, da ist jemand, ein Freund oder eine Freundin, der gern von Bäumen springt. Wenn dieser Jemand oft genug springt, hältst du es dann für möglich, dass er sich dabei wehtut?«
Das ist eine Fangfrage, denn die Antwort ist klar, aber Dr. S will herausfinden, wie ich das echte Leben sehe.
»Ja, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass das passiert.«
Dr. S schweigt. Sie beugt sich vor, die Ellenbogen auf ihre Knie gestützt. Sie sieht aus wie ein Vogel, der seine Beute betrachtet. Sie denkt angestrengt darüber nach, was sie als Nächstes sagen könnte, und legt sich Fragen zurecht, die dazu führen sollen, dass ich das erzähle, was sie von mir wissen will, bevor unsere Zeit um ist. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie sich jetzt wahrscheinlich gleich nach Freundschaften erkundigen wird. Ob ich Freunde habe oder nicht – was der Fall ist –, beschäftigt sie immer.
»Wenn du Freunde hättest, wie würden die sich verhalten?«
Ich hatte recht. »Na ja, ich glaube, sie wären ein bisschen so wie ich«, sage ich. »Wissen Sie, Dr. S, Sie müssen sich um mich und diese Sache mit den Freunden keine Sorgen machen. Dass ich keine habe, liegt hauptsächlich daran, dass ich nie lange genug an einem Ort bleibe.«
Und was hat es außerdem für einen Sinn, Freunde zu haben, wenn ich eines Tages sowieso davonfliege?
Dr. S faltet die Hände. Das bedeutet, welche Frage sie mir jetzt auch immer stellt, auf die Antwort wird sie ewig warten. »Okay, reden wir mal über Zuhause. Wenn du dir aussuchen könntest, wo du leben willst, wie würde es da aussehen? Wie würde es sich anfühlen? Kannst du das beschreiben?«
Mein Haus wäre weich und warm. Es wäre aus Pflanzenfasern, Moosen und Spinnenweben, wie das Nest eines Kolibris. Abends wäre jemand da, der mich unter Federn bettet, und wenn ich einschlafen würde, wäre dieser Mensch morgens immer noch da.
Dieser Mensch wäre aber nicht meine Mutter. Ich hab früher bei ihr gewohnt und es gab mal eine Zeit, in der sie sich um mich gekümmert hat. Sie hieß Samantha Lee Morgan. Das einzige Foto, das ich von ihr habe, ist ihr Kindergartenbild. Sie sieht aus wie ein Junge. Ihre Haare sind mit zu viel Gel zurückgekämmt und sie hat keine Vorderzähne, aber sie lächelt trotzdem. Sie beugt sich vor und dreht ihr Gesicht zur Seite, nur ein kleines bisschen, so als wollte sie weglaufen.
Sie hat ein Muskelshirt an und auf ihrer Schulter ist eine Tätowierung, ein schwarzer Vogel. Ich möchte gern glauben, dass mein Schicksal schon auf ihre Haut geschrieben stand, als sie fünf Jahre alt war, so als wäre meine Mutter mit dem Tattoo geboren worden. Oder dass ein Vogel mit Krallen voll Tinte auf die Kinderstation geflogen kam, als sie ein Baby war. Aber die Tätowierung war nur ein Abziehbild. Vielleicht aus einem dieser roten Automaten, die neben der Tür vom Supermarkt stehen. Wahrscheinlich hatte meine Mom etwas aus dem Automaten haben wollen und ihre Mom hatte ihr fünfzig Cent versprochen, wenn sie artig ist.
Ich sehe meiner Mom sehr ähnlich.
»Eine gute Pflegestelle würde …«, beginne ich.
»Es muss keine Pflegestelle sein. Es ist dein Traumhaus.« Dr S streckt die Arme zur Seite aus, so als würde sie mir die Flügelspanne eines Albatros zeigen wollen. »Stell dir was Großes vor.«
Wenn ich mir was Großes vorstelle, dann würde ich irgendwo leben, wo ich das Gefühl habe hinzugehören.
»Ich glaube, mein Zuhause wäre dann an einem Ort, wo ich ganz lange bleiben könnte. Keiner würde rumschreien. Man würde mich freundlich behandeln und nicht so eine Riesensache um das machen, was ich essen möchte. Und keiner würde mich am Ende irgendwo zurücklassen.«
Dr. S legt ihren Stift hin, was bedeutet, dass unsere Zeit um ist. »Das ist nicht zu viel verlangt.«
Bisher hat das Leben mich gelehrt, dass es das doch ist, aber ich sage trotzdem »Nein«, denn Dr. S hat recht. Zu viel verlangt ist das wohl nicht.
»Noch eines zum Schluss.« Dr. S reicht mir eine Tüte Sonnenblumenkerne. »Für dich.«
Ich drücke die Tüte an meinen Bauch.
Dr. S beendet unsere Sitzung mit derselben Frage wie immer. »Möchtest du mir heute irgendwas aus deinem Buch vortragen?«
»Klar.« Mein Rucksack steht auf dem Boden. Ich mache den Reißverschluss auf und lasse die Hand hineingleiten. Ich will nicht aus Versehen Bird Girl rausholen. Das Buch ist zwar in ein Sweatshirt gewickelt, aber es könnte trotzdem rausrutschen, und dann würde Dr. S es sehen.
Bird Girl werde ich ihr niemals vorlesen. Ich werde es niemals irgendwem vorlesen. Es könnte gegen mich verwendet werden, als Beweis dafür, dass ich weggesperrt werden sollte. Dann würde ich nie zum Fliegen kommen.
Aber ich werde ihr aus Das vollständige Handbuch der Vogelkunde: Band I vortragen. Das war ein Geschenk von meiner Mom.
Auf der Innenseite des Einbands steht eine kurze Widmung, die lautet: »Für Dezember. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Alles Liebe, Mom.« Und darunter steht: »P.S.: Im Flug wirst du mich finden.«
Ich schiebe das Handbuch über den Tisch zu Dr. S und sie schlägt eine x-beliebige Seite auf. »Dreihundertvierundsechzig«, sagt sie.
Ich habe so gut wie alle Informationen, die in dem Buch stehen, auswendig gelernt. Wenn ich Band II hätte, würde ich den auch auswendig lernen.
»Der Tagschläfer. Tagschläfer sind auch bekannt als Geistervögel. Sie sind nachtaktiv. Sie ernähren sich von Insekten und kleinen Tieren wie Fledermäusen und kleineren Vögeln. Während des Tages verharrt der Tagschläfer regungslos und kann das Aussehen eines Astes annehmen. Seine Federn haben die Farbe von Borke und in den Augenlidern hat der Tagschläfer Schlitze, die es ihm ermöglichen, Bewegungen selbst dann wahrzunehmen, wenn seine Augen geschlossen sind.«
Dr. S rückt ihren Stuhl vom Tisch weg. »Wie viele faszinierende Vögel es doch auf der Welt gibt.«
Und ich werde der faszinierendste von allen sein.
3
Adrian, mein Sozialarbeiter, redet mit Dr. S. Wenn seine Stimme eine Farbe wäre, dann wäre das grün. Sie ist leise, und wenn er mit mir redet, muss ich mich echt anstrengen beim Zuhören. Aber ich mag seine Stimme, so würden Bäume klingen, wenn sie reden könnten.
Ich setze mich auf das Sofa im Wartezimmer, schlage Das vollständige Handbuch der Vogelkunde, Band I auf, hole Bird Girl aus dem Rucksack und lege meine Biografie in das Handbuch, um sie vor Adrian und Dr. S zu verstecken. Und dann überfliege ich den Teil, der mich daran erinnert, was ich zu tun habe, um wieder zu meiner wahren Natur zurückzukehren.
VORAUSSETZUNGEN ZUM FLIEGEN
Gewicht – Dezember ist von Natur aus klein und kompakt. Ihre Knochen sind eher vogel- als menschenähnlich. Sie hat eine Nase anstelle eines Schnabels und selbstverständlich hat sie Zähne. Beides wird das Gewicht erhöhen.
Schub – Vögel haben ein großes Sternum (der Knochen in der Mitte der Brust), an dem die Flugmuskeln befestigt sind. Damit Dezember ausreichend Schubkraft entwickeln kann, um von der Stelle zu kommen, wird sie stärker werden müssen.
Luftwiderstand – Wenn sich Dezembers Flügel entfalten, werden sie glatt und leicht sein. Sie wird daran denken müssen, die Beine an den Körper zu ziehen. Aber sie kann lernen, das zu optimieren. Je stromlinienförmiger sie ist, desto weniger Luftwiderstand muss sie überwinden.
Auftrieb – Dezembers Flügel werden groß sein. Große Vögel wie der weibliche Andenkondor können bis zu zehn Kilo wiegen und eine Flügelspanne von drei Metern haben. Dezembers Flügel werden viel größer sein. Sie wird die Tragflächenbelastung berechnen müssen (Gewicht geteilt durch Flügeloberfläche), damit sie weiß, wie schnell sie fliegen muss, um in der Luft zu bleiben.
Besondere Anmerkung (von Dezember selbst):
Zur Zeit wiege ich 27 Kilo und habe eine Flügel-/Armspanne von 132 cm. Ich schaffe 40 Liegestützen ohne Pause, ich kann zwölf Klimmzüge machen und zwei Minuten an einer Stange hängen, ehe ich loslassen muss. Ich bin stark, muss aber noch stärker werden.
Viel stärker.
Wir verlassen die Praxis und Adrian fährt zu Baskin-Robbins, in diese Eisdiele gehen wir immer, wenn er ein ernstes Gespräch führen will. Sein Grund: »Das Süße ist Ausgleich für das Ernste.«
Ich bestelle Bananensplit mit drei Kugeln Schokoladeneis, Kaugummi und heißem Erdbeer-Karamellsirup mit extra Schlagsahne und Mandelsplittern obendrauf. Mandeln sind das einzig Körnerartige, das sie hier haben.
Adrian glaubt nicht, dass ich das alles essen kann. Ich werde ihm beweisen, dass er sich irrt.
Ich stoße meinen Löffel durch Mandeln und Schlagsahne bis ganz nach unten auf den Grund, dann mache ich den Mund so weit auf, wie ich kann, und stopfe mir alles rein.
»Ich hab eine Pflegestelle für dich gefunden«, sagt er. »Es besteht immer die Aussicht, dass es was Dauerhaftes werden kann.«
Adrian glaubt, mir Hoffnung zu geben, wenn er Wörter wie dauerhaft benutzt. Aber andere Worte für dauerhaft sind ewig, lebenslang, bleibend. Diese Worte sind Täuschungen. Es gibt nichts Dauerhaftes.
Was er wirklich mit dauerhaft meint, ist Adoption. Aber selbst wenn ich adoptiert werden würde, spielt das eigentlich keine Rolle. Sobald meine Flügel sich entfalten, fliege ich weg.
Adrian bestellt sich eine einzelne Kugel Vanilleeis ohne was drauf. »Ich gebe nicht auf, bis wir ein gutes Zuhause für dich gefunden haben. Du bist nicht allein, Dezember.«
Mich davon zu überzeugen, dass es nicht so schlimm ist, wie ich vielleicht glaube, und dass alles gut wird, gehört zu seinem Job. Er macht das gut. Egal, in wie vielen Pflegefamilien ich schon gewesen bin, er versucht immer, mich glauben zu lassen, dass die nächste besser wird.
Nicht immer stimmt es, dass die nächste besser ist. Und ich bin sowieso schwer zu überzeugen. Aber ich glaube an die Möglichkeit, dass das jeweils nächste Haus mein letztes sein kann, dass meine Flügel sich endlich entfalten und dass Adrian dann kein »gutes Zuhause« mehr für mich zu finden braucht.
Adrian hat sein Eis noch nicht angerührt. Er starrt es an und quetscht dabei mit Daumen und Zeigefinger den Stiel des rosa Löffels. »Dezember, was glaubst du, wie dein Leben in zehn Jahren sein wird?«
Ich will sagen: Nun ja, da müssten meine Flügel ziemlich stark sein und ich werde um die Welt fliegen und mir alles ansehen, was es zu sehen gibt. Ende.
Doch stattdessen antworte ich gar nicht auf seine Frage. »Hast du gewusst, dass Kaiserpinguine die höchste Federdichte von allen Vögeln haben? Fünfzehn Federn pro Quadratzentimeter.« Ich versuche, Adrian auf andere Gedanken zu bringen. »Damit sie sich warm halten können. Isst du dein Eis nicht?«
Aber mein Themenwechsel funktioniert nicht.
»Ich glaube, du würdest eine gute Wissenschaftlerin abgeben.« Er zeigt mit dem rosa Löffel auf mich. »Du könntest aufs College gehen und studieren … Wie nennt man das, wenn man Vögel studiert?«
»Ornithologie.«
»Genau!« Adrian reckt den Löffel in die Luft, als hätte er was gewonnen. Er lächelt wie ein Sieger. »Wäre das nicht toll? Du würdest auf der ganzen Welt herumreisen und alle möglichen Vögel erforschen. Wäre das nicht ein fantastisches Leben?«
»Das wäre fantastisch.« Ich esse den letzten Löffel Schlagsahne. Ein Teil von mir findet wirklich, dass es ein gutes Leben wäre, aber der andere Teil hält das für noch faszinierender:
Nachdem ich von dem Baum vor Karens Haus gesprungen bin, hat eine Sanitäterin mich auf Zerrungen und gebrochene Knochen untersucht. »Hinten auf deinem T-Shirt ist ein bisschen Blut. Hältst du es mal hoch, damit ich mir das ansehen kann?«, hat sie gefragt. Es wird immer still, wenn Leute die Narbe auf meinem Rücken sehen. Bei der Sanitäterin war das nicht anders. »Du hast einen kleinen Kratzer«, hat sie gesagt, im Flüsterton, weil sie so geschockt war vom Anblick der knotigen Haut, die die Stelle zwischen meinen Schulterblättern bedeckt. Ich weiß, wenn ich meine Narbe ganz genau betrachte, werde ich den Umriss von Flügeln erkennen können. »Der ist gleich unter deiner Narbe«, fügte die Sanitäterin hinzu. Ich hatte gespürt, wo der Kratzer war. Aber er stammt nicht von einem Ast, sondern von den Flügeln, die beginnen, meine Haut zu durchstoßen.
Und was auch faszinierend ist:
Bei meinem Sprung vom Baum bin ich sechs Sekunden lang geflogen. Ich habe gezählt, von der Sekunde an, in der meine Füße sich vom Ast gelöst haben, bis zu der Sekunde, in der ich aufschlug. »Eins uhund zwei uhund drei uhund vier uhund fünf uhund sechs.«
Ich esse den Rest von meinem Eisbecher. Im Halbwahrheiten Erzählen bin ich besser als Adrian. »Es wäre fantastisch, den Rest meines Lebens Vögel zu beobachten«, sage ich zu ihm. Aber es wäre noch fantastischer, meine Flügel zu finden und zu fliegen.
Manchmal ist es das Sicherste, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Außerdem gibt der Gedanke, dass ich aufs College gehen und ein normales Leben haben könnte, Adrian Hoffnung. Und weil er jetzt Hoffnung hat, hört er auf, sich um mich Sorgen zu machen und fängt endlich an, sein Eis zu essen.