Fanny König kennt sich als niederbayerisches Madl bestens mit dem Zwist zwischen Dörflern und Städtern aus, denn auch sie hat es nach dem Abitur in die große weite Welt gezogen: Nach dem Studium in München lebte sie einige Zeit im Ausland. Inzwischen ist sie zurück in der bayerischen Hauptstadt, wo sie als Redakteurin viele Buchprojekte betreute, bis die Liebe zum Schreiben sie die Seiten wechseln ließ.
Außerdem von Fanny König lieferbar:
Himmel, Herrgott, Hirschgeweih. Ein Dorfkrimi
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FANNY KÖNIG
Blutwurst,
Bier und
Beichtgeheimnis
EIN DORFKRIMI
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Redaktion: Lisa Wolf
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-23368-6
V001
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Jetzt hat man als Metzger ja eigentlich schon von Berufs wegen recht viel mit Blut, Fleisch und furchtbar scharfen Messern zu tun. Da sollte man eigentlich meinen, abgestumpft, daran gewöhnt, so einen Fleischer haut nix um. Aber dann eben das eigentlich, weil es am Ende scheinbar doch einen Riesenunterschied macht, ob so ein Messer in einem Viech oder in einem Menschen drinsteckt. Zumindest für den Hofbauer Metzger. Den nämlich, den nahm das beim eigenen Artgenossen viel mehr mit als bei der eher weiter entfernt verwandten Sau zum Beispiel.
Es war aber auch ein furchtbar grober Anblick, das musste man schon zugeben. Metzger hin oder her, das hätte wahrscheinlich fast einen jeden wieder rückwärts aus dem Food Truck rausstolpern und erst einmal das Frühstück hinter die Mistkübel speiben lassen. Da brauchte sich der Mathias gar nichts vorwerfen lassen, als er sich mit dem Hemdsärmel über den Mund wischte und noch ein, zwei Mal würgen musste.
Vielleicht hatte er sich vertan? Vielleicht hatte ihm sein immer noch bös verkatertes Hirn einfach einen Streich gespielt. Eine blutig fleischige Fata Morgana sozusagen?
Mit den Fingerspitzen tastete er die frisch genähte Platzwunde an seiner Stirn ab. Vier Stiche, erst ein paar Stunden alt. Der Metzgers-Schädel brummte vom vielen Festbier, dem Schlag auf den Kopf und dem unnötigen Hineinstechen mit der Notarzt-Nadel immer noch. Recht viel Schlaf hatte er nicht erwischt, der Hofbauer, nach dem ganzen Aufruhr in der Nacht und dem Spontanbesuch im Krankenhaus. Da konnte es vielleicht schon einmal passieren, dass man einen Toten sah, wo es keinen gab, oder etwa nicht?
Langsam, mit schwitzenden Händen und zitternden Knien, näherte er sich tapfer noch einmal dem Sprinter. Warum bloß hatte er sich auch von der Claudia überreden lassen, hier in aller Herrgottsfrühe nach dem Rechten zu schauen? Geschwister, er fluchte innerlich, brauchte wirklich kein Mensch. Und überhaupt war ja eigentlich sie schuld an dem ganzen Schlamassel. Sie allein und sonst keiner. Das würde eh noch ein böses Nachspiel geben, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Vorsichtig schob er den Kopf durch die schwere Wagentür und riskierte einen zweiten Blick in den Innenraum.
Der Metzger schluckte, obwohl es gar keine Spucke mehr gab, so trocken und ausgedörrt waren plötzlich Mund und Rachen. Bitter und sauer stieg ihm die Galle wieder aus dem Magen in den Hals. Der Schädel pochte, als würde man links und rechts mit einem Hammer dagegenschlagen. Bevor ihm endgültig schwarz vor Augen wurde, klammerte er sich mit beiden Händen an der Tür fest und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Die Knie an die Brust gezogen, hockte er an die Kühlboxen gelehnt und atmete tief ein und wieder aus.
Jetzt irgendwie gute Position, weil das ohnmächtig Umfallen nicht mehr möglich, aber andererseits auch wieder nicht so schön, weil plötzlich direkt auf gleicher Höhe mit den glasig starren Augen der grob verstümmelten Leiche, die nur ein paar Zentimeter entfernt direkt gegenüber hockte. Kein Hirngespinst und keine Einbildung, grausame Wirklichkeit, ohne Zweifel. Aber trotzdem, ein wenig erleichtert war er doch. Weil so was Schlimmes, da musste man sich schon ehrlich Sorgen machen, wenn einem die eigene Fantasie so etwas vorschwindeln konnte.
Fünf lange Fleischermesser steckten in dem armen Berliner Bub. Ums Verrecken wollte dem Hofbauer nicht mehr einfallen, wie sie geheißen hatte, die Leich. Aber wäre auch ein wenig viel verlangt, gerade einmal achtundvierzig Stunden lebend gekannt und dann schon wieder tot. Da konnte so ein Name schnell verschwinden aus einem Hirn, das gerade mit recht vielen anderen Dingen beschäftigt war.
Zwei der Messer waren durch die Hände getrieben und spießten den Oberkörper der Leiche mit gespreizten Armen wie einen Jesus am Kruzifix an die Rückwand des Sprinters. Die anderen beiden Messer, die steckten tief in den Oberschenkeln des Toten und verschwanden durch die Beine im Wagenboden. Viermal fixiert, den Hofbauer schüttelte es am ganzen Körper. Das musste jemanden ganz schön viel Kraft gekostet haben. Und lieber wollte er gar nicht erst drüber nachdenken, in welcher Reihenfolge die Klingen ihr Opfer durchstochen hatten, weil tödlich war davon keine, nur furchtbar schmerzhaft sicher eine jede.
Den Tod, den hatte das fünfte Messer verursacht, da musste man kein Arzt oder Metzgermeister sein, um das zu erkennen. Weil das steckte dem Berliner quer im Hals, bis zum Griff. Schwarzbraun verkrustetes Blut bedeckte die Brust, das zerrissene Hemd und die Hose des Leichnams bis zum Boden. Aufgespießt und massakriert hockte der Tote in einer Lache aus gestocktem Blut und im Todeskampf abgesonderten Fäkalien. Das roch die Metzgersnase sofort, und wieder würgte der zitternde Hofbauer. Was war hier bloß passiert? War doch nur eine harmlose Schlägerei gewesen? Wer war denn zu so etwas fähig? Freilich, wirklich Freunde hatten sich die vier Deppen aus Berlin nicht gemacht, in Eichenberg. Aber so was? So fremdenfeindlich war doch keiner hier im Dorf? Oder doch?
Jetzt ist es ja meistens so mit den Mördern, dass die sich schon etwas denken bei ihren grausamen Taten. Motiv nennt man das gern bei der Polizei, völliger Wahnsinn sagen oft die Laien und Opfer, falls sie noch reden können am Ende. Aber trotzdem, der Täter hätt schon gern, dass man ihn versteht in der Sache und der Motivation. Und wenn es der Hofbauer jetzt auch nicht auf gleich verstand, weil erstens nur eine sehr kurze Botschaft, und zweitens auch noch mit vielen Rechtschreibfehlern drin, zumindest lesen konnte er, was mit Blut hinter dem Toten an die Wand vom Food Truck geschmiert worden war.
JETZ IS SCHLUS
REINHEITSGEBOT
Die glasig leblosen Augen des Verstümmelten starrten ebenso verständnislos wie der plötzlich wieder recht lebendige Hofbauer. Dem sein Hirn fing nämlich endlich wieder an zu arbeiten. Hektisch zappelnd rappelte der Metzger sich aus der schleimigen Leichensiffe auf und griff in die Hosentasche. Gott sei Dank hatte er noch daran gedacht, das Handy einzustecken. Weil im ganzen Ort, da gab es eigentlich nur eine einzige Person, die ihm jetzt weiterhelfen konnte.
So schnell der Katerschädel es zuließ, tippten die blutverschmierten Wurstfinger die Nummer vom Eichenberger Pfarrhaus in das kleine Mobiltelefon.
Manchmal, wenn der Pfarrer Leopold Meininger am Sonntag nach dem Gottesdienst ein klein wenig Zeit hatte und ihm keine Kirchgänger auflauerten, dann schlenderte er gern besonders langsam und gemütlich nach Hause. Nicht dass er trödelte, nein, ganz im Gegenteil, es war eher die Vorfreude auf Heim und Herd, die er so lange wie möglich und mit jedem Schritt des Weges so richtig auskosten wollte.
Und wer schon mal Besucher im Pfarrhaus von Eichenberg gewesen war, der konnte ihn da auch ganz gut verstehen. Gerade am Tag des Herrn duftete es immer ganz besonders appetitlich aus allen Fenstern und Türen. Es lief einem das Wasser im Munde zusammen, wenn man sich nur auf zwanzig Schritte näherte. Weil Sonntag, das war nicht nur für den lieben Gott ein heiliger Tag, noch heiliger war er eigentlich der Pfarrersköchin Maria Huber. Endlich nämlich war einmal Zeit, alle Einkäufe der Woche zu verkochen und zu verbacken, bis sich die Tische bogen und der Pfarrerstalar noch ein wenig mehr spannte über dem runden Bauch. Und außerdem lief abends im ersten Programm der Tatort. Dann begann für die Maria die eigentliche Messe. Gespannt wie ein Flitzebogen und mit gespitzten Ohren, von welchen der Pfarrer in der Kirche nur träumen konnte, saß seine Köchin Schlag acht Uhr im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Ein Glas Wein in der Hand, die Flasche Roten griffbereit zum Nachschenken, eine Schale Nüsse oder Chips im Schoß, lauschte sie erst den echten Verbrechen auf der Welt in der Tagesschau, um dann im Anschluss, zusammen mit den berühmten deutschen Detektiven und Kommissaren, die erfundenen zu lösen.
Der Meininger war sich nicht ganz sicher, ob seine Maria dabei groß einen Unterschied machte zwischen dem tatsächlich Passierten und dem bloß Ausgedachten. Vor allem, weil das Zweite meist so viel spannender und echter daherkam als das Erste.
Wobei, eines, das musste man an dieser Stelle schon sagen. Im letzten Jahr war es im sonst so beschaulichen Eichenberg wirklich zugegangen, da konnte der grausigste Tatort nicht mithalten. Und, das war mehr als echt, ohne die fast schon Fachexpertise seiner geschätzten Köchin und Hausdame Maria, wer könnte da sicher sagen, ob die Ober- und Untereichenberger heute überhaupt noch einen Pfarrer hätten. Oder zumindest, ob der noch immer Leopold Meininger heißen würde.
Ein furchtbar grausamer Mord hatte das Dorf im letzten Herbst aus seinem friedlichen Schlaf gerissen. Der Hauptbrandmeister Ludwig Wimmer, gemetzelt, erstochen und, zu allem Überfluss, auch noch durchbohrt von einem Hirschgeweih. So was hatte es in Eichenberg vorher wirklich noch nie gegeben. Und ohne den tapferen Einsatz vom Pfarrer und seiner blitzgescheiten Maria wäre das ganze Ausmaß der Abscheulichkeiten rund um den Toten auch niemals nicht ans Tageslicht gekommen. Da war der Leopold sich sicher. Gut, mei, ein kleines bisserl hatte natürlich auch der Simeon Hirsch mitgeholfen, das musste man als Geistlicher mit beruflicher Verpflichtung zur Wahrheit schon zugeben. Aber der damals frisch aus München versetzte Jungpolizist hatte schon froh sein können, dass ihm der Leopold und die Maria so brav geholfen hatten beim Ausfragen und Ermitteln. Allein, ja, allein, da wäre der Grünschnabel aus der Stadt mit Sicherheit recht schnell zum nächsten Opfer geworden.
Eine wilde Zeit war das gewesen, und der Leopold musste dem lieben Gott immer noch in jedem Abend- und Morgengebet dafür danken, dass am Ende doch alles gut ausgegangen war. Freilich, manch eine Nacht verfolgte ihn schon noch der Hirsch mit blutigem Geweih durch den Wald. Dann wachte er jedes Mal schweißgebadet auf und musste plötzlich wieder dran denken, als wäre es erst gestern gewesen, wie die zwei Schulbuben den toten Brandmeister von einem noch viel toteren Hirschen aufgespießt am Jagerstand im Eichenberger Wäldchen gefunden hatten und was das für eine fürchterliche Hexenjagd ausgelöst hatte, im letzten Herbst.
Eigentlich war ja überhaupt alles der Maria ihre Schuld gewesen, immerhin hatte die ihren Pfarrer dazu überredet, dem Frischlings-Hirschen von einem Polizisten bei den Ermittlungen zu helfen. Und wer die Maria kannte, der wusste, diesem sanften Druck konnte man sich nicht lange widersetzen. Seine Pfarrersköchin war eben im Herzen eine echte Detektivin. Zu viel Krimi-Lesen, das ganze Mord-und-Totschlag im Fernsehen anschauen, da hatte die endlich ihre Chance auf einen richtigen Einsatz gewittert. Und ausbaden musste es natürlich am Ende der arme Leopold.
Wen hatten sie nicht alles verdächtigt und ausgefragt, bis nach Passau waren sie gereist. Der Simeon im Polizeidienst, der Meininger ein bisserl Reise in die eigene Studentenvergangenheit, aber außer einem Haufen Schandtaten und viel Dreck unterm Eichenberger Teppich hatten der Polizist und der Pfarrer nichts gefunden. Am Ende war es natürlich die Maria gewesen, die zwischen den ganzen Falschbeschuldigungen und grausamen Geschichten aus der Dorfvergangenheit den wirklichen Täter gefunden hatte. Als der Leopold den messerscharfen Rückschlüssen seiner Köchin endlich hatte folgen können, wäre es dann beinahe auch schon wieder zu spät gewesen, und nur um Haaresbreite waren die beiden selbst dem Mörder entwischt. Ja, ja, auch dazu hatte der Simeon dann doch ein klein wenig beigetragen, zur Rettung in letzter Sekunde, wenn man so wollte. Und wahrscheinlich genau deswegen waren die drei dann auch richtig gute Freunde geworden. So ein Nahtod-Erlebnis schweißt eben doch irgendwie zusammen. Und auf der Welle der Erleichterung übers Kragen retten, da knüpfen sich gern auch mal ungewöhnliche Bande.
Der Meininger, wenn er ganz ehrlich zu sich selber war, der hätte den Simeon Hirsch jetzt gar nicht so dringend gebraucht in dem Bandlgeflecht, weil so im gefühlt letzten Atemzug, wenn das Leben am inneren Auge vorbeizieht, da merkt man plötzlich, wen man ganz besonders gernhat, und da war die Maria weit, weit vor dem Polizisten aufgetaucht.
Kein Wunder, waren sie nun auch schon fast zwanzig Jahre eine harmonische Wohngemeinschaft, die man sich schöner gar nicht erträumen könnte. Die Überraschung für den Leopold war eher gewesen, dass er sich, trotz katholischer Lebensverpflichtung, auf einmal sogar noch ein bisserl mehr Harmonie zwischen ihm und der schönen Köchin gewünscht hätte …
Aber wie gesagt, Extremsituation, und da passieren manchmal einfach komische Sachen im Hirn, die dann mit dem zurückkehrenden Alltag auch wieder verschwinden. Und war ja nicht so, dass sich der Leopold wahnsinnig gern an die Geschichte erinnerte, ganz im Gegenteil. Das meiste davon würde er am allerliebsten möglichst schnell wieder vergessen, damit er endlich zur gewohnten Nachtruhe zurückfinden könnte.
Und darum, wer wirklich furchtbar neugierig jetzt fast ein halbes Jahr nach der ganzen Geschichte immer noch ganz genau wissen musste, was da eigentlich passiert war, der war im Pfarrhaus an der falschen Stelle. Der musste schon im Wirtshaus beim Stammtisch nach der Eichenberger Brunftzeit fragen, weil da, da sprach man immer noch furchtbar gern über den Skandal. Beim Meininger daheim war endlich wieder der Frieden und die himmlische Ruhe eingezogen, so wie es sich gehörte für ein anständiges Kirchenhaus. Aber leider, oder vielleicht doch Gott sei Dank, konnte auch ein Pfarrer nicht in die Zukunft schauen. Weil sonst, sonst wäre der Leopold vermutlich trotz heiligem Sonntag ganz schön grantig geworden, auf seinen Chef und auf das, was der so die nächsten Wochen für ihn geplant hatte. Denn Gottes Prüfungen sind bekanntlich hart und nicht unbedingt für gemütliche Dorfpfarrer gemacht.
Auch wenn der Herr Pfarrer mittlerweile wieder seltener daran dachte, nach was vielleicht die zarten Lippen seiner Köchin schmecken könnten, so freute er sich doch, jeden Tag zu ihr nach Hause zu marschieren. Denn, von den Lippen mal abgesehen, alles, was die geschickten Hände der Maria in der Küche zauberten, das schmeckte ohne Ausnahme ein jedes Mal ganz ausgezeichnet.
Von wohliger Vorfreude gepackt, rieb er sich den Bauch, der sich gemütlich rund unter seinem Gewand abzeichnete. Dick, nein, dick war der Leopold Meininger nicht. Stattlich, das passte schon besser. Gesund halt, gesund und gut genährt. Für einen Mann Anfang fünfzig, sozusagen im allerbesten Alter und im Sommer, vielleicht Spätsommer des Lebens angekommen, geradezu perfekt geraten. Immerhin, er hatte noch alle Haare auf dem Kopf, und auch wenn die mittlerweile vom früheren Sonnenblond in ein durchgängiges Grau gewechselt hatten, dünner oder weniger waren sie dabei nicht geworden. In den blauen Augen blitzte noch oft, wenn der Ernst des Lebens oder die Regeln der Kirche nicht gerade zu sehr drückten, der Schalk der Jugend. Und wenn der Talar das nicht eh untersagen würde, könnte man den Meininger durchaus als attraktiven, stattlichen Herrn beschreiben. Das bisserl Rund in der Mitte störte da überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Dem Gesamtbild verlieh es gerade die notwendige Würde. Und darum freute sich der Pfarrer jetzt auch besonders, diese Würde bei einem ordentlichen Mittagstisch noch ein bisschen zu festigen. Das leise Knurren aus der Magengegend stimmte ihm eindeutig zu.
»Herr Pfarrer, sind Sie das?«, empfing ihn die Stimme seiner Lieblingsköchin schon in der Tür. »Wo bleiben Sie denn eigentlich die ganze Zeit? Kirch ist schon seit über einer Stunde vorbei! Und ich wart mit dem Essen. Das bleibt fei auch nicht von alleine warm, gell!«
Oje. Der Tonfall verhieß nichts Gutes. Trödeln, das mochte die Frau Huber gar nicht gerne, und schon zweimal nicht, wenn es ums Essen ging. So schnell es ging, schlüpfte der Pfarrer aus dem Mantel und trat schuldbewusst und mit gesenktem Haupt in die Küche. Lieber gleich nachgeben, sich reumütig zeigen, mea culpa und das Ganze, so konnte man oft die Schimpftirade abkürzen. So viel verstand selbst ein Pfarrer vom schönen Geschlecht. Oder besser, hatte er in den vielen Jahren brav gelernt. Je früher der Zorn der Hausdame verraucht war, desto schneller kam der Leopold an seinen Mittagsbraten. Und der, so die Maria, hatte ja eh schon lange genug auf ihn warten müssen.
»Es tut mir furchtbar leid, meine liebe Maria, ich wurd noch aufgehalten nach der Messe«, zuckte der Meininger hilflos mit den Schultern.
»Ach papperlapapp, Herr Pfarrer, Sie brauchen gar nicht lang schwindeln. Ich hab schon längst oben antelefoniert beim Messner. Da ist seit einer halben Stunde keine Menschenseele mehr, alle Kerzen gelöscht und Sie sind auch sofort nach der Kirch verschwunden, hat er gsagt.«
Der Meininger fluchte innerlich. Das war eben das Verflixte mit der Maria. Nix, aber auch gar nix konnte man länger als ein Amen lang vor ihr geheim halten. Seine Köchin hatte ihre Augen und Ohren noch weiter auf als der liebe Gott persönlich. Zumindest was den Ortskreis von Ober- unter Untereichenberg betraf. Da fanden die Neuigkeiten und Gerüchte ihren Weg schneller in die Pfarrküche als die Kirchgänger am Sonntag nach der Seligsprechung den Weg nach draußen. Lichtgeschwindigkeit eine Schneckenpost dagegen. Und mit dem Bartel, seinem braven Messner, würde er in naher Zukunft auch noch einmal ein ernstes Wörtchen zu reden haben. Loyalitätenlage und Informationspflicht klarstellen. Aber so was von.
»Ähm, ja, ähm, das war, weil ich ja gar nicht an der Kirche selber noch, sondern weil, auf dem Weg nach Hause …« Der Meininger begann zu stottern. Wie schaffte es diese Frau bloß jedes Mal wieder auf ein Neues, selbst nach so vielen Jahren, dass er sich fühlte wie ein kleiner Bub, den man bei weiß Gott welchem Unfug ertappt hatte?
»Ach, Herr Pfarrer, jetzt drucksen S’ nicht lang rum, kommen S’ rein, ’s Essen wird nicht besser.«
Der Leopold schnaufte erleichtert auf. Das klang schon viel freundlicher. Glück gehabt. Bei der Maria wusste man nämlich nie so genau. Manchmal, da konnte die klitzekleinste Kleinigkeit sie so auf die Palme bringen, dass es einem jeden Christen angst und bange wurde vor lauter Zorn und Schimpf. Da reichte vielleicht schon ein benutzter Kuchenteller, der irgendwie unter die Papierstapel am Pfarrersschreibtisch gerutscht und ein paar Tage vergessen worden war. Oder ein ganz unauffälliger Senffleck auf dem weißen Talar, wo selbst der Meininger gar nicht wusste, wie der da hingekommen war. Menschlich eigentlich, sollte man meinen, kann jedem passieren, sogar einem Pfarrer. Kein Aufhebens machen. Aber das sah seine Köchin anders. Selbst nach über zwanzig Jahren hatte sie die Sache mit der Erziehung immer noch nicht aufgegeben. Und darum wurde der Leopold auch in aller Regelmäßigkeit ausgescholten und im schlimmsten Fall mit hartem Kochentzug bestraft. Zu viele Einzelsocken in der Dreckwäsche trotz mehrmaligem Ermahnen, zu wenig Schuhe abputzen an der Haustür und der Ofen blieb kalt. An solchen Tagen konnte sich der hungrige Meininger recht gut erklären, warum der Jesus am Ende ein Junggeselle geblieben war. Einfach Wasser zu Wein und das Brot selber vermehren, das war vielleicht doch die praktischere Lösung.
Aber heute hatte er Glück, und mit einem wohligen Seufzen schob er sich auf die gemütliche Eckbank in der Küche. An seinem Lieblingsplatzerl direkt unterm Kruzifix stand schon sein Teller, und vor ihm auf dem Tisch duftete es aus den Töpfen. Das wiederum, viel besser als immer bloß Brot, Fisch und ab und zu ein Manna.
»Hm, Maria, das riecht einfach wunderbar«, seufzte der Pfarrer. »Was gibt es denn heute?«
»Rindsrouladen, Herr Pfarrer. Genau wie Sie die am liebsten mögen. Mit Speck und Gurkerl. Dazu Semmelknödel und fürn Nachmittag eine Erdbeerroulade zum Kaffee.«
Der Meininger hob überrascht den Kopf.
Erdbeerroulade? Was war denn da los?
Normalerweise gab es am Sonntag immer den üblichen Sandkuchen aus Restl. Alles, was der Hausdame so beim Kastl-Durchstöbern in die Finger kam und den Test zum weiteren Aufenthalt nicht bestand. Rosinen, runzlige Äpfel, Kompott. Der ein oder andere schon weißlich gebleichte Schokolad, der sich ganz hinten verkrochen hatte. Meist eine eher abenteuerliche Angelegenheit, die mit viel Rum-Aroma pfarrerstauglich abgemischt und auch wirklich nur dem Meininger selbst serviert wurde. Einzig für den internen Gebrauch sozusagen. Erdbeerroulade, das konnte nur eines bedeuten.
»Kriegen wir noch Besuch heute?«
»Herr Pfarrer, tz, tz, tz.« Die Maria schnalzte mit der Zunge. »Dass Sie sich aber auch nix länger merken können als von zwölfe bis Mittag. Der Simeon kommt doch heut Nachmittag. Ihren neuen Computer einstecken. Haben Sie das schon wieder vergessen? Ihnen brennt es doch so unter den Nägeln mit diesem Internetz.« Sie schüttelte den Kopf. »Seit Wochen drangsalieren Sie den armen Burschen damit.«
Ach herrje. Das Weibsbild hatte ja vollkommen recht. Das war dem Leopold wirklich ganz entfallen. Dabei hatte die Maria den Nagel auf den Kopf getroffen. Er war wirklich schon ganz aufgeregt wegen dem neuen Computer und vor allem dem Internetanschluss, den das Gerät mit ins bisher doch eher altmodische Pfarrhaus bringen sollte.
Die ganze Woche über hatte er immer wieder auf den großen Paketkarton in seinem Büro gestarrt, wenn ihm beim Predigtschreiben oder Bistumsbrief Korrekturlesen zwischendurch ein wenig langweilig geworden war. Ganz unschuldig stand das Ding ordentlich verpackt in der Ecke und wartete auf seine große Aufgabe: die Modernisierung der Pfarrgemeinde Eichenberg. Das hatte sich Hochwürden Leopold Meininger für dieses Jahr fest vorgenommen. Es war Zeit für ihn und seine Schäfchen, endlich die digitale Welt zu betreten. Schluss mit der ewigen Briefeschreiberei und dem Warten auf Antwort. Wenn der Leopold etwas gelernt hatte aus der Katastrophe im letzten November, dann, dass das Leben viel zu kurz war, um es mit Warten zu verschwenden. Tempo musste her, Geschwindigkeit, Vernetzung, Informationen. All das, was das Internet so glorreich versprach. Und so hatte er gar nicht lange gefackelt und, kurz nachdem er Gevatter Tod entkommen war, eine Digitalausrüstung beim Bistum beantragt. Leider ging es dann erst mal weiter mit brav warten auf Antwort von der nächsthöheren Wolke. Vor ein paar Wochen aber endlich grünes Licht und die passende Hardware aus Passau. Einziges Problem: Der Meininger, so fortschrittlich und modern er in der Theorie auch war, in der Praxis wusste er leider hinten und vorne nicht, was er mit dem ganzen Kabelsalat anfangen sollte, damit der schwarze Monitor ihm die Welt zu Füßen legen konnte.
Auch von der Maria war da keine Hilfe zu erwarten, die war nämlich von Anfang an überhaupt total gegen diese Schnapsidee von ihrem Herrn Pfarrer gewesen. Was sie sehr laut und sehr deutlich klargemacht hatte. Da half alles Erklären und Predigen nix, die Maria wollte offline bleiben. Konnte der Meininger loben, preisen und Werbung machen, was er wollte. Selbst das Argument, der Computer wäre doch auch nix anderes als ein Fernseher, fiel auf steinigen Boden und traf eisigen Gegenwind.
»Na, Herr Pfarrer, na, aber wirklich nicht. Da brauchen Sie gar nicht erst anfangen damit«, hatte seine Köchin aufgebracht losgezetert, die Hände in die Hüften gestemmt. »Weil, Herr Pfarrer, den Fernseher, den schalt ich ein und dann schau ich mir mein Programm an und dann mach ich ihn wieder aus. Und das war’s. Ein Computer, der läuft ja den ganzen Tag, und man weiß dabei überhaupt nicht, was der nicht alles ausspioniert im Hintergrund, während man das selbst überhaupt nicht mitbekommt. Ich hab da eine Reportage gesehen, im Dritten. Über Hacker und Viren und so Würmer, die sich in der E-Mail verstecken und dann bei Ihnen auf dem Computer herumkriechen. Das ist eine ganz gefährliche Sache, das sag ich Ihnen. Da kann Ihnen ein jeder reinschauen in Ihre sensiblen Daten, hat der Sprecher im Fernsehen gesagt. Und schneller, wie Sie meinen, ist dann Ihr Bankkonto leer geräumt und wahrscheinlich meines gleich mit …«
»Aber Maria …«, hatte er versucht, sie zu beruhigen. »Das passiert doch so schnell auch nicht. Dagegen gibt es doch ganz moderne Absicherungen und Vorkehrungen.«
»Ja, und die kennen Sie alle, oder wie? Ha, Herr Pfarrer? Ich wusste ja gar nicht, dass Sie da ein Experte sind?«
Schnippisch konnte dieses Weib sein, wenn sie wollte. Das musste man schon sagen.
»Na, na, ich sag’s Ihnen, das wird böse enden, Herr Meininger. Und dann ist es im Nachhinein wieder zum Jammern. Ich, ich hab’s Ihnen gesagt, gell? Aber am End müssen Sie das selber wissen. Sie sind der Chef.«
Da hätte der Leopold dann beinahe laut aufgelacht. Aber sich, trotz Chef sein, doch nicht getraut.
»Ich verspreche Ihnen, meine liebe Maria, es wird uns kein Schaden entstehen durch den Computer. Ihnen nicht und mir nicht. Ganz im Gegenteil. Eine neue Welt wird sich öffnen für unser wunderbares Eichenberg.«
Der Leopold war da schon sehr stolz.
»Eine neue Welt. Tz, tz, tz. Ich weiß nicht, was so falsch ist an der alten. Aber was weiß ich schon. Ich bin ja nur zum Arbeiten hier. Und eines, eines sag ich Ihnen, Herr Pfarrer, nur damit es einmal ausgesprochen worden ist: Am schlimmsten, das haben die auch im Fernseher gesagt, am schlimmsten ist es, wenn man sich auf diesen Erotikseiten herumtreibt. Einmal da draufgeklickt und …«
»Also Frau Huber …«, wurde der Leopold jetzt gleichzeitig sehr rot um die Nase und sehr förmlich. »…da muss ich jetzt aber schon sehr bitten. Was hätte ich denn auf solchen Seiten zu suchen? Bei allem Respekt. Dieses Projekt ist ausschließlich zum Wohle unserer Gemeinde gedacht, nicht mehr und nicht weniger!«
Und damit war die Diskussion um Computer und Internetz dann erst mal beendet gewesen. Kein Wort mehr von der Maria zu fraglichen Webseiten und erst recht nicht vom Pfarrer. Kampfpause auf beiden Seiten der Schützengräben.
Glücklicherweise gab es auch Menschen im Umfeld des Pfarrers, die der Zukunft positiver gesinnt waren als seine Haushälterin. Sein Polizistenfreund Simeon Hirsch war gleich ganz begeistert von der Idee gewesen.
»Super, einfach super finde ich das! Herr Pfarrer, das ist ein großer Schritt für Ihre Pfarrgemeinde, und ich will Sie da gerne unterstützen, wo ich kann.«
Und weil der Simeon auch zwanzig Jahre jünger war als der Meininger, konnte er tatsächlich recht gut helfen. Kurz nach seiner Versetzung von München nach Eichenberg hatte der junge Polizist ein ähnliches Packerl aus Passau geschickt bekommen. Zwar nicht vom Bistum, sondern von der Polizeiinspektion, Inhalt aber sozusagen identisch. Kabelsalat ohne Rezept oder Anleitung. Ganz auf sich alleine gestellt, im Hinterzimmer vom Eichenberger Bürgermeistersekretariat hatte der junge Hirsch sich als schlauer Fuchs entpuppt und wusste mittlerweile ganz genau, welche Leitung in welche Öffnung musste.
Große Freude also beim Leopold, dass er so schnell einen kompetenten und willigen Techniker gefunden hatte, nur mit dem Warten nahm es immer noch kein Ende. Weil der Simeon hatte im Moment gerade privat immens viele Verpflichtungen und sehr wenig Zeit. Grund dafür war das Fräulein Beierlein, nach dem Hirsch der zweite Münchner Import im niederbayerischen Eichenberg und seit nun schon ein paar Monaten die feste Freundin vom Simeon. Da hatten sich wirklich einmal Topf und Deckel gefunden, das konnte man ohne Lügen behaupten.
Wie den Polizisten, so hatte es auch die junge Lehrerin eher unfreiwillig und auf staatliches Geheiß in das winzige Dreitausend-Seelen-Dorf ans Ende der Welt verschlagen. Der Landeshauptstadt entrissen und im Exil, musste auch die Sandra Beierlein heftig um Anschluss und Anerkennung kämpfen. Da waren die Niederbayern eigen und vielleicht auch ein wenig schwierig. Leicht wurde die Umsiedelung hier niemandem gemacht. Aber im Gegensatz zum Simeon konnte die Sandra wenigstens ein paar blonde und kurvige Pluspunkte vorweisen. So war sie zumindest im männlichen Eichenberg recht schnell eingebürgert und der Elternabend plötzlich wieder gut besucht. Die halbe Feuerwehr und gleich der ganze Schützenverein waren bei ihr Schlange gestanden und hätten wahrscheinlich am liebsten alle vier Grundschulklassen wiederholt, nur um ein wenig Zeit mit der hübschen Münchnerin zu verbringen.
Für den ein oder anderen wäre das auch gar nicht so verkehrt gewesen, musste der Meininger ab und zu bei sich denken, wenn er sich die örtlichen Verehrer betrachtete.
Aber seit die Sandra ja nun sozusagen fest unter der Hirsch-Haube verstaut war, hatte sich das Balzen und Anwanzen endlich beruhigt. Der Pausenhof war wieder fest in Kinderhand, wie sich das gehörte. Keine Spur mehr von nachhilfewilligen Junggesellen. Konnten aber auch froh sein, die Burschen. Gerade noch mal davongekommen. Das dachte sich der Pfarrer ein jedes Mal, wenn er sich den Simeon in letzter Zeit anschauen musste. Vielleicht war das doch ein bisschen viel Lehrerin und ein Haufen Nachhilfe für einen einzigen wehrlosen Polizisten. Gehetzt war er, immer auf dem Sprung. Noch schnell was einkaufen fürs gemeinsame Kochen und Abendessen. Nein, nicht zum Hofbauer Metzger, weil das Fräulein Beierlein lebte streng vegetarisch. Wie das in der Großstadt eben heutzutage Mode war. An so einer Lebenseinstellung änderte dann auch ein Umzug aufs Land erst mal überhaupt nichts. Selbstverständlich. Und der Hirsch musste mitmachen. Meistens, nach Feierabend, im Privaten. Jedenfalls immer, wenn die Sandra dabei war oder irgendwo im näheren Umfeld vermutet wurde. Dann rührte der Hirsch kein Fleisch nicht an.
Auch im Wirtshaus traf man ihn eigentlich überhaupt nicht mehr. Obwohl er da früher ganz gern herumgeschlichen war. Um Anschluss zu finden. Weil man sich ja so selten sieht, wenn beide Partner berufstätig sind, erklärte er auf neugieriges Nachfragen. Da musste man höllisch achtgeben, dass man auch genügend Wichtigkeit auf die Zweisamkeit legte. Quality Time, nannte das die Sandra und darum auch der Simeon. Was auch immer die beiden damit meinten. Für den Meininger bedeutete das jedenfalls, dass er auf seine Computer Quality ein paar Wochen warten musste. Bis eben zu diesem Sonntag, an dem der Hirsch von seiner Liebsten ein paar Stunden Freigang bekommen hatte. Und jetzt hätte der Pfarrer ihn tatsächlich beinahe vergessen.
»Meine Güte, Maria, Sie haben völlig recht. Wann wollte der noch vorbeikommen?«
Aber bevor die bessere Hälfte mit dem noch besseren Kalendergedächtnis antworten konnte, öffnete sich schon die Küchentür, und wie bestellt trat der Polizist in die gute Stube.
»Mahlzeit, die Herrschaften.« Grinsend hob er die Hand zum Gruß. Ausnahmsweise sah der Hirsch heute mal nicht müde und gestresst drein, sondern ganz vergnügt. »Maria, Herr Pfarrer. Einen schönen Sonntag miteinander.«
Unaufgefordert schlüpfte er aus seiner Jacke und setzte sich zum Meininger an den Tisch. Störte aber hier niemanden, weil der Simeon ja so gut wie zur Familie gehörte seit den Vorfällen, die sie im letzten Herbst erlebt hatten.
»Mei, Simeon!« Die Maria schlug die Hände vor der Schürze zusammen. »Mit dir habe ich ja erst zum Nachmittag, zum Kaffee gerechnet. Erdbeerroulade gibt’s, extra für dich, aber die ist noch gar nicht ausgekühlt.«
Das Kuchendilemma war dem Polizisten aber scheinbar recht wurst. Gierig schielte er in Richtung Rouladen auf dem Pfarrersteller. Schützend schob der Meininger die mit Messer und Gabel bewaffneten Fäuste vor sein Mittagessen. Das hatte gerade noch gefehlt. Dass ihm der Lackel hier sein Mittagessen stibitzen würde, noch bevor ein Handgriff Arbeit getan war. Na, auf keinen Fall. Demonstrativ stach er in das saftige Fleisch. Aber diese Rechnung hatte er ohne die Maria gemacht, die hatte nämlich einen fast magischen siebten Sinn, wenn es um das Füttern der Hungrigen ging. Die spürte über fünfhundert Meter weit, ob einer Appetit oder Durst hatte. Das lag der einfach im Blut. Genetisch fest programmiert sozusagen. Und bevor der Pfarrer das gesamte Mittagessen auf einen Happen in sich hineinschaufeln konnte, hatte sie dem Hirschen schon eingedeckt.
»Aber dann isst du doch sicher mit uns zu Mittag, gell? Seh ich doch, wie dich die Rouladen anlachen.«
Mütterlich streichelte sie dem Simeon über die Schulter und lud ihm gleich drei Rouladen auf. Der fassungslose Blick vom Meininger wanderte zwischen seinen, nur noch anderthalb Rouladen und dem leeren Topf hin und her. Drei Stück für den Hirschen und nur zwei für ihn? Und kein Nachschlag? Normalerweise herrschten hier strenge Rouladengesetze im Pfarrershaushalt: zwei Stück für den Pfarrer, eine für die Maria, eine und vielleicht noch ’ne halbe als Nachschlag für den Leopold nach Drängeln der Köchin, ob es denn nicht schmecken würde. Und ein winzig kleines Anstandshäppchen zum Aufheben für später. So lief das am Rouladentag, so und nicht anders. Und niemals nicht drei für den Gast und nur zwei für den Hausherrn. Außerdem, der hatte doch eh seine eigene Roulade, die mit den Erdbeeren drin, was konnte denn der Leopold dafür, dass die noch nicht fertig war?
Aber was sollte er machen, der Simeon grinste von einem Ohr zum anderen, und die blauen Augen funkelten, als wäre es Weihnachten und Geburtstag zusammen.
»Maria, Mensch, ehrlich? Vielen Dank, die Einladung würde ich tatsächlich nicht ausschlagen!«
Einladung? Ausschlagen? Der hatte doch das Messer schon in der Hand, der Bursche.
»Und, so ganz unter uns, ich habe fast gehofft, ich würd hier ein so wunderbares Fleisch bekommen. Das macht keine so gut wie du, Ehrenwort!«
Schleimer, billiger. Die gelobte Maria bekam aber gleich ganz rote Wangen, und der Busen hob sich vor Stolz mindestens um einen Zentimeter nach oben.
»Aber ich will nichts wegessen, auf keinen Fall!«
»Ach wo, Simeon, überhaupt nicht, überhaupt nicht. Ich brauch nix. Ich ess eh immer schon beim Kochen viel zu viel!«
Lügnerin, gscherte. Passten schon gut zusammen die beiden, dachte der Pfarrer und wetzte mit dem Messer möglichst kleine Stückerl von seinem Fleisch, damit er ein bisschen länger was davon hatte, so ohne Aussicht auf zweite Portion. Musste man eben selber vorsorgen. Die Maria stellte dem Simeon ein kaltes Bier zum Essen und dafür bekam sie gleich noch so ein Zahnpastawerbegrinsen.
»Mensch, Maria, du kannst einfach Gedanken lesen. Genau das hat mir zum Glück noch gefehlt. Vielen Dank, du weißt wirklich, was ein Mann sich wünscht«, brachte der Hirsch zwischen dem Rouladenkauen hervor und spülte mit dem Bier nach. Dem Bier, das dem Meininger zu seinem Glück dringend fehlte.
»Und Pfarrer sind keine Männer? Oder warum krieg ich kein Bier?«, brummte der Meininger grantig und schämte sich gleich ein bisserl selbst. Er klang mehr wie ein kleiner Schulbub als ein ausgewachsener Mann.
Die Maria zog eine Augenbraue bis über den Haaransatz, fast zum Hinterkopf hoch. Das konnte sie besonders gut, es bedeutet nur meist nix Gutes.
»Manchmal mehr, manchmal weniger Mann, würd ich sagen«, beantwortete sie eisig seine Frage. »Und wo’s Bier steht, wissen Sie ja, Herr Pfarrer.« Peitschenähnlich schwang sie ihr Geschirrtuch aus dem Handgelenk und stolzierte beleidigt aus der Küche. Knall, die Tür war zu.
Der Meininger starrte ihr verdutzt hinterher, während der Simeon zwischen Rinderfetzen und Bierschaum losprustete.
»Herr Pfarrer, also von den Frauen, von denen verstehen Sie mal wirklich überhaupt nichts. Das kann ich Ihnen sagen!«
Wenn das so weiterging, heute, dann brauchte der Meininger sich gar keine Sorgen mehr machen um den fehlenden Rouladen-Nachschlag, weil, dann war ihm der Appetit vergangen, noch bevor der Teller leer war. Jetzt wollte ihn auch noch der depperte Grünschnabel belehren. Grad weil er mal fünf Minuten eine Freundin hatte.
»Aber Sie, Herr Hirsch? Aber Sie, oder wie?«, pampte er seinen Tischgast wenig nächstenliebend an.
Dieser Sonntag wollte einfach so gar nicht zu der geliebten, gemütlichen Friedlichkeit finden, die der Leopold normalerweise gewohnt war. Und das ärgerte den Pfarrer sehr, weil, er hatte ja in jeder Woche immer nur den einen. Und der war darum besonders heilig.
Dem Simeon Hirsch war das Lachen endlich vergangen, aber nicht, weil der Pfarrer so grantig war, das kannte der Tischgast nur zu gut. Sondern eher, weil ihm wohl wieder eingefallen war, dass er tatsächlich langsam zum Frauenexperten wurde, oder schleunigst werden musste. Er schluckte Rouladenbrei und Bier in den Magen, schluckte nochmals und erklärte dem gesegneten Junggesellen.
»Herr Pfarrer, das mit den Frauen, ich sag es Ihnen. Einfach ist es nicht.« Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Willibecher und wischte sich den Bierschaum aus dem Gesicht. »Seien Sie froh um Ihre Maria.« Für einen Moment legte der Hirsch Messer und Gabel aus der Hand, um sich die Haare zu raufen und die Augen zu reiben. Dann stürzte er sich sofort wieder auf das Fleisch und schlang weiter, während er dem Meininger die Frauen, oder besser eine ganz spezielle Frau, erklärte.
»Sie haben ja keine Ahnung, Hochwürden, keine Ahnung. Aber wie auch, woher auch?«
Bei dem Essensbrei-Genuschel musste der Meininger sich ganz schön Mühe geben, den Kollegen überhaupt zu verstehen. Trotzdem, ein bisschen neugierig war er schon auf so einen Beziehungsschulterblick und darum spitzte er angestrengt die Ohren und vergaß erst mal tatsächlich den eigenen Teller.
»Dabei hat das alles so schön angefangen. Schöner hätte man sich das gar nicht vorstellen können, Herr Meininger. Wirklich. Ein Traum, die Sandra. Ganz reizend, ganz brav und immer lieb.« Ganz verklärt blickte der Simeon in die Ferne. »Ausflüge haben wir gemacht, in die Berge zum Wandern, und ins Kino sind wir fast jedes Wochenende. Sogar in richtig harte Actionfilme ist die Sandra mit, das hat ihr super gefallen. Und, Herr Pfarrer … so unter uns …« Er zwinkerte verschwörerisch mit den Augen. »Nicht, dass wir recht viel gesehen hätten, vom Film, gell. Hä, hä, hä.«
Ja. Hä, hä, hä … du mich auch, dachte sich der Leopold und gabelte dann doch lieber weiter in die Roulade, bevor er sie am Ende noch dem Hirsch ins Maul stopfte. Zu viel Neugier, für einen Pfarrer, merkte er gerade, sehr ungesund.
»Aber seit ein paar Wochen jetzt schon, da ist die Sandra plötzlich wie ausgewechselt. Als hätte man sie über Nacht einfach ausgetauscht. Außerirdische vielleicht. Ich weiß einfach nicht, was mit ihr passiert ist.«
Der Pfarrer blickte überrascht von seinem Teller hoch. Das klang jetzt gar nicht mehr nach Wolke sieben.
»Irgendwie kann ich in letzter Zeit gar nichts mehr richtig machen«, jammerte der Kollege. »Alles ist falsch, nie versteh ich sie und dauernd vergess ich furchtbar wichtige Sachen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Na ja, zum Beispiel, dass ich noch Klopapier hätte einkaufen sollen. Oder dass die Sandra am Mittwochabend immer Chorprobe mit der Unterstufe hat und ich sie danach abholen soll, weil sie es doch nicht mag, so ganz allein im Dunkeln den weiten Weg nach Hause zu gehen.«
»Aber das Fräulein Beierlein wohnt doch nur zwei Straßen von der Schule entfernt und Sie am anderen Ende vom Ort, oder nicht?«, musste der Leopold da schon mal nachfragen. Kam ihm ein bisschen viel Abholweg für ein wenig Nachhauseweg vor, so von außen betrachtet.
»Ja, schon, aber die schlimmsten Verbrechen passieren gern recht nah am Zuhause, das sagt die Sandra. Und nach der Geschichte mit dem Wimmer, da fühlt sie sich einfach nicht mehr sicher hier im Ort, sagt sie. Wer weiß, was da noch so alles passieren kann. Und da will sie eben ungern allein sein, und wenn ich sie dann warten lasse oder vergesse, dann …«
Ja, was dann. Das wollte der Meininger jetzt schon wieder gern wissen. Da war die Neugier gleich geweckt. Gott sei Dank war der Simeon bei Bier und Fleischroulade in bester Herzausschütt-Redseligkeit.
»… dann ist das Geschimpfe immer riesengroß. Ganz erstaunlich eigentlich, wie viel Wut in so eine kleine und liebe Person reinpassen kann. Hätte ich mir nicht vorstellen können, so am Anfang. Aber schreien und schimpfen kann die, da möchte man sich am liebsten die Ohren zuhalten und davonlaufen.«
Der Simeon nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas.