Zum Buch
Andreas Kossert, renommierter Experte zum Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert und Autor des Bestsellers »Kalte Heimat«, stellt in seinem neuen Buch die Flüchtlingsbewegung des frühen 21. Jahrhunderts in einen großen geschichtlichen Zusammenhang. Immer nah an den Einzelschicksalen und auf bewegende Weise zeigt Kossert, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen – und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene zu allen Zeiten so schwer ist, in der Fremde neue Wurzeln zu schlagen. Ob sie aus Ostpreußen, Syrien oder Indien flohen: Flüchtlinge sind Akteure der Weltgeschichte - Andreas Kossert gibt ihnen mit diesem Buch eine Stimme.
Zum Autor
Andreas Kossert, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und lebt seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin. Auf seine historischen Darstellungen Masurens (2001) und Ostpreußens (2005) erhielt er begeisterte Reaktionen. Zuletzt erschienen von ihm der Bestseller »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945« (2008) sowie »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« (2014). Für seine Arbeit wurde ihm der Georg Dehio-Buchpreis verliehen.
ANDREAS KOSSERT
FLUCHT
Eine Menschheitsgeschichte
Siedler
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Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umschlagabbildung: Junge Flüchtlinge aus osteuropäischen
Regionen und ihr Gepäck, 24. Juni 1949
© Theo Scheerer / Vintage Germany
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Reproduktionen: Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-20616-1
V005
www.siedler-verlag.de
Für meine Mutter Lieselotte
(1944–2018)
Inhalt
JEDER KANN MORGEN EIN FLÜCHTLING SEIN
Vom Refugié zum Flüchtling in der Moderne – eine Begriffsklärung
Die endlose Geschichte der Flucht
HEIMAT. VON DEN AMBIVALENZEN EINES GEFÜHLS
Weggehen
Ankommen
Weiterleben
Erinnern
Wann ist man angekommen?
WAS WAR, ENDET NICHT
ANHANG
Dank
Literatur
Personenregister
Anmerkungen
Fremdenfeindlich
Als Millionen Vertriebene
mit wenig Gepäck
und lastender Erinnerung
im restlichen Vaterland
zwangseinquartiert wurden,
riefen viele Heimische,
die sich durch Zuzug beengt sahen:
Geht hin, wo ihr hergekommen seid!
Aber sie blieben, und eingeübt
blieb der Ruf: Haut endlich ab!
bald galt er Fremden,
die später, noch später
von weither gereist kamen
und unverständlich sprachen;
sie blieben gleichfalls
und vermehrten sich seßhaft.
Erst als die immer schon Heimischen
sich fremd genug waren,
begannen auch sie
in all den Fremden,
die mühsam gelernt hatten,
ihr Fremdsein zu ertragen,
sich selbst zu erkennen
und mit ihnen zu leben.
GÜNTER GRASS, Vonne Endlichkait
»21.1.45 Befehl zum Verlassen meines Hofes«, mit diesem Eintrag beginnt der Bericht, den der Bauer Friedrich Biella während der Flucht aus Masuren verfasst. Es ist das Dokument eines Abschieds von allem, was sein Leben bis dahin ausgemacht hatte.
© Kossert, Andreas
Am frühen Morgen des 21. Januar 1945 bricht Friedrich Biella mit seiner Familie und zwei Pferdewagen aus einem kleinen Dorf in Masuren auf. In seinem Notizbuch steht für diesen Tag der knappe Eintrag »Befehl zum Verlassen meines Hofes«. Ungelenk formuliert, kündigt der Bauer in diesem Moment den ungeschriebenen Generationenvertrag mit seinen Vorfahren. Er muss alles zurücklassen, was gestern noch wichtig war, Land und Hof, Einrichtung und Erinnerungen – und auch die Tiere. »Unsere Hündin ›Senta‹ hat uns ein Stück Weges begleitet. Je weiter wir uns vom Dorf entfernten, wurde sie immer unsicherer. Sie ist dann schließlich auf unser Anraten wieder nach Haus gelaufen.«
Weil die Anstrengungen der Flucht alle Kräfte binden, setzen die Aufzeichnungen erst Ende März 1945 wieder ein, als Friedrich Biella nach einer Odyssee durch Ostpreußen und über das vereiste Frische Haff, durch Hinterpommern, über die Oder und schließlich durch Mecklenburg im Herzogtum Lauenburg strandet. Nach Kriegsende fragt er Woche für Woche bei der britischen Militärkommandantur nach, wann er zurückkehren könne. Dort vertröstet man den alten Mann. In seinem Notizbuch verzeichnet er die stets gleichlautende Antwort: »Mit der Rückfahrt noch warten.« Sein Leben in der Britischen Zone, zwangseinquartiert bei fremden Menschen, erträgt der Bauer nur schwer.
Im Dezember 1946 steht das zweite Weihnachtsfest in der Fremde vor der Tür. Seine Frau Luise sorgt sich um die Kinder und Enkelkinder, die verstreut über die Besatzungszonen leben. Friedrich Biella schreibt am 21. Dezember 1946 an seine jüngste Tochter Lotte, die mit ihren vier kleinen Kindern Obdach im Raum Hannover gefunden hat. »Meine lieben Kinder alle! Ich will Euch auch einmal einen kleinen Brief aus unserem Asyl schreiben«, beginnt er. »Wie lange dieser Zustand noch dauern wird, wissen wir alle nicht.« Die große Familie kann nicht zusammenkommen, und das bedrückt den alten Mann. Er selbst und seine Frau sind wenigstens auf dem Land untergekommen, wo sie in der kalten Jahreszeit heizen können. »Wir machen uns viele Sorgen um Euch alle, jetzt vor allen Dingen wegen des Brennmaterials, wir auf dem Lande können noch etwas besorgen, aber die in den Städten sind sehr schlimm dran.« Da er aus der Ferne nicht helfen kann, muss er sich auf Weihnachtsgrüße an die Tochter und die Enkelkinder beschränken. »Weihnachten verlebt dieses Jahr, wie es uns die Verhältnisse gestatten, und Dir, mein Lottchen, schicke ich als Weihnachtsmann diese Kleinigkeit, mög es Dir gut zu statten kommen. Wenn Eure Zeit es gestattet, so laßt von Euch hören, denn jedes Briefchen von Euch erfreut uns beide sehr. Und nun lebt recht herzlich wohl, alle meine lieben Kinder, und seid alle geherzt und geküßt von Euren alten Eltern.«
Im folgenden Jahr schwinden Friedrich Biellas Kräfte. Es weiß nun, dass es sinnlos ist, bei der Kommandantur nachzufragen, denn eine Rückkehr in die masurische Heimat ist unmöglich. Im Winter stirbt er mit 73 Jahren an Heimweh.1 Für Friedrich Biella aus Masuren erfüllt sich sein größter Wunsch, die Rückkehr in die Heimat, nicht mehr. In der Weltchronik über das Fliehen steht seine Geschichte für Abermillionen ähnlicher Schicksale.
Flüchtlinge, ganz gleich, ob es sich um Fremde oder Landsleute handelt, sind gewöhnlich nicht willkommen. Daran hat sich im Laufe der Jahrhunderte nichts geändert. Im August 2019 ist an der Eingangstür des Mayhill Convenience Store im US-Bundesstaat New Mexico ein Schild angebracht mit der Aufschrift »Illegal Immigrants NOT Welcome Here«. 2014 fordern Dresdener Demonstranten auf Plakaten »Bitte weiterflüchten«, und britische Rechtsextreme halten Banner mit der Aufschrift »Refugees go home« in die Höhe. Noch deutlicher lassen sich das Unverständnis und die Ignoranz in den Aufnahmegesellschaften nicht zum Ausdruck bringen. Flüchtlinge können nicht einfach weiterflüchten, und sie würden nichts lieber tun, als nach Hause zurückkehren, aber genau das können sie nicht. Wo auch immer sie stranden, sie stören. Auf die Sesshaften wirken sie wie Heuschreckenschwärme, die über ihre geordnete Welt herfallen und abgewehrt werden müssen. Nicht selten werden sie als Illegale und Asoziale beschimpft.
»Wie müde sie aussehen, wie erhitzt sie sind«, wiederholten die Leute, aber keiner kam auf den Gedanken, seine Tür zu öffnen, einen dieser Unglücklichen zu sich einzuladen, ihn in eines jener kleinen schattigen Paradiese zu bitten, die hinter dem Haus zu erahnen waren, mit einer Holzbank unter einer Laube, Johannisbeersträuchern und Rosen. Es gab zu viele Flüchtlinge … Das schreckte die Nächstenliebe ab. Diese jammervolle Menge hatte nichts Menschliches mehr; sie ähnelte einer fliehenden Herde.2
Es ist kein Zufall, dass diesen Zeilen nicht zu entnehmen ist, um welches Land, welche Zeit und welche Flüchtlinge es sich handelt. Die unzähligen Geschichten von Flucht vor Gewalt und Krieg ähneln sich so sehr, dass sie zu einer einzigen großen zu verschmelzen scheinen. In diesem Fall beschreibt Irène Némirovsky in ihrem Roman Suite française, wie französische Flüchtlinge im Sommer 1940 vor der deutschen Wehrmacht fliehen. Ihnen ergeht es nicht viel anders als dem ostpreußischen Jungen Olaf, der 1945 im bayerischen Chiemgau um Lebensmittel bettelt. »Verschwind’s, damisches Gesindel!«, rufen Bauern hinter ihm her und lassen die Hunde von der Kette. »Hinaus mit den Flüchtlingen aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft – dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!«, fordern Bayern auf einem anonymen Plakat. Im Raum Hannover schimpfen Einheimische: »Die Zigeuner aus dem Osten verpesten unser Land.« Und auf einem Bauernhof im Münsterland muss eine junge westpreußische Vertriebene mit anhören, was man über sie sagt: »Dieses dämliche Stückchen Polackenscheiße dachte, wir würden die alten Polacken aufnehmen.«3 Die Millionen deutschen Landsleute aus Ostpreußen, Böhmen oder Schlesien sind jenseits von Oder und Neiße einfach nur die Flüchtlinge, und sie sind keineswegs willkommen, sondern werden als bedrohliche Störung empfunden.
Ebenso ergeht es den Menschen aus Syrien, aus Afghanistan oder den Staaten Afrikas, die heute nach Europa kommen. Wer sich für sie einsetzt, läuft Gefahr, als »Gutmensch« verhöhnt zu werden. Zynische Politiker scheuen sich nicht, die Schutzsuchenden herabzusetzen. Matteo Salvini etwa bezeichnete 2018, als er noch italienischer Innenminister war, aus Seenot gerettete Flüchtlinge und Migranten als »Ladung Menschenfleisch«, und US-Präsident Donald Trump schmäht Immigranten ohne Papiere als »Tiere«, als »Mörder und Diebe«, die »unser Land infizieren«.4 Solchen Worten, das lehrt die Geschichte, drohen mörderische Taten zu folgen. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke appelliert auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« 2015 an das Mitgefühl seiner Landsleute und wird vier Jahre später von Rechtsextremisten auf der Terrasse seines Hauses hinterhältig ermordet.
Ob aus Syrien, aus Schlesien oder aus Myanmar, die Flüchtlinge sind eine beliebte Projektionsfläche für jene, die Angst haben, ins Hintertreffen zu geraten, die ihre Sicherheit bedroht sehen. Das individuelle Schicksal zählt nicht. Der Flüchtling, der ein Gesicht, einen Namen und eine persönliche Geschichte hat, wird nicht als Individuum wahrgenommen, sondern ausschließlich als Repräsentant eines anonymen Kollektivs. Was die Mitglieder dieses Kollektivs empfinden, hat die Syrerin Vinda Gouma beschrieben:
Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin! Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets, Erdogan und seine Demokratie, Putin und seine Politik. Ich war der Hauptgrund für das Scheitern der Regierungsbildung in Deutschland und für das Erstarken der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, Misshandlungen in den Familien, Umweltverschmutzung, Drogenkonsum, Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erziehern. Ich bin derjenige, der sich immer schuldig fühlt für die Fehler anderer Menschen. Ich bin derjenige, der sich immer schämt, Nachbarn zu begrüßen, wenn wieder irgendwo etwas passiert. Ich hafte für die Fehler jedes einzelnen und fühle mich bedroht von jedem Bericht in den Medien. Habt ihr mich erkannt? Ich bin die Flüchtlinge! Und es ist kein grammatikalischer Fehler aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse. Ich bin die Flüchtlinge! Und zwar alle Flüchtlinge. Ich bin kein Arzt, kein Jurist, weder Bauer noch Journalist, kein Künstler, kein Verkäufer, weder Taxifahrer noch Lehrer, sondern die Flüchtlinge. Obwohl ich auch aus einer kleinen Stadt in Syrien komme und für mich die Leute in Damaskus schon fremd waren, bin ich, seitdem ich in Europa bin, einer von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran und Afrika. Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedene Religionen und Vergangenheiten haben, geschweige denn Weltansichten und Meinungen. Aber wen interessieren solche Unterschiede, wir sind am Ende alle die Flüchtlinge. Ich habe durch den Krieg Freunde und Verwandte verloren, Wohnung, Job, Auto, meine Vergangenheit und meine Heimat. Aber ein Verlust, den ich erst später gespürt habe, ist meine Individualität, die ich am Schlauchboot an den Grenzen Europas zurückgelassen habe.5
Wie die Juristin aus Syrien empfinden Tausende ihrer Landsleute, die ein friedliches und bürgerliches Leben in ihrer Heimat führten, bis dort nach dem Arabischen Frühling 2011 der Bürgerkrieg ausbrach. Nie hatten sie gedacht, dass sie Syrien einmal verlassen, als mittellose Flüchtlinge irgendwo in der Fremde stranden würden.
Sabria Khalaf ist bereits 107 Jahre alt, als sie 2013 ihre syrische Heimat verlässt. Ihre Muttersprache ist Aramäisch, einst Lingua franca im Nahen Osten und Sprache Jesu. Gemeinsam mit ihrem Sohn Kanal flieht die jesidische Kurdin vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staates in die Türkei und weiter in einem Boot über die Ägäis nach Athen. Vier Tage treiben sie auf dem Meer, bis die griechische Küstenwache sie Ende Dezember rettet. Sabria Khalaf möchte nach Deutschland, weil dort bereits die übrige Familie lebt. Sie hofft, es noch »rechtzeitig« zu schaffen. »Zwei Tage bei meiner Familie, und ich kann ruhig sterben.« Doch 2014 gestaltet sich die Einreise schwierig, und so harrt die greise Frau in der Hoffnung, ihre Familie noch einmal wiederzusehen, wie Tausende andere in einem ärmlichen Athener Obdach aus.6
»Wisst ihr denn nicht, dass sich hinter diesen ›Zahlen‹ Menschen verbergen?«, fragt die israelische Premierministerin Golda Meir noch Jahre nach der Konferenz von Évian resigniert, wo auf Initiative des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen im Sommer 1938 über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und dem angeschlossenen Österreich verhandelten. Doch bis auf die USA zeigte sich dort kaum ein Land bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen.7 Die Flüchtlinge, diese gesichtslose Masse, erweckt kein Mitgefühl, vielmehr strahlt sie etwas Apokalyptisches aus und wird mit entsprechenden Metaphern aus der Natur charakterisiert: Flut, Lawine, Welle oder Strom. Die Flüchtlinge werden so zu einer Art Naturkatastrophe. »Köln versinkt in Flüchtlingsflut«, titelt Deutschlands größte Boulevardzeitung im Frühjahr 2015.8 Gegen eine derartige Flut kann man sich nur schützen, wenn man ausreichend hohe Dämme errichtet.
Als 2015 die »Flüchtlingswelle« über Deutschland hereinbricht, stehen Tausende auf den Bahnhöfen und heißen die Fremden willkommen. Millionen Deutsche kennen das Flüchtlingsschicksal aus der eigenen Familie oder sind sogar selbst Flüchtlinge gewesen. Die kollektive Fluchterfahrung prägt das Land weit mehr als viele andere Staaten und weit mehr, als es auf den ersten Blick sichtbar ist. Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird offenbar: Flüchtlinge verändern Gesellschaften.
Der gebürtige Danziger Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation »Cap Anamur« zur Rettung vietnamesischer Boatpeople, führt sein Engagement ausdrücklich auf eigene Erlebnisse zurück. »Die Bilder von damals«, schreibt Neudeck über seine Flucht 1945 aus Danzig, »blieben in mir gespeichert, prägten mein weiteres Leben – und machten mir etwas sehr Wichtiges klar: Eigentlich haben die meisten Menschen einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat. Und auch wer zu wissen meint, dass seine Familie schon immer da war, wo er jetzt lebt, sollte sich nicht so sicher fühlen. Es könnte durchaus sein, dass es ihn oder seine Nachkommen in Zukunft doch noch erwischt. Denn in uns allen steckt ein Flüchtling.«9
Anders als Rupert Neudeck betrachtet der eine oder andere Bundesbürger Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 immer noch als exklusives historisches Ereignis, weshalb sich der Vergleich mit anderen Fluchterfahrungen verbiete. Man unterscheidet zwischen »guten« Flüchtlingen, das sind jene, die der eigenen ethnischen Gruppe angehören, und »schlechten«, das sind alle anderen. Obwohl man über diese anderen meist nur sehr wenig weiß, ist man davon überzeugt, dass ein Teil von ihnen gar nichts erlitten habe, sondern nur ein besseres Leben suche. Dann wird Afghanistan schon einmal zum sicheren Herkunftsland erklärt, obwohl man selbst nie in das Land reisen würde, eben weil das Leben dort gefährlich ist.
»Auf die Flucht gehen«, hinter dieser Wendung verbirgt sich ein ungeheuerlicher Vorgang, der das gewöhnliche Vorstellungsvermögen sprengt. Die Fantasie reicht nicht aus, sich vorzustellen, wie es ist, alles zu verlieren. Flucht ist kein Abenteuer. Was zurückgelassen wird, ist für immer verloren. Im Augenblick des Aufbruchs macht sich dennoch kaum jemand klar, dass die Flucht ein Abschied für immer sein könnte. Was fühlt ein Bauer, wenn er sein Vieh zurücklassen muss, das seine Lebensgrundlage war, was bedeutet es für einen alten Menschen, ein letztes Mal sein Haus zu sehen oder gar Nachbarn und Angehörigen Lebewohl sagen zu müssen?
Obwohl Ursachen und Verhältnisse, die Menschen zur Flucht bewegen, sehr unterschiedlich sein können, ähneln sich die konkreten Erfahrungen der Flüchtlinge oft sehr. Jeder muss entscheiden: Was nehme ich mit auf die Flucht? Wie viel kann ich tragen, wenn ich zu Fuß unterwegs bin? Soll ich Wertsachen, Fotos, Schmuck und Dokumente einpacken oder besser Verpflegung für die kommenden Tage? Flucht ist eine Zäsur, die Aufkündigung einer ungeschriebenen und über Generationen gültigen Übereinkunft mit den Vorfahren. Denn alles, was auf Erbrecht fußt, gilt plötzlich nicht mehr. Testamente und Investitionen in die Zukunft, Grund und Boden, Sparbücher – im Moment der Flucht versinkt alles in Bedeutungslosigkeit. Wer flieht, muss seine Immobilien und große Teile seines übrigen materiellen Besitzes zurücklassen – und nicht zuletzt die Toten. Friedhöfe liegen verwaist, die Gräber wachsen zu. Niemand kommt mehr, um sie zu pflegen. Was bedeutet es für Alte, ihre Kinder auf die Flucht zu schicken und alleine zurückzubleiben?
1933 erhebt das nationalsozialistische Deutschland den Terror gegen Minderheiten zur Staatsräson. Deshalb sind Deutsche zunächst vor allem Vertreiber und diejenigen, die millionenfach Flucht, Vertreibung und Massenmord verantworten. Die Maßnahmen treffen alle, die nach rassistischen und politischen Kriterien nicht zur Volksgemeinschaft gehören, an erster Stelle die Juden.
Judith Kerr beschreibt in ihrem autobiographischen Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl die Flucht aus der Perspektive eines neunjährigen Mädchens. Die kleine Anna muss mit ihren Eltern kurz vor der sogenannten Machtergreifung Anfang 1933 aus Berlin in die Schweiz flüchten. Zurück bleibt – die Chiffre für Flucht im Kinderbuch überhaupt – ihr rosafarbenes Kaninchen, das mit dem Familienbesitz von den NS-Machthabern beschlagnahmt wird.10 Judith Kerrs Stofftier und ihre Geschichte gehören zur Erzählung von Entwurzelung und Heimatverlust, denn das »Wort Heimatvertreibung bekommt einen anderen, besseren Sinn«, so der Schriftsteller Heinrich Böll über die deutsche Erzählung, »wenn man deren Beginn auf 1933 festsetzt«.11
Diese Sichtweise auf die Ereignisse nach 1933 ist für viele Deutsche allerdings nur schwer zu akzeptieren. Sie trennt auch den Verleger Kurt Wolff und seine Tochter. Maria und ihr Bruder Niko sind Wolffs Kinder aus erster Ehe, die im nationalsozialistischen Deutschland bei ihrer Mutter zurückbleiben, während er, der linksliberale Intellektuelle jüdischer Herkunft, gemeinsam mit seiner zweiten Frau Helen fliehen muss. Zu seinen Autoren gehörten Franz Kafka, Franz Werfel oder Heinrich Mann, deren Werke seit 1933 aus Deutschland verbannt sind. Nach jahrelanger Odyssee trifft das Ehepaar Wolff 1941 in den USA ein. Im März 1946 nehmen Vater und Tochter einen Briefwechsel auf, in dem sich zwei Perspektiven auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft manifestieren und damit auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Maria beklagt sich bei ihrem im Exil lebenden Vater über die »Bitternis der letzten 12 Jahre«, wobei sie insbesondere die alliierten Bombenangriffe im Blick hat. Er antwortet in wohl abgewägten Worten, bemüht, seine Tochter nicht zu verletzen und ihr dennoch die Bedrängnisse von Verfolgten aus seiner Sicht klar vor Augen zu führen.
»In Frankreich bin ich vielen Opfern der deutschen Concentrationslager begegnet, Menschen mit zerschlagenen Knochen, Männer, die man entmannt hatte, zu physischen und psychischen Ruinen gemacht. Ich war in Frankreich während des Krieges bis 1941. Und als Euch die lieben deutschen Soldaten aus Paris seidene Strümpfe und Schokolade schickten oder mitbrachten, wurden die flüchtenden französischen Civilisten auf den Landstrassen« von deutschen Tieffliegern beschossen, »und ich, Dein Vater, flüchtete angsterfüllten Herzens zu Fuss in tagelangen Märschen, zerlumpt und gehetzt, um denselben lieben deutschen Soldaten nicht in die Hände zu fallen. (…) O Maria, Du beschreibst die Hölle der Jahre 1944/45. Wo war Euer Gewissen 1939 bis 1943? Warschau, Rotterdam, London, Coventry, Lidice, die Extermination von Hunderttausenden von Polen, Tschechen, Juden, Russen hat Euch nicht den Schlaf geraubt.«12
Kurt Wolff hält seiner Tochter stellvertretend für die Deutschen den Spiegel vor. Doch nicht einmal das Kind eines bereits 1933 geflohenen Mannes vermag sich ohne Hilfestellung in dessen Perspektive und Erfahrungen hineinzuversetzen.
Auch heute fällt es vielen immer noch schwer, sich in eigentlich naheliegende Erfahrungen einzufühlen. Wer heute auf Transparenten »Bitte weiterflüchten« fordert, weiß offensichtlich gar nicht, dass viele in der Generation der Eltern und Großeltern nach 1945 Zuflucht suchen mussten und auf Ablehnung stießen.
Nach Kriegsende, als in der Folge des Zweiten Weltkriegs vierzehn Millionen vertriebene Deutsche bei Deutschen eine Bleibe suchen, herrscht keine Willkommenskultur. Obwohl die Ostpreußen, Pommern, Schlesier, die Flüchtlinge aus der Batschka oder vom Schwarzen Meer eigentlich Landsleute sind, gelten sie im Westen als Fremde. Für die meisten Zeitgenossen kommen mitnichten Deutsche zu Deutschen, denn auch wenn man dieselbe Sprache spricht, gibt es doch große Unterschiede in den kulturellen, konfessionellen und mentalen Prägungen. Diese Unterschiede, die damals zu Spannungen führten, sind längst eingeebnet, was zeigt, wie sehr sich unsere Vorstellungen von Fremdheit im Laufe der Zeit verändert haben.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Menschen mit anderen und doch in vielem sehr ähnlichen Fluchtbiographien in Deutschland eingetroffen – aus Ungarn, Vietnam, aus der Türkei, aus Burundi oder der Sowjetunion. »Die existentielle Erfahrung eines Heimatverlustes ist Flüchtlingen auf der ganzen Welt gemein«, bringt es Bundespräsident Joachim Gauck 2016 auf den Punkt, »die tiefe Prägung durch eine häufig traumatische Flucht, die Trauer um das Verlorene, das Fremdsein im Ankunftsland, die Zerrissenheit zwischen dem Nicht-mehr-dort- und Noch-nicht-hier-Sein.«13
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen Flüchtlinge, die aufgrund nationaler, religiöser oder ethnischer Verfolgung ihre Heimat verlieren. Um eine Vielzahl von Stimmen einzufangen, lasse ich sie möglichst oft selbst zu Wort kommen, und zwar nicht gebündelt zu kulturellen oder politischen Gruppen, zwischen denen Hierarchien oder Konkurrenzen konstruiert werden, sondern als Individuen. Auf diese Weise suche ich die bislang dominierende Erzählung sesshafter Gesellschaften zu überwinden, vor allem die der Täter, die Menschen überhaupt erst zu Flüchtlingen machen. Nicht die Verantwortlichen und deren Absichten, nicht ihre Zahlenspiele und Statistiken stehen hier im Zentrum, sondern die Leidtragenden ihrer Entscheidungen.
Es geht um die Frage: Was bedeutet es für einen Menschen, Heimat für immer zu verlieren, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben? Wie lange währt nach dem Ankommen der transitorische Zustand im Exil, und ist er überhaupt zu überwinden? Heimatverlust ist für jeden Betroffenen eine fundamentale Zäsur, die das Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Aus der Perspektive von Flüchtlingen zu erzählen, bedeutet, die Weltgeschichte anders zu sehen.
Der Schwerpunkt meiner Erzählung liegt auf Europa und dem Nahen Osten. Dabei öffne ich den Blick immer wieder für andere globale Erfahrungen, denn außerhalb Europas ereignen sich gestern wie heute die großen Flüchtlingsdramen der Menschheitsgeschichte. Es wird erzählt von Individuen im Massenphänomen Flucht, von Ängsten, Träumen und Hoffnungen. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, weder gegen Staaten und Völker noch gegen Individuen, sondern vielmehr darum, Erfahrungszusammenhänge herauszuarbeiten.
Die Betroffenen erzählen immer nur ihre jeweils eigene Geschichte, jede ist nur ein Fragment vom großen Ganzen, und vielfach haben ihre Darstellungen etwas Unversöhnliches. Sie offenbaren Widersprüche, Ressentiments und innere Konflikte, aber zugleich sind die Identitäten der Erzähler steten Prozessen und im Verlauf der Ereignisse – vor allem durch die Zäsur des Heimatverlusts – Veränderungen unterworfen. Dabei zeigt sich, dass Flüchtlinge in ihrer Bedrängnis und in ihrer Angst geradezu erstaunliche Fähigkeiten entwickeln, sich auf neue Umstände einzustellen. Flüchtlinge auf die Rolle des Opfers zu reduzieren, hieße, ihnen Handlungs- und Entscheidungsspielräume abzusprechen.
Für meine Kernbotschaft greife ich auf unterschiedliche Quellen zurück: Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien von Flüchtlingen und ihren Nachfahren als Zeitzeugen, aber auch auf Reportagen von aktuellen Brennpunkten über Menschen auf der Flucht. Historiker verzichten meist auf Belletristik als Quelle, was bei diesem Thema zu bedauern ist, da die literarische Überlieferung gerade zum Heimatverlust viel zum Erkenntnisgewinn beitragen kann, denn viele Autoren verfügen über biographische Erfahrungen zum Thema Flucht und verarbeiten Erlebtes in ihren Werken. Künstler bleiben in ihrer Identität zwischen Realität und Kunst zerrissen, das ist die Grundlage ihrer kreativen Existenz. Doch gerade deshalb vermag die Literatur als Seismograph der leisen Zwischentöne zu wirken, die bei einem derartig emotionalen Sujet ansonsten kaum gehört werden.
Ich beziehe die Belletristik – wie auch die kraftvolle Stimme der Poesie – daher bewusst in die Erzählung ein. Sämtliche hier verwendeten Quellen von Betroffenen spiegeln jene Vielfalt der Stimmen wider, die alle ihre Version der Wahrheit erzählen. Diese Wahrheit kann aber ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Vielfach ergreifen Betroffene Partei oder werden zur Verbreitung gewisser Botschaften benutzt. Jede Quelle – ob aus Zeitzeugnissen oder aus der Belletristik – gibt immer nur einen Blick wieder, der niemals allgemeingültig sein kann. Aber viele Perspektiven gemeinsam vermitteln eine Ahnung von dem, was das Gesamtgeschehen ausmacht. Mitunter entstehen auch Ungleichgewichte, weil die Quellen gewöhnlich der Feder gebildeter Protagonisten entstammen, die ihr Schicksal reflektieren. Die meisten – unerzählten – Fluchtgeschichten erleben jedoch Menschen, von denen nicht einmal der Name überliefert ist.
Wenn ich kollektive Zuschreibungen wie Deutsche, Griechen oder Armenier übernehme, muss bedacht werden, dass sich dahinter einerseits individuelle und vor allem in höchstem Maße unterschiedliche Identitäten verbergen können, Individuen andererseits als Teile einer Gemeinschaft aber immer auch über kollektive Identitäten verfügen, die sie mit einer größeren Wir-Gruppe verbinden. Ich danke daher allen, die ihre oft dramatischen Erfahrungen vom Fliehen aufgeschrieben und mir oder anderen Menschen anvertraut haben, denn sie haben dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht. Ihre Geschichten sind unschätzbar wertvoll, und ich hoffe, dass ich sie mit dem Respekt wiedergegeben habe, den sie verdienen. Jede von ihnen erzählt von der globalen Katastrophe der Flucht.
Mein Dank gilt überdies den Kolleginnen und Kollegen in aller Welt, deren wichtige und zum Teil bahnbrechende Studien sowohl die Universalität als auch die bestürzende Aktualität des Flüchtlingsthemas unterstreichen. Bei dem umstrittenen Thema bleibt es nicht aus, dass ich Protagonisten heranziehe, deren Meinung ich nicht teile, auf deren Geschichten ich aber nicht verzichten kann, wenn ich der Pluralität der Stimmen und den unterschiedlichsten, auch den unversöhnlichsten Perspektiven gerecht werden will.14 Doch selbst wenn vieles erzählt wird, kann es niemals alles sein. Was ich nicht erwähne, ist immer mitgedacht und zumindest in den Kernaussagen enthalten.
Die Heimat für immer zu verlieren, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben, was das bedeutet, davon haben manche Gesellschaften nicht einmal die geringste Vorstellung. In Island etwa fehlt der entsprechende Erfahrungshintergrund vollkommen, da seine Bewohner – zu ihrem Glück – nie fliehen mussten. Eine Ostpreußin, die es dorthin verschlug, hat das erfahren, als sie »von der Flucht« erzählte. »Wohl hörte man ihr interessiert zu, aber dann kam die Frage: ›Ja, wurden eure Möbel denn nachgeschickt?‹«15
Auf derartig rührende Ahnungslosigkeit treffen Flüchtlinge in der Regel nicht. Viel weiter verbreitet ist der Verdacht, dass sie irgendetwas auf dem Kerbholz haben, denn »wer eine ehrliche Weste hat, wird nicht vertrieben«. Dass man sie für Diebe oder Kleinkriminelle auf der Flucht vor der Polizei hält, ist gerade für politische Flüchtlinge, die ihren Schergen entkommen sind, schwer zu ertragen. Oft haben sie in ihrer Heimat für bessere Verhältnisse gekämpft und leiden besonders unter dem Exil. Aber ganz gleich, aus welchen Gründen sich jemand auf die Flucht begibt, der Verlust der Heimat wiegt immer schwer.
Der kubanische Schriftsteller Reinaldo Arenas, der als politischer Dissident das Land seiner Geburt verlassen muss, schreibt, »daß es für einen Verbannten keinen Ort auf der Erde gibt, wo er leben kann«. Für die Heimat gebe es keinen Ersatz, »weil der Ort, wo wir geträumt, wo wir eine Landschaft entdeckt, das erste Buch gelesen und das erste Liebesabenteuer gehabt haben, immer das Land unserer Träume bleiben wird«. Im Exil sei er nur noch ein Gespenst, nicht mehr als ein Schatten, der vor sich selbst flieht.16 Und André Aciman, der aus einer jüdischen Familie in Alexandria stammt und seine ägyptische Heimat als Kind verlassen musste, meint, was das Exil zu einer derartig tückischen Angelegenheit mache, sei »weniger die Tatsache, weg zu sein, als vielmehr die Unmöglichkeit, jemals nicht weg zu sein – nicht allein abwesend zu sein, sondern sich niemals von dieser Abwesenheit befreien zu können«.17 Die verlorene Heimat ist stets da, ob Flüchtlinge das wollen oder nicht. »Im Verschwinden kleiner Dinge las ich Zeichen meiner eigenen Entwurzelung, meiner eigenen Vergänglichkeit«, so André Aciman weiter. »Ein Exilant liest Veränderung ebenso wie Zeit, Erinnerung, Liebe, Angst, Schönheit stets im Zeichen des Verlusts.«18 Nichts fürchte er mehr, als dass der Boden des Exils ihm verweigert, wieder Wurzeln zu schlagen.
Im Ankunftsland haben die, die schon da sind, die Deutungshoheit, sie allein definieren die kulturellen und sozialen Normen. Die Flüchtlinge begreifen sie nur zu oft als Bedrohung, denn sie stellen diese Besitzstände und Hierarchien infrage, und zwar nicht aus Überzeugung, sondern weil sie häufig mit der Kultur, der Sprache und der Religion der Aufnahmegesellschaft nicht vertraut sind. Zuweilen wird schon ihre bloße Anwesenheit als bedrohlich wahrgenommen. Flüchtlinge stehen am Rand und müssen um Einlass bitten, und dennoch sind sie nicht nur Spielball politischer Entscheidungen, die von Sesshaften getroffen werden, sondern als globales und Gesellschaften herausforderndes Phänomen zentraler Akteur der Moderne – heute mehr denn je.
Das Uneindeutige endet nicht mit der Flucht. Opfer können zuvor Täter gewesen sein und ebenso umgekehrt. Bei Vertreibungen zeigt sich nicht selten das Wechselspiel von Gewalt.19 Vertriebene bemühen sich energisch um die Anerkennung ihres Verlusts, insbesondere wenn sie als Interessenvertretung organisiert sind, und pochen auf ihren Opferstatus. Sie sind hilflose, manchmal ungelenke Versehrte und treten zugleich kraftmeierisch auf. Deutsche Vertriebene fordern von Polen und der Tschechischen Republik, die Vertreibung der Deutschen als Unrecht anzuerkennen, das Gleiche fordern Italiener von Slowenen und Kroaten, Polen von Ukrainern, Griechen von Türken, Krimtataren von Russen. Die Liste reicht bis in die jüngste Gegenwart, wie die juristischen Auseinandersetzungen in Myanmar zeigen, wo die muslimischen Rohingya von ihren buddhistischen Landsleuten vertrieben wurden. Flucht und Vertreibung sind oft das Ergebnis von Verstrickungen, von Fragen nach Schuld und Verantwortung, von Instrumentalisierungen oder einer Politik der Revanche, die Gesellschaften und Staaten spalten können. Es gilt, solchen Versuchungen möglichst souverän die Stirn zu bieten und vor allem die Spannungen und Widersprüche auszuhalten.
Geschichten vom erzwungenen Fortgehen, von den gefährlichen Fluchtrouten, vom Ankommen, von Heimweh, Anpassung, Schweigen, von Tabus und Traumata gibt es in allen Sprachen, Kulturen, Religionen und Weltanschauungen. Fremd zu sein ist eine Erfahrung, die Menschen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten gemacht haben und machen. Es ist ein Schicksal, das ihnen von anderen aufgezwungen wird. Der Flüchtling ist ein Entwurzelter, den der Schatten der Erinnerung niemals verlässt, der ihn manchmal sogar über den Tod hinaus begleitet, wie die Schriftstellerin Olga Tokarczuk aus der eigenen Familie zu berichten weiß: »In privaten Erinnerungen, in Familienerzählungen kehrt das Drama mit der Hartnäckigkeit eines Albtraums wieder – zerrissene Familienbande, verschollene Familienmitglieder, verbrannte Dokumente, eine unbestimmte Nostalgie nach den Geburtsorten, die Faszination von Gegenständen, die im Chaos dauerhafter zu sein scheinen als die Menschen und die Erinnerung an sie; das Gefühl der Fremdheit in einer Welt, die man sich erst und immer wieder zu Eigen machen muss, ihre Undurchschaubarkeit, und das Empfinden, Unrecht erlitten zu haben.«20
Was bedeutet es für einen Menschen, die Heimat für immer zu verlieren, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben? Dem polnischen Dichter Zbigniew Herbert erscheint seine verlorene Heimat Lemberg – das heutige ukrainische Lwiw und einst polnische Lwów – in dem Gedicht »Kraj« (Das Land) wie eine Traumwelt, die ihm durch Krieg und Nachkrieg genommen wird:
Im äußersten winkel der alten karte liegt das land, nach dem ich mich sehne. Es ist die heimat der äpfel, hügel, der trägen flüsse, des herben weines und der liebe. Leider hat eine riesige spinne darüber ihr netz gesponnen und mit klebrigem speichel die schranken der träume geschlossen. So ist es immer: der engel mit dem feuerschwert, die spinne, das gewissen.21
Das Heimweh von Zbigniew Herbert ist so unermesslich wie das jedes einzelnen Kareliers, Ukrainers, Darfuri, irakischen Juden, Inders oder Syrers im Exil. Indem sie ihre Geschichten erzählen, entsteht eine »Pluralität von Wahrheiten« über die erzwungene Entwurzelung. Trecks, Abschiebe- und Auffanglager, Massengräber, die Toten am Straßenrand sind keineswegs nur Erscheinungen aus dem Europa der Weltkriegsepoche,22 sondern universale Erfahrungen.
Sabria Khalaf und Vinda Gouma aus Syrien, Judith Kerr aus Berlin und Zbigniew Herbert aus Lemberg, Friedrich Biella aus Masuren, Rupert Neudeck aus Danzig, Reinaldo Arenas aus Havanna und André Aciman aus Alexandria – sie alle erzählen eine Geschichte, verleihen den Flüchtlingen eine Stimme. »Viele der Stimmlosen erzählen eigentlich die ganze Zeit. Sie sind laut, wenn du ihnen nur nah genug kommst, um sie zu hören, wenn du fähig bist zuzuhören und wenn du das spürst, was du nicht hören kannst«,23 sagt der Schriftsteller Viet Thanh Nguyen über die Flüchtlinge, zu denen auch er gehört. Es kann jeden treffen, deshalb gehen die Geschichten von Flucht und Vertreibung alle an.
Leider sahen wir noch genug der Armen vorbeiziehn,
Konnten einzeln erfahren, wie bitter die schmerzliche Flucht sei,
Und wie froh das Gefühl des eilig geretteten Lebens.
Traurig war es zu sehn, die mannigfaltige Habe,
Die ein Haus nur verbirgt, das wohlversehne, und die ein
Guter Wirt umher an die rechten Stellen gesetzt hat,
Immer bereit zum Gebrauche, denn alles ist nötig und nützlich;
Nun zu sehen das alles, auf mancherlei Wagen und Karren
Durch einander geladen, mit Übereilung geflüchtet.
JOHANN WOLFGANG GOETHE,
Hermann und Dorothea