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Der Sturz des Raben

Buch

Die finsteren Könige der Tiefe gewinnen immer mehr an Macht, und die Namenlosen – jene Götter, die die freien Menschen beschützen – müssen lernen, was es heißt zu sterben. Da holen die Könige der Tiefe zum letzten, alles vernichtenden Schlag aus. Nur ein Mann kann sie aufhalten. Ein Mann, der tiefer in die magische Öde des Elends eingedrungen ist als jeder andere. Ein Mann, der nun die Verderbnis des Elends selbst in sich trägt. Und doch sind die letzten Verteidiger der Freiheit bereit, ihm in eine verzweifelte Schlacht zu folgen. Es ist Ryhalt Galharrow, der letzte Kommandant der Rabenschwingen!

Autor

Ed McDonald hat viele Jahre lang zwischen verschiedenen Berufen, Städten und Ländern gewechselt, und das Einzige, was ihnen gemeinsam war, ist, dass sie ihm genug Zeit zum Schreiben gelassen haben. Derzeit lebt er mit seiner Frau in London, einer Stadt, die ihn ständig inspiriert und wo er als Universitätsdozent arbeitet. Wenn er nicht schreibt oder sich mit schlechten Handlungssträngen abmüht, kann man ihn beim Fechten antreffen – mit Langschwertern, Rapiers und Langäxten.

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ED McDONALD

DER STURZ

DES RABEN

ROMAN

Aus dem Englischen
von Ruggero Leò

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Crowfall (Raven’s Mark 3)« bei Gollancz, London 2019.


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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Ed McDonald
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Covergestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft nach einer Originalvorlage
von Orionbooks/Gollancz
Coverdesign: © Bionic Media/Orion Books
Covermotiv: © Shutterstock.com
Karte: © by Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-21634-4
V001

www.blanvalet.de

Der hier ist für Mum und Dad.

Was bisher geschah

Die Namenlosen und die Könige aus der Tiefe liegen schon länger im Krieg, als die Menschen zurückdenken können. Die Könige wollen die Menschheit versklaven und in Hörige verwandeln – unterworfene, deformierte Geschöpfe, die ihre Herren verehren. Die Namenlosen, grausam und nur am finalen Sieg interessiert, stellen sich ihnen entgegen.

Neunzig Jahre sind vergangen, seit Krähfuß das Herz der Leere gegen die anrückende Armee des Feindes entfesselte. Dabei erschuf er das sogenannte Elend – ein mysteriöses, giftiges Ödland, in dem Geister und mutierte Wesen durch den Sand streifen und jeder Sinn für Entfernung oder Richtung trügt. Nur Spezialisten sind imstande, sich dort anhand der drei Monde zu orientieren und eine Route zu errechnen.

Ryhalt Galharrow ist ein Hauptmann der Schwarzschwingen, magisch gebunden an seinen Herrn Krähfuß, einen Namenlosen. Er hat den Auftrag, Dissidenten, Verräter und Spione auszumerzen. Mit der Hilfe von Ezabeth Tanza – einer Lichtspinnerin, die Lichtenergie in Magie umwandeln konnte und die er vor zwanzig Jahren liebte und verlor – gelang es den Namenlosen, Shavada, einen König aus der Tiefe, zu vernichten und Valengrad zu retten. Dabei verbrannte Ezabeth, doch ihr Geist ging ins Licht über, wo sie als Spektralwesen weiterlebt, das sich nur selten zeigt.

Vier Jahre später erhob sich ein alter Feind – Saravor, ein Hexenmeister, der sich auf die dunkle Kunst des Flickens versteht und vor einer Weile die Schwertkämpferin Nenn heilte. Auf der Spitze des Stiftsturms wollte Saravor Shavadas Auge aufladen und selbst zu einem König aus der Tiefe aufsteigen. Es gelang Galharrow mithilfe von Ezabeths Geist und Valiya, der Leiterin seines Geheimdienstes, die Katastrophe zu verhindern. Im Endkampf verlor Nenn ihr Leben, und ein gewaltiger Energiestrahl fegte Shavada von der Plattform des Stiftsturms.

Obwohl die Stadt gerettet war, entschloss sich Galharrows Mündel Amaira, ebenfalls das Rabenmal anzunehmen und fortan den Namenlosen zu dienen. Valiya begriff, dass die Gefühle, die sie und Galharrow füreinander hegten, nur zu Schmerz führen würden, und entschied sich für die schmerzliche Trennung von ihm.

Seither sind Jahre verstrichen.

Die nächste Mondkonvergenz steht bevor.

1

Ich warf mich in den Sand. Sie hatten mich nicht gesehen, und ich wusste nicht genau, mit wie vielen Gegnern ich es zu tun hatte. Nur dass ich viele von ihnen töten müsste.

»Wie ist der Plan?«, fragte Nenn. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Felsen und kratzte sich die Schwarzholzfasern aus den Zähnen.

»Entweder verschwinden wir, oder wir sind weiterhin still«, antwortete ich leise. »Wenn sie dich sehen, geht das Ganze ziemlich schnell nach hinten los.«

»Du hast mir beigebracht, nie gegen eine Übermacht zu kämpfen.« Nenn bekam die Faser zu fassen und warf sie in den Sand, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwand.

»Ich hab dir beigebracht, mit Verstand zu kämpfen«, knurrte ich. »Auch wenn uns das bisher nie was gebracht hat.«

Nenn dachte darüber nach und schnaubte verächtlich. »Zumindest hatten wir Spaß.«

»Würdest du zur Abwechslung mal tun, was ich sage, und verdammt noch mal die Klappe halten?«

Ich kroch vor, um eine bessere Sicht auf die trostlose Felslandschaft am Fuß des Hangs zu bekommen. Wogende braune Wedel wuchsen aus dem roten Sand, die jedoch eher an Wolle als an Pflanzen erinnerten. Das Elend wusste nicht mehr genau, was hier was sein sollte, dennoch boten mir die Büschel der merkwürdigen Vegetation ein wenig Deckung. Ich zog mein Fernrohr hervor und beäugte damit die Gegner vor uns. Zählte rasch durch. Mir gefiel nicht, was ich sah.

Ein Trupp aus Hörigen und eine Kolonne bepackter Ersatzpferde näherten sich aus der Richtung, in der momentan Osten lag. Eigentlich schickten weder die Großallianz noch die Hörigen Soldaten so tief ins Elend – das hatte erst in den letzten Monaten begonnen –, denn hier war die Magie mitunter besonders intensiv, weich und formbar. Die Gegend zog die großen Biester an; vielleicht kamen sie auch hier zur Welt, wo die giftige Energie die flaue Luft mit ihrem chemischen Geruch schwängerte. Die erste Patrouille der Hörigen, die hatte herkommen wollen, hatte sich womöglich verirrt. Die zweite auch. Die dritte hatte mich gefunden, und drei Patrouillen waren zu viel.

Meine rasche Zählung ergab: dreißig Hörige.

»Was hast du vor?« Nenn rieb sich den Bauch, als würde sie ihn sich am liebsten aufschneiden und nachsehen, was sich darin befand. Mitunter tat sie das sogar. Und manchmal widerte mich das nicht an. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Dafür war ich der lebende Beweis.

»Ich gehe vor wie immer«, antwortete ich, obwohl Nenn sich gewiss nicht daran erinnerte. Geister sind außerstande, etwas zu lernen.

Ich nahm meine Muskete aus der Leinentasche. An mir selbst gab es nicht viel, was nicht schäbig oder ausgefranst war, mein Gewehr hingegen pflegte ich gut. Ich nahm es nur dann aus dem Tuch, wenn ich es abfeuern wollte, und packte es danach gleich wieder ein. Ich biss die Kappe des Pulverfläschchens ab, schüttete die Ladung in den Lauf, stopfte sie fest und spuckte aufs Pflaster. Ich hatte nur noch drei Musketenkugeln übrig. Wie lange war ich schon nicht mehr in der Stadt gewesen, um Nachschub zu kaufen? Ich wusste es nicht mehr. Doch für das, was ich im Sinn hatte, genügte ein Schuss.

Bei der Hörigen-Patrouille schien es sich um eine neue Zucht zu handeln. Hörige wiesen die unterschiedlichsten Formen auf, angefangen bei den aufgequollenen Bräuten bis hin zu den Kriegern mit wachsgrauer Haut, aber die hier hatten einen bläulichen Hautton und nur wenig ihrer Menschlichkeit bewahrt. Trotz der Entfernung erkannte ich durchs Fernrohr, dass ihre Gesichter keine markanten Züge aufwiesen, sondern eher einer glatten glitzernden Hautfläche glichen. Ihre Augen sahen aus wie schwarze Kugeln, die Münder waren kaum mehr als Schlitze. Keine Nasen. Sie ritten in enger Formation auf zotteligen, vierbeinigen Bestien, denen bislang kein dortmärkischer Gelehrter einen Namen gegeben hatte. Die Tiere hatten massige Leiber, liefen langsam und stammten vermutlich aus einem fernen, eroberten Land. Ich nannte sie Hurks, nach den Lauten, die sie ausstießen. Die Hörigen waren mit schweren Armbrüsten und Lanzen bewaffnet, trugen hochwertige Rüstungen, Klingen und Hämmer. Gut ausgestattet.

Und sie jagten mich. Hier draußen gab es außer mir niemanden.

Ich brachte das Fernrohr auf dem Musketenlauf an. Es gab nicht viele Fernrohre wie meins auf der Welt. Vielleicht sogar kein zweites. Dank Maldons Kunstfertigkeit zog es sich automatisch ein und stellte sich auf die jeweilige Entfernung scharf. Ich hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, doch es hatte mich von einem Durchschnittsschützen zu einer Gefahr für jeden Scharfschützen gemacht. Ich suchte mir das richtige Ziel aus.

Der Anführer war leicht zu erkennen. Er trug mehr Gebetsbänder um die muskulösen Arme als der Rest, Dutzende, auf denen Kritzeleien in roter und schwarzer Tinte von seinem Glauben zeugten. Sein Gesicht war leichenblau und so merkmalslos wie bei den anderen, sein Brustpanzer hingegen wies eine Blattgoldprägung auf: das Mal von Acradius, einem König aus der Tiefe. Ein Sklavenmal, das er wie einen Orden trug. Ich zielte zwischen die Augen des Hauptmanns und schwenkte dann weiter. Wenn ich ihn tötete, würde sein Stellvertreter ihn ersetzen, und ich hatte nur einen einzigen Schuss. Der musste zählen.

Ich fand mein Ziel in der Mitte der langsamen Kolonne. Der Hörige war schmächtiger als seine Kameraden ringsum, wies eine andere Form auf. Seine Nase, die Lippen und das Haar zeigten noch entfernt menschliche Merkmale. Er trug eine altmodische, reich verzierte Bronzerüstung: ein Zeichen der Ehrbezeugung für seinen Meister. Ich wusste nicht genau, ob meine Muskete auf diese Entfernung genug Durchschlagskraft für die Rüstung hätte. Der Hörige war in der Kolonne wohl am ungefährlichsten von allen, trotzdem war er derjenige, auf den es ankam. Das Instrument, das er trug, ließ ihn hervorstechen: ein Astrolabium, mit dem man die Mondpositionen messen konnte. Ein Gewirr aus Messingzahnrädern und Linsen, dicke und dünne. Er war der Navigator, der die Monde las, denn nur sie wiesen im Elend die nötige Konstanz für eine Kursberechnung auf.

»Du hast bloß einen Schuss«, sagte Nenn. »Den sie hören werden.«

»Danke. Wusste ich gar nicht«, antwortete ich. »Was schert dich das überhaupt?«

Grinsend zuckte sie mit den Achseln.

Ich hasste Nenns Geist. Mir war klar, dass sie nicht echt war, trotzdem reagierte ich auf sie wie zu ihren Lebzeiten. Auch das hasste ich.

Ich zündete die Musketenlunte an, bereit, das Pulver in der Pfanne zu entfachen. Der säuerliche Rauch stieg mir in die Nase, der Duft eines guten alten Freundes. Ich atmete ihn ein. Den herben Geruch des Elends nahm ich kaum noch wahr. Ebenfalls etwas, an das ich mich mit der Zeit gewöhnt hatte. Und Zeit hatte ich genug gehabt. Sechs Jahre, um genau zu sein.

»Glaubst du, sie werden dich töten, wenn du schießt?«, fragte Nenn.

»Sie werden’s versuchen.«

Ich visierte mein Ziel an. Erwog, dem Navigator eine Bleikugel durch den Kopf zu jagen, doch die Hörigen hatten dicke Schädel, und nicht jeder Treffer war tödlich. Ich hatte ein besseres Ziel. Ein Schweißtropfen rann mir die Wange hinab. Langsam atmete ich aus, bis meine Lunge leer war, und lauschte auf meinen Herzschlag.

Der Abzug klickte, das Pulver entzündete sich, das Gewehr donnerte, und das Messingastrolabium in den Händen des Navigators zerplatzte in zahllose Metall- und Glassplitter. Die Kugel flog weiter, durchschlug seinen bronzenen Brustpanzer und trat auf der Rückseite aus. Die Lasttiere ringsum schrien auf, die kaputten Messingskalen, Ringe und Stangen fielen dem Navigator aus den zuckenden Fingern, dann kippte er aus dem Sattel.

Von diesem Moment an waren sie alle tot, so sicher, als hätte ich jedem von ihnen eine Kugel in den Kopf gejagt. Das Einzige, was du im Elend niemals verlieren darfst, ist dein Navigator. Im endlosen Sand rotiert die Kompassnadel, und die Landmarken bekommen Beine und tauchen irgendwo anders wieder auf. So tief im Elend hatten die Hörigen schlechtere Chancen, es nach Dhojara zurück zu schaffen, als ich, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.

»Was, wenn sie einen zweiten Navigator haben?«, fragte Nenn.

Ich richtete mein Zielfernrohr auf den getroffenen Hörigen. Die anderen umschwärmten ihn, wollten ihn mit ihren Körpern abschirmen.

»Sie haben nie mehr als einen dabei«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, aus was für einer Zucht die blauen stammen, aber ohne ihn finden sie nicht nach Hause zurück. Sieh dir den Hauptmann an. Er hat gerade erst begriffen, dass er komplett im Arsch ist.« Ich schaute nach rechts, doch Nenn war inzwischen links von mir wieder aufgetaucht. Sie erwiderte mein wildes Grinsen.

Die Hörigen grinsten nicht. Sie erhoben die Stimmen zu einem wütenden Klageschrei und zückten die Klingen. Ihre verzierten Rüstungen zeigten eingravierte Gebete der Bewunderung für ihre Gottkönige, und ihre Fürbitten flatterten auf beschrifteten Schmuckbändern im Wind. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass keiner von ihnen innig genug gebetet hatte.

»Bist du sicher, dass du das durchdacht hast?«, fragte Nenn.

»Das fragst du mich immer.«

»Wie willst du sie alle töten?«

»Muss ich nicht.«

Inzwischen hatten mich die Hörigen entdeckt, die blanken Gesichter und bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf die emporsteigende Wolke meines Pulverrauchs. Sie wussten, auf diese Entfernung würden sie mich mit ihren Armbrustbolzen wohl verfehlen. Davon abgesehen war ich bloß ein einzelner Gegner. Ich erhob mich, damit sie mich besser sehen konnten, und lud nach. Ich öffnete die zweite Pulverflasche und nahm die nächste Kugel zur Hand.

Die Hörigen traten die gehörnten Hurks, die sich mir in trägem Passgang näherten. Ihre Hufe donnerten auf Geröll und Sand, während sie den Hang erklommen. Sie waren wütend und überrascht, eine Kombination, die Menschen und Monster gleichermaßen zu Dummheiten verleitet.

»Schlechte Karten«, sagte Nenns Geist. Ich schüttelte den Kopf. Die anstürmenden Hörigen waren bereits tot, sie hatten es nur noch nicht begriffen. Ich biss die Zähne zusammen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war zuversichtlich und hatte einen Plan, aber fiese Pläne gehen dummerweise oft nach hinten los.

»Kommt schon, ihr Bastarde«, rief ich. »Kommt und holt mich.« Ich blickte durchs Fernrohr, das sich netterweise auf die schrumpfende Distanz einstellte. Die Hörigen preschten mir entgegen, die Hufe der Reittiere wirbelten Sand auf. Der vorderste Reiter fauchte, sein lippenloser Mund stieß ein dumpfes Summen aus; er trat sein Tier mit den Fersen, das Krummschwert in die Luft gereckt. Mein Gewehr spie Rauch und Feuer, und sein Hinterkopf explodierte. Hirn und Knochen spritzten auf die nachfolgenden Krieger, ehe er tot aus dem Sattel fiel.

Kugel und Pulver waren an ihn vergeudet. Ich hätte ihn nicht töten müssen, doch unter Beschuss spornten die Hörigen ihre Bestien noch stärker an. Sie brüllten vor Wut, ihr Bedürfnis, mehr als nur Hoffnungslosigkeit zu empfinden, befeuerte sie. Hörige sind nicht wie wir. Sie messen die Zeit eher durch die großen Gedanken ihrer Meister als in Jahren, doch selbst sie mussten inzwischen kapiert haben, dass sie nach dem Tod ihres Navigators nie wieder die Stimmen ihrer Götter hören würden.

Die Horde raste genau durch die Farnwedel, die lautlos und flach auf dem Sand lagen, durchsichtig wie Glas und ebenso scharf. Die Bestien hatten das Feld halb durchquert, als sich das Elendsgras aufrichtete, klirrend wie kleine Festglocken. Ein Geräusch von seltener Schönheit in der schwarzen Ödnis, das jedoch nur einen Augenblick währte, ehe es von Geschrei übertönt wurde. Die schwerfälligen Hurks stürzten zu Boden, scharfe Wedel durchschnitten ihnen die Beine, und binnen weniger Momente waren die glasartigen Pflanzen mit rotem Blut benetzt. Die hinteren Hörigen erreichten die Gestürzten und trampelten sie im Schwung des Sturmangriffs in den Sand.

Das Gras hatte gewartet, bis alle in seinen Fängen waren. Ich kniete nieder und legte die Hand auf den Sand. Spürte das Elend, den Makel der Welt, seine Macht. Schweigend dankte ich ihm.

Kreischen. Gebrüll. Das waren genau die Laute, die ich vom Feind hören wollte. Das Gebell und Geheul der Reittiere, der armen, dummen Geschöpfe. Das Elendsgras machte mit Hörigen und Hurks kurzen Prozess. Ich wusste nicht, ob es ein Bewusstsein besaß oder überhaupt dem Pflanzenreich zugeordnet werden konnte, doch die beweglichen Glaswedel peitschten auf die Verwundeten ein und schnappten nach ihnen. Die Wedel trennten Beine ab, und wo immer ein Höriger sich mit der Hand am Boden abstützte, schossen die Glasklingen hervor, durchbohrten Handflächen und schnitten Finger ab. Hatten die Wedel erst das Gewebe durchschlagen, sorgten ihre Widerhaken dafür, dass es kein Entrinnen gab. Ich lehnte mich zurück und ließ meine letzte Musketenkugel von Hand zu Hand rollen. Ich würde sie wohl nicht brauchen.

Am Fuß des Hangs stierte der Hauptmann zu mir hoch, während seine Soldaten jammernd starben. Man kann sich darauf verlassen, dass der Anführer immer zuletzt kämpft.

Ich grub meine Finger in den Sand. Ein seltsamer, fremdartiger Teil meiner Persönlichkeit war in mir zum Leben erwacht und verband sich mit dem verdorbenen Land. Ich spürte kaum noch, wie falsch sich das Prickeln in meinen Händen und im Rückgrat anfühlte. Das Gras auf dem Hang war zwar mit Schlemmen beschäftigt, wand sich um die letzten Überreste der Hörigen und zog sie in den klebrigen roten Sand, dennoch lauschte es mir. Ich sagte ihm, dass ich an ihm vorbeimusste, und das Elend erhörte mich. Es rang mit sich, aber nur kurz. Ein Teil von mir gehörte nach wie vor nicht zu ihm, ein fremder Aspekt, den es besitzen wollte. Inzwischen jedoch war ich für das Ödland zu etwas anderem als einem Menschen geworden – wie auch immer es mich wahrnahm. In der stillen Dunkelheit, in der sich einst meine Seele befunden hatte, spürte ich die stumme Zusicherung, dass das Gras mich in Ruhe lassen würde.

Das klingt alles ziemlich fantastisch, als hätte ich zu meiner Göttin gesprochen und sie hätte geantwortet, doch in Wahrheit nahm das Elend mich kaum wahr. Dazu war ich zu unbedeutend. Eine Fliege auf dem Arsch eines Elefanten.

Ich löschte die glimmende Lunte, verstaute das Gewehr in der Tasche und machte mich auf den Weg zum Hauptmann. Er versuchte gar nicht erst zu fliehen. Vor mir teilte sich das Gras, bis auf wenige junge Wedel ohne Widerhaken, die sich vergaßen und meine Stiefel durchbohrten. Bei meiner ersten Durchquerung eines Grasfelds hatte ich Angst gehabt. Mit den Jahren stumpft man jedoch bei den meisten Dingen ab. Der Hörige hingegen sah das Gras zum ersten Mal, und seine Fischaugen mit den riesigen Pupillen waren größer und breiter, als sie hätten sein sollen. Er stieg von seinem Reittier und stieß es an, woraufhin es sich von ihm entfernte. Der Hauptmann war stämmig. Nicht hochgewachsen, aber mit breitem Brustkorb und kräftigen Gliedmaßen. Die Tätowierungen auf den flachen Lippen zeigten die gleichen Sigillen, die die Hörigen für ihre Schutzgebete verwendeten, und das große Mal auf seiner Stirn, das ihn als Geschöpf von König Acradius kennzeichnete, schimmerte silbrig auf der matten, gummiartigen Haut. Sein Schwert sah aus wie das an meinem Gürtel, das ich von einem Wächter der Hörigen erbeutet hatte, draußen beim Kristallwald.

Wenige Schritte vor ihm blieb ich stehen. Nah genug, um ihn töten zu können. Der Hauptmann musterte mich. Er wusste mich nicht einzuschätzen. Das konnte ich ihm nicht verdenken. Ich sah nicht aus wie ein Mensch. Auch nicht wie ein Höriger, und er hatte soeben gesehen, wie ich durch das Elendsgras geschritten war, das seinen Trupp im Handumdrehen verschlungen hatte.

»Ich würde gern Worte mit dir wechseln, Diener des Acradius«, sagte ich. Eine förmliche Eröffnung, denn die Hörigen mögen es formell. Nach ihrer Gehirnwäsche verlieren sie für gewöhnlich jeden Sinn für Humor.

Es überraschte den Hauptmann, die Klick- und Summlaute seiner Sprache aus meinem Mund zu hören. Er scharrte mit den Füßen durch den Dreck, nahm eine Kampfhaltung ein und legte die Hand aufs Schwertheft. Ein einzelner Höriger stellte für mich keine Bedrohung dar, ganz gleich, wie tief sein Gott ihm das Besitzmal in den Kopf gestempelt hatte.

»Was bist du?«, fragte der Hauptmann.

»Ich bin ein Mensch.«

Nervös befingerte er sein Schwert, und ich legte meinen Rucksack und das Gewehr zu Boden, obwohl es nicht gut für den Leinenstoff war, mit dem Sand in Berührung zu kommen. Das Elend lässt Dinge schnell verrotten, Faser um Faser, bis nichts mehr übrig ist. Stoff, Eisen, Leute – es löst alles gleichermaßen auf.

»Du bist der Sohn des Elends?« Seine Augen verengten sich.

»Ich bin nur ein Mensch.«

»Nein. Du bist etwas anderes.« Er hatte recht.

»Ich bin kein gewöhnlicher Mensch«, erwiderte ich. »Dir ist klar, dass ich dich schon getötet habe, oder?«

Die kugelartigen, vorstehenden Augen des Hauptmanns schauten zur ausgebluteten Leiche des Navigators. »Ja.«

»Du hattest den Befehl, mich aufzuspüren. Warum?« Wollte man, dass die Hörigen konzentriert blieben, erwähnte man am besten ihre Herren bei jeder Gelegenheit. Sie waren besessen von ihnen.

»Du bist eine Abscheulichkeit. Die Götter erlauben deine Existenz nicht.« Der Hörige bleckte die dicken, kantigen Zähne. »Ich gehe gern in den Tod, solange ich dazu beitrage, dass die rechtmäßigen Herrscher dieser Welt am Ende ihren Thron besteigen. Endlich wird es Frieden geben.«

»Du kannst mich nicht töten«, sagte ich. »Wenigstens das solltest du kapiert haben.«

»Du kannst nicht dem Imperator aus der Tiefe trotzen«, erwiderte er im Ton absoluter Gewissheit.

Imperator? Ich ließ mir nichts anmerken, doch das Wort hallte laut in mir nach. »Stellt sich Acradius jetzt schon als Imperator über seine Brüder?«

»Er ist der Imperator«, antwortete der Hörige, als hätte ich in Frage gestellt, wo der Himmel zu finden sei. »Dein Tod ist nur eine Frage der Zeit. Verteidige dich.«

Wir zückten die Schwerter, und obwohl er Stärke und Geschick zeigte, war der Kampf rasch vorbei. Er wankte einige Schritte zurück, Blut lief aus einer Wunde an seinem Hals. Fassungslos, dass ich ihn so schnell getroffen hatte, sackte er auf die Knie.

Im Laufe der Jahre hatte ich mich sehr verändert. Inzwischen war ich fünfzig, aber kräftiger und flinker als ein halb so alter Mann. Vielleicht zu kräftig. Vielleicht zu flink. Ich war jetzt anders.

Als der Hauptmann aufs Gesicht kippte und in den Sand blutete, zerrte etwas sanft an meinem Bewusstsein. Das Gras. Es wollte die Leiche des Hauptmanns, kam jedoch nicht an sie heran. Ich war dankbar, dass es mich hatte passieren lassen, daher rollte ich den Toten den Hang hinauf, bis die glasartigen Halme ihn durchbohren und beißen konnten. Schon bald würde nicht mehr viel von ihm übrig sein. Das Gras wollte auch den Navigator, doch ich hatte keine Lust, den Hang ein zweites Mal hinaufzusteigen. Wenn ich mich überanstrengte, würde mich meine alte Beinwunde plagen, und davon abgesehen hatte ich andere Pläne mit dem Kadaver. Ich durchbohrte ihn mit dem Schwert des Hauptmanns und ließ ihn liegen.

Meine Arbeit war getan, trotzdem musste ich mich noch um die Hurks des Feindes kümmern. Zwar stellten sie keine Gefahr dar, würden aber die größeren Monstren des Elends anlocken. Die kleineren ließen mich grundsätzlich in Ruhe, die riesigen hingegen scherten sich einen Dreck darum, wie viel Elendsmagie ich in mich aufgenommen hatte. Kürzlich hatte ich einen gewaltigen schwarzen Umriss am Himmel gesehen, mit Skorpionschwänzen, breiten Schwingen und mehreren Köpfen. Das Geschöpf hatte eine Wolke öligen Rauchs hinter sich hergezogen – ein Shantar. Wie auch immer mich das Elend verändert hatte: Gegen eine solche Bestie würde ich keine Minute standhalten.

Ich hob den Blick und entdeckte eine Spur am Himmel, aber weit entfernt, in der Richtung, die vermutlich Süden war.

Mich beschlich das trostlose Gefühl, dass die Hörigen nicht die einzigen Wesen waren, die das Elend nach mir durchsuchten.

Die Hurks würden die Shantar anlocken – und alles andere, was hier vorüberkam. Ich durchwühlte mein Gepäck nach etwas Brauchbarem. Mein Dolch hatte in den letzten Monaten gelitten, die Klinge war schartig und spröde geworden, und ich war froh, Ersatz gekauft zu haben. Meine Stiefel waren in schlimmerem Zustand. Dummerweise würde mir nichts passen, was die Hörigen bei sich trugen. Mit den Reittieren fertigzuwerden war nicht schwer. Ich band sie zusammen, lud das Gewehr, allerdings ohne Kugel, und feuerte. Der Schuss aus nächster Nähe versetzte die schlichten Tiere in Panik. Blindlings rannten sie los, in dieselbe Richtung wie zuletzt ihre früheren Besitzer. Das Gras schuldete mir ein Dankeschön.

Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen. Ich wusste, aus welcher Richtung ich gekommen war, doch das bedeutete nicht, dass das auch mein Rückweg wäre. Ich kniete nieder und legte die Hand auf den Schotter des Elends. Die Magie strömte in mich wie eine Infektion, eine Verderbnis, die in alle Dinge eindringen und mit Dunkelheit erfüllen wollte. Ich atmete ein, schmeckte die Fäulnis im Gaumen, aber ich hatte den Brodem hier draußen schon so lange eingeatmet, dass er einen bittersüßen Beigeschmack angenommen hatte. Ich vergrub die Hand in der Erde, atmete aus und ließ mir vom Elend sagen, wo heute Norden lag.

Ich wurde Teil des Ödlands. Nicht eins mit ihm, dazu war es viel zu groß, aber wir teilten uns seine Sinne.

Durch sie spürte ich ihn. In der Ferne. Gewaltig. Irgendwie war er vom Ganzen abgetrennt und zugleich doch auf komplizierte Weise mit der Essenz verbunden. Er war irgendwo da draußen, jenseits des Elends. Er litt Qualen und war geschwächt, nachdem er mit den übrigen Namenlosen die Welt ein zweites Mal verwundet hatte, um die Könige aus der Tiefe anzugreifen und den Aufstieg des Schläfers zu verhindern. Krähfuß. Mein Meister.

Der Himmel gab ein schmerzliches, leidvolles Schluchzen von sich. Rote Wolken, von giftschwarzen Adern durchsetzt, brauten sich im Osten zusammen. Der Giftregen war ein neuer Feind, selbst hier draußen. Er hatte mit dem Fall der Krähen begonnen und brachte entsetzliche Visionen und Wahnsinn über alle, die in ihn hineingerieten. Ich musste wieder in Deckung sein, ehe er mich erreichte.

Ich zückte den neuen Dolch und ritzte mir in den rechten Unterarm, in die blassen Narben über meinen alten Tätowierungen. Ein paar Tropfen Blut fielen auf den Sand des Elends, und es begrüßte mein Opfer. Ein Teil von mir verschmolz mit dem Ödland. Das war eine Art Handel. Ich nahm mir etwas, gab aber etwas als Gegenleistung.

Ich träumte mich in die Welt hinab und sah, wie das Land sich verändert, wie sich die Realität im Laufe der letzten Stunden, Monate und Mondzyklen verlagert hatte. Ich fand das Stete Haus, drehte mich in seine Richtung und lief los. Es hatte mich nur zwei Stunden gekostet, die Patrouille der Hörigen abzufangen, doch ich würde fünf für den Rückweg brauchen, vorbei an einem See aus schwarzem Teer, der zuvor nicht da gewesen war.

2

Die Wolken rückten schneller näher als erwartet. Sie tauchten die Welt in widerliche Farben, und ich rannte los.

Die verräterische Rauchsäule aus dem Kamin des Steten Hauses stieg vor mir gen Himmel. Das Gebäude stand auf einer Anhöhe, ein komfortables Landhaus in herrlich isolierter Lage.

Kaum etwas im Elend hatte das Herz der Leere überdauert, trotzdem war die katastrophale Entladung der Verderbnis keinen Regeln gefolgt. Während sie die Städte Kleer und Adrogorsk dem Erdboden gleichgemacht hatte, war dieses einzelne Landhaus lediglich aus der Zeit gerissen und hierhin versetzt worden. Es war eine unveränderliche Landmarke in der Struktur der Realität, eine Insel, gefangen in einer Zeitverzerrung. Das bedeutete, dass sich das Haus jeden Tag zurücksetzte, auf exakt denselben Zustand wie am Vortag.

Ich hatte es nur knapp hierhergeschafft und war noch hundert Schritt von meiner Zuflucht entfernt, als der Himmel aufriss. Ich zog mir die Kapuze über, als die zischenden Tropfen herabfielen, doch der Stoff nässte rasch durch. Ich spürte den Regen, stechend und brennend wie Nesselausschlag. Nenns Geist hatte sich verzogen – eine Schande, denn sie hätte am brennenden Regen vielleicht denselben Gefallen gefunden wie an ihren Chilis. Ich rannte schneller, wollte schnellstmöglich ein Dach über dem Kopf haben, ehe mir die giftigen Tropfen zu sehr die Haut verätzten. Visionen tanzten vor meinen Augen.

Wie immer klemmte die Tür ein wenig, doch ich stieß sie auf und war aus dem Regen heraus. Ich hängte den Mantel neben den stets brennenden Kamin und wischte mir mit einer alten Schürze das beißende Wasser von den Händen. Das Brennen war mir egal. Ich hatte schon Schlimmeres ertragen. Die Visionen, die damit einhergingen, waren die eigentliche Bedrohung. Wirbelnde, dunkle Bilder, kaum mehr als Eindrücke, das unerträgliche Gefühl zerrinnenden Sands zwischen meinen zittrigen Fingern. Ein Gesicht, das man nicht sehen konnte. Ferne Leben, die nacheinander zu Asche zerfielen. Anfangs hatte ich geglaubt, die Visionen ergäben einen Sinn, doch sie waren überwältigend, sinnlos, ein zartes Gewirr verzerrter Gedanken und flattrigen Schmerzes, Echos von unwissbaren Dingen. Jeder, der von ihnen übermannt wurde, redete anschließend tagelang wirres Zeug. Der schwarze Regen hatte mit dem Fall der Krähen begonnen. Viele waren gestorben. Noch mehr Kollateralschäden in Krähfuß’ endlosem Krieg.

Heute hatte ich keine Visionen. Ich war nicht nass genug. Ich streifte die durchnässte Kleidung ab, verkeilte die Tür und widmete mich wichtigen Dingen – ich trocknete meine Muskete und das Schwert ab. Das bisschen Ausrüstung, das ich hatte, war zu kostbar, als dass es Rost ansetzen durfte.

Ich hatte das Stete Haus vor langer Zeit entdeckt, in den Tagen, als ich beim Navigieren durchs Elend immer selbstsicherer geworden war. Damals hatte ich nur kurze Abstecher hierher unternommen. Einen Monat, vielleicht zwei. Mit der Zeit betrachtete ich das Stete Haus immer mehr als mein Eigentum, obwohl es aufgrund seiner zeitlosen Natur unmöglich zu besitzen war.

Sechs Jahre. Ich hatte fast sechs verdammte Jahre hier draußen verbracht, allein, abgesehen von den Geistern. Es war die Sache wert, redete ich mir ein. Wenn alles gesagt und getan wäre, wenn sich die Sache zuspitzte und ich über unseren Betrug hinwegsähe, wenn jeder tot wäre, der tot sein musste, dann würde die ganze Mühe Früchte tragen. Das musste ich mir einreden.

Das Haus war schlicht, ein gewöhnliches Bauernhaus aus einem gewöhnlichen Dorf, irgendwo vor der Stadt Kleer. Die Stadt hatte das Herz der Leere nicht überstanden, dieses Haus hingegen schon. Es stand frei auf einer Grasfläche, die niemals verdorrte und kein Wasser brauchte. Als die elementare Zerstörung die Welt ringsum verzerrt und neu geformt hatte, war dieses Haus von einem zufälligen Magiewirbel erfasst und versetzt worden. Es hatte noch Wände, einfache Fenster mit gelben Glasscheiben und ein Reetdach, das ausgebessert werden müsste, auf der Seite, die für gewöhnlich nach Norden zeigte. Es hatte Bauern gehört, das verrieten mir die Hippe, die Scheren, der Dreschflegel und die übrigen Geräte, die in einer Ecke auf einem Haufen lagen. Zum Zeitpunkt der Katastrophe hatte gerade jemand eine Suppe mit Lauch, Zwiebeln und drei kleinen Bissen Hammelfleisch gekocht. Ein Fleischstück war ein wenig größer als die anderen, und in einem steckte ein Knochensplitter. Ich kannte sie bestens; jeden Tag, kurz nach Einbruch der Dämmerung, setzte sich alles auf den Zustand des Morgens zurück. Die Suppe kochte unentwegt und enthielt immer exakt dieselben Zutaten. Der Sack mit hartem altem Hafer war wieder in der Speisekammer, Mäusekot säumte die Wand. Das Haus ächzte und zitterte, kurz bevor es geschah, knarrte, wenn die Zeit sich krümmte und ausdehnte. Ich wollte nicht wissen, was mit mir geschehen würde, wenn ich jemals während der Erneuerung im Gebäude blieb. Das Wasserfass war voll gewesen, als das Herz der Leere zugeschlagen hatte. Das ermöglichte mir, mich für längere Ausflüge ins Elend zu versorgen. Anfangs hatte ich mir gewünscht, die Bauern hätten mir eine Flasche Branntwein oder ein Bierfass dagelassen, doch nach all der Zeit vermisste ich den Alkohol nicht mehr. Ich führte ein ruhiges, bescheidenes Leben – also das, was das Schicksal für die meisten Leute bereithält. Mitunter fand ich sogar ein wenig Frieden.

Ich reinigte meine Waffen gründlich, ölte sie ein und wischte sie mit einem Tuch ab. Das war mein letztes bisschen Öl, die Vorräte waren aufgebraucht. Die Verzerrung wirkte in beide Richtungen. Wenn sich das Stete Haus zurücksetzte, verschlang es alles, was man nachträglich darin zurückgelassen hatte. Das hatte ich bei meinem ersten Besuch auf die harte Tour gelernt. Ich hatte meine Vorräte an einem vermeintlich sicheren Ort verstaut, nur um bei der Rückkehr festzustellen, dass alles verschwunden war. Seither experimentierte ich mit Steinen. Ich hatte keinen Schimmer, was mit den Dingen geschah, die verloren gingen, doch wenn ich das Haus verließ, nahm ich all meine Habseligkeiten mit.

Warum verschlang es nicht mich? Ich wollte verdammt sein, wenn ich das wüsste. Vielleicht band mich die Tatsache, dass ich am Leben war, fester an die Welt, doch das war nur eine Vermutung, und die Wahrheit sollte ich wohl besser nicht herausfinden. Man versucht nicht, das Elend zu verstehen, sondern nur, es zu überleben.

Ich verriegelte die Tür. Keine Kreatur des Elends näherte sich dem Steten Haus, nicht einmal die großen. Trotzdem wäre es nachlässig gewesen, die Bestien regelrecht dazu einzuladen.

Ich tauchte meine Tasse ins Wasserfass. Kühl, sauber, frisch – wie flüssiges Leben. Wie das Leben selbst.

Der Abend verdunkelte den Himmel, doch ich hatte Feuer und Essen, Wasser und Wärme. Alles, was ein Mann braucht. Der Regen dauerte Stunden. Die Worte des Hörigen hatten mich beunruhigt, und ich brütete vor mich hin. Die Könige aus der Tiefe wussten, dass ich hier draußen war, und das allein war schlimm genug. Sie jagten mich und würden noch mehr mutierte Diener schicken. Nur ein einziger Fehler, und schon wäre ich umzingelt und überwältigt. Und mir fehlten die Vorräte, um noch länger durchzuhalten.

Ich musste zur Wehr, um Nachschub zu holen. Vielleicht morgen. Mir war die Munition ausgegangen, das Öl, so ziemlich alles. Auf Station Vier-Vier hatte man sich daran gewöhnt, dass ich regelmäßig vorbeischaute, auch wenn mein Anblick den Soldaten mit jedem Mal weniger zu gefallen schien. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das Elend hatte mich mit jedem Tag, mit jedem Jahr mehr verändert. Meine Haut sah anders aus. Meine Augen auch. Sie rochen vermutlich die Verderbnis an mir. Nichts davon war gut.

Alle drei Monde hatten sich versteckt, nur die weiß-bronzefarbenen Risse im Himmel spendeten ein wenig Licht. Als der Regen vorbeigezogen war, schleifte ich einen Stuhl auf die Veranda, lehnte mich zurück und betrachtete die Landschaft, einst ein schrecklicher Anblick und jetzt – irgendwie – eine Art einsames Zuhause für mich. Ich wusste nicht mehr, wann ich zuletzt mit jemandem gesprochen hatte, der nicht tot war. Es ist schwer, den Verlauf der Tage und Jahreszeiten festzuhalten, wenn man nur die drückende, zunehmende Hitze des Elends und den heulenden Himmel kennt. Bis nach Valengrad war es ein weiter Marsch. Mittlerweile verließ ich das Elend kaum noch. Es war etwa sechs Monate her, seit ich zuletzt zur Wehr zurückgelaufen war. Die seltsamen Blicke, die mir die Zivilisten zugeworfen hatten, steigerten nicht gerade meine Vorfreude auf die Rückkehr dorthin.

In der Ferne sah ich die dunkle Spur der fliegenden Kreatur. Sie zog so langsam über den Himmel, dass sie Meilen entfernt sein musste. Vielleicht war es mehr als eine, aber das glaubte ich nicht.

Die Abende im Elend waren lang. Lang und öde. Anfangs, als ich noch regelmäßig in die Stadt gelaufen war, hatte ich mir Bücher mitgebracht. Das Problem war: Ließ ich sie im Steten Haus, verschwanden sie, begrub ich sie draußen, trug das Elend sie fort, und ich konnte nicht stapelweise Papier mitschleppen. Daher investierte ich mein Geld nur in zwei kleine, eng gesetzte Texte, die Dantry als essenziell für den Plan erachtete, den wir ausgeheckt hatten, damals, als Marschall Davandein Valengrad zurückerobert hatte. Ich bereitete mich auf das Unausweichliche vor. Das erste Buch war eine Abhandlung über die Kunst des Lichtspinnens. Das zweite handelte von höherer Mathematik. Schmucklose, wissenschaftliche Texte, unverständlich und freudlos, für mich Unwissenden jedoch waren die logischen und energetischen Zusammenhänge so komplex und tiefschürfend, dass ich mir damit die Zeit vertreiben konnte. Ich hatte sie immer wieder gelesen, bis ich sie im Schlaf hätte aufsagen können. Das reichte nicht. Nach wie vor wusste ich nicht genau, was zu tun war.

Mit dem Daumen blätterte ich erneut die abgegriffenen Seiten durch, konnte mich jedoch nicht konzentrieren und starrte stattdessen zu den Himmelsrissen, als würden sie das letzte Stück des Rätsels in ihrem matten Licht verbergen.

»Denkst du schon wieder an sie?«, fragte Nenn. Sie legte die Füße auf das Verandageländer – wie immer. Ihre Stiefel verursachten kein Geräusch.

»Du scheinst davon auszugehen. Das bedeutet entweder, ich denke an sie, oder ich erwäge, über sie nachzudenken«, erwiderte ich.

»Es bringt nichts, über die Toten nachzudenken.«

»Sagst ausgerechnet du.«

Nenn schenkte mir ihr Spektralgrinsen. Ihre Zähne waren durchscheinend und grünweiß an den Stellen, wo sie teerschwarz hätten sein sollen. »Darauf läuft alles hinaus, was? Auf Geister. Du hier draußen. Sie, tot und gefangen im Licht. Selbst dieser Ort. Was ist das Elend anderes als ein Abbild von Krähfuß’ Wut?«

»Du bist eine verdammte Poetin.«

Nenns Geist erhob sich, streckte die Arme und gähnte. Ihr Mund öffnete sich zu weit. Jeder echte Kiefer wäre gebrochen, jede Haut gerissen. Ich scherte mich nicht darum. Ich hatte es schon oft gesehen. Nenn rundete ihre Dehnübungen mit einem lauten Geisterfurz ab.

»Ich mochte dich lieber, als du noch lebendig warst«, sagte ich. Geist-Nenn kümmerte das nicht. Sie war ohnehin nicht real.

»Eines Tages kommst du über sie hinweg«, erwiderte sie.

»Es war nicht fair. Sie hat den Tod nicht verdient. Ezabeth hat uns alle gerettet. Sie verdient etwas Besseres.«

Nenn schnaubte. »Nach all den Schwertern, die du geschwungen hast, und all den gebrochenen Knochen, nach all den Pfeilen, dem Kanonenfeuer, den Krankheiten und dem Wundbrand, nach all den Lichtspinnern, Maschinen und Königen aus der Tiefe glaubst du noch immer, der Tod holt zuerst die, die ihn verdienen?«

Eine berechtigte Frage. Die Hörigen, die ich in den Tod gelockt hatte, waren einst Menschen gewesen, zumindest ihre Vorfahren. Es war nicht ihre Schuld, dass die Könige sie markiert und verändert hatten. Sie waren nur Soldaten – genau wie ich früher. Wie die dummen Kinder, die ich beim Rückzug von Adrogorsk umgebracht hatte, wie die Menschen, denen ich befohlen hatte, die Mauern Valengrads zu verteidigen, ehe Shavada sie unter ihnen wegriss. Ich hätte die Hörigen nicht hassen dürfen für das, was sie waren. Sie waren genau wie wir und zugleich doch nicht, und dafür hasste ich sie. Die Wahrheit ist, ich hätte ein ganzes Reich voller Höriger getötet, wenn das Ezabeth Tanza aus dem Feuer zurückgeholt hätte.

Was würde sie wohl jetzt von mir halten? Nicht viel. Sie hatte bereits mein altes Ich nicht besonders gemocht. Ich konnte nicht behaupten, dass ich in den letzten zehn Jahren zu einem besseren Menschen geworden war.

»Lass mich allein«, sagte ich zu Nenn. Genau wie beim letzten Mal, als ihr Geist sich zu mir gesetzt hatte. Sie betrat die Veranda, aber niemals das Gebäude selbst. Nichts aus dem Elend würde je das Stete Haus betreten. Darin war man sogar vor Siefern sicher, auch wenn ich schon lange keine mehr gesehen hatte. Kein Geschöpf des Elends wollte ins Haus. Sie wussten, es gehörte ihnen nicht.

Die Nacht kam und ging. Die Morgendämmerung brachte Nebel mit, und ich blieb im Haus, bis er sich verzog. Nebel ist nie gut, und im Elend ist er besonders seltsam. Es gibt Kreaturen, die nur in ihm leben, und allein die Geister wissen, wohin sie gehen, wenn er sich auflöst. Besser, man legt sich nicht mit ihnen an. Im Ödland kann einem Schlimmeres widerfahren, als gefressen zu werden. Erst als die Sonne neben den Monden aufging, der goldenen Eala und kühlblauen Clada, ging ich auf die Jagd.

Ich kniete nieder und legte die Hand auf den Sand. Das Elend wisperte mir seine Geheimnisse zu, und ich wandte mich in die Richtung, die man als Norden erachten konnte. Das Land sagte mir, wo ich suchen, wo ich jagen musste. Ich wusste nicht mehr, wann wir diese seltsame Beziehung eingegangen waren, doch inzwischen hasste das Ödland mich nicht mehr. Es war in meinen Adern, im Zahnfleisch und, wenn ich nicht achtgab, sogar in meinen Gedanken. Dass ich nicht bereit war, mich ganz mit ihm zu vereinen, missfiel ihm, doch hatte ich mich so lange in seiner Umarmung geaalt, dass die Verderbnis mich tolerierte. Wir waren nicht eins geworden, sondern koexistierten nebeneinander. Das Elend behandelte mich nicht besser als Kreaturen wie Sandräuber oder Krottler. Ich war nur ein weiteres Ding; ein Ding, das Verständnis für das Land hatte. Das schien wichtig zu sein. Der Sohn des Elends. So hatte der Hörige mich genannt. Gewissermaßen stimmte das auch.

Ich kehrte zu der Stelle zurück, an der ich am Vortag angegriffen worden war. Inzwischen lag sie eher vor als hinter den Dünen, die Distanz hatte sich halbiert.

Der Teersee des Elends hatte sich in einen dickflüssigen Strom verwandelt und blockierte mir den Weg. Er rauchte, blubberte, stank und kostete mich einen Umweg von zwei Meilen, aber schließlich gelangte ich ans Ziel. Die Leichen der Hörigen und ihrer Tiere waren fort, verschlungen von was auch immer unter dem Feld aus Glashalmen lauerte. Ich war wegen des Navigators hier. Nicht wegen seiner sterblichen Überreste, sondern wegen der Kreaturen, die davon angelockt wurden.

Zwei aufgedunsene Maden mit Spinnenbeinen dösten zwischen den Knochen, die sie abgefressen hatten. Es gab keinen Namen für diese Geschöpfe. Soweit ich wusste, waren die beiden die Einzigen ihrer Art. Sie hatten die Riemen der Bronzerüstung zerfressen, die Platten aufgebogen wie ein Fischer den Panzer einer Krabbe, um an das weiche, weiße Fleisch im Inneren zu gelangen. Ich nannte sie Krabbler. Sie lagen mit grotesk geschwollenen Bäuchen in der Nachmittagssonne. Vom vielen Fressen benebelt, bemerkten sie mich nicht, und selbst wenn, waren sie zu aufgedunsen, als dass sie vor mir hätten flüchten können. Ich hackte ihnen den Körperteil ab, den ich für den Kopf hielt, weidete sie aus wie Wild und machte mich mit meiner Beute auf den Heimweg.

Einige Meilen später stieß ich auf eine Steintreppe, die über dem Sand schwebte – ein grotesker Anblick, als wollte das Elend mich verhöhnen. Die Treppe wies keinerlei Stützen auf und führte zu einem Steinbogen empor, durch den ich den Himmel hätte sehen müssen. Stattdessen sah ich dahinter nur Dunkelheit. Das Portal führte woandershin. Ich sah diesen dunklen Torbogen nicht zum ersten Mal. In den vergangenen Monaten war er immer wieder aufgetaucht, und die Botschaft des Elends war eindeutig. Es wollte, dass ich ihn durchschritt. Ich sollte die Stufen erklimmen und durch den Bogen ins Unbekannte treten.

Ich blieb auf Abstand. Das Elend war nicht mein Verbündeter. Ich vertraute ihm nicht.

Ich trug die madenartigen Geschöpfe zum Steten Haus, setzte mich auf die Veranda und machte mich ans Werk. Nenn sah schweigend zu, wie ich die Wesen häutete und ausnahm, und verschwand schließlich ganz, als ich Platz nahm und sie verzehrte.

Albträume folgten. Derart lebhafte Träume, dass ich sie in Öl hätte malen können, hätte ich das nötige Talent gehabt. Ich sah die Welt, wie sie vor der Ankunft der Könige aus der Tiefe gewesen war, bevor Krähfuß das Herz der Leere entfesselt und ihre Armeen abgewehrt hatte.

Die Felder des Landes hatten in üppigem Grün, Gold und Braun erstrahlt. Der Weizen wuchs dicht, die Äste in den Olivenhainen bogen sich durch unter der Last der Früchte. Im Frühling prasselte der Regen kräftig nieder, im Sommer brannte die Sonne heiß. Die Fürsten und Königinnen der Stadtstaaten waren zwar keine Heiligen gewesen, hatten jedoch hart gekämpft, als die feindlichen Armeen die Weizenfelder niedertrampelten und Haine abfackelten. Und während sich die Menschen mit aller Macht wehrten, alles Erdenkliche gaben, entfesselte Krähfuß aus Verzweiflung das Herz der Leere. Kinder hoben im Unterricht und bei der Feldarbeit den Blick und sahen die Risse am Himmel. Die Energie, die daraus hervordrang, zerstörte die Erde und durchbrach die stabile Realität. Türme stürzten ein, Wälder vergingen. Weizen verwandelte sich zischend und knackend in giftige Nebelwolken, Hunde verschmolzen mit ihren Herren zu Geschöpfen, die keins von beidem waren – und das waren noch die Glücklichsten von allen. Ich sah die vorrückenden Armeen der Hörigen. Sie blickten zu den Monden, die erschauderten und flackerten, ehe der Himmel zu heulen begann und schließlich auch die Himmelskörper verzerrte. Ich durchlitt tausend schreckliche, qualvolle Tode.

Als ich erwachte, kreischte mein ganzer Körper vor Schmerz. Ich war daran gewöhnt. Ich kroch zum Wasserfass und wusch mich, um die Fäulnis loszuwerden, doch sie blieb in mir – wie immer. Schweiß perlte auf meiner Haut, selbst meine Finger glänzten. Meine Nägel hatten sich schon vor langem schwarz verfärbt, meine Haut war hart und schimmerte wie poliertes Kupfer. Ich barg den Kopf zwischen den Knien, legte mir eine Decke um die Schultern und kroch in eine Ecke. Ich weinte nicht. Ich weinte nie. Trauer erforderte Gram, und in mir war kein Selbstmitleid übrig. Nur trockene, stete Wut. Wut und das Bedürfnis nach Rache.

3

Ich musste zur Wehr zurück. Ich brauchte dringend Kugeln, Pulver und Waffenöl. Der Regen fiel alle elf Tage, immer alle elf Tage. Seit drei Jahren kam er regelmäßig wie ein Uhrwerk, seit dem Fall der Krähen.

Die Erde hatte gebebt. Der Himmel war erneut aufgerissen, und alles hatte sich verändert.