Michael Grüttner

Brandstifter
und
Biedermänner

Deutschland 1933–1939

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94916-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10782-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

Einleitung

1. Der Nationalsozialismus: Ideologie und Dynamik einer neuen Bewegung

2. Machtübernahme und Gleichschaltung 1933/34

a) Auf dem Wege zur Diktatur

b) Durchsetzung des Einparteienstaates

c) Gleichschaltung

d) Die Regimekrise im Frühjahr 1934

3. Nationalsozialistische Herrschaft: Personen und Strukturen

a) Hitler und der Hitlerkult

b) Das Führungspersonal

c) Die Partei

d) Machtstrukturen

4. Organisation der Gewalt

a) Die SA

b) Die Justiz als Instrument nationalsozialistischer Herrschaft

c) Der Aufstieg der SS

d) Die Sicherheitspolizei

e) Die Konzentrationslager

5. Die Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft

a) Die jüdische Minderheit

b) Politik der Entrechtung 1933–1937

c) Die Reaktion der Mehrheitsbevölkerung

d) Emigration

e) Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft

f) Von der Entrechtung zum Holocaust

6. Außenpolitik und Expansion 1933–1938

a) Wolf im Schafspelz

b) Auf der Suche nach Bündnispartnern

c) Politik der vollendeten Tatsachen

d) Der »Anschluss« Österreichs 1938

7. Aufrüstung und Kriegsvorbereitung: Die Wehrmacht

a) Die Streitkräfte 1933

b) Aufrüstung

c) Grenzen der Aufrüstung

d) Die Eingliederung der Wehrmacht in den NS-Staat

8. Die Wirtschaft

a) Die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit

b) Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem

c) Die Landwirtschaft

d) Konsum

9. Die deutsche Gesellschaft im NS-Staat

a) Die Eliten

b) Mittelstand

c) Bauern

d) Arbeiter

e) Jugend

f) Volksgemeinschaft

10. Medien und Propaganda

a) Propaganda

b) Presse

c) Radio

11. Kultur und Kulturpolitik

a) Nationalsozialistische Kulturpolitik

b) Bildende Kunst

c) Literatur

d) Theater

e) Film

f) Musik

12. Geschlechterverhältnis und Bevölkerungspolitik

a) Frauen

b) Bevölkerungspolitik

c) Sexualität

13. Religion, christliche Kirchen und Kirchenpolitik

a) Nationalsozialismus und Christentum

b) Protestanten

c) Katholiken

d) Der Nationalsozialismus – eine politische Religion?

14. Erziehung und Wissenschaft

a) Die Neuordnung des Erziehungssystems

b) Sport

c) Schule

d) Hochschule

e) Wissenschaft

15. Radikalisierung 1937–1939

a) Wurzeln der Radikalisierung

b) Die Entmachtung der Nationalkonservativen

c) Novemberpogrom 1938

d) Die Sudetenkrise

e) Der Weg in den Krieg

16. Widerstand

a) Was ist Widerstand?

b) Arbeiterwiderstand

c) Die nationalkonservative Opposition

17. Eine populäre Diktatur

18. Interpretationen des Nationalsozialismus: Faschismus oder Totalitarismus?

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Verzeichnis der Abkürzungen

Verzeichnis der Tabellen

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Dieses Buch handelt von einem kurzen Abschnitt der deutschen Geschichte, der insgesamt nicht einmal sieben Jahre dauerte, dem Zeitraum zwischen der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Gleichwohl vollzogen sich in dieser Zeit grundlegende Veränderungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Dieser Wandel erfolgte durch die gewaltsame Ausschaltung politischer Gegner, die Beseitigung demokratischer Strukturen, den Wechsel des Führungspersonals in zahlreichen Institutionen und durch den Aufbau nationalsozialistischer Massenorganisationen, die allerorten den Anspruch erhoben, führend an der Umgestaltung der deutschen Gesellschaft beteiligt zu werden. Eine solche Umwandlung, die auch als Nazifizierung bezeichnet werden kann, fand selbst in Bereichen der deutschen Gesellschaft statt, die auf den ersten Blick völlig unpolitisch erscheinen, beispielsweise im Sport, der im Laufe der 1930er Jahre erheblich aufgewertet wurde. Ein wichtiges Element dieses Prozesses war die sukzessive Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft – ein Prozess, der bereits im Frühjahr 1933 einsetzte und 1939 weitgehend abgeschlossen war. Damit einher ging eine langsame Verschiebung moralischer Maßstäbe, die den Zeitgenossen selbst nicht immer bewusst war.

Die Frage, welche Auswirkungen dieser Wandel auf die einzelnen Bereiche der deutschen Gesellschaft hatte – die Wirtschaft, die Medien, das Erziehungswesen, die Kirchen, die Wissenschaft, das Militär –, bildet einen Schwerpunkt meiner Darstellung. Dabei wird deutlich, dass der Prozess der Nazifizierung der deutschen Gesellschaft seine Dynamik aus zwei ganz unterschiedlichen Quellen gewann: zum einen aus den Gesetzen, Erlassen und Verordnungen, die von staatlicher Seite in dichter Reihenfolge produziert wurden, zum anderen aus den Initiativen nationalsozialistischer Aktivisten, die sich berufen fühlen, vor Ort auf eigene Faust die Durchsetzung nationalsozialistischer Machtinteressen voranzutreiben, und dabei nicht selten auch persönliche Interessen verfolgten.

Ein derart grundlegender Wandel, der sich in relativ kurzer Zeit vollzog, wirft das Problem auf, ob in diesem Zusammenhang von einer »Revolution« gesprochen werden kann. Über dieses Thema wird auch in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert. Während einige Historiker von einer nationalsozialistischen »Revolution« sprechen, verzichten andere in diesem historischen Kontext gänzlich auf den Gebrauch des Revolutionsbegriffs. Letztlich handelt es sich um ein Definitionsproblem. Versteht man unter Revolution einen radikalen Wandel politischer und gesellschaftlicher Strukturen, der innerhalb kurzer Zeit, unter Beteiligung großer Volksbewegungen und unter Bruch der bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung zustande kommt, dann lässt es sich kaum vermeiden, auch die Ereignisse in Deutschland nach 1933 als Revolution zu bezeichnen. Wer dies ablehnt, geht in der Regel implizit oder explizit davon aus, dass Revolutionen stets einen emanzipatorischen Charakter haben, also mit einem Zugewinn an Freiheit und demokratischer Partizipation verbunden sind. Mit einem derartigen Revolutionsbegriff vor Augen wäre es in der Tat abwegig, den Nationalsozialismus als revolutionäre Bewegung zu charakterisieren. Schon ein genauerer Blick auf die Russische Revolution von 1917, die innerhalb weniger Jahre in den stalinistischen Massenterror mit Millionen von Todesopfern mündete, zeigt jedoch, wie problematisch eine solche Gleichsetzung von Revolution und Emanzipation ist.

Weiterführender erscheint demgegenüber die Position Hans-Ulrich Wehlers, der sich sehr dezidiert dafür ausgesprochen hat, auch die nationalsozialistische Machtübernahme als Revolution zu charakterisieren. Im Gegensatz zu den klassischen Revolutionen des Westens im 18. und 19. Jahrhundert, zu denen man die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution, aber auch die europäischen Revolutionen von 1848/49 zählen kann, habe sich im 20. Jahrhundert ein neuer Typus von Revolution herausgebildet, den Wehler im Anschluss an Richard Löwenthal als »totalitäre Revolution« bezeichnet. Zu den totalitären Revolutionen des 20. Jahrhunderts zählt er neben der Russischen Revolution von 1917 und der Chinesischen Revolution, die 1949 zur Errichtung der Volksrepublik führte, auch die »nationalsozialistische Revolution seit 1933«.1 Die islamistischen Revolutionsbewegungen, die seit Ende der 1970er Jahre in der muslimischen Welt zu einem erstrangigen Machtfaktor geworden sind, lassen sich ebenfalls in diesen Kontext einordnen.

Ein solcher Revolutionsbegriff, der sowohl klassische als auch totalitäre Revolutionen einschließt, betont die Offenheit revolutionärer Prozesse und ist damit realitätsnäher als ein idealisierendes Revolutionsverständnis. In diesem Sinne lassen sich die Veränderungen in Deutschland nach 1933 als eine totalitäre Revolution interpretieren, die danach strebte, die gesamte deutsche Gesellschaft zu beherrschen, und darüber hinaus bereit war, zur Durchsetzung ihrer Ziele alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, einschließlich des Massenmords.

Besonders auffällig: Fast nirgendwo stießen die Nationalsozialisten auf wirksamen Widerstand. Hitler befürchtete 1933 zunächst Streiks der Industriearbeiter, die in der Weimarer Republik mehrheitlich die Linksparteien unterstützt hatten. Doch die Streikaufrufe, mit denen die Kommunisten auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler reagierten, blieben ohne Resonanz. Stattdessen gelang es den neuen Machthabern nach dem Reichstagsbrand, die politische Opposition innerhalb weniger Wochen und Monate zu zerschlagen. Im Juli 1933 waren bereits alle politischen Parteien (mit Ausnahme der NSDAP) und alle Gewerkschaften verboten. Innerhalb von sechs Monaten hatten die Nationalsozialisten damit eine Wegstrecke zurückgelegt, für die der italienische Faschismus ein Jahrzehnt früher etwa vier Jahre benötigt hatte.

Auch international stießen die Nationalsozialisten bei der Durchsetzung ihrer Ziele vor 1939 nur selten auf größere Hindernisse. Trotz offener Verletzung des Versailler Vertrages führten weder die Aufrüstung und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht noch die Remilitarisierung des Rheinlandes und der »Anschluss« Österreichs zu energischen Gegenmaßnahmen der Westmächte. Die Leichtigkeit, mit der die neuen Machthaber Deutschlands nach 1933 einen außenpolitischen Erfolg nach dem anderen verbuchen konnten, trug wesentlich dazu bei, den Mythos vom unfehlbaren »Führer«, dem alles zu gelingen schien, in breiten Teilen der Bevölkerung zu verankern. Die Frage, warum die Nationalsozialisten in den ersten Jahren nach der »Machtergreifung« sowohl national als auch international nur auf relativ schwachen Widerstand stießen, bildet einen zweiten Schwerpunkt dieses Buches.

Die historische Forschung zur Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur hat sich in den vergangenen Jahren stark auf den Mord an den europäischen Juden konzentriert. Verglichen mit den Massenverbrechen der Kriegsjahre, zu denen nicht nur der Holocaust, sondern auch die Euthanasiemorde, der Hungertod von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener und andere Untaten gehören, könnten die Jahre von 1933 bis 1939 im Rückblick als nahezu harmlos und unbedeutend erscheinen. Der Weltkrieg und in seinem Gefolge der Holocaust wären jedoch nicht möglich gewesen, wenn nicht schon vor 1939 wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen worden wären.

Ein dritter Schwerpunkt dreht sich daher um die Frage, inwieweit bereits in den Jahren scheinbarer Normalität die Grundlagen für Krieg und Massenmord gelegt wurden, unter anderem durch die systematische Indoktrination der jungen Generation und den Aufbau eines Gewaltapparates aus SS, Gestapo und Konzentrationslagern, der sich nicht an Gesetze gebunden fühlte, sondern ausschließlich dem »Führerwillen« verpflichtet war. Die Absicht, neuen »Lebensraum« zu erobern, gehörte seit den 1920er Jahren zum Kernbestand von Hitlers politischen Überzeugungen, auch wenn dies in den 1930er Jahren nicht mehr öffentlich thematisiert wurde. Der Aufbau einer Armee, die Deutschland erneut kriegsfähig machen sollte, war daher das zentrale Ziel nationalsozialistischer Politik seit 1933. Dass die »Judenfrage« nur durch eine »Entfernung« der Juden aus Deutschland gelöst werden könne, stand für Hitler ebenfalls bereits zu Beginn der Weimarer Republik fest. Die Entrechtung der deutschen Juden begann schon kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler im Frühjahr 1933. In Übereinstimmung mit der neueren Forschung geht die vorliegende Untersuchung davon aus, dass die systematische Ermordung der im deutschen Herrschaftsbereich lebenden Juden das Ergebnis eines längeren Radikalisierungsprozesses war, dessen furchtbares Ende 1933 noch keineswegs feststand. Die Entscheidung zum Mord an den europäischen Juden fiel erst im Laufe des Jahres 1941. Der Gedanke, die »Judenfrage« möglicherweise auf dem Wege des Genozids zu »lösen«, existierte in Hitlers Überlegungen aber schon lange vorher. Bereits während des Reichsparteitags der NSDAP im September 1935 erklärte er in Gesprächen mit seinen Paladinen, ein neuer Weltkrieg würde die Möglichkeit bieten, nicht nur die »Judenfrage«, sondern auch das Problem des »lebensunwerten Lebens« radikal und endgültig zu lösen. Im Januar 1939 artikulierte Hitler dieses Junktim zwischen Weltkrieg und Judenmord erstmals auch öffentlich. Nicht als Plan, wohl aber als Option, so lautet die hier vertretene These, war der Holocaust in Hitlers Denken bereits in den 1930er Jahren präsent.

Ein vierter Schwerpunkt ist der Frage gewidmet, inwieweit die Nationalsozialisten, die bei freien Wahlen stets nur von einer Minorität unterstützt worden waren, nach 1933 die Mehrheit der Bevölkerung für sich gewinnen konnten. Insbesondere die außenpolitischen Erfolge des Regimes, die den Versailler Vertrag faktisch zu Makulatur machten, und die vergleichsweise rasche Überwindung der Massenarbeitslosigkeit sorgten dafür, dass die Unterstützung des NS-Staates in der Bevölkerung nach der »Machtergreifung« deutlich zunahm. Darüber hinaus trug vor allem der Führer-Mythos dazu bei, die Anziehungskraft des Regimes zu erhöhen. Über weite Strecken war die NS-Diktatur ganz offensichtlich eine populäre Diktatur. Dennoch fiel die Unterstützung des Regimes keineswegs so einhellig und unerschütterlich aus wie in der neueren Literatur gelegentlich behauptet wird. Vielmehr bestanden erhebliche Unterschiede, etwa zwischen Jüngeren und Älteren oder zwischen Katholiken und Protestanten. Zudem hatten die Machthaber zwischen 1933 und 1939 immer wieder mit Loyalitätskrisen zu kämpfen, so beispielsweise im Frühjahr 1934 vor dem »Röhm-Putsch«, erneut im Sommer 1935, als anhaltende Versorgungsprobleme die Stimmung der Bevölkerung verdüsterten, und schließlich 1938 während der Sudetenkrise, als die Angst der Bevölkerung vor einem neuen Krieg sich zu einer regelrechten »Kriegspanik« (Joseph Goebbels) steigerte.

Die nationalsozialistische Politik wird in diesem Buch als Weltanschauungsdiktatur begriffen, das heißt als eine Diktatur, deren wichtigste Antriebskraft ideologischer Natur war und die zugleich den Anspruch erhob, prinzipiell alle Bereiche von Staat und Gesellschaft ideologisch zu durchdringen. Selbstverständlich spielten in der politischen Praxis neben ideologischen Antriebskräften auch andere Motive eine Rolle, etwa materielle Interessen – man denke nur an die weitverbreitete Korruption – oder das Ziel, eigene Herrschaftspositionen zu festigen und auszubauen. Aber das waren sekundäre Motive, die das Besondere nationalsozialistischer Politik nicht erklären können.

Eine Weltanschauungsdiktatur ist kein Instrument im Dienste bestimmter Interessengruppen. Erfolgreich konnten die Nationalsozialisten aber nur deshalb sein, weil sie in der Lage waren, sehr unterschiedlichen Teilen der deutschen Gesellschaft den Glauben zu geben, dass der NS-Staat bereit war, sich ihrer Interessen anzunehmen. Dem Bürgertum und dem Mittelstand versprach das Regime die Zerschlagung des Marxismus, dem Militär die Wiederaufrüstung. Kleine Gewerbetreibende hofften auf die Beseitigung der übermächtigen Konkurrenz durch Warenhäuser, von denen viele jüdische Besitzer hatten. Kirchenvertreter sahen im Nationalsozialismus lange Zeit einen Verbündeten in ihrem Kampf gegen den »gottlosen Kommunismus« und den »zersetzenden« Einfluss westlicher Massenkultur. Akademiker, insbesondere Ärzte, Juristen und Wissenschaftler, konnten davon ausgehen, dass die Eliminierung jüdischer Konkurrenten ihre eigenen Karrierechancen verbessern würde. Die Unternehmer profitierten von der Beseitigung der Gewerkschaften. Arbeiter wiederum versprachen sich Vorteile von der propagierten »Volksgemeinschaft«, die für ein größeres Maß an sozialer Gleichheit sorgen sollte.

Über den nationalsozialistischen Leitbegriff der »Volksgemeinschaft« ist in den vergangenen Jahren viel debattiert worden.2 Offensichtlich hat das Ziel, den Klassenkampf zugunsten einer harmonischen »Volksgemeinschaft« aller »arischen« Deutschen zu überwinden, dazu beigetragen, in der Bevölkerung Unterstützung für das Regime zu mobilisieren. Unklar bleibt indes der Realitätsgehalt dieses Konzeptes. Während die meisten neueren Studien, die sich mit diesem Thema beschäftigen, zu der Ansicht tendieren, die »Volksgemeinschaft« sei letztlich eine bloße »Verheißung« geblieben, wird in diesem Buch die These vertreten, dass in wichtigen Teilbereichen von Politik und Gesellschaft, etwa in der Hitlerjugend, im Reichsarbeitsdienst und in den Streitkräften, zwischen 1933 und 1945 durchaus signifikante Egalisierungsprozesse stattgefunden haben, die dafür sprechen, den Begriff der Volksgemeinschaft nicht ausschließlich als propagandistische »Verheißung« zu interpretieren.

Der Titel des Buches bedarf einer Erläuterung. In Anlehnung an ein Theaterstück von Max Frisch3 wird die Geschichte des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1939 als Zusammenspiel von »Brandstiftern« und »Biedermännern« gedeutet. Der Begriff »Brandstifter« charakterisiert diejenigen, die die ideologischen Kernpunkte des nationalsozialistischen Projekts – das Ziel der Eroberung neuen »Lebensraums« und die antisemitische Rassenideologie – aktiv vertraten und vorantrieben. Diese Politik steuerte von Anfang an auf einen neuen Krieg zu. Innenpolitisch betrieben ihre führenden Repräsentanten eine Politik permanenter Mobilisierung der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Generation. Die Massenbasis des NS-Regimes bildeten jedoch nicht die »Brandstifter«, sondern diejenigen, die ich in Anlehnung an Frisch als »Biedermänner« bezeichne: Die »Biedermänner« (und auch die »Biederfrauen«) freuten sich über die Wiederherstellung von »Ruhe und Ordnung« sowie über den Rückgang der Kriminalität nach 1933, während sie die Zerstörung des Rechtsstaats nur beiläufig oder gar nicht registrierten. Sie bejubelten Hitlers außenpolitische Erfolge, verdrängten aber lange Zeit die gleichzeitig stattfindenden Kriegsvorbereitungen. Von den »Biedermännern« wurde die Zeit nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aufgrund des raschen Rückgangs der Arbeitslosenzahlen und der gewaltsamen Beendigung der bürgerkriegsähnlichen Konflikte, die Anfang der 1930er Jahre im Innern geherrscht hatten, als die lang ersehnte Rückkehr zu Normalität, Prosperität und Stabilität empfunden.

»Brandstifter« und »Biedermänner« vereinte der Glaube an den Hitler-Mythos. Gleichwohl verlief ihre Beziehung nicht konfliktfrei. Vielmehr entwickelte sich im Alltag zwischen einer Politik der Dauermobilisierung auf der einen Seite und der Sehnsucht nach »Normalität« und Ruhe auf der anderen »eine ständige Reibung«4. Selbst in der Studentenschaft, einer Gruppe, die sich vor 1933 früher als alle anderen dem Nationalsozialismus zugewandt hatte, war dieses Spannungsverhältnis unübersehbar.5 Darüber hinaus sorgte auch die zunehmend antichristliche Kirchenpolitik der nationalsozialistischen Führung im Kreis der »Biedermänner« für Irritationen. Das war aus Sicht der NSDAP-Führung zwar ein Ärgernis, aber kein wirklicher Grund zur Beunruhigung.

Erst 1938/39 zeigten sich im Verhältnis zwischen »Brandstiftern« und »Biedermännern« tiefere Risse. Während Hitler zwischen 1933 und 1937 öffentlich stets seinen Friedenswillen beteuert hatte, wurde nun deutlich, dass die Politik der nationalsozialistischen Führung bewusst das Risiko eines neuen großen Krieges einkalkulierte. Da das nationalsozialistische Deutschland auf längere Sicht nicht in der Lage war, in dem internationalen Rüstungswettlauf mitzuhalten, den die deutsche Politik entfesselt hatte, gingen die »Brandstifter« seit 1938 zu einer Politik des »alles oder nichts« über. Es war vor allem diese Bereitschaft zum Hasard, die den »Brandstifter« vom »Biedermann« unterschied. Während der Sudetenkrise im Frühjahr und Sommer 1938 zeigte sich, dass die Bevölkerung, von jugendlichen Minderheiten abgesehen, vor einem neuen Krieg zurückschreckte. Schließlich: Der antijüdische Novemberpogrom von 1938 wurde von vielen »Biedermännern« gleichfalls kritisch beurteilt. Die brutale Gewalt gegen eine wehrlose Minderheit, die Plünderungen und die mutwillige Zerstörung von Sachwerten stießen selbst bei Menschen auf Ablehnung, die prinzipiell gegen eine Diskriminierung der Juden nichts einzuwenden hatten.

Letztlich bestand das Problem in erster Linie darin, dass die 1938 einsetzende Radikalisierung der Regimeführung gerade jene Werte und Tugenden infrage stellte – Ruhe, Ordnung, Stabilität –, die das Gros der »Biedermänner« an das Regime gebunden hatte. Dennoch beeinflusste die daraus resultierende Kluft zwischen »Brandstiftern« und »Biedermännern« die Politik des Regimes nicht. Denn mittlerweile besetzten die »Brandstifter« und die bedingungslosen Gefolgsleute Hitlers alle relevanten Führungspositionen in Politik und Militär. Zudem konnten die »Brandstifter« zu Recht darauf vertrauen, dass auch die »Biedermänner« gegenüber der politischen Führung loyal bleiben würden, nachdem der Krieg einmal begonnen hatte.

1.
Der Nationalsozialismus:
Ideologie und Dynamik einer neuen Bewegung

Die Frage, warum eine zutiefst destruktive Bewegung wie der Nationalsozialismus 1933 in Deutschland an die Macht kommen konnte, hat die Zeitgenossen ebenso wie die Historiker intensiv beschäftigt. Die einflussreichste Antwort, die nach 1945 auf diese Frage gegeben wurde, war die These, es habe einen deutschen »Sonderweg« in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben, der das Land letztlich in das Dritte Reich geführt habe. Diese These stieß seit den 1980er Jahren zunehmend auf Kritik1 und wird seit Ende des 20. Jahrhunderts nur noch vereinzelt vertreten. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war zum einen die Erkenntnis, dass die deutsche Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg sich keineswegs grundlegend vom Rest Europas unterschied, zum anderen die Einsicht, dass es nahezu unmöglich ist, einen europäischen »Normalweg« in die Moderne zu definieren.

Stattdessen sieht die neuere Forschung in der Regel im Ersten Weltkrieg und seinen Nachwirkungen die Ursprünge des Nationalsozialismus. Der Krieg von 1914 bis 1918 brachte eine große Gruppe von Männern hervor, die sich beim Militär und in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit daran gewöhnt hatten, Gewalt auszuüben, die über den Ausgang des Krieges verbittert waren und oft Schwierigkeiten hatten, ins zivile Leben zurückzukehren. Die Prinzipien von Selbstbestimmung, Frieden und Demokratie, wie sie der amerikanische Präsident Woodrow Wilson 1918/19 emphatisch verkündete, erschienen ihnen vor dem Hintergrund des Versailler Vertrages nur als ein gigantisches Betrugsmanöver. Aus diesen Männern rekrutierte sich die Gründergeneration der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP).

Darüber hinaus hatte der Beginn des Ersten Weltkrieges den Nationalsozialisten der ersten Stunde so etwas wie eine soziale Utopie verschafft: das »Augusterlebnis« von 1914, als die politische, soziale und religiöse Spaltung des deutschen Volkes sich in einem Taumel nationaler Begeisterung aufzulösen schien. Wenn die Führer der NSDAP in den 1920er und 1930er Jahren davon sprachen, eine »Volksgemeinschaft« schaffen zu wollen, schwebte ihnen letztlich eine »Wiederherstellung dieses Augenblicks« vor, wie Elias Canetti schon früh festgehalten hat.2

Als politische Bewegung konservierte der Nationalsozialismus das Freund-Feind-Denken des Krieges und übertrug es auf die deutsche Innenpolitik. Das Feindbild ergab sich aus der Suche nach Schuldigen für die Niederlage von 1918, die von den Nationalsozialisten als Resultat eines revolutionären »Dolchstoßes« in den Rücken des unbesiegten Heeres interpretiert wurde. Vor allem die große Zahl von Intellektuellen jüdischer Herkunft in den Linksparteien inspirierte viele Deutsche, die nach einer Erklärung für den Ausgang des Krieges und den Ausbruch der Revolution suchten, auf antisemitische Verschwörungstheorien zurückzugreifen.

Gerade in München, der Keimzelle des Nationalsozialismus, waren die Führer der revolutionären Bewegungen, die 1918/19 zeitweise die politische Macht übernahmen, überwiegend Juden oder jüdischer Herkunft. Das galt für den ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, den USPD-Politiker Kurt Eisner, der sich in nationalistischen Kreisen besonders unbeliebt machte, als er Dokumente der bayerischen Diplomatie publizierte, mit denen die Kriegsschuld Deutschlands belegt werden sollte. Jüdischer Herkunft waren auch die wichtigsten Repräsentanten der Münchner Räterepublik, die anarchistischen Schriftsteller Gustav Landauer und Erich Mühsam, der bayerische USPD-Vorsitzende Ernst Toller oder der KPD-Führer Eugen Leviné. Wer nach simplen Erklärungen für den politischen Umsturz von 1918/19 suchte, wurde unter solchen Umständen schnell fündig. Die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden empfand zwar schon aufgrund ihrer Sozialstruktur – die meisten erwerbstätigen Juden waren Selbstständige oder Angestellte – wenig Sympathie für den Marxismus. Dennoch kursierte die Vorstellung, das Judentum sei für die Revolution verantwortlich, nicht nur in obskuren völkischen Randgruppen, sondern in großen Teilen des Münchener Bürgertums und der Mittelschichten.3 Das lässt sich auch für Persönlichkeiten nachweisen, die in späteren Jahren öffentlich als Gegner des Antisemitismus auftraten. Thomas Mann beispielsweise charakterisierte die Münchener Revolutionsregierung in seinem Tagebuch gleich mehrfach als »Judenregiment«.4 Auch für den Münchener Erzbischof Michael von Faulhaber war der Umsturz von 1918/19 eine »Judenrevolution«, wie er in einer Aufzeichnung notierte. Die Regierung Eisner bezeichnete Faulhaber in seiner Silvesterpredigt als »Regierung von Jehovas Zorn«.5 Verstärkt wurden solche Ansichten durch das neue Feindbild des »jüdischen Bolschewismus«, das im Gefolge der Russischen Revolution entstanden war und, vermittelt durch Diplomaten, Militärs und Bürgerkriegsflüchtlinge, auch in Deutschland Verbreitung fand.6 Die antisemitischen Hasstiraden, die bald zum Markenzeichen der NSDAP wurden, waren daher nur der extremste Ausdruck einer allgemeinen Zunahme des Antisemitismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik.

Die Anfang 1919 in München gegründete NSDAP (die sich anfangs noch Deutsche Arbeiterpartei nannte) war vorerst nur eine von vielen politischen Gruppierungen, die nach dem Krieg in Opposition zur Weimarer Republik traten und mit nationalistischen oder antisemitischen Parolen Anhänger rekrutierten. In den ersten Jahren der Weimarer Republik handelte es sich um eine Regionalpartei, die außerhalb Bayerns kaum wahrgenommen wurde. Andere Organisationen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der zeitweise mehr als 150 000 Mitglieder zählte, verfügten über weit größeren Einfluss. Erst der missglückte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923 und der anschließende Gerichtsprozess machten Hitler und die NSDAP deutschlandweit bekannt.

Hitler nutzte die Haftzeit zur Niederschrift seines Buches »Mein Kampf«, in dem er seine ideologischen Überzeugungen in bemerkenswerter Offenheit darlegte. »Mein Kampf« und andere Publikationen der 1920er Jahre enthüllen ein in sich geschlossenes Weltbild, das im Wesentlichen vier Grundelemente enthielt: 1. einen rassistisch aufgeladenen Sozialdarwinismus, 2. eine aggressive Lebensraumpolitik, 3. einen manichäischen Antisemitismus und 4. einen völkischen Radikalnationalismus.

1. Sozialdarwinismus. In der nationalsozialistischen Weltsicht erschien die Geschichte als ein dauernder Kampf zwischen Völkern und Rassen, der um Lebensraum geführt wurde. Hitler sah in diesem Kampf den Motor des menschlichen Fortschritts, weil sich darin die Starken gegen die Schwachen durchsetzten und zu einer »Höherzüchtung des Lebens« beitrugen. Dieser Kampf werde so lange dauern, bis am Ende das »beste Menschentum«, das stärkste Volk die Weltherrschaft errungen habe.7 Aufgabe der Politik war es nach Hitlers Auffassung, das deutsche Volk auf diesen »Daseinskampf« vorzubereiten – durch Aufrüstung und Bündnispolitik, aber auch durch den Kampf gegen »Rassenmischung« und durch eine eugenische Politik, die »erbgesunden« Nachwuchs förderte und »Erbkranke« daran hinderte, »minderwertigen« Nachwuchs in die Welt zu setzen. Ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben unterschiedlicher Völker war in einem solchen Denksystem bestenfalls Ausdruck eines schwächlichen Pazifismus, der die von der Natur formulierten »Lebensgesetze« nicht verstanden hatte.

2. Lebensraumpolitik. Eine aggressive Lebensraumpolitik, wie sie vom NS-Regime praktiziert wurde, war die logische Konsequenz jener »Lebensgesetze«, die der Nationalsozialismus erkannt haben wollte. Für die nähere Zukunft plante Hitler die Eroberung neuen Lebensraums im Osten, vor allem in der Sowjetunion. Er begründete diese Pläne nicht nur mit seiner sozialdarwinistischen Geschichtsphilosophie, sondern auch mit vermeintlichen Sachzwängen: Da es in Deutschland ein Missverhältnis zwischen »Lebensraum« und Bevölkerungszahl gebe, müsse die Bevölkerungszunahme ohne zusätzlichen Lebensraum in die »Katastrophe« führen (vgl. S. 175 f.). Hitler machte kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass nur der Boden sich für eine »Germanisierung« eigne, nicht aber die überwiegend slawische Bevölkerung der zu erobernden Territorien. Die dort lebenden Menschen waren aus seiner Sicht schlicht überflüssig.8

3. Antisemitismus. Der Judenhass bildete den Kern der nationalsozialistischen Rassenideologie. Juden waren aus nationalsozialistischer Sicht keine Religionsgemeinschaft, sondern eine Rasse. Demnach blieben auch Juden, die sich von der jüdischen Religion abgewendet hatten, weiterhin Juden und verfügten über bestimmte unabänderliche Charaktereigenschaften. Juden waren, so behauptete Hitler in Mein Kampf, von der Gier nach Geld beherrscht, sie neigten zum Internationalismus, waren daher in nationaler Hinsicht illoyal, und steckten hinter den unterschiedlichsten Verschwörungen: hinter dem Marxismus und dem »Dolchstoß« von 1918 genauso wie hinter der Russischen Revolution von 1917. Auch die Weimarer Republik war aus nationalsozialistischer Sicht eine »Judenrepublik«. Folgte man der NS-Propaganda, dann lieferte schon die schiere Existenz der Juden eine Erklärung für nahezu alle Probleme, mit denen Deutschland seit 1918 zu tun hatte. Ob Hitler dies alles selber glaubte oder ob er nur seinem Motto folgte, man dürfe »der Masse niemals zwei oder mehr Gegner zeigen«, um eine »Zersplitterung der Kampfkraft« zu vermeiden,9 bleibt ungewiss. An Hitlers fanatischem Hass auf die jüdische Minderheit besteht jedoch kein Zweifel. Bereits im ersten Band von Mein Kampf bezeichnete er die Juden u. a. als »Made im faulenden Leib«, als »Pestilenz« und »Parasit«.

4. Radikaler Nationalismus. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg, die Niederlage von 1918 und den als nationale Demütigung empfundenen Vertrag von Versailles erlebte Deutschland seit 1914 eine massive Radikalisierung des Nationalismus. Von dieser Entwicklung profitierte die NSDAP mehr als jede andere politische Partei. Ausgangspunkt des neuen von der NSDAP propagierten Nationalismus war nicht der Staat, sondern das »Volk«, das als ethnisch homogener, überzeitlicher Organismus verstanden wurde. Juden waren nach den Vorstellungen dieses völkischen Nationalismus keine Deutschen, wohl aber die Österreicher und jene deutschsprachigen Minderheiten, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Tschechoslowakei und Polen lebten. Bestandteil dieses radikalen Nationalismus war ein partikulares Moralsystem, dessen zentrale Werte (»Treue«, »Ehre«, »Kameradschaft« etc.) explizit nur für das eigene Volk Gültigkeit beanspruchten.10 Weil für eine universelle Moral in der nationalsozialistischen Rassenideologie kein Platz war, wurde die rücksichtslose Durchsetzung der Interessen des eigenen Volkes gegenüber fremden Völkern für den Nationalsozialismus geradezu zum »Wertmaßstab der Sittlichkeit« (Werner Best). Die Interessen anderer Völker blieben aus dieser Perspektive ebenso irrelevant wie das Bedürfnis des Individuums nach privatem Glück.11 Aus dem radikalen Nationalismus der NSDAP resultierte die kompromisslose Ablehnung aller Bewegungen und Weltanschauungen, die international orientiert waren. Das traf insbesondere die marxistische Arbeiterbewegung, in geringerem Maße auch die katholische Kirche.

Die einzelnen Bausteine, aus denen sich diese Ideologie zusammensetzte, waren in aller Regel nicht neu. Das meiste findet sich bereits in den Schriften von Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain, in den Traktaten völkischer Sektierer oder den Publikationen des Alldeutschen Verbandes. Gleichwohl unterschied sich die NSDAP deutlich von den anderen einflussreichen Rechtsparteien der Weimarer Republik. Diese, allen voran die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), waren in der Regel eng mit den alten Eliten in Industrie, Landwirtschaft und Verwaltung assoziiert, die das untergegangene Kaiserreich getragen hatten. Demgegenüber präsentierte sich die NSDAP als neue Kraft, die sowohl das Klassenkampfdenken der Linken als auch den »Standesdünkel« der »Reaktionäre« bekämpfte.

Mit dem Versprechen, die zwei großen politischen Zeitströmungen, den Nationalismus und den Sozialismus, zu einer politischen Einheit zusammenzufügen, sollte die Grundlage für eine neue harmonische »Volksgemeinschaft« gelegt werden. Flankiert wurde diese vage Zukunftsvision von einer scharf antibürgerlichen Rhetorik, die das Bürgertum durchgängig als faul, feige und kompromisslerisch darstellte.12 Der »Bürger« war im nationalsozialistischen Weltbild das negative Gegenbild zum heroischen Mann.

Ein zweites Unterscheidungsmerkmal zur nationalkonservativen DNVP war die Bereitwilligkeit, mit der die Nationalsozialisten von Anfang an Gewalt als Mittel des politischen Kampfes einsetzten. Durch den Aufbau der SA zu einer paramilitärischen Organisation und durch militante Straßendemonstrationen, die den politischen Gegner zu gewalttätigen Reaktionen provozieren sollten, trug der Nationalsozialismus wesentlich zu einer Brutalisierung ideologischer Konflikte und zu einer Militarisierung der deutschen Politik in der Weimarer Republik bei.

Drittens schließlich bediente die NSDAP stärker als die anderen Rechtsparteien die verbreitete Sehnsucht nach einer starken Führerfigur, die das Land aus der Nachkriegsmisere herausführen sollte. Die Umwandlung der NSDAP in eine Führerpartei erfolgte graduell und zog sich über Jahre hin. Schon 1921 hatte die Partei Hitler als Parteiführer diktatorische Vollmachten eingeräumt. Hitler sah sich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht als künftiger »Führer« Deutschlands, sondern nur als »Trommler«. Erst als die Erfolge seiner demagogischen Fähigkeiten immer deutlicher zutage traten, entwickelte er ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein, das wesentlich zu seiner charismatischen Ausstrahlung beitrug. Während seiner Haftzeit gelangte er schließlich zu der Überzeugung, selbst der künftige »Retter« Deutschlands zu sein.13 1926 führte die NSDAP den obligatorischen Gruß »Heil Hitler« ein. Mit der Entwicklung zur Führerpartei konnte die NSDAP sich nach außen als monolithischer Block präsentieren, der mit einer Stimme sprach – ein Eindruck, der durch das uniformierte Auftreten der SA noch verstärkt wurde. In den Augen seiner Anhänger verschmolzen Hitler und der Nationalsozialismus zu einer untrennbaren Einheit. Martin Bormann, einer der einflussreichsten Reichsleiter der NSDAP, pflegte die Frage, was der Nationalsozialismus sei, mit dem Satz zu beantworten: »Nationalsozialismus ist der Wille des Führers«. Aufgrund dieser extremen Personalisierung von Politik wurden sogar radikale politische Kurswechsel, etwa der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, von den Mitgliedern und Funktionären der Partei ohne größere Reibungsverluste akzeptiert.

Die Ziele des Nationalsozialismus ließen sich nur auf dem Wege des Krieges erreichen. Dieser Krieg konnte kein zeitlich oder räumlich limitierter Kampf mit begrenzten Zielen sein. Vielmehr handelte es sich, sofern Hitler ernsthaft versuchte, seine Pläne zu verwirklichen, um einen auf Dauer angelegten Konflikt, an dessen Ende zunächst die Herrschaft über Europa und auf lange Sicht sogar die Weltherrschaft stehen sollte. Eine solche Politik bedrohte Staaten und Mächte, deren militärisches und wirtschaftliches Potenzial die Deutschland zur Verfügung stehenden Ressourcen weit übertraf; daher war die Wahrscheinlichkeit, dabei zu scheitern, groß. Hitlers Bereitschaft, dieses Risiko trotzdem einzugehen, entsprang der Mentalität eines Hasardeurs, die sich schon Mitte der 1920er Jahre offenbarte, als er in »Mein Kampf« schrieb: »Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein«.14 Es entbehrt daher nicht der Logik, wenn einige Historiker dem Nationalsozialismus eine »immanente Tendenz zur Selbstzerstörung« attestiert haben.15

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gelang es der NSDAP, sich über Bayern hinaus im gesamten Reichsgebiet zu verankern und die Mitgliederzahl auf fast 100 000 (1928) zu steigern (Tabelle 1). Zwischen 1926 und 1929 entstanden außerdem diverse Vorfeldorganisationen, die in der Lage waren, gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Zu ihnen gehörten die Hitler-Jugend (HJ), der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB), der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ), der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) und der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund (NSDÄB). Erste spektakuläre Wahlerfolge zeichneten sich 1928/29 in der Studentenschaft und in der protestantischen Landbevölkerung ab. Dennoch blieb die Partei deutschlandweit bis 1930 eine Randerscheinung. Bei den Reichstagswahlen von 1928 erhielt die NSDAP gerade 2,6 % der Stimmen. Hitlers Charisma reichte zwar aus, um die Partei zusammenzuhalten und die Gefolgschaft der eigenen Anhänger zu gewährleisten, aber breite Bevölkerungsschichten erreichte er viele Jahre hindurch nicht.

Erst als die scheinbar ausweglose Staats- und Gesellschaftskrise von 1930–1933 in der Bevölkerung die Aufnahmebereitschaft für ein charismatisches Erlösungsangebot vervielfachte, fand die NSDAP eine nach Millionen zählende Wählerschaft.16 Während der Erste Weltkrieg und seine Folgen zur Geburtsstunde des Nationalsozialismus wurden, ermöglichte die Weltwirtschaftskrise den Sprung zur Massenpartei. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 feierten die Nationalsozialisten mit 18,3 % der Wählerstimmen einen erdrutschartigen Triumph, der sie über Nacht ins politische Rampenlicht katapultierte. Die NSDAP war damit nach der SPD zur zweitstärksten politischen Partei in Deutschland geworden. Zwei Jahre später, im Juli 1932, konnte die Partei ihren Stimmenanteil verdoppeln und avancierte mit 37,7 % zur stärksten politischen Kraft im Deutschen Reich.

Abb. 1: Aufmarsch nationalsozialistischer Jugendlicher in Düsseldorf, Mai 1933. Nicht ohne Grund wurde die NSDAP von den Zeitgenossen als Partei der jungen Generation wahrgenommen.

Ausschlaggebend für den Durchbruch zur Massenbewegung war, dass die Gründer der NSDAP, die sich überwiegend aus der Frontkämpfergeneration des Ersten Weltkriegs rekrutierten, es geschafft hatten, beträchtliche Teile der nachfolgenden Generation für ihre Sache zu gewinnen: Die Angehörigen der zwischen 1900 und 1910 geborenen »Kriegsjugendgeneration« waren zu jung gewesen für den aktiven Einsatz an der Front, aber doch alt genug, um den Ersten Weltkrieg als grundlegende biographische Zäsur zu empfinden. Als Kinder und Jugendliche hatten sie den Krieg vor allem »als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel« erlebt, wie der Journalist Sebastian Haffner (Jahrgang 1907) berichtet. Diese Generation war unter den aktiven Mitgliedern der Partei, der SA und der SS besonders stark vertreten. Nach Haffners Ansicht bildete sie »die eigentliche Generation des Nazismus«.17

Die Entwicklung zur Massenpartei in den Jahren 1929–1932 war mit Wandlungen im öffentlichen Auftreten der Partei verknüpft. Die NSDAP konzentrierte sich nun darauf, die vom Weimarer Parteienstaat enttäuschten und von der Krise verängstigten Protestwähler zu gewinnen. Ihre Propaganda richtete sich in erster Linie gegen das Weimarer »System« und gegen den Marxismus, die für den Niedergang Deutschlands verantwortlich gemacht wurden. Die eigentlichen Kernelemente der nationalsozialistischen Ideologie gerieten demgegenüber in den Hintergrund. So war der Ruf nach neuem »Lebensraum« seit 1928 in Hitlers öffentlichen Reden kaum noch zu hören. Auch der Antisemitismus besaß Anfang der 1930er Jahre in der Wahlkampfagitation nur noch untergeordnete Bedeutung.18

Zu Beginn der 1930er Jahre war die NSDAP eine Massenpartei mit Hunderttausenden von Mitgliedern. Ihre Anhängerschaft rekrutierte sich aus allen Teilen der Bevölkerung. Einige Besonderheiten sind gleichwohl augenfällig: Protestanten waren unter den Gefolgsleuten Hitlers sehr viel stärker vertreten als Katholiken; in der Provinz fand die Partei mehr Anhänger als in Großstädten oder Industriezentren; Angehörige des Mittelstandes waren unter den Wählern und Mitgliedern der NSDAP überrepräsentiert, Arbeiter dagegen unterdurchschnittlich vertreten. Schließlich wurde die NSDAP von vielen Beobachtern zu Recht als eine Bewegung wahrgenommen, die sich durch »Jugendlichkeit und Vitalität« (so der britische Botschafter Horace Rumbold) auszeichnete.19 Keine andere politische Partei der Weimarer Republik hatte ähnlich junge Mitglieder und Funktionäre. Keine Partei pflegte aber auch einen ähnlich aggressiven Jugendkult wie die NSDAP (»Macht Platz, ihr Alten!«). An sichtbare Grenzen stieß der Siegeszug der Nationalsozialisten nur dort, wo er mit gefestigten, jahrzehntelang gewachsenen weltanschaulichen Bindungen konfrontiert wurde – vornehmlich im katholischen Milieu und in der durch den Marxismus geprägten Arbeiterschaft.

2.
Machtübernahme und Gleichschaltung 1933/34

a) Auf dem Wege zur Diktatur

Anfang 1933 befand sich die NSDAP in einer schweren Krise. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatte sie mehr als 2 Mio. Wähler verloren. Ihr Stimmenanteil war von 37,3 auf 33,1 % gesunken. Bei Kommunalwahlen, die einige Wochen später in Thüringen stattfanden, fielen die Verluste noch drastischer aus. Gregor Straßer, der zweite Mann der Partei, meuterte im Dezember 1932 offen gegen Hitlers Politik des »Alles oder nichts« und erklärte seinen Rücktritt von allen Parteiämtern. Gleichzeitig sah die Reichsleitung der NSDAP sich angesichts sinkender Mitgliederzahlen gezwungen, ihre Ausgaben um ein Zehntel zu kürzen.1 Da die Wirtschaftskrise zu dieser Zeit ihren Tiefpunkt bereits überschritten hatte, deutete vieles darauf hin, dass dem rasanten Aufstieg der NSDAP nun ein ebenso rascher Abstieg folgen würde. Hitler trug sich im Dezember 1932 bereits mit Selbstmordgedanken: »Wenn die Partei zerfällt, mache ich in 3 Minuten Schluß.«2 Erst seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 verhinderte einen weiteren Absturz der NSDAP.

Die Verhandlungen über die Bildung einer Regierung der nationalistischen Rechten im Januar 1933 waren auf konservativer Seite von der Furcht vor dem totalen Machtanspruch Hitlers geprägt. Um diese Bedenken auszuräumen, mussten die Nationalsozialisten bei der Regierungsbildung weitreichende Zugeständnisse machen. Obwohl sie im Reichstag die stärkste Fraktion bildete, stellte die NSDAP in dem elfköpfigen Kabinett neben dem Reichskanzler Hitler nur noch zwei weitere Minister: Wilhelm Frick, der das Reichsinnenministerium übernahm, sowie Hermann Göring als Minister ohne Geschäftsbereich und Reichskommissar für das preußische Innenministerium. Das Kabinett Hitler war, so schien es, ein konservativ dominiertes Gremium. Vizekanzler Franz von Papen zeigte sich denn auch überzeugt, die Nationalsozialisten auf diese Weise zähmen zu können, und verkündete siegessicher: »In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht.«3 Auch manche Gegner der neuen Regierung sahen in dem DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg, der das Reichswirtschaftsministerium übernommen hatte, das eigentliche Machtzentrum der Regierung: »Hitler hat den Schein der Macht für sich in Deutschland«, erklärte der SPD-Politiker Kurt Schumacher am 4. Februar 1933. »Das Kabinett heißt Adolf Hitler, aber das Kabinett ist Alfred Hugenberg. Adolf Hitler darf reden, Alfred Hugenberg wird handeln.«4 Noch immer wurde Hitler von seinen Gegnern unterschätzt.

Innerhalb der Regierungskoalition aus Nationalsozialisten und Konservativen bestand Einigkeit über einige grundlegende politische Ziele: Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, so weit davon in der Zeit der Präsidialkabinette noch die Rede sein konnte, Beseitigung des Marxismus als Machtfaktor, Annullierung des Vertrages von Versailles, Wiederaufrüstung. Bei der Durchsetzung dieser Ziele legten die neuen Machthaber Wert darauf, den Schein der Legalität zu wahren und einen offenen Verfassungsbruch zu vermeiden. Um den Parlamentarismus zu liquidieren, strebte die Regierung ein Ermächtigungsgesetz an, das auf eine Selbstentmachtung des Reichstages hinauslief. Für ein solches Gesetz war eine Zweidrittelmehrheit erforderlich; tatsächlich verfügten die beiden Regierungsparteien NSDAP und DNVP im Reichstag aber noch nicht einmal über eine absolute Mehrheit. Hitlers Vorschlag, das Problem durch Neuwahlen zu lösen, überzeugte auch den Reichspräsidenten. Am 1. Februar löste Hindenburg den Reichstag auf.

In dem nun folgenden Wahlkampf, den die NSDAP unter dem Motto »Angriff gegen den Marxismus« führte, betonte die nationalsozialistische Propaganda, dass am 30. Januar keineswegs nur ein Regierungswechsel stattgefunden hatte. Vielmehr verkörpere die neue Staatsführung einen Aufbruch der Nation, die sich endlich entschlossen habe, ihre schmachvolle Vergangenheit seit dem November 1918 hinter sich zu lassen.5 Wer nicht bereit war, sich dieser »nationalen Erhebung« anzuschließen, geriet in den Ruch, ein Verräter nationaler Interessen zu sein. Ganz im Sinne dieser Strategie wurde der Wahltag zum »Tag der erwachenden Nation« erklärt.

Anders als in früheren Wahlkämpfen konnte die NSDAP diesmal finanziell aus dem vollen schöpfen. Am 20. Februar hatten Hitler, Göring und der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht einige Dutzend bekannte Industrielle zu einer Zusammenkunft eingeladen. Nach einer längeren Rede des Reichskanzlers, in der Hitler seine Entschlossenheit bekräftigte, den Marxismus auszurotten, bat Schacht die Zuhörer zur Kasse und präsentierte einen Wechsel über 3 Mio. Reichsmark. Tatsächlich fanden sich genügend Industrielle, die bereit waren, den Wechsel zu unterzeichnen. Reichspropagandaleiter Goebbels, der kurz zuvor noch über Geldmangel geklagt hatte, konnte nun zufrieden notieren: »Heute macht die Arbeit Spaß. Geld ist da.«6

Abb. 2: Als Hilfspolizei eingesetzte SA-Männer beim Waffenappell, Berlin 1933. Der Einsatz von SA-Männern als Hilfspolizisten trug dazu bei, dass die Linksparteien innerhalb weniger Monate zerschlagen werden konnten.

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