1. Kapitel
Die Schatten wurden länger, je weiter ich mich vom Stadtzentrum entfernte. Ich ging Richtung Westen – der sinkenden Sonne entgegen, die den letzten Rest des Tages aufflammen ließ. Das hasste ich am Winter – die Nachmittage wurden jeden Tag ein bisschen früher vom Abend verdrängt. Über den smogverhangenen Himmel von Los Angeles zogen sich violette und aschgraue Streifen.
Unter normalen Umständen wäre ich dankbar für den zusätzlichen Schutz der Abenddämmerung gewesen, während ich durch das schachbrettartig angelegte Straßennetz zu unserem derzeitigen Quartier zurückwanderte. Doch die Trümmer des Angriffs, die Errichtung von Militärstationen und Haftlagern und die überall im Weg stehenden herrenlosen Autos, die durch den elektromagnetischen Impuls unbrauchbar gemacht worden waren, hatten die Stadt so dramatisch verändert, dass man schon nach einem einzigen Kilometer in diesem Chaos vollkommen die Orientierung verlieren konnte. Ohne die übliche diesig schimmernde Lichtemission der Stadt mussten wir uns an den fernen Scheinwerfern der Militärkolonnen orientieren, wenn wir nachts unterwegs waren.
Rasch spähte ich in alle Richtungen und tastete meine Jackentasche ab, um mich zu vergewissern, dass Taschenlampe und Dienstpistole noch da waren; beide stammten von einer gewissen Private Morales und sollten nur im absoluten Notfall zum Einsatz kommen. Ich würde mich auf meinem Weg durch die Dunkelheit von niemandem erwischen lassen, ich musste zurück zum Quartier.
Eine Stunde zuvor hatte Private Morales das Pech gehabt, mir über den Weg zu laufen, als sie nach ihrem Patrouillengang allein auf dem Freeway unterwegs war. Ich hatte schon seit dem Morgengrauen hinter einem umgekippten Auto auf der Lauer gelegen und die grell erleuchtete Hochstraße beobachtet. Stündlich hatte ich die winzigen uniformierten Gestalten gezählt, die sich über den Streckenabschnitt in meiner Nähe bewegten und sich zwischen den Trucks und Humvee-Geländewagen hindurchschlängelten, die Stoßstange an Stoßstange standen und eine zusätzliche Barriere bildeten. Meine Muskeln verkrampften sich, aber ich widerstand dem Drang, woanders abzuwarten.
Meine Hartnäckigkeit sollte sich bezahlt machen. Eine Soldatin hatte ausgereicht, um mich nicht nur mit den Hilfsmitteln auszustatten, die ich für den sicheren Rückweg zum Quartier benötigte, sondern auch mit dem Wissen, wie wir endlich – endlich – aus dieser verdammten Stadt rauskommen konnten.
Ich sah mich zweimal um, bevor ich über den Ziegelhaufen kletterte, der einmal die Fassade einer Bankfiliale gewesen war, und schnappte nach Luft, als ich mir die Hand an etwas Scharfkantigem aufriss. Verärgert trat ich danach – es war ein blechernes C aus dem Banklogo – und bereute es augenblicklich. Das Scheppern hallte von den umstehenden Gebäuden wider und übertönte fast die leisen Stimmen und die schlurfenden Schritte.
Ich warf mich in die Überreste des Gebäudes und ging hinter der nächstbesten stabilen Wand in Deckung.
»Gesichert!«
»Gesichert …«
Als ich mich umdrehte, sah ich die Soldatenkolonne auf der anderen Straßenseite entlangmarschieren. Ich zählte die Helme – zwölf –, während sie ausschwärmten, um die zersplitterten Glastüren der umliegenden Bürohäuser und Läden zu inspizieren. Deckung? Schnell sah ich mich um, verschaffte mir einen Überblick über das umgestürzte, angekohlte Mobiliar, während ich instinktiv auf einen der dunklen Holzschreibtische zuhuschte und darunterkroch. Das Geräusch der auf dem losen Schutt scharrenden Schritte übertönte meine keuchenden Atemzüge.
Ich blieb, wo ich war. Den beißenden Rauch-, Asche- und Benzingestank in der Nase, horchte ich auf die Stimmen, bis sie nach und nach verklangen. Furcht krallte sich um meinen Magen, als ich mich unter dem Tisch hervorwagte und zum Eingang huschte. Ich konnte noch sehen, wie sich die Patrouille einen Weg durch die von Trümmern blockierte Straße suchte, doch ich konnte nicht mehr warten, nicht einmal ein paar Minuten.
Als ich die Erinnerungen der Soldatin durchforstet und mir die Informationen zusammengereimt hatte, die ich brauchte, fühlte es sich an, als wäre mir ein schwerer Stein endlich vom Herzen gefallen. Sie hatte mir die Lücken in den Verteidigungslinien des Freeways so deutlich gezeigt, als hätte sie mir eine Landkarte gereicht, auf der sie mit Leuchtstift markiert waren. Danach ging es nur noch darum, mich aus ihren Erinnerungen zu löschen.
Die Agenten der Children’s League wären garantiert sauer gewesen, dass es geklappt hatte. Nichts von dem, was sie selbst versucht hatten, war von Erfolg gekrönt gewesen, und gleichzeitig war die Ausbeute ihrer Lebensmittelraubzüge immer kleiner geworden. Cole hatte sie wieder und wieder gedrängt, es mich versuchen zu lassen, aber die anderen Agenten stimmten nur unter der Bedingung zu, dass ich alleine ging – um keine weiteren Gefangennahmen zu riskieren. Wir hatten schon zwei Agenten verloren, die bei ihren Ausflügen in die Stadt unvorsichtig gewesen waren.
Ich war nicht unvorsichtig, aber allmählich war ich kurz vor dem Verzweifeln. Wir mussten handeln, sonst würde uns das Militär in unseren Verstecken aushungern.
US-Army und Nationalgarde hatten eine Art Barriere um die Innenstadt von Los Angeles errichtet, indem sie sich des ausgeklügelten Freeway-Systems bedienten. Die gewundenen Asphaltmonster bildeten einen engen Ring um das Stadtzentrum und schnitten uns von der Außenwelt ab. Freeway 101 befand sich im Norden und Osten, I-10 im Süden und 110 im Westen. Möglicherweise hätten wir fliehen können, wenn wir es gleich versucht hätten, nachdem wir aus den Trümmern des Hauptquartiers entkommen waren, aber … da war dieses Wort, das Chubs immer benutzte: Kriegsneurose. Er fand es erstaunlich, dass wir überhaupt in der Lage waren, uns von der Stelle zu rühren.
Ich hätte Druck machen sollen. Ich hätte die anderen zum Abhauen zwingen sollen, statt zusammenzuklappen. Das hätte ich tun sollen – wenn ich nicht an sein Gesicht gedacht hätte, dort unten im Dunkeln gefangen. Ich presste mir die Hände vor die Augen, kämpfte gegen die Übelkeit und die stechenden Schmerzen in meinem Schädel an. Denk an etwas anderes. Irgendetwas. Diese Kopfschmerzen waren unerträglich; viel schlimmer als die, die ich bekam, wenn ich versucht hatte, meine Fähigkeiten zu kontrollieren.
Ich durfte nicht stehen bleiben, ich verdrängte das schlaffe Gefühl in meinen Beinen und zwang mich zu einem leichten Trab. Dabei spürte ich den Schmerz der Erschöpfung in der Kehle, die Schwere meiner Augenlider, doch das Adrenalin ließ mich weiterlaufen, selbst als ein Teil von mir zusammenklappen wollte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal tief genug geschlafen hatte, um dem zur Realität gewordenen Albtraum um uns herum zu entfliehen.
Die Straße wies unzählige Risse auf, und überall lag Schutt herum, den die Armee noch nicht entfernt hatte. Hier und da kam ich an bunten Farbklecksen vorbei – ein roter Damenpumps, eine Handtasche, ein Fahrrad –, alles verlassen und vergessen. Einige Gegenstände waren aus nahegelegenen Fenstern geschleudert worden; durch die Hitze der Explosionen waren sie schwarz verkohlt. Diese sinnlose Zerstörung machte mich krank.
Als ich über die nächste Kreuzung joggte, schaute ich in die Olive Street. Das schimmernde Lichtfeld des Pershing Square drei Querstraßen weiter zog meinen Blick auf sich. Der ehemalige Park war zu einem Internierungslager umfunktioniert worden, übereilt zusammengeschustert, während die Trümmer der Stadt noch schwelten. Die armen Leute hinter dem Zaun hatten in den umliegenden Gebäuden gearbeitet, als Präsident Gray seinen Angriff gegen die Children’s League und die Federal Coalition startete, eine kleine Gruppe früherer Politiker, die sich gegen ihn verbündet hatten. Vermutlich handelte es sich um einen Vergeltungsschlag, da eine oder beide Gruppen beim letzten Attentatsversuch auf den Präsidenten die Finger im Spiel gehabt hatten. Auf der Suche nach Cate und den anderen hatten wir die Lager im Auge behalten und mit angesehen, wie die Zahl der Insassen zunahm, als mehr und mehr Zivilisten aufgegriffen und gegen ihren Willen festgehalten wurden.
Aber keine Cate weit und breit. Wenn sie und die anderen Agenten, die das Hauptquartier vor dem Angriff verlassen hatten, es nicht aus der Stadt herausgeschafft hatten, hielten sie sich so gut versteckt, dass wir sie nicht finden konnten – nicht einmal durch unsere Notfall-Kontaktverfahren.
Schon wieder ein kleiner Militärkonvoi – durch Reifengebrumm und das Knistern der Funkgeräte wurde ich rechtzeitig gewarnt. Ich verkniff mir ein frustriertes Schnauben und ging hinter einem ausgeschlachteten SUV in Deckung, bis die Soldaten an mir vorbeimarschiert waren. Dann klopfte ich mir den Staub ab, den sie mit ihren schweren Stiefeln aufgewirbelt hatten, und rannte weiter.
Wir – die League oder das, was davon übrig geblieben war – wechselten alle paar Tage unser Versteck, blieben nie lange in einem Gebäude. Wenn wir uns nach draußen wagten, um nach Lebensmitteln und Wasser zu suchen oder die Lager zu beobachten, reichte der leiseste Verdacht, jemand könne uns gefolgt sein, und wir suchten uns eine andere Bleibe. Das war clever, keine Frage, doch ich verlor langsam den Überblick, wo wir uns wann aufgehalten hatten.
Die Stille wirkte jetzt, wo ich den östlichen Teil der Stadt erreicht hatte, noch bedrückender und zerrte mehr an den Nerven als die Schüsse und Maschinengewehrsalven, die beim Pershing Square die Luft erfüllt hatten. Ich fasste die Taschenlampe fester, brachte es jedoch nicht über mich, sie aus der Tasche zu ziehen, selbst als ich gegen eine Steinmauer stolperte und mir den Ellbogen aufschürfte. Ich blickte zum Himmel hinauf. Neumond. Natürlich.
Ein unbehagliches Gefühl, dasselbe, das seit Wochen auf meiner Schulter hockte und mir düstere Prophezeiungen ins Ohr flüsterte, verwandelte sich in ein glühend heißes Messer in meiner Brust – drang langsam tiefer ein und zerriss alles in seiner Nähe. Ich räusperte mich und versuchte, die vergiftete Luft aus der Lunge zu bekommen. An der nächsten Kreuzung zwang ich mich, stehen zu bleiben, und duckte mich in die Nische eines ehemaligen Bankautomaten.
Luft holen, befahl ich mir. Ganz tief. Dann schüttelte ich Arme und Hände aus, doch das Gefühl der Schwere blieb. Ich schloss die Augen und lauschte auf das Knattern eines in der Ferne dahinrasenden Hubschraubers. Ein Instinkt – beharrlich und drängend – veranlasste mich, rechts in die Bay Street einzubiegen, statt weiter auf der Alameda bis zur Kreuzung mit der Seventh Street zu laufen. Das wäre der direktere Weg zu unserem derzeitigen Quartier an der Ecke Jesse Street/Santa Fe Avenue gewesen, die schnellste Möglichkeit, die anderen zu informieren, einen Plan zu schmieden und abzuhauen.
Doch falls mich jemand beobachtete oder verfolgte, würde ich ihn auf der Seventh Street abhängen können. Meine Füße übernahmen das Kommando und drängten mich nach Osten, auf den Los Angeles River zu.
Nach anderthalb Blocks bemerkte ich die Schatten, die die Mateo Street entlang zur Seventh Street hinaufschlichen. Ich blieb aus vollem Lauf abrupt stehen – meine Hände schnellten vor, um mich an einem Briefkasten festzuhalten, bevor ich mitten auf der Straße hinschlug.
Ich keuchte auf. Zu knapp. So etwas passierte, wenn ich mir nicht die Zeit nahm, langsamer zu werden und mich zu vergewissern, dass die Straße frei war. Ich spürte den Widerhall meines rasenden Pulses im Kopf und rieb mir die Schläfen. Etwas Warmes und Klebriges schmierte über meine Stirn, doch ich kümmerte mich nicht weiter darum.
Tief geduckt schlich ich weiter und versuchte herauszufinden, in welche Richtung die Truppen sich bewegten. Sie waren schon viel zu nah an unserem Quartier – wenn ich kehrtmachte, konnte ich vielleicht vor ihnen am Lagerhaus sein und die anderen warnen.
Aber sie waren einfach … stehen geblieben.
An der Kreuzung hatten sie die eingedrückte Fassade eines Baumarktes angesteuert und waren durch das zersplitterte Fenster ins Gebäude gestapft. Ich hörte ein Auflachen, Stimmen – und das Blut stockte mir in den Adern.
Das waren keine Soldaten.
Ich huschte die Straße hinauf bis zu dem Geschäft, tastete mich an dem Gebäude entlang und ging kurz vor den Fenstern in die Hocke.
»… wo hast du die gefunden?«
»Scheiße, Mann!«
Noch mehr Gelächter.
»Oh Gott. Hätte nie gedacht, dass mich der Anblick von ein paar Bagels je so verdammt glücklich machen würde …«
Ich spähte über das Sims. Drinnen hockten drei unserer Agenten – Ferguson, Gates und Sen –, und vor ihnen lag ein kleiner Stapel Lebensmittel. Gates, ein ehemaliger Navy-SEAL, machte sich so ungeduldig an einer Chipstüte zu schaffen, dass er sie fast mittendurch gerissen hätte.
Die haben was zu essen. Ich konnte es nicht glauben. Die sitzen hier und essen. Was ich sah, machte mich so fassungslos, dass ich mir schrittweise klarmachen musste, was das bedeutete.
Sie bringen die Lebensmittel nicht für uns andere zurück ins Quartier.
War das immer so, wenn eine Gruppe loszog? Die Agenten bestanden immer so hartnäckig darauf, selbst auf Nahrungssuche zu gehen; aus Furcht, eins von den Kids würde den derzeitigen Schlupfwinkel der Gruppe sofort verraten, wenn sie geschnappt würden, hatte ich angenommen. Aber war das hier der wahre Grund? Damit sie sich als Erste den Bauch vollschlagen konnten, wenn sie etwas Essbares fanden?
Eisiger Zorn verwandelte meine Hände in Klauen. Meine eingerissenen Fingernägel bohrten sich in die Handflächen; der stechende Schmerz verstärkte das Grummeln in meinem Bauch.
»Gott, ist das lecker«, sagte Sen. Sie war eine wahre Kampfmaschine – groß, mit Muskelpaketen unter straffer, ledriger Haut. Ihr Gesichtsausdruck wirkte immer so … als ob sie wüsste, wo sämtliche Leichen begraben waren, weil sie sie eigenhändig dort verscharrt hatte. Wenn sie sich herabließ, mit einem von uns zu sprechen, schnauzte sie uns an, dass wir die Klappe halten sollten.
Während der darauffolgenden Stille hockte ich wartend da, und meine Wut loderte mit jedem Moment heller.
»Machen wir uns lieber auf den Rückweg«, meinte Ferguson und schickte sich an aufzustehen.
»Die kommen schon klar. Selbst wenn Stewart eher zurück ist als wir, Reynolds sorgt schon dafür, dass er das Maul hält.«
»Ich mach mir eher Sorgen wegen …«
»Die Klette?«, warf Gates lachend ein. »Die kommt bestimmt als Letzte. Wenn sie’s überhaupt zurückschafft.«
Meine Brauen schnellten empor. Klette. Ich. Das war neu. Man hatte mir schon viel schlimmere Namen gegeben; mich ärgerte nur die Unterstellung, dass ich es nicht durch die Stadt und zurückschaffen könnte, ohne geschnappt zu werden.
»Die ist viel mehr wert als die anderen«, widersprach Ferguson. »Es geht nur darum …«
»Es geht um gar nichts. Sie gehorcht uns nicht, und das macht sie zu einem Risikofaktor.«
Risikofaktor. Unwillkürlich presste ich die Faust gegen die Lippen, um die Galle zurückzuhalten. Ich wusste, was die League mit »Risikofaktoren« machte. Ich wusste auch, was ich mit einem Agenten machen würde, der das versuchte.
Sen stützte die Hände auf den Boden und lehnte sich zurück. »Der Plan bleibt jedenfalls unverändert.«
»Gut.« Gates zerknüllte die Chipstüte, die er gerade leergefressen hatte. »Wie viel von dem Zeug nehmen wir mit zurück? Ich könnte noch einen Bagel vertragen …«
Eine Packung Salzstangen und eine Tüte Hot-Dog-Brötchen. Das brachten sie mit, für siebzehn Kids und eine Handvoll Agenten, die zum Babysitten zurückbleiben mussten, während die anderen Lebensmittel und Informationen beschaffen gingen.
Als sie sich erhoben, presste ich mich gegen die Mauer und wartete, bis sie durchs Fenster gestiegen waren und die Kreuzung inspiziert hatten. Die Hände noch immer zu Fäusten geballt, stand ich schließlich auf und nahm die Verfolgung auf, wobei ich einen guten halben Block Abstand hielt, bis endlich das Lagerhaus in Sichtweite kam.
Bevor sie die letzte Straße überquerten, hielt Sen ein Feuerzeug in die Höhe, eine Flamme, die der Wachposten auf dem Dach sehen konnte. Als Antwort ertönte ein leiser Pfiff – das Zeichen heraufzukommen.
Ich rannte los und holte sie ein, bevor Sen den anderen die Feuerleiter hinauffolgen konnte.
»Agentin Sen!«, flüsterte ich eindringlich.
Ihr Kopf fuhr herum, eine Hand an der Leiter, die andere zuckte zum Pistolenhalfter an ihrem Kampfanzug. Ich brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass ich die ganze Zeit den Revolver in meiner Jackentasche umklammert hatte.
»Was ist?«, zischte sie und bedeutete Gates und Ferguson weiterzuklettern.
Bist wohl nicht sehr erfreut, mich zu sehen, was?
»Ich muss Ihnen was sagen … Es geht um …« Ich hoffte, dass sie das Beben meiner Stimme für Angst hielt und nicht für Zorn, der kurz davor war zu explodieren. »Ich traue Cole nicht genug dafür.«
Das weckte ihr Interesse. In der Dunkelheit sah ich ihre Zähne aufblitzen.
»Was ist denn?«, fragte sie.
Diesmal lächelte ich. Und als ich mich in ihren Verstand bohrte, kümmerte es mich nicht, ob ich ihn dabei in Stücke riss. Heftig fetzte ich durch Erinnerungen an Stockbetten, Ausbildung, das Hauptquartier, Agenten, schleuderte die Bilder schneller beiseite, als sie sich in meinem Verstand manifestieren konnten. Ich spürte, wie sie unter der Wucht meines Angriffs zuckte und zitterte.
Ich wusste sofort Bescheid, als ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Sie hatte es sich so lebhaft vorgestellt, alles mit so hinterlistiger Effizienz geplant, dass sogar ich sie unterschätzt hatte. Alles an der Vorstellung hatte einen unnatürlichen Schimmer an sich, wie warmes Wachs. Autos purzelten in die Szenerie, Gesichter, die ich als die der Kinder dort oben wiedererkannte, waren halb von Knebeln verdeckt. Staubige Militärkluft. Schwarze Uniformen. Einen Tausch.
Als ich wieder auftauchte, schnappte ich nach Luft, bekam den Sauerstoff nicht tief genug in die Lunge. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, ihr Gedächtnis zu manipulieren und die Erinnerung an die letzten Minuten durch eine falsche zu ersetzen. Ich wartete nicht, bis sie sich erholt hatte, sondern drängte mich an ihr vorbei zur Leiter.
Cole – meine Gedanken überschlugen sich, Schwarz waberte vor meinen Augen. Ich muss es Cole sagen.
Und ich musste weg von dieser Agentin, bevor ich der beängstigend realen Versuchung nachgab, ihr hier und jetzt eine Kugel zu verpassen.
Denn es hatte ihr nicht genügt, uns Lebensmittel vorzuenthalten und zu drohen, uns zurückzulassen, wenn wir nicht leiser waren, nicht schneller spurten, nicht mit ihr und den anderen mithalten konnten. Sie wollte uns ein für alle Mal loswerden – uns der einzigen Gruppe übergeben, die sie für fähig hielt, uns unter Kontrolle zu halten.
Und die Belohnung, die wir ihr einbringen würden, sollte ihren nächsten Schlag finanzieren.