Cover
Tom Clancy: Red Rabbit
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe
RED RABBIT
erschien bei G. P. Putnam’s & Sons, New York
Fachliche Beratung: Heinz-W. Hermes
Copyright © 2002 by Rubicon, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002
by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München
Copyright © dieser Ausgabe 2004
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagillustration und Umschlaggestaltung:
Nele Schütz Design, München
Gesetzt aus der Stempel Garamond bei Leingärtner, Nabburg
http://www.heyne.de
ISBN: 978-3-641-08579-7
V004
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
PROLOG - DER GARTEN HINTERM HAUS
1. Kapitel - VORAHNUNGEN UND TRÄUME
2. Kapitel - VISIONEN UND HORIZONTE
3. Kapitel - ERKUNDUNGEN
4. Kapitel - VORSTELLUNGEN
5. Kapitel - NAHE DRAN
6. Kapitel - ABER NICHT ZU NAHE
7. Kapitel - AUF KLEINER FLAMME KOCHEN LASSEN
8. Kapitel - DAS FERTIGE GERICHT
9. Kapitel - ALPTRÄUME
10. Kapitel - EIN BLITZ AUS HEITEREM HIMMEL
11. Kapitel - FINGERSPIELE
12. Kapitel - DIE ÜBERGABE
13. Kapitel - KOLLEGIALITÄT
14. Kapitel - DAS GEFAHRENSIGNAL
15. Kapitel - DER TREFFPUNKT
16. Kapitel - EINE PELZMÜTZE FÜR DEN WINTER
17. Kapitel - DIE BLITZNACHRICHT
18. Kapitel - KLASSISCHE MUSIK
19. Kapitel - GRÜNES LICHT
20. Kapitel - INSZENIERUNG
21. Kapitel - URLAUB
22. Kapitel - VORBEREITUNGEN
23. Kapitel - ALLE MANN AN BORD
24. Kapitel - HÜGELLANDSCHAFTEN
25. Kapitel - ÜBER DIE GRENZE
26. Kapitel - TOURISTEN
27. Kapitel - RABBITS HAKEN
28. Kapitel - BRITISH MIDLANDS
29. Kapitel - ENTHÜLLUNG
30. Kapitel - DAS KOLOSSEUM
31. Kapitel - BRÜCKENBAUER
32. Kapitel - MASKENBALL
Copyright

Der Autor

Tom Clancy hatte mit seinem ersten Thriller, Jagd auf Roter Oktober, auf Anhieb internationalen Erfolg. Der Meister des Techno-Thrillers stand seitdem mit allen seinen großen Büchern an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Tom Clancy starb im Oktober 2013.

1. Kapitel

VORAHNUNGEN UND TRÄUME

»Wann fängst du an, Jack?«, fragte Cathy und legte sich zu ihm ins Bett.

Er war froh, dass es sein eigenes Bett war. So luxuriös das New Yorker Hotel auch gewesen sein mochte, es war und blieb ihm fremd, und überhaupt hatte er genug von seinem Schwiegervater, seiner Penthouse-Wohnung an der Park Avenue und seiner schrecklich aufgeblasenen Art. Okay, Joe Miller hatte gut neunzig Millionen auf der Bank und in diversen Depots, ein Vermögen, das unter der neuen Präsidentschaft noch kräftig zunahm, aber es reichte jetzt langsam.

»Übermorgen«, antwortete er. »Ich will nach der Mittagspause mal kurz vorbeischauen, nur um mir einen ersten Überblick zu verschaffen.«

»Du solltest ein bisschen Schlaf nachholen«, sagte sie.

Genau da saß der Haken, wenn man mit einer Ärztin verheiratet war, dachte Jack so manches Mal. Einer solchen Frau ließ sich nicht viel verheimlichen. Sie hatte mit einer sanften Handberührung Körpertemperatur, Pulsfrequenz und wer weiß was noch erfasst, ließ aber von ihrer Diagnose genauso wenig durchblicken wie ein Pokerprofi von seinem Blatt.

»Ja, es war ein langer Tag.« In New York war es gerade erst kurz vor fünf am Nachmittag, doch sein »Tag« hatte um einiges länger gedauert als normale vierundzwanzig Stunden. Es wäre wirklich besser, wenn er lernen würde, im Flugzeug zu schlafen. Nicht, dass er unbequem gesessen hätte. Er hatte das vom Staat bezahlte Ticket zu einem Ticket für die erste Klasse umgetauscht und die Differenz aus eigener Tasche dazugezahlt, aber das würde er durch die Vielflieger-Bonuspunkte schon bald wieder zurückgewonnen haben. Großartig, dachte Jack. Auf den Flughäfen von Heathrow und Dulles war er demnächst bestimmt bekannt wie ein bunter Hund. Nun, immerhin hatte er einen neuen schwarzen Diplomatenpass, blieb also vor den üblichen Sicherheitskontrollen und dergleichen verschont. Offiziell war er der US-Botschaft Grosvenor Square in London zugeteilt, gleich gegenüber jenem Gebäude, in dem Eisenhower während des Zweiten Weltkriegs ein eigenes Büro unterhielt. Seinem diplomatischen Status verdankte Ryan eine Reihe von Vollmachten, die ihn über die Gesetze stellten und gewissermaßen zum Supermann machten. Er würde jetzt ein Kilo Heroin nach England schmuggeln können, und die Zollbeamten dürften seine Koffer ohne sein Einverständnis nicht einmal berühren. Mit dem Hinweis auf seine Sonderrechte als Diplomat und dem Vorwand, in Eile zu sein, würde er ihnen dieses Einverständnis einfach vorenthalten können. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich Diplomaten über kleinliche Zollpflichten stets hinwegsetzen – was selbst nach Ryans katholischen Moralbegriffen eine allenfalls lässliche Sünde war und somit verzeihlich.

Das typische Durcheinander in einem übermüdeten Kopf, dachte er. Cathy würde es sich nie erlauben, in einem solchen Zustand ihre Arbeit auszuüben. Allerdings hatte sie als Ärztin im Praktikum endlose Stunden ununterbrochen Dienst tun müssen – weil sie unter anderem auch lernen sollte, wichtige Entscheidungen unter Stress zu treffen –, und Jack fragte sich, wie viele Patienten wohl im Zuge solcher Ausbildungspraktiken schon zu Schaden gekommen waren. Wenn ein pfiffiger Anwalt dahinterkäme, wie sich da Geld herausschlagen ließe …

Cathy – auf dem Plastikschild an ihrem weißen Kittel stand: Dr. Caroline Ryan, M. D., FACS – hatte sich in dieser Phase der Ausbildung geradezu aufreiben müssen, und Jack war damals ständig in Sorge gewesen, ihr könnte auf dem Nachhauseweg in ihrem kleinen Porsche etwas zustoßen – nach sechsunddreißig Arbeitsstunden in der Geburtshilfe, der Pädiatrie oder der allgemeinen Chirurgie, Fachgebieten, die sie nur mäßig interessant fand, aber dennoch kennen lernen musste, um approbiert zu werden. Nun, immerhin hatte sie dort auch genug gelernt, um ihn und seine lädierte Schulter an jenem Nachmittag vor dem Buckingham Palace auf die Schnelle zu verarzten und so zu verhindern, dass er vor ihren und den Augen seiner Tochter verblutete. Das wäre für alle Beteiligten ziemlich schmachvoll gewesen, besonders aber für die Briten. Ob ich auch posthum noch in den Ritterstand erhoben worden wäre? fragte er sich und schmunzelte. Dann, nach neununddreißig Stunden ohne Schlaf, schloss er endlich die Augen.

 

»Ich hoffe, es gefällt ihm da drüben«, sagte Judge Moore zum Abschluss der allabendlichen Teambesprechung.

»Unsere Cousins sind ausgesprochen gastfreundlich«, erwiderte James Greer. »Und Basil wird ein guter Lehrer sein.«

Ritter sagte nichts. Für einen Mann vom CIA, zumal einen Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, war Ryan, dieser Amateur, enorm populär. Ihm, Ritter, kam es so vor, als wackele die nachrichtendienstliche Abteilung als Schwanz mit dem Hund, nämlich der Einsatzabteilung. Zugegeben, Jim Greer war ein guter Mann und zuverlässiger Kollege, aber er war kein Spion im Einsatz, also das, was die Agency – im Unterschied zum Kongress – wirklich brauchte. So viel war Arthur Moore immerhin klar. Aber wenn auf dem Kapitolhügel das Wort »Agent im Einsatz« fiel, schreckten die Abgeordneten, die ihren Segen zu geben hatten, zurück wie Dracula angesichts eines Kruzifixes, und alle verzogen das Gesicht. Dann war es an der Zeit, dass Klartext geredet wurde.

»Wie viel darf er wissen? Was glauben Sie?«, fragte der DDO, der stellvertretende Einsatz-Direktor.

»Basil betrachtet ihn als meinen persönlichen Vertreter«, antwortete Judge Moore, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte. »Das heißt, was man uns an Informationen mitteilt, wird auch er erfahren dürfen.«

»Die werden sich Ryan zur Brust nehmen«, warnte Ritter, »und nach Belieben ausquetschen. Und er weiß nicht, wie er sich dagegen wehren kann.«

»Dazu hab ich ihm schon einiges gesagt«, entgegnete Greer, der als DDO natürlich auf dem Laufenden war. Ritter aber konnte ziemlich grantig werden, wenn ihm etwas nicht passte. Greer fragte sich, wie wohl seine Mutter mit ihm zurechtgekommen war. »Unterschätzen Sie ihn nicht, Bob. Er ist sehr gescheit. Ich wette mit Ihnen um ein Abendessen, dass er über die Briten mehr herausfindet als die über ihn.«

»Kunststück«, schnaubte der stellvertretende Einsatz-Direktor.

»Um ein Essen in Snyder’s Restaurant«, schlug der stellvertretende Leiter des Nachrichtendienstes vor. Für beide gab es kein besseres Steak House als eben Snyder’s, gleich hinter der Key Bridge in Georgetown gelegen.

Judge Arthur Moore, der CIA-Chef, kurz DCI, folgte dem Schlagabtausch mit sichtlichem Vergnügen. Greer wusste, wie er sich Ritter gefügig machen konnte, und Ritter ging ihm tatsächlich immer wieder auf den Leim. Vielleicht lag’s an Greers ausgeprägtem Ostküstenakzent. Texaner wie Bob Ritter (und auch Arthur Moore) wähnten sich allen, die durch die Nase sprachen, haushoch überlegen, vor allem beim Kartenspiel oder dann, wenn eine Flasche Bourbon-Whiskey herumgereicht wurde. Judge Moore war darüber zwar erhaben oder glaubte es zumindest zu sein, hatte aber seinen Spaß daran, die beiden zu beobachten.

»Einverstanden, um ein Abendessen bei Snyder’s.« Ritter streckte die Hand aus. Und für den DCI war es an der Zeit, die Gesprächsleitung wieder an sich zu nehmen.

»Das wäre also geklärt. Kommen wir zum nächsten Punkt, meine Herren. Der Präsident wünscht von mir darüber aufgeklärt zu werden, was in Polen vor sich geht.«

Ritter ließ sich mit der Antwort Zeit. Er hatte zwar einen tüchtigen Mann als Leiter der Außenstelle in Warschau, doch dem standen nur drei Einsatzagenten zur Verfügung, wovon einer ein Neuling war. Allerdings hatten sie eine sehr zuverlässige Quelle an hoher Position in der polnischen Regierung und darüber hinaus mehrere gute Kontakte zum Militär.

»Das ist denen vor Ort selbst noch nicht klar, Arthur. Diese Solidarnosc-Geschichte macht ihnen jedenfalls schwer zu schaffen«, berichtete der DDO.

»Am Ende wird ihnen Moskau diktieren, was zu tun ist«, pflichtete Greer bei. »Aber auch Moskau weiß nicht weiter.«

Moore setzte seine Lesebrille ab und rieb sich die Augen. »Tja, wenn man ihnen offen die Stirn bietet, sind sie ratlos. Stalin hätte alles kurzerhand niedergemacht, aber der jetzigen Riege fehlt dazu die Chuzpe – dem Himmel sei Dank.«

»Im Kollektiv zu regieren kehrt bei den Einzelnen die Feigheit hervor, und Breschnew hat einfach nicht mehr das Zeug zum Führen. Nach dem, was man so hört, muss er sich sogar auf dem Weg zur Toilette an die Hand nehmen lassen.« Das war natürlich leicht übertrieben, aber es gefiel Ritter, über eine schwächelnde sowjetische Regierung Witze zu reißen.

»Was hat uns KARDINAL zu vermelden?« Moore bezog sich auf den CIA-Spitzenagenten im Kreml, die rechte Hand des Verteidigungsministers Dimitri Fedorowitsch Ustinow. Sein Name lautete Michail Semjonowitsch Filitow, doch für die wenigen eingeweihten Männer vom CIA war er schlicht und einfach der KARDINAL.

»Seinen Worten nach hat Ustinow die Hoffnung aufgegeben, dass das Politbüro irgendetwas Sinnvolles hervorbringen könnte, ehe nicht ein anderer an der Spitze steht. Leonid ist seinem Amt nicht mehr gewachsen. Das weiß jeder, auch der Mann auf der Straße. Fernsehbilder lassen sich schlecht beschönigen.«

»Wie lange wird er’s noch machen?«

Allgemeines Schulterzucken. Dann antwortete Greer: »Ich hab mit Ärzten gesprochen. Die sagen, es könnte sein, dass er schon morgen tot umfällt oder noch ein paar Jahre vor sich hin siecht. Er leidet allem Anschein nach an einer fortschreitenden kardiovaskulären Myopathie, wahrscheinlich verschärft durch Alkoholismus.«

»Das Problem haben sie alle«, bemerkte Ritter. »Übrigens kann KARDINAL beides bestätigen: Herzklappern und Suff.«

»Dann wird wohl auch die Leber nicht mehr ganz auf der Höhe sein«, sagte Greer.

Judge Moore bemerkte abschließend zu diesem Thema: »Einem Bären zu verbieten, in den Wald zu scheißen, wäre ebenso sinnlos wie der Versuch, Russen ihren Wodka madig zu machen. Was sie am Ende scheitern lässt, ist weniger der Suff als ihre Unfähigkeit, einen geordneten Machtwechsel zu vollziehen.«

»Haben die denn keine Anwälte?« Bob Ritter grinste hämisch. »Vielleicht sollten wir ihnen ein paar hunderttausend von unseren zukommen lassen.«

»So dumm sind sie auch wiederum nicht«, entgegnete der DDI. »Feuern wir lieber ein paar Raketen auf sie ab. Die richten nicht ganz so viel gesellschaftlichen Schaden an.«

»Womit hat meine Zunft so viel Spott und Schelte verdient?«, stöhnte Moore mit zur Decke gerichtetem Blick. »Wenn deren System überhaupt noch zu retten ist, so nur durch einen Anwalt, meine Herren.«

»Glauben Sie das wirklich, Arthur?«, fragte Greer.

»Für eine vernünftige Gesellschaft ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit unabdingbar, und die kommt ohne Anwälte nicht aus.« Moore war Richter am Obersten Gerichtshof des Staates Texas gewesen. »Von diesem Prinzip sind die Russen noch weit entfernt. Über Recht und Unrecht entscheidet nach wie vor das Politbüro, und wer ihm nicht passt, wird ruck, zuck kriminalisiert. Schrecklich, unter solchen Verhältnissen leben zu müssen, der Willkür preisgegeben. Wie im alten Rom unter Caligula, der jeden noch so schrägen Einfall zur Maxime erhob. Ach was, selbst in Rom gab es Gesetze, an die sich auch ein Kaiser zu halten hatte. Aber das ist bei unseren russischen Freunden nicht der Fall.« Die anderen konnten kaum ermessen, wie schrecklich diese Vorstellung für ihren Direktor war. Er hatte sich in einem Bundesstaat, der hinsichtlich seiner Rechtsprechung als vorbildlich galt, schon als Strafverteidiger einen Namen gemacht, ehe er in den Richterstand wechselte. Für die meisten Amerikaner war Rechtsstaatlichkeit so selbstverständlich und unverzichtbar wie das Regelwerk für Baseball-Spiele. Was Ritter und Greer aber am meisten an Moore schätzten, war, dass er noch vor seiner Karriere als Jurist ein außerordentlich erfolgreicher Agent für besondere Einsätze gewesen war. »Also, was zum Kuckuck soll ich jetzt dem Präsidenten sagen?«

»Die Wahrheit«, schlug Greer vor. »Wir wissen nichts, weil sie nichts wissen.«

Das war die einzig vernünftige Antwort, natürlich, und doch… »Verflucht, Jim, wir werden dafür bezahlt, dass wir Bescheid wissen!«

»Es läuft alles auf die Frage hinaus, ob und in welchem Maße sich die Russen bedroht fühlen. Polen ist kein Problem für sie, ein kleiner Nachbar nur, der auf ihr Kommando hört«, sagte Greer. »Und was das eigene Volk im Fernsehen oder in der Prawda zu sehen und zu lesen bekommt, lässt sich kontrollieren…«

Ritter fiel ihm ins Wort. »Nicht aber die Gerüchte, die über die grüne Grenze hereinsickern. Genauso wenig wie die Geschichten, die ihre Soldaten zu erzählen haben, wenn sie von Einsätzen im Ausland zurückkommen, aus Deutschland zum Beispiel, der Tschechoslowakei, Ungarn. Manche können auch Voice of America oder Radio Free Europe empfangen.« Der eine Rundfunksender unterstand unmittelbar der Kontrolle durch die CIA, und dass der andere, wie es offiziell hieß, unabhängig sein sollte, glaubte nur, wer naiv genug war. Ritter hatte persönlich direkten Einfluss auf beide Propagandainstrumente der amerikanischen Regierung. Für gut gemachte Agitprop hatten die Russen durchaus Verständnis.

»Und? Wie bedroht fühlen sie sich Ihrer Meinung nach?«, fragte Moore.

»Noch vor zwei oder drei Jahren wähnten sie sich ganz obenauf«, antwortete Greer. »Unsere Wirtschaft war auf Talfahrt, und es gab Knatsch mit dem Iran, während ihnen gerade Nicaragua in den Schoß gefallen war. Um unser nationales Selbstbewusstsein stand es ziemlich schlecht und …«

»Nun, damit geht es zum Glück wieder bergauf«, unterbrach Moore ihn. »Komplette Trendwende, hüben wie drüben?« Arthur Moore war ein unverbesserlicher Optimist – wie hätte er sonst auch DCI werden können?

»Zumindest geht’s in die Richtung«, bestätigte Ritter. »Die Russen kommen so schnell nicht nach. Sie sind einfach nicht flexibel genug, und das ist ihre größte Schwäche. Die besten Köpfe sind durch ihre ideologischen Scheuklappen behindert. Wir können sie fertig machen, ihnen verdammt wehtun, wenn wir ihre Schwächen gründlich analysieren und diese für unsere Zwecke ausnutzen.«

»Glauben Sie das wirklich, Bob?«, fragte der DDI.

»Davon bin ich überzeugt!«, blaffte der DDO. »Sie sind verwundbar, und was noch besser ist: Sie wissen nicht einmal, dass sie verwundbar sind. Es wird Zeit, dass wir in Aktion treten. Wir haben einen Präsidenten, der auf unserer Seite steht. Wenn es sich nur irgendwie für ihn lohnt, wird er uns auch den nötigen Rückhalt bieten. Und der Kongress hat viel zu viel Angst vor ihm, als dass er sich uns in den Weg stellen würde.«

»Robert«, sagte der DCI, »es hört sich an, als hätten Sie schon was Konkretes auf Lager.«

Ritter antwortete erst nach ein paar Sekunden. »Ja, so ist es auch. Ich denke schon darüber nach, seit ich vor elf Jahren aus dem Außendienst in die Zentrale gerufen worden bin. Schriftlich ausgearbeitet ist davon natürlich nichts.« Die Erklärung hätte er sich sparen können. Der Kongress konnte jedes Dokument, jede Aktennotiz, die in diesem Haus angelegt wurde, auf Verlangen einsehen, aber natürlich nicht die Pläne, die einer der Mitarbeiter in seinem Kopf schmiedete und ausschließlich dort aufbewahrte. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, damit herauszurücken. »Worin besteht der größte Wunsch der Sowjets?«

»Uns in die Knie zu zwingen«, sagte Moore, und für diese Antwort musste man nicht unbedingt die Intelligenz eines Nobelpreisträgers haben.

»Okay, und was ist unser größter Wunsch?«

Diesmal fühlte sich Greer angesprochen. »Für uns schickt es sich nicht, in solchen Begriffen zu denken. Wir suchen nach einem Modus vivendi mit ihnen.« Zumindest nannte es die New York Times so, und die war immerhin die Stimme der Nation, oder? »Also los, Bob, rücken Sie schon raus mit der Sprache.«

»Wie kommen wir ihrem Wunsch zuvor?«, sagte Ritter. »Mit anderen Worten: Wie machen wir die Scheißkerle platt?«

»Sie denken an einen Umsturz?«, vergewisserte sich Moore.

»Ja. Was spräche dagegen?«

»Wäre so etwas denn überhaupt möglich?«, fragte der DCI, der sich an Ritters Gedankengängen merklich interessiert zeigte.

»Also, wenn die uns drohen, warum sollten wir das nicht auch können?« Ritters Tonfall hatte an Schärfe zugenommen. »Sie sponsern politische Gruppen in unserem Land, damit die hier Unruhe stiften. Sie organisieren so genannte Friedensdemonstrationen in ganz Europa, die Abrüstung fordern, während sie selbst fleißig aufrüsten. Aber wir dürfen nicht einmal an die Presse durchsickern lassen, was wir über den Umfang ihrer taktischen Atomwaffen wissen …«

»Und wenn wir’s täten, würde es nicht gedruckt«, bemerkte Moore. Zwar hatten auch die Medien für Atomwaffen nicht viel übrig, waren aber bereit, sie auf Seiten der Sowjetunion zu tolerieren, denn da wirkten sie weniger destabilisierend. Anscheinend wollte Ritter herausfinden, ob die Sowjets tatsächlich auch Einfluss auf die amerikanischen Massenmedien hatten und ausübten. Eine solche Untersuchung, so fürchtete Moore, würde in jedem Fall für böses Blut sorgen. An der Vorstellung, dass sie ganz und gar integer und ausgewogen seien, hielten die Medien ebenso hartnäckig fest wie ein Geizkragen an seinen Schätzen. Doch auch wenn konkrete Beweise fehlten, war wohl kaum abzustreiten, dass sich der KGB, auf welche Weise auch immer, amerikanische Medien zunutze machte, zumal das ganz einfach zu bewerkstelligen war. Man musste den Pressefritzen bloß ordentlich schmeicheln, ihnen vermeintlich streng geheimes Material an die Hand geben und sich als vertrauenswürdige Quelle anbieten. Aber wussten die Sowjets auch, wie gefährlich dieses Spiel werden konnte? Die amerikanischen Nachrichtenmedien hegten und pflegten ein paar Grundüberzeugungen, die ihnen heilig waren. Daran zu rühren war so brisant wie die Handhabung einer scharfen Bombe. Jede falsche Bewegung konnte einen sehr teuer zu stehen kommen. Im siebten Stock der Zentrale gab es niemanden, der die Cleverness des russischen Geheimdienstes unterschätzte; er bestand aus versierten, gut ausgebildeten Leuten. Doch hatte auch der KGB seine Schwächen. Wie die Regierung, der er diente, presste er die Wirklichkeit in eine politische Schablone und ignorierte, was sich ihr nicht einfügen ließ. So manche Operation, die wochen-, ja monatelang aufs Sorgfältigste geplant und vorbereitet worden war, scheiterte schließlich doch, weil der eine oder andere Agent zu seiner Überraschung feststellte, dass das Leben im Feindesland am Ende gar nicht so schlecht war wie immer behauptet. Lügen ließen sich am besten mit der Wahrheit kurieren. Sie traf immer mitten ins Gesicht, was besonders schmerzhaft war für alle, die noch einen Funken Verstand hatten.

»Das ist nicht so wichtig«, sagte Ritter und überraschte damit die Kollegen.

»Also gut, führen Sie weiter aus«, befahl Moore.

»Wir müssen ihre wunden Stellen ausfindig machen und zuschlagen  – mit dem Ziel, die ganze Union zu destabilisieren.«

»Das dürfte nicht ganz einfach sein«, stellte Moore fest.

»Brennt jetzt der Ehrgeiz mit Ihnen durch?«, fragte Greer staunend. »Unsere politische Führung erbleicht vor einem solchen Ziel.«

»Ich weiß, ich weiß.« Ritter hob beide Hände in die Höhe. »Wir dürfen ihnen nicht wehtun, sonst beschießen sie uns mit ihren Atomraketen … Im Ernst, ein solcher Schlag ist doch völlig unwahrscheinlich. Sie haben eine Heidenangst vor uns. Sie haben sogar Angst vor Polen! Und warum? Weil da eine Epidemie ausgebrochen ist, die ›gestiegene Erwartungen‹ heißt. Und die können sie nicht erfüllen. Ihre Wirtschaft kommt nicht vom Fleck. Wenn wir ihnen nur einen kleinen Stoß versetzen …«

»›Wir brauchen nur die Tür einzutreten, und der ganze morsche Bau wird einstürzen‹«, zitierte Moore. »Das hat schon mal jemand gesagt. Aber als es zu schneien anfing, erlebte Adolf sein böses Wunder.«

»Er war ein Idiot, der es versäumt hat, seinen Machiavelli zu lesen«, entgegnete Ritter. »Zuerst besiegen, dann töten. Warum sollte man sie vorher warnen?«

»Von unseren jetzigen Gegnern könnte der alte Niccolo allerdings die eine oder andere Lektion lernen«, sagte Greer. »Was genau schlagen Sie vor, Bob?«

»Wie gesagt, eine systematische Analyse der Schwachstellen in der Sowjetunion, schon im Hinblick darauf, diese Schwachstellen für unsere Zwecke auszunutzen. Anders ausgedrückt: Wir erforschen die Umrisse eines Planes, mit dem wir unserem Feind sehr viel Ärger machen könnten.«

»Nun, wenn man so will, ist genau das unsere ureigenste Aufgabe«, erwiderte Moore und zeigte sich einverstanden. »James?«

»Von mir aus. Ich könnte ein Team zusammenstellen und ein paar Ideen aushecken lassen.«

»Aber nicht immer dieselben Leute«, drängte der DDO. »Versuchen wir’s mal mit anderen. Es wird Zeit, dass wir aus den alten Gleisen ausscheren.«

Greer dachte einen Moment lang nach und nickte dann zustimmend. »Okay, die Auswahl übernehme ich. Wollen wir dem Projekt schon einen Namen geben?«

»Wie wär’s mit INFEKTION?«, sagte Ritter.

»Wenn dann eine Operation draus wird, könnten wir sie ja EPIDEMIE nennen«, fügte der DDI lachend hinzu.

Moore grinste. »Nein, ich hab’s. DIE MASKE DES ROTEN TODES. Dieser Titel von Poe würde doch gut passen, wie ich finde.«

»Worum geht’s eigentlich? Will die Operationsleitung jetzt auch noch den Nachrichtendienst übernehmen?«, fragte Greer laut.

Die ganze Sache war noch längst nicht spruchreif und kaum mehr als eine interessante Übung, ähnlich den Überlegungen eines Unternehmensvorstandes, der eine Firmenübernahme plante – und diese Firma dann, wenn es die Umstände erlaubten, in kleine Teile aufbrechen würde. Nein, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken war der Dreh- und Angelpunkt ihrer Berufswelt, das, was für die Boston Red Sox die New York Yankees waren oder umgekehrt. Sie zu besiegen war ihr Traum – und nicht viel mehr als eben nur ein Traum.

Trotzdem billigte Judge Moore diese und ähnliche Gedankenspiele. Wenn der Wunsch nicht größer war als das Erreichbare, wozu gab es dann den Himmel?

 

In Moskau war es fast elf Uhr in der Nacht. Andropow rauchte eine Zigarette – eine amerikanische Marlboro – und nippte an seinem Wodka der Marke Starka, ein Spitzenfusel, der so braun war wie amerikanischer Bourbon-Whiskey. Ein weiteres Produkt aus Amerika drehte sich auf dem Plattenteller: Jazz aus New Orleans mit Louis Armstrong an der Trompete. Wie viele andere Russen sah auch der Vorsitzende des KGB in Schwarzen nicht viel mehr als Kannibalen oder Affen. Gleichwohl schätzte er die Musik derer, die aus Amerika stammten, als eigenständige, feinsinnige Form von Kunst. Als russischer Patriot hätte ihm eigentlich vor allem die Musik von Borodin oder anderen russischen Komponisten am Herzen liegen sollen, doch hatte der amerikanische Jazz eine besondere vitalisierende Note an sich, die ihn ganz unmittelbar berührte. Allerdings war ihm die Musik nur eine stimulierende Begleitung zu seinen Gedanken.

In Andropows Gesicht stachen zwei Merkmale besonders deutlich hervor: buschige Brauen und ein wuchtiger Unterkiefer, der auf eine andere ethnische Herkunft schließen ließ. Doch er war durch und durch Russe, also teils Byzantiner, teils Tatar und Mongole mit all den entsprechend verschiedenen Facetten, die er allerdings samt und sonders auf seine persönlichen Ziele zu fokussieren verstand. Und davon hatte er jede Menge, wobei ihm eines besonders wichtig war: Er wollte an die absolute Spitze der Macht in seinem Land. Es musste gerettet werden, und er glaubte zu wissen, auf welche Weise dies zu geschehen hatte. Einer der Vorzüge seines Amtes als Vorsitzender des Komitees für Staatssicherheit bestand darin, dass es nur wenige Geheimnisse gab, die ihm verschlossen blieben – und das, obwohl in seinem Land nach Strich und Faden gelogen wurde, ja, die Lüge hier gewissermaßen den Rang hoher Kunst innehatte. Dies galt vor allem für die sowjetische Wirtschaft, die sich nach irgendwelchen Planvorgaben zu richten hatte. Ob diese Vorgaben nun realistisch waren oder nicht, zählte nicht. Ihre Umsetzung wurde erzwungen, wenn auch nicht mehr mit ganz so drakonischen Maßnamen wie einst. Wenn in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Plan nicht erfüllt wurde, musste häufig unter anderem auch hier in diesem Gebäude jemand dran glauben. Schuld daran waren nämlich »Saboteure«, Staatsfeinde, Verräter, und das waren nach hiesigem Verständnis die schlimmsten aller Verbrecher, die also besonders hart bestraft werden mussten. Für gewöhnlich geschah dies mit einer Kugel Kaliber .44 aus einem der alten Smith & Wesson-Revolver, die noch der letzte Zar aus Amerika hatte einführen lassen.

Aus diesem Grund waren Bilanzfälschungen an der Tagesordnung. Um das eigene Leben und das ihrer Buchhalter zu schonen, mussten Fabrikdirektoren zusehen, dass sie die hoch gesteckten Erwartungen seitens der politischen Führung zumindest auf dem Papier erfüllten. Die falschen Zahlen verloren sich dann letztlich in jener monströsen Bürokratie, die noch ein Erbe der Zaren war und vom Marxismus-Leninismus um ein Weiteres aufgeblasen wurde. Eben diese Tendenz machte sich nicht zuletzt auch in der eigenen Behörde bemerkbar, wie Andropow sehr wohl wusste. Er versuchte, dagegen vorzugehen, wurde mitunter sogar ziemlich laut, konnte aber nur wenig an Veränderung bewirken. In jüngster Zeit aber zeigten sich kleine Erfolge, denn Juri Wladimirowitsch führte akribisch genau Buch. Und langsam, aber stetig vollzog seine Behörde den längst fälligen Wandel.

Täuschung und Verwirrung aber bildeten nach wie vor den allgemeinen Hintergrund auch seiner ganz speziellen Art von Skrupellosigkeit. Daran hätte nicht einmal ein wiedergeborener Stalin etwas ändern können – und dass der wieder zur Welt kam, wünschte niemand. Institutionalisierte Verwirrung hatte sich des gesamten Parteiapparats bemächtigt. Das Politbüro war nicht entschlussfreudiger als das Management der Kolchose »Sonnenaufgang«. Auf seinem Weg nach oben hatte Andropow die Erfahrung gemacht, dass sich um Effizienz niemand scherte, und deshalb vieles aufs Geratewohl geschah und das meiste im Grunde für mehr oder weniger unwichtig gehalten wurde.

Weil also kaum Fortschritte zu verzeichnen waren, oblag es ihm und dem KGB, all das, was schief gelaufen war, wieder gerade zu rücken. Wenn die Staatsorgane ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnten, musste der KGB für sie einspringen. Andropows Spitzelagentur und ihr militärisches Pendant, der GRU, waren sehr erfolgreich darin, Blaupausen bestimmter Waffensysteme des Westens abzukupfern. Ja, das funktionierte so gut, dachte er schnaubend, dass sowjetische Piloten Konstruktionsfehlern zum Opfer fielen, die amerikanischen Piloten schon Jahre zuvor zum Verhängnis geworden waren.

Und genau da lag der Hase im Pfeffer. Gleichgültig, wie effizient der KGB auch sein mochte, seine größten Erfolge konnten lediglich dafür sorgen, dass das Militär nur um etwa fünf Jahre hinter dem Westen zurücklag und nicht noch mehr. Was sich dem Westen nicht abluchsen ließ, war die Qualitätskontrolle seiner Industrie, die die Entwicklung moderner Waffen erst möglich machte. Andropow erinnerte sich: Unzählige Male hatte man Konstruktionspläne aus Amerika und anderen Ländern an Land gezogen, nur um dann feststellen zu müssen, dass die hiesige Industrie zu Nachbauten einfach nicht in der Lage war.

Genau an dem Punkt musste er unbedingt Abhilfe schaffen. Im Vergleich dazu waren die mythischen Taten von Herkules ein Kinderspiel gewesen, dachte Andropow und drückte den Zigarettenstummel aus. Den Staat transformieren? Auf dem Roten Platz bewahrte man wie Reliquien einer Gottheit die mumifizierte Leiche von Lenin auf – das, was von einem Mann übrig geblieben war, der Russland aus seiner rückständigen Monarchie in einen sozialistischen Staat verwandelt hatte, der sich seinerseits als ziemlich rückständig erweisen sollte. Die Regierung in Moskau äußerte sich verächtlich über alle Staaten, die Sozialismus und Kapitalismus zu kombinieren versuchten, sah aber geflissentlich darüber hinweg, dass ihr KGB nicht zuletzt auch diese Länder beraubte. Der Westen interessierte sich für Waffen aus der Sowjetunion allenfalls am Rande und um herauszufinden, wo es bei ihnen haperte. Die westlichen Geheimdienste machten ihren Regierungen Angst, so gut sie konnten, und stilisierten jede neue sowjetische Waffe als ein satanisches Zerstörungswerkzeug ersten Ranges. Später stellten sie dann fest, dass der sowjetische Tiger Bleistiefel an den Füßen hatte und gar nicht in der Lage war, das Wild zu erjagen, so gefährlich seine Zähne auch aussehen mochten. Und wenn russische Wissenschaftler mit originellen Ideen aufwarteten – was gar nicht so selten der Fall war –, wurden diese prompt vom Westen aufgegriffen und zu Instrumenten konvertiert, die auch tatsächlich funktionierten.

Die Konstruktionsbüros machten dem Militär und dem Politbüro viele schöne Versprechungen, gelobten, ihre jüngsten Systeme gehörig zu verbessern, und baten um ein bisschen mehr finanzielle Unterstützung… ha! Und derweil tat der neue amerikanische Präsident, was seine Vorgänger vermieden hatten: Er fütterte seinen eigenen Tiger. Das amerikanische Industriemonstrum fraß rohes Fleisch und produzierte massenhaft jene Waffen, die in der vorausgegangenen Dekade entwickelt worden waren. Andropows Agenten und deren Quellen berichteten, dass sich die Moral im amerikanischen Militär merklich verbesserte, zum ersten Mal seit einer Generation. Dampf machte vor allem ihre Army, die an ihren neuen Waffen trainierte …

Doch das Politbüro wollte ihm nicht glauben, als er davon berichtete. Dessen Mitglieder waren allzu engstirnig und nahmen einfach nicht zur Kenntnis, was jenseits der sowjetischen Grenzen vor sich ging. Die stellten sich vor, dass der Rest der Welt dem eigenen Vorbild folgte, ganz im Sinne der politischen Theorien Lenins – die nun schon sechzig Jahre alt waren! Als hätte sich die Welt seitdem nicht verändert! Juri Wladimirowitsch wütete im Stillen. Er gab Unmengen Geld aus, um herauszufinden, was in der Welt passierte, ließ die gesammelten Informationen von hoch qualifizierten Experten analysieren, legte den alten Männern vorzüglich aufbereitete Berichte vor – doch die wollten einfach nicht hören!

Und zu allem Überfluss kam jetzt noch ein weiteres Problem hinzu.

Damit konnte der Stein ins Rollen gebracht werden, fürchtete Andropow und nahm einen tiefen Schluck Starka aus seinem Glas. Es bedurfte nur einer einzigen Person, wenn es denn die richtige wäre. Der würde zugehört und Aufmerksamkeit geschenkt werden. Und es gab durchaus Leute mit dieser zwingenden Wirkung auf andere.

Vor denen musste man sich hüten …

Karol, Karol, warum machst du uns diese Scherereien?

Scherereien würde es in der Tat geben, wenn er seine Drohung wahr machte. Sein Brief an Warschau war nicht nur für die dortigen Lakaien bestimmt gewesen – er musste gewusst haben, wohin der Brief am Ende gelangte. Er war nicht auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil, er war so ausgefuchst wie all die anderen politischen Strategen, mit denen Juri zu tun hatte. Wer sich in einem kommunistischen Land als katholischer Geistlicher hatte behaupten können und bis in das höchste Amt, gewissermaßen auf den Posten des Generalsekretärs der größten Weltkirche, aufgestiegen war, wusste sehr geschickt auf der Klaviatur der Macht zu spielen. Und dieses Amt, das er bekleidete, gab es schon seit fast zweitausend Jahren, oder? Am Alter der römisch-katholischen Kirche ließ sich nicht rütteln. Historische Tatsachen waren historische Tatsachen. Das aber machte ihre Glaubenssätze um keinen Deut gültiger. Für Juri Wladimirowitsch war der Glaube an Gott ebenso irrational wie der Glaube an Marx und Engels. Doch er wusste um die Notwendigkeit eines Glaubens als Quelle von Macht. Schlichtere Gemüter, solche, denen gesagt werden musste, was sie zu tun und zu lassen hatten, mussten an etwas glauben können, das größer war als sie selbst. Die in den verbliebenen Urwäldern der Welt lebenden Primitiven hörten im Donner immer noch die Stimme irgendeines überlegenen Lebewesens. Warum? Weil sie sich in dieser starken Welt klein und schwach wähnten. Sie hofften, die Götter milde stimmen zu können, indem sie ihnen Schweine oder sogar Kinder opferten, und wer auf dieses Verhalten Einfluss zu nehmen verstand, besaß vor allem Macht über die Sippe. Macht war eine eigene Währung. Manche kauften sich dafür Luxus oder Frauen – einer seiner Vorgänger hier im KGB hatte es auf junge Mädchen abgesehen, doch Juri Wladimirowitsch war anders gepolt. Er begehrte Macht um ihrer selbst willen. Darin mochte er sich regelrecht suhlen. Es war ihm ein Hochgenuss zu wissen, dass er andere beherrschte, dass er seine Untergebenen vernichten konnte, wenn sie nicht spurten, oder aber befördern, wenn sie ihm gefügig waren und schmeichelten.

Doch das war natürlich längst nicht alles. Macht wollte angewandt sein. Es galt, im Sand der Zeit Spuren zu hinterlassen. Gute oder schlechte Spuren, ganz egal, Hauptsache, sie waren groß genug und fielen auf. Was ihn betraf, so war er von allen Männern im Politbüro der einzige, der wusste, was zu geschehen hatte. Nur er konnte seinem Land den Weg weisen. Wenn er diese Chance nutzte, würde er für alle Zeit in Erinnerung bleiben. Andropow wusste, dass seine Tage gezählt waren. Seine Leber spielte nicht mehr mit. Er hätte keinen Wodka mehr trinken dürfen, doch auch darin zeigte sich Macht, dass er nämlich ganz allein über seine Zukunft bestimmte. Ihm konnte keiner Vorschriften machen. Dass es sich manchmal auch lohnte, Empfehlungen anderer aufzugreifen, war ihm natürlich klar. Doch große Männer hörten nicht auf geringere, und er zählte sich zu den ganz großen. Schließlich war sein Wille stark genug, um der Welt, in der er lebte, seinen Stempel aufzudrücken. Und deshalb gönnte er sich abends das ein oder andere Glas. Auf Empfängen konnten es auch mehr sein. Sein Land wurde längst nicht mehr von einer einzigen Person regiert – es waren gut dreißig Jahre vergangen, seit Josef »Koba« Stalin mit einer Skrupellosigkeit geherrscht hatte, die selbst Iwan den Schrecklichen in seinen Stiefeln hätte erzittern lassen. Nein, diese Art von Macht war für Herrscher wie Beherrschte allzu gefährlich. Stalin hatte vielleicht manches Gute bewirkt, doch seine Fehler überwogen. Sie hatten die Sowjetunion um Jahrzehnte zurückgeworfen und zu fortwährender Rückständigkeit verurteilt. Mit dem Aufbau der weltweit kolossalsten Bürokratie hatte er sein Land um fast alle Fortschrittschancen gebracht.

Aber ein einzelner Mann, nämlich der richtige, konnte die Genossen im Politbüro anführen und dann, indem er neue Mitglieder auszuwählen half, seinen Einfluss im Sinne notwendiger Veränderungen geltend machen, anstatt Terror zu verbreiten. Vielleicht vermochte er dann auch wieder das Land voranzubringen, wenn er, ohne die Kontrolle aus den Händen zu geben, ein gewisses Maß an Flexibilität zuließe, das zur Verwirklichung des wahren Kommunismus unabdingbar war. Dann mochte die strahlende Zukunft hereinbrechen, die Lenin den Getreuen versprochen hatte.

Andropow konnte den Widerspruch in seinem Denken nicht erkennen. Wie so viele große Männer ignorierte er, was mit seinen Ambitionen unvereinbar war.

Nicht ignorieren konnte er jedoch die Gefahr, die von Karol ausging.

Dieses Thema würde auf der nächsten Mitarbeiterkonferenz anzusprechen sein. Die Optionen mussten ausgelotet werden. Das Politbüro würde nach konkreten Antworten auf den Brief aus Warschau verlangen. Er, Juri Wladimirowitsch, wäre gefragt und musste sich deshalb etwas einfallen lassen, das die Genossen, die so gern am Gewohnten festhielten, nicht allzu sehr verängstigen würde. Diese angeblich so mächtigen Männer waren enorm furchtsam.

Andropow las etliche Berichte seiner Einsatzagenten, der tüchtigen Spione vom Ersten Hauptdirektorat, die sich stets in die Gedanken ihrer Gegenspieler einzuschleichen versuchten. Sonderbar, wie viel Angst es in der Welt gab, und die Ängstlichsten waren interessanterweise oft diejenigen, die die Macht in den Händen hatten.

Andropow leerte das Glas und entschied sich für einen weiteren Schlaftrunk. Der Grund ihrer Angst, dachte er, lag in der Sorge, womöglich nicht mächtig und stark genug zu sein. Sie wurden von ihrer Ehefrau schikaniert wie der einfache Fabrikarbeiter oder Bauer auch. Es graute ihnen davor, zu verlieren, woran sie so krampfhaft festhielten, und deshalb machten sie sich für schäbige Unternehmungen stark, die darauf ausgerichtet waren, klein zu machen, was an den herrschenden Besitzständen rüttelte. Sogar Stalin, der mächtigste Despot überhaupt, hatte mit seiner Macht offenbar nichts Besseres anzufangen gewusst, als seine potenziellen Widersacher zu eliminieren, und statt nach vorn beziehungsweise über die Grenzen hinaus zu blicken, blickte der große Koba immer nur nach unten, worin er eher einer Memme glich, die in Angst vor Mäusen lebte, als einem Mann, der die Kraft und den Willen hatte, sich mit einem Tiger anzulegen.

Aber hatte er, Juri Wladimirowitsch, wirklich mehr zu bieten? Ja! Ja, er war in der Lage, in die Zukunft zu blicken und den Weg zu weisen. Ja, er konnte seine Visionen auch jenen schlichteren Gemütern begreiflich machen, die im Kreml saßen, und sie kraft seines Willens anführen. Ja, er würde das Vermächtnis Lenins und all der anderen großen Staatsphilosophen seines Landes aufgreifen und erfüllen. Ja, es sollte ihm möglich sein, sein Land voranzubringen und als einer seiner größten Söhne in die Geschichte eingehen …

Aber zuerst musste er sich um Karol kümmern und der lästigen Drohung begegnen, die dieser gegen die Sowjetunion ausgesprochen hatte.