Jacob und Wilhelm Grimm sind zwei der bedeutendsten Deutschen. Sie waren politisch sehr aktive Zeitgenossen und haben zudem die deutsche Sprach-und Literaturwissenschaft maßgeblich beeinflusst. Weltruhm erlangten sie jedoch durch ihre 1812 und 1815 in zwei Teilen erschienene Sammlung der Kinder- und Hausmärchen.
Angeregt durch Achim von Arnim und Clemens Brentano, stand die Publikation im Zeichen der von Johann Gottfried Herder initiierten Rückbesinnung auf die deutsche Volkspoesie, die im Vorfeld der Befreiungskriege gegen Napoleon einen patriotischen Aspekt bekam. Herder sah im Märchen während des »Sturm und Drang« ein authentisches Zeugnis dafür.
Die Zeit der Aufklärung vertraute auf die menschliche Vernunft und sah in der Erziehung das Mittel, die Welt und die Menschheit einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Diese Glückseligkeit würde aber nur der tugendhafte, tätige Mensch erreichen, der nach den Gesetzen der Vernunft und der Natur handelte. So entstanden Kinderliteratur und Märchen für Kinder.
1812 gaben die Brüder Grimm die erste Auflage der Kinder- und Hausmärchen in Berlin heraus, in der sie sich bemühten, die Überlieferungen getreu wiederzugeben. Bereits die folgende Auflage wurde von Wilhelm Grimm erheblich stilistisch überarbeitet und erweitert. So entstanden erstmals Buchmärchen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie die Mitte zwischen mündlicher Überlieferung und schriftlicher Bearbeitung hielten.
Die Intention der Grimms war es, außer einer wissenschaftlichen Sammlung von Volksmärchen, ein Erziehungsbuch zu schaffen. Wilhelm Grimm äußerte im November 1812 gegenüber seinem Freund Friedrich Carl von Savigny: »Von unseren zwei Büchern sag ich auch weiter nichts, als dass wir bei den Kindermärchen recht eigentlich den Wunsch haben, es möge ein Erziehungsbuch werden, da ich mir nichts ernährender, unschuldiger und erfrischender weiß für kindliche Kräfte und Natur.«
Ausgabe aus dem Jahr 1865
Die Kinder- und Hausmärchen wurden von Wilhelm Grimm den bürgerlichen, biedermeierlichen Erziehungsansichten angepasst: Erotische Stellen wurden getilgt, die Märchen im Sinne christlicher Ethik stilisiert. Trotz dieser Veränderungen bewahrten die Grimms die Treue zu den Quellen, und ihr Werk wurde und ist bis heute richtungsweisend für andere europäische Märchensammlungen. Die Kinder- und Hausmärchen erschienen zu Lebzeiten der Grimms in sieben Auflagen, die immer wieder bearbeitet wurden. Die »ursprüngliche« Form der Märchen ist heute kaum noch bekannt.
Die Verwendung des Begriffs »Märchen« als Gattungsbezeichnung einer literarischen Form wird bis heute viel diskutiert. Die Grundbedeutung finden wir im althochdeutschen Wort mâri (erzählen) sowie im gotischen mêrs (bekannt). Hier liegt der Ursprung der Bezeichnung Märe (Kunde, Bericht, Überlieferung). Deren Verkleinerungsform merechyn (Märchen, kleine Erzählung) ist seit dem 15. Jahrhundert bekannt und bekam später eine negative Bedeutung, weil sie eine erfundene Geschichte und keinen wahren Bericht verzeichnet. Der heute feststehende Begriff Märchen als positive Bezeichnung für eine bestimmte literarische Form und seine einheitliche Verwendung wurde erst durch die Märchenforschung und speziell durch die Brüder Grimm geprägt.
Der Erfolg der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm hat fortan das Idealbild von Kinderliteratur bestimmt und viele zeitgenössische wie heutige Autoren beeinflusst. Mit dem Erscheinen einer kleinen Ausgabe im Jahre 1825, die eine Auswahl von 50 Märchen enthielt, traten die Kinder- und Hausmärchen ihren Siegeszug um die Welt an und wurden 2005 in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.
Übrigens: Die Startauflage der Grimmschen Märchensammlung betrug nur 900 Exemplare. Die Erfolgsgeschichte dieser Publikation trägt selbst märchenhafte Züge: Nach der Bibel ist die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen heute das meistübersetzte Werk der Welt. Das Buch erscheint in mehr als 150 Sprachen und Dialekten.
Die Grimms entstammen einer calvinistischen Beamten- und Pastorenfamilie aus Hessen. Mutter Dorothea Grimm brachte neun Kinder zur Welt, von denen drei bereits im Säuglingsalter starben. Der Vater Philipp Wilhelm Grimm starb schon 1796, als Jacob und Wilhelm noch Kinder waren.
Jacob und Wilhelm studierten beide Rechtswissenschaften an der Universität in Marburg, wo sie die Literatur der Romantik kennenlernten und begannen, sich für die Ursprünge der Literatur und der Sprache zu interessieren. Nach ihrem Studienabschluss begannen sie im Jahre 1806 in Kassel, Märchen zu sammeln und aufzuzeichnen.
Aus Kassel zogen sich die Brüder enttäuscht zurück, weil Jacob Grimm nicht, wie erhofft, zum Oberbibliothekar befördert wurde. 1829 gingen sie nach Göttingen, wo sie als Professoren arbeiteten und zu den Göttinger Sieben gehörten, die sich gegen einen Beschluss von König Ernst August II. auflehnten, weil der die Grundgesetze seines Staates aufgehoben hatte. Nachdem Jacob und Wilhelm Grimm ihrer Professoren-Ämter enthoben wurden, kehrten sie für kurze Zeit nach Kassel zurück.
Eine Ehrung ihrer wissenschaftlichen Arbeit war die Einladung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. an die Brüder Grimm im Jahre 1841, sich mit einem aus seinen persönlichen Mitteln zur Verfügung gestellten Gehalt in Berlin anzusiedeln. Stark gemacht hatten sich für diesen »Ritterschlag« im Vorfeld ihre Freunde Bettina von Arnim, Alexander von Humboldt, Friedrich Carl von Savigny, Karl Lachmann und andere.
1819 bis 1837 veröffentlichte Jacob Grimm in vier Bänden seine monumentale Deutsche Grammatik. Sie befasst sich mit der Geschichte der germanischen Sprache und der Ableitung von Verwandtschaftsbeziehungen. 1838 begannen die Brüder die Vorbereitung für das gemeinsam verfasste Deutsche Wörterbuch, das sie bis zum Buchstaben F ausführten. Bis zum G wie Grimm sind sie nicht mehr gekommen.
Jacob und Wilhelm Grimm lebten und arbeiteten so gut wie immer zusammen. Jacob Grimm berichtete in seiner Rede in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin über den verstorbenen Bruder Wilhelm:
»So nahm uns denn in den langsam schleichenden schuljahren ein bett auf und ein stübchen, da saszen wir an einem und demselben tisch arbeitend, hernach in der studentenzeit standen zwei bette und zwei tische in derselben stube, im späteren leben noch immer zwei arbeitstische in dem nemlichen zimmer, endlich bis zuletzt in zwei zimmern nebeneinander, immer unter einem dach in gänzlicher unangefochten und ungestört beibehaltener gemeinschaft …«
Zuerst führte ihnen die Schwester Charlotte den Haushalt. Nach deren Eheschließung heiratete Wilhelm Grimm 1825 Henrietta Dorothea Wild. Sein Bruder Jacob, der zeitlebens unverheiratet blieb, lebte zusammen mit dem Ehepaar in Kassel, wo 1828 Wilhelms Sohn Hermann Friedrich zur Welt kam. Mehr als 20 Jahre lebten und arbeiteten die Brüder dann gemeinsam in Berlin, endlich unbelastet von finanziellen Unsicherheiten.
Überliefert ist, dass die Brüder Grimm beim mittäglichen Spaziergang durch den Tiergarten unterschiedliche Routen wählten. Es wird erzählt, dass sie, wenn sie sich zufällig begegneten, höflich die Hüte lüfteten und sich einen Guten Tag wünschten.
Der deutsche Philologe Georg Curtius schrieb 1871 über die unterschiedlichen Charaktere und Arbeitsweisen der Brüder Grimm: »Auch traf es sich glücklich, dass Wilhelm Grimm, weniger kühn und umfassend, aber auf beschränkteren Feldern fein und sorgfältig, dem verwegenen Jacob zur Seite stand.« So ergänzten sich die beiden Wissenschaftler und Sammler und eröffneten den nachfolgenden Generationen weite Betätigungsfelder.
In der oben bereits erwähnten Rede über seinen Bruder Wilhelm prophezeite Jacob: »auch unsere letzten bette, hat es allen anschein, werden wieder dicht nebeneinander gemacht sein …«
Er sollte recht behalten. Selbst im Tode sind die Brüder Grimm vereint. Ihre letzte Ruhestätte fanden sie in Berlin-Schöneberg auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof, wo die Grabstätten der Familie als Ehrengräber der Stadt Berlin noch heute besucht werden können.
Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage: 2 Bände 1812, 1815
Deutsche Sagen, 1. Auflage: 2 Bände 1816, 1818
Irische Elfenmärchen, 1826
Deutsche Mythologie, 1835
Deutsches Wörterbuch, 1. Band 1854, 33. Band 1961, insgesamt
34.824 Seiten
Jacob Grimm
Deutsche Grammatik, 1. Auflage: 4 Bände 1819 – 1837
Mit der Sammlung, Dokumentation und wissenschaftlicher Erforschung zu Leben, Werk und Wirken der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm befasst sich unter anderem die Staatsbibliothek zu Berlin. Hier befindet sich der Großteil ihres wissenschaftlichen Nachlasses sowie auch im Hessischen Staatsarchiv Marburg. Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin ist seit 1865 im Besitz von mehreren Tausend Bänden ihrer persönlichen Bibliothek. Das neue Hauptgebäude der Bibliothek trägt seit 2009 den Namen Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum. Ebenso zu erwähnen sind das Museum Haldensleben, das Brüder Grimm Museum in Kassel und das Brüder-Grimm-Haus in Steinau.
Stephanie Freifrau von und zu Guttenberg, geborene Gräfin von Bismarck-Schönhausen, ist seit 2009 Präsidentin der deutschen Sektion des internationalen Kinderschutzvereins Innocence in Danger, der gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und insbesondere gegen die Verbreitung von Kinderpornografie mittels digitaler Medien kämpft. Ihr Buch Schaut nicht weg wurde ein Bestseller. Mit ihrem Einsatz in den Medien sensibilisierte sie breite Teile der Bevölkerung für dieses lange verschwiegene Thema. Stephanie zu Guttenberg, eine Ururenkelin von Otto von Bismarck, wurde 1976 in München geboren, ist verheiratet mit Karl-Theodor zu Guttenberg und Mutter von zwei Kindern. Nach ihrem Abitur studierte sie an der Sorbonne in Paris Geschichte und Politikwissenschaften sowie Betriebswirtschaft und Textiltechnik an der LDT Nagold. Neben ihrem Engagement für Innocence in Danger übernahm Stephanie zu Guttenberg im Januar 2011 das Amt als Schirmherrin des Landesverbandes Bayern der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Für ihren Kampf gegen den Missbrauch von Kindern erhielt sie mehrere Auszeichnungen, darunter den Ehrenpreis der Organisation World Vision Deutschland, den Leading Ladies Award sowie – zusammen mit der Schauspielerin Iris Berben und der Journalistin und Chefredakteurin Marion Horn (Aktion Ein Herz für Kinder) – die GOLDENE ERBSE von Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur in Berlin.
Geboren 1961 in Lobenstein im Thüringer Wald. Sie stammt aus einer großen Missionars-Familie, in der es Tradition ist, Märchen und Geschichten zu erzählen, und in der die Kommunikation zwischen den über 100 Familienmitgliedern bis heute intensiv betrieben wird. Nach abgeschlossener Berufsausbildung und anschließender Tätigkeit als Maßschneiderin am Maxim Gorki Theater Berlin machte sie ihr Abitur an einer Abendschule. Da Silke Fischer in der ehemaligen DDR nicht studieren durfte, flüchtete sie im September 1989 über die Ungarische Grenze und Österreich nach West-Berlin. Aufnahme des Studiums der Lateinamerikanistik/Theaterwissenschaften an der FU Berlin, später ein Jahr Studienaufenthalt in Brasilien. 1993 wurde ihr Sohn Moritz geboren, 1997 schloss sie ihr Studium mit der Magisterprüfung ab und wurde zur Promotion zugelassen. Nach der Projektleitung der Berliner Märchentage 1999 wurde sie 2000 deren Direktorin, 2003 Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzende des neuen Trägervereins der Berliner Märchentage – Märchenland e.V. – und 2004 Geschäftsführerin und Direktorin der Märchenland gGmbH. Märchenland arbeitet mit dem Kulturträger Märchen aktiv in der Kinder- und Jugendbildung, um die Zukunft aus Bewährtem heraus zu gestalten. Silke Fischer ist Journalistin, Autorin und Herausgeberin des Buches Deutschland – Märchenland. Prominente greifen zur Feder, erschienen 2009 im Diederichs Verlag. Silke Fischer lebt in Berlin.
Der Journalist, Buch- und Drehbuchautor wurde 1950 in Berlin geboren. Nach seiner Ausbildung zum Redakteur bei der WAZ-Gruppe in Düsseldorf arbeitete er von 1973 bis 1976 als Redakteur bei der BZ (Schwerpunkt TV), anschließend für das Feuilleton der Welt und der Berliner Morgenpost. Kurz darauf wurde er Chefreporter, Ressortleiter Medien und leitete das Morgenpost-Wochen-Journal mit dem zeitungshistorischen Titel Berliner Illustrirte Zeitung. Mehr als 30 Jahre erschien in der Berliner Morgenpost jeden Sonntag seine heitere Kolumne Lebenslagen. Sie gilt als eine der am längsten von einem Autor geschriebenen Kolumnen in Deutschland und erscheint seit zwei Jahren online im Kaupert-Verlag. Philipp ist seit 2006 als freiberuflicher Journalist tätig und gehörte zusammen mit Hellmuth Karasek und Hajo Schumacher zur Welt-Autoren-Gruppe. Er ist als Kolumnist, Medien- und Marketingberater tätig und entwickelt Formate für Bücher, Bühnen- und TV-Projekte. Autor von mehr als 20 Büchern, darunter schrieb er zusammen mit Renate Wiechmann Der letzte Zug über das Schicksal von Juden, die 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert wurden (Verfilmung: Artur Brauner/ Regie: Joseph Vilsmaier). Verfasser der Biografie des Schauspielers Hugo Egon Balder (Ich habe mich gewarnt), in der dieser über seine jüdische Mutter und seine Kindheit in Berlin sowie über seine ersten Jahre am Schiller-Theater berichtet. Bernd Philipp ist zudem Autor zahlreicher Publikationen über die Stadtgeschichte Berlins. Er ist Vater eines Sohnes (Max, Jahrgang 1990) und lebt im Berlin-Charlottenburger Stadtteil Westend.
Die Illustratorin und Portrait-Malerin wurde 1955 geboren. Von 1974 bis 1978 studierte sie Mode-Design und Kunstgeschichte an der Northumberland University in Newcastle-upon-Tyne in England. Sie fand es aufregend, Mode zu erschaffen, und genoss ihr Studium, war jedoch von der Modeindustrie abgeschreckt. 1979 ging sie deshalb für einen Studienaufenthalt an die bekannte
Parsons School of Design nach New York. Ein Jahr später zog Janice Brownlees-Kaysen nach Hamburg und arbeitete auch nach der Geburt ihrer beiden Kinder (1989 und 1991) als freie Illustratorin. 2003 folgte ein Studium in Portrait painting in Florenz, Italien. Zwischen 2005 und 2006 gehörte sie dem Atelier9 in Hamburg an.
Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: »Wahr muss sie sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.« Die Geschichte aber hat sich so zugetragen:
Es war an einem Sonntagmorgen im Herbst, gerade als der Buchweizen blühte; die Sonne war am Himmel aufgegangen, und der Wind strich warm über die Stoppeln, die Lerchen sangen hoch in der Luft, und die Bienen summten im Kornfeld. Die Leute gingen in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche, und alle Geschöpfe waren vergnügt, auch der Igel.
Er stand vor seiner Tür, hatte die Arme verschränkt, guckte in den Morgenwind hinaus und trällerte ein kleines Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht, wie am Sonntagmorgen ein Igel eben zu singen pflegt. Während er nun so vor sich hinsang, fiel ihm plötzlich ein, dass er doch, während seine Frau die Kinder wusch und ankleidete, ein bisschen im Feld spazieren gehen und nachsehen könnte, wie die Steckrüben standen. Die Steckrüben waren ganz nah bei seinem Haus, und er pflegte sie mit seiner Familie zu essen, darum sah er sie auch als die seinigen an.
Gedacht, getan. Er schloss die Haustür hinter sich und schlug den Weg zum Feld ein. Er war noch nicht sehr weit gegangen und wollte gerade um den Schlehenbusch herum, der vor dem Feld stand, als er den Hasen erblickte, der in ähnlichen Geschäften unterwegs war, nämlich um seinen Kohl zu besehen.
Als der Igel den Hasen sah, wünschte er ihm freundlich einen guten Morgen. Der Hase aber, der auf seine Weise ein vornehmer Herr war und grausam arrogant noch dazu, antwortete gar nicht auf des Igels Gruß, sondern sagte mit höhnischer Miene: »Wie kommt es, dass du hier schon so am frühen Morgen im Feld herumläufst?«
»Ich gehe spazieren«, sagte der Igel.
»Spazieren?«, lachte der Hase. »Du könntest deine Beine schon zu besseren Dingen gebrauchen.«
Diese Antwort verdross den Igel sehr. Alles kann er vertragen, aber auf seine Beine ließ er nichts kommen, gerade weil sie von Natur aus krumm sind.
»Du bildest dir wohl ein, du könntest mit deinen Beinen mehr ausrichten als ich?«, sagte er.
»Das will ich meinen«, antwortete der Hase.
»Nun, das kommt auf einen Versuch an«, meinte der Igel. »Ich wette, wenn wir um die Wette laufen, lauf ich schneller als du.«
»Du – mit deinen krummen Beinen!«, rief der Hase. »Das ist ja zum Lachen. Aber wenn du so große Lust hast – was gilt die Wette?«
»Einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein«, sagte der Igel.
»Angenommen!«, sagte der Hase. »Schlag ein, und dann kann es gleich losgehen.«
»Nein, so große Eile hat es nicht«, meinte der Igel, »ich hab’ noch gar nichts gegessen; erst will ich nach Hause gehen und ein bisschen was frühstücken. In einer Stunde bin ich wieder hier.«
Damit ging er, und der Hase war zufrieden. Unterwegs aber dachte der Igel bei sich: »Der Hase verlässt sich auf seine langen Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er ist zwar ein vornehmer Herr, aber doch ein dummer Kerl, und das soll er bezahlen.«
Als er nun nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: »Frau, zieh dich rasch an, du musst mit mir ins Feld hinaus.«
»Was gibt es denn?«, fragte die Frau.
»Ich habe mit dem Hasen um einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein gewettet, dass ich mit ihm um die Wette laufen will. Und da sollst du dabei sein.«
»O mein Gott, Mann«, begann die Frau loszuschreien, »hast du denn ganz den Verstand verloren? Wie willst du mit dem Hasen um die Wette laufen?«
»Sei ruhig, Weib«, sagte der Igel, »das ist meine Sache. Misch dich nicht in Männergeschäfte! Marsch, zieh dich an und komm mit!« Was sollte also die Frau des Igels tun? Sie musste gehorchen, ob sie wollte oder nicht.
Als sie miteinander unterwegs waren, sprach der Igel zu seiner Frau: »Nun pass auf, was ich dir sage. Dort auf dem langen Acker will ich unseren Wettlauf machen. Der Hase läuft in einer Furche und ich in der anderen, und dort oben fangen wir an. Du hast nun weiter nichts zu tun, als dass du dich hier unten in die Furche stellst, und wenn der Hase in seiner Furche daherkommt, so rufst du ihm entgegen: ›Ick bin all hier!‹«
So kamen sie zu dem Acker, der Igel wies seiner Frau ihren Platz an und ging den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. »Kann es losgehen?«, fragte er.
»Jawohl«, erwiderte der Igel.
»Dann nur zu.« Damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte: »Eins, zwei, drei«, und los ging er wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Igel aber lief nur etwa drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche hinein und blieb ruhig sitzen. Und als der Hase im vollen Lauf am Ziel unten am Acker ankam, rief ihm die Frau des Igels entgegen: »Ick bin all hier!«
Der Hase war nicht wenig erstaunt, glaubte er doch nichts anderes, als dass er den Igel selbst vor sich hatte. Bekanntlich sieht die Frau Igel genauso aus wie ihr Mann. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, rief er. »Noch einmal gelaufen, in die andere Richtung!« Und fort ging es wieder wie der Sturmwind, dass ihm die Ohren am Kopf flogen. Die Frau des Igels aber blieb ruhig an ihrem Platz sitzen, und als der Hase oben ankam, rief ihm der Herr Igel entgegen: »Ick bin all hier!«
Der Hase war ganz außer sich vor Ärger und schrie: »Noch einmal gelaufen, noch einmal herum!«
»Meinetwegen«, gab der Igel zurück. »Sooft du Lust hast.«
So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Igel hielt immer mit. Und jedes Mal, wenn der Hase oben oder unten am Ziel ankam, sagten der Igel oder seine Frau: »Ick bin all hier.« Beim vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr ans Ziel. Mitten auf dem Acker fiel er zu Boden. Der Igel aber nahm seinen gewonnenen Golddukaten und die Flasche Branntwein, rief seine Frau von ihrem Platz am Ende der Furche, und vergnügt gingen beide nach Hause. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch. Besonders im Schulalter wollen Kinder immer einer Gruppe angehören und um keinen Preis auffallen. Der Wunsch nach Individualität wird erst später ausgebildet. Kinder können grausam sein. Jeder, der nicht der vermeintlichen Norm entspricht, hat es schwer. Wenn Ihr Kind nicht gerne in die Schule geht, weil es aus irgendeinem Grund gehänselt wird, lesen Sie mit ihm das Märchen vom Hasen und dem Igel und versuchen Sie im Gespräch herauszufinden, warum Ihr Kind von anderen geärgert wird.
Festigen Sie sein Selbstbewusstsein, indem Sie seine besonderen Talente loben. Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass jeder von uns Stärken hat und etwas kann, was andere nicht vermögen. Man darf sich nur nie unterkriegen lassen. So kann man die Angeber irgendwann überholen – nicht beim Wettlauf in der Turnhalle, aber im Leben.
Wenn der Vater über seine Tochter Sofia sprach, machte er immer ein missmutiges Gesicht. Zu Freunden und Verwandten sagte er oft: »Ach, unsere Sofia! Die macht uns keine Freude. Was soll bloß aus ihr mal werden … ?«
Zugegeben: So nett Sofia auch war, aber eine Leuchte in der Schule war sie nicht. In der 4. Klasse musste sie eine Ehrenrunde drehen, Mathematik war für sie so was wie »Mathemagie«. Ihre Schulbücher fasste sie, wenn überhaupt, mit langen Fingern an. Sie hatte einfach keine Lust zu lernen. Stattdessen interessierte sie sich schon früh fürs Kochen. Ihre Oma zeigte ihr, wie man herrliche Kohlrouladen macht. Tante Silke brachte ihr bei, wie man einen »Kalten Hund« zubereitet, eine Keks-Schokoladen-Torte. Sofia war gerade mal zwölf, da staunten alle über ihren köstlichen Kartoffelsalat.
»Wenn du gut kochen kannst, mein Kind«, meinte die Mutter, »dann freut sich später mal dein Mann, aber eigenes Geld damit verdienen kannst du nicht.« Sofia blieb ganz gelassen und meinte: »Macht euch mal keine Sorgen!« Und aus Spaß: »Eines Tages dürft ihr Madame Bocuse zu mir sagen!« Nach der Schule ging sie dann auf Wanderschaft: Toskana, Barcelona, München, Berlin. Immer jobbte sie in Restaurants und durfte auch mal einem Sterne-Koch über die Schulter schauen … Ihr Traum: ein eigenes Restaurant aufmachen …
Sie war wirklich vom Kochen besessen und gerade 20, als sie mit WG-Freunden eine kleine Pizzeria eröffnete. Kleines Tagesangebot, aber lecker und preiswert. Sprach sich schnell rum. Vor allem Sofias »Pizza tinteratanta«. Das schöne Wort »tinteratanta« gibt es im Italienischen gar nicht. Hatte sich Sofia einfach ausgedacht. Wurde ein Renner: dünner, krosser Teig, schön belegt und köstlich mit Käse überbacken. Eine Zeitung schrieb: »Sofias Pizza tinteratanta ist die beste der Stadt.« Richtig prominent wurde sie mit der Zeit, verdiente eine Menge Geld, und wenn die Eltern kamen, waren sie begeistert. Das hätten sie ihrer Tochter nicht zugetraut.
Aber so ist es nun mal: Nicht das, was andere einem zutrauen, ist wichtig, sondern was man sich selbst zutraut. Egal, was man macht, man muss es einfach nur gut machen. Das kann man auch ohne Abitur und Examen. Vielleicht geht irgendwann ein neuer Stern am Koch-Himmel auf. Er heißt dann Sofia.
Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne, und weiter nichts an Vermögen als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder der Söhne gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater war aber einer so lieb als der andere, da wusste er nicht, wie er es anfangen sollte, dass er keinem wehtäte. Verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weil es von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter seinen Söhnen geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er sprach zu ihnen: »Geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, soll der das Haus haben, der das beste Meisterstück macht.«
Das waren die Söhne zufrieden, und der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein Barbier, der dritte aber ein Fechtmeister werden. Darauf bestimmten sie eine Zeit, wo sie wieder zu Hause zusammenkommen wollten, und zogen fort. Es traf sich auch, dass jeder einen tüchtigen Meister fand, wo er was Rechtschaffenes lernte. Der Schmied musste des Königs Pferde beschlagen und dachte: »Nun kann dir’s nicht fehlen, du kriegst das Haus.«
Der Barbier rasierte lauter vornehme Herren und meinte auch, das Haus wäre schon sein. Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biss aber die Zähne zusammen und ließ sich’s nicht verdrießen, denn er dachte bei sich: »Fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.«
Als nun die gesetzte Zeit herum war, kamen sie bei ihrem Vater wieder zusammen. Sie wussten aber nicht, wie sie die beste Gelegenheit finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und ratschlagten. Wie sie so saßen, kam auf einmal ein Hase übers Feld dahergelaufen. »Ei«, sagte der Barbier, »der kommt wie gerufen«, nahm Becken und Seife, schäumte so lange, bis der Hase in die Nähe kam, dann seifte er ihn in vollem Laufe ein, und rasierte ihm auch in vollem Laufe ein Stutzbärtchen, und dabei schnitt er ihn nicht und tat ihm an keinem Haare weh. »Das gefällt mir«, sagte der Vater, »wenn sich die andern nicht gewaltig angreifen, so ist das Haus dein.«
Es währte nicht lang, so kam ein Herr in einem Wagen dahergefahren in vollem Ritt. »Nun sollt Ihr sehen, Vater, was ich kann«, sprach der Hufschmied, sprang dem Wagen nach, riss dem Pferd, das in einem fortjagte, die vier Hufeisen ab und schlug ihm auch im Galoppieren vier neue wieder an. »Du bist ein ganzer Kerl«, sprach der Vater, »du machst deine Sachen so gut wie dein Bruder; ich weiß nicht, wem ich das Haus geben soll.«
Da sprach der dritte: »Vater, lasst mich auch einmal gewähren«, und weil es anfing zu regnen, zog er seinen Degen und schwenkte ihn in Kreuzhieben über seinen Kopf, dass kein Tropfen auf ihn fiel. Und als der Regen stärker ward und endlich so stark, als ob man mit Eimern vom Himmel gösse, schwang er den Degen immer schneller und blieb so trocken, als säß er unter Dach und Fach. Wie der Vater das sah, erstaunte er und sprach: »Du hast das beste Meisterstück gemacht, das Haus ist dein.«
Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden, wie sie sich vorher versprochen hatten, und weil sie einander so lieb hatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr Handwerk; und da sie so gut ausgelernt hatten und so geschickt waren, verdienten sie viel Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen, und als der eine krank ward und starb, grämten sich die zwei andern so sehr darüber, dass sie auch krank wurden und bald starben. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt.
Schlimm ist, wenn Eltern ihren Kindern die eigenen unerfüllten Lebensträume aufbürden. Mit der Begründung: »Unser Sprössling soll es einmal besser haben als wir« werden Kinder aufs Gymnasium geprügelt und sinnlos im Nachhilfeunterricht gequält. Statt die jeweiligen Stärken der Kinder zu entdecken, müssen diese mehrere Fremdsprachen lernen, obwohl ihnen dazu eindeutig die Begabung fehlt. Oder es wird erwartet, dass ein Einser-Abitur hingelegt wird, obwohl das Kind lieber Tischler werden möchte statt Herzchirurg.
Wenn Ihr Kind Schwierigkeiten in der Schule hat, dann lesen Sie gemeinsam mit ihm das Märchen von den drei Brüdern. Plaudern Sie danach zwanglos über seine Wünsche und Träume, über seine Stärken und Schwächen und versuchen Sie herauszufinden, was Ihr Kind wirklich interessiert. Denn nur wo Interesse besteht, kann Freude und Leistungswillen gedeihen.
Nehmen wir mal an, da will einer im Freibad vom Zehnmeterturm springen und weiß, dass im Becken kein Wasser ist. Ist der nun besonders mutig oder besonders blöd? Die Antwort ist leicht. Nun nehmen wir aber mal einen anderen Fall: Da soll einer vom Einmeterbrett in ein randvoll mit Wasser gefülltes Becken springen, aber er traut sich nicht. Der ist wohl eindeutig zu feige, möchte man meinen. Aber so ist das nun mal: Der eine traut sich alles zu, der andere rein gar nichts.
So einer war auch der kleine Philipp. Bei ihm war die Angst ein ständiger Begleiter. »Du Hasenfuß« oder »du Angsthase« nannten ihn seine Klassenkameraden, und richtige Freunde hatte er sowieso nicht, weil mit so einer »feigen Memme« keiner was zu tun haben wollte.
Was natürlich niemand wusste: Philipps Angst war »familiengemacht«. Während die Eltern den ganzen Tag über arbeiten waren, mussten sich die drei älteren Schwestern um das »Nesthäkchen« Philipp kümmern und auf den Kleinen aufpassen. Dabei übertrieben es die drei »Kümmerinnen« und packten ihren Bruder regelrecht in Watte. Tu das nicht! Tu jenes nicht! Du kannst dir wehtun! Das ist zu gefährlich für dich! Ja, eigentlich durfte er überhaupt nichts alleine anpacken.
Und so war Philipps Weg durchs Leben versperrt von Warn- und Stopp-Schildern. Bis er eines Tages nur noch das Nichtstun für ungefährlich und sich aus allem raushielt.
Fußball? Um Gottes willen! Wie leicht hat man sich da ein Bein gebrochen.
Baden im Sommer? Bloß nicht! Ein Sonnenbrand schmerzt fürchterlich.
Klassenreise? Niemals! Da weiß man doch nie, was da so alles passieren kann …
Wie schön, dass sich die Dinge letztlich und unerwartet doch ganz anders entwickelten. Das kam so: Philipp lag faul auf seinem Bett. Draußen war es extrem heiß, und da wollte er doch lieber nicht rausgehen – so manchen hat bei extremer Hitze schon der Schlag getroffen.
Dann wurde es plötzlich laut auf der Straße. Polizei, Feuerwehr, lautes GeDann wurde es plötzlich laut auf der Straße. Polizei, Feuerwehr, lautes Geschrei, neugierige Nachbarn, die einfach nur gafften. Philipp rannte raus und sah Flammen aus dem ersten Stock des Hauses schräg gegenüber schlagen. In diesem Haus wohnte auch Lea aus seiner Klasse. Sie rannte hustend und weinend umher, und als Philipp sie auf der Straße sah, stammelte sie immer wieder schluchzend: »Mein Hamster ist doch noch oben. Ich wollte ihn mitnehmen, aber die Feuerwehrleute haben mich gleich aus dem Haus gezerrt. Mein Hamsti darf doch nicht sterben …«
Da rannte Philipp einfach los; an den Feuerwehrleuten vorbei, lief er in die verräucherte Wohnung von Leas Eltern, schnappte sich den Käfig mit dem Hamster und rannte schnell wieder auf die Straße. Ein paar Männer riefen ihm noch hinterher: »Junge, du musst verrückt sein, das war doch viel zu gefährlich, und das für einen Goldhamster …«
Lea war fassungslos vor Glück. Sie weinte noch bitterlicher als vorher, und nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass Hamsti wohlauf war, drückte sie Philipp ganz fest an sich. Die Umherstehenden klatschten Beifall, sie waren alle gerührt. Auch zwei Klassenkameraden verfolgten die mutige Rettungstat. Einer meinte: »Ausgerechnet Philipp!«
Das Feuer war schnell gelöscht, der Schaden hielt sich in Grenzen. Wenn man es genau nimmt, war das Feuer sogar ein Segen. Für Philipp, der fortan kein Angsthase mehr war. Die anerzogene und krankhafte Vorsicht gehörte der Vergangenheit an.
Man muss sich eben auch mal etwas trauen, dann traut man sich auch im Leben mehr zu. Unser Philipp holte später als Erwachsener die entgangenen Herausforderungen reichlich nach. Bungee-Jumping, Free-Climbing, Downhill-Snowboarding … Die Schwestern fielen von einer Ohnmacht in die nächste.
Philipp hatte gelernt: Man muss sich selbst einen Schubs geben, weil man sonst verkümmert und sich um viel Spaß bringt. Und wenn er selbst mal ein Kind hat, will er dafür sorgen, dass es kein Angsthase wird.